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Ostern war gekommen, das Fest des Lichtes und der Erlösung – für die ganze Natur! Der Winter hatte sich bei seinem Scheiden in düstere Nebelschleier gehüllt, und auf jagenden, gärenden Wolken nahte jetzt der Frühling. Er hatte seine Sturmesboten vorausgesandt, um die Erde wach zu rufen aus ihrem langen Traume, sie brausten über Ebenen und Wälder, sie schwangen ihre Flügel um die mächtigen Gipfel des Hochgebirges und wühlten das Meer auf in all seinen Tiefen. Es war ein wildes Kämpfen und Toben in den Lüften, und doch klang es daraus hervor wie Siegesruf. Es waren ja Frühlingsstürme, und in ihnen brauste das Leben, sie kündeten die Auferstehung an.
Das Gebirge lag noch halb im Schnee begraben, und die alte Bergfeste, die von der Höhe in das Thal herabblickte, ragte aus beschneiten Tannen hervor. Es war eines jener grauen Felsennester, die, einst der Schrecken ihrer Umgebung, jetzt meistenteils verödet und vergessen daliegen und oft nur noch in Trümmern von der einstigen Herrlichkeit erzählen. Das letztere traf nun hier allerdings nicht zu, die Grafen von Steinrück schützten die Stammburg ihres Geschlechtes sorgfältig vor dem Verfalle, sonst aber kümmerten sie sich nicht viel um das alte Gemäuer, das, fernab von der Welt, tief in den Bergen lag. Nur zur Jagdzeit sah es regelmäßig eine größere Menge von Gästen, die auf einige Zeit Leben und Lärm in die Einsamkeit brachten.
Diesmal freilich fand eine Ausnahme statt, die Gäste waren schon im Frühjahr eingetroffen, aber sie kamen zu einer ernsten Feier. Der Schloßherr wurde zu Grabe geleitet und mit ihm erlosch die jüngere Linie des Hauses, wenigstens in ihren männlichen Sprossen, da er nur eine Witwe und eine Tochter hinterließ. Graf Steinrück war auf einem der andern Güter, seinem gewöhnlichen Wohnsitze, gestorben, und dort hatte auch die große Trauerfeier stattgefunden, dann war die Leiche nach der Familiengruft des Stammschlosses überführt worden, wo die eigentliche Bestattung in aller Stille und nur in Gegenwart der nächsten Verwandten vor sich ging.
Es war an einem jener stürmischen Märztage, der das ganze Thal mit grauen Wolkenmassen erfüllte. Das trübe Licht des Nachmittags fiel in das Gemach, das der verstorbene Schloßherr zu bewohnen pflegte, wenn er zu dem gewohnten kurzen Herbstaufenthalte hierherkam. Es war ein tiefer, ziemlich niedriger Raum mit einem einzigen breiten Erkerfenster und einer Einrichtung, die noch aus der ehemaligen Glanzzeit der Burg stammte. Das dunkle Holzgetäfel der Wände, die mächtigen Eichenthüren und der riesige, säulengetragene Kamin im Hintergrunde, mit dem Wappen der Steinrück, behaupteten seit Jahrhunderten ihren Platz, und die schweren, altertümlichen Möbel, die alten Familienbilder an den Wänden gehörten gleichfalls einer längst vergangenen Zeit an. Das Feuer, das im Kamin loderte, vermochte den düsteren Raum nicht behaglicher zu machen, aber es lag ein Stück Geschichte darin, die Geschichte eines alten, mächtigen Geschlechtes, dessen Geschick von jeher mit dem seines Landes eng verknüpft gewesen war.
Soeben wurde die Thür geöffnet, und es traten zwei Herren ein, die wohl zu den Verwandten des Hauses gehören mußten, denn die Uniform des einen und die Zivilkleidung des andern trugen die Abzeichen der Trauer. Sie kamen in der That soeben von der Bestattung zurück, und auf den Zügen des älteren lag noch der ganze Ernst dieser düsteren Feier.
»Das Testament soll morgen eröffnet werden,« sagte er. »Es ist allerdings nur eine Form, da ich die Bestimmungen bereits kenne. Der Gräfin ist ein sehr reiches Wittum und Schloß Berkheim, ihr bisheriger Wohnsitz, zugewiesen, die sämtlichen andern Güter fallen an Hertha, zu deren Vormund ich ernannt bin. Dann kommt noch eine Reihe von Legaten, und mir, als Haupt der älteren Linie, ist Steinrück vermacht.« Der jüngere Gefährte zuckte bei den letzten Worten leicht die Achseln.
»Ein riesiger Besitz, der jetzt in der Hand dieses Kindes vereinigt wird!« bemerkte er. »Deine Erbschaft ist nicht gerade glänzend, Papa, ich glaube, das alte Bergschloß mit seinem Waldrevier kostet beinahe so viel, als es einbringt.«
»Gleichviel, es ist die Stammburg unsres Geschlechtes, die nunmehr in unsre Hände übergeht. Mein Vetter hätte mir kein besseres Vermächtnis hinterlassen können, und ich bin ihm dankbar dafür. Du willst morgen schon wieder abreisen, Albrecht?«
»Ich hatte mich nur auf einige Tage eingerichtet, wenn du es indessen wünschest –«
»Nein, es ist nicht nötig, daß du bleibst. Ich werde allerdings um Verlängerung meines Urlaubes ersuchen müssen. Es gibt noch vieles zu besprechen und zu ordnen, und die Gräfin zeigt sich in allen Dingen so unselbständig, daß ich ihr notgedrungen noch eine Zeit lang zur Seite bleiben muß.«
Er trat in den Erker und blickte hinaus in die verschleierte Berglandschaft. Der Graf hatte die Mittagshöhe des Lebens bereits überschritten, aber seine Erscheinung zeigte noch die vollste, ungebrochene Kraft, eine prächtige Gestalt in gebietender Haltung, die freilich in jedem Zuge den Soldaten verriet. Er war ohne Zweifel einmal sehr schön gewesen und konnte noch jetzt dafür gelten, wo er bereits an der Schwelle des Alters stand, aber das volle, nur leicht ergraute Haupthaar, die raschen lebhaften Bewegungen und die Sprache, die noch tief und voll klang, liehen ihm etwas Jugendliches, wie das Feuer, das noch in seinen Augen blitzte.
Sein Sohn war von dem allem das Gegenteil, eine schmächtige Gestalt von kränklichem Aussehen. Das blasse Gesicht mit den schlaffen Zügen machte einen ziemlich nüchternen Eindruck, und doch glichen diese Züge auffallend denen des Vaters. Der Ausdruck der Persönlichkeit wirkte als vollster Gegensatz, aber trotzdem war die Familienähnlichkeit unverkennbar.
»Die Gräfin scheint überhaupt eine unselbständige Natur zu sein,« sagte er, »und der Trauerfall findet sie nun vollends ganz fassunglos.«
»Es ist aber auch hart, den Gemahl nach so kurzer Krankheit, in der Blüte des Lebens zu verlieren, weiche Naturen werden durch solchen Schlag völlig niedergeworfen.«
»Eine andre hätte ihm standgehalten! Luise würde das Unabänderliche mit einer Fassung ertragen haben –«
»Schweig!« unterbrach ihn der Graf finster, indem er sich abwandte.
»Verzeih, Papa, ich weiß, du willst nicht daran erinnert sein, aber gerade heute drängt sich die Erinnerung unabweisbar auf. Von Rechts wegen sollte Luise um den Toten trauern. Sie wäre schwerlich mit einem wenn auch noch so reichen Wittum abgefunden worden, Steinrück hätte sie unbedingt zur Herrin über das ganze Erbe gemacht, er ließ sich ja schon damals völlig von ihr beherrschen. Und seine Hand zurückzustoßen! Namen, Heimat, Familie, alles zu opfern, um das Weib eines Abenteurers zu werden, der sie ins Verderben zog – man möchte wahrhaftig an die alte Sage von den Liebestränken glauben, denn auf natürlichem Wege ist das nicht zu erklären.«
»Thorheit!« sagte der Graf kalt. »Das Schicksal des Menschen ist in seine eigene Hand gelegt. Luise hat das ihrige zum Abgrund gelenkt, es war nur natürlich, daß sie hineinstürzte.«
»Und vielleicht hättest du trotz alledem die Verlorene wieder aufgenommen, wenn sie reuevoll zurückgekehrt wäre.«
»Nie!« Das Wort klang in unbeugsamer Härte. »Uebrigens wäre sie auch nicht zurückgekehrt. Sie konnte zu Grunde gehen in der Schmach, in dem selbstverschuldeten Elend, aber um Gnade betteln bei dem Vater, der sie verstoßen, das hätte Luise nicht gekonnt. Sie war trotz alledem mein Blut!«
»Und dein Liebling!« ergänzte Albrecht mit aufwallender Bitterkeit. »Ich habe das oft genug empfinden, es oft genug hören müssen, daß ich keinen Zug deines Charakters besitze. Nur Luise hatte dein Blut geerbt, die schöne, geistvolle, energische Luise, die war das Kind deines Herzens, dein Stolz und dein Glück. Nun, wir haben es ja erlebt, wohin diese Energie führte, wir erfuhren es noch, daß sie von Stufe zu Stufe sank an der Seite jenes Mannes und endlich –«
»Deine Schwester ist tot,« unterbrach ihn der Graf schneidend. »Laß die Toten ruhen!«
Albrecht schwieg, aber die Bitterkeit wich nicht aus seinen Zügen, er konnte es offenbar seiner Schwester noch im Grabe nicht verzeihen, was sie der Familie angethan hatte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn soeben erschien ein Diener und meldete:
»Hochwürden der Herr Pfarrer von Sankt Michael.«
Der Gemeldete schien erwartet zu werden, denn der Diener öffnete, ohne erst eine Antwort abzuwarten, die Thür, und der Pfarrer trat ein.
Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit schon völlig ergrautem Haar, einem Antlitz voll stiller, ernster Ruhe, mit tiefen, blauen Augen, und auch Haltung und Sprache verrieten dieselbe Ruhe und Milde, die von dieser Erscheinung unzertrennlich zu sein schienen.
Graf Steinrück ging ihm einige Schritte entgegen und begrüßte ihn höflich, aber fremd. Die ältere Linie des Hauses war protestantisch, und ein katholischer Priester hatte als solcher keine Bedeutung für sie.
»Ich habe Ihnen zunächst meinen Dank auszusprechen, Hochwürden,« begann er, indem er den Pfarrer mit einer Handbewegung einlud, Platz zu nehmen. »Es war der ausdrückliche Wunsch der verwitweten Gräfin, daß Sie die Trauerzeremonie leiten sollten, und Sie haben ihr an dem heutigen schweren Tage so aufopfernd zur Seite gestanden, daß wir alle Ihnen dankbar dafür sind.«
»Ich erfüllte nur meine Pflicht als Seelsorger,« erwiderte der Geistliche ruhig. »Dafür bedarf es keines Dankes. Zu Ihnen aber, Herr Graf, komme ich in einer andern Angelegenheit, unaufgefordert und in Ihren Augen vielleicht unberechtigt, dennoch muß ich sie zur Sprache bringen, da der Trauerfall Sie so ganz unerwartet in unsre Berge führt. Ich ersuche Sie deshalb um eine Unterredung.«
»Und ich wiederhole, daß ich Ihnen zur Verfügung stehe, Herr Pfarrer Valentin. Wenn die Unterredung eine geheime sein soll, so wird mein Sohn uns sofort –«
»Ich bitte, daß der Graf bleibt,« fiel Valentin ein. »Er kennt gleichfalls die Angelegenheit, die mich herführt, sie betrifft den Pflegesohn des Försters Wolfram.«
Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, doch diese erfolgte nicht; der Graf saß mit völlig unbewegter Miene da, während Albrecht plötzlich aufmerksam zu werden schien, doch auch er äußerte nichts, und so war der Pfarrer genötigt, fortzufahren.
»Sie werden sich erinnern, Herr Graf, daß ich es war, durch den Sie die Nachricht von dem Aufenthalt des Knaben erhielten und die Bitte, sich seiner anzunehmen.«
»Eine Bitte, der ich unverzüglich entsprochen habe. Wolfram nahm auf meine Weisung das Kind in Empfang, ich unterrichtete Sie ja davon.«
»Allerdings, ich hätte es freilich lieber in andern Händen gesehen, indessen die Bestimmung hing von Ihnen ab. Jetzt aber ist der Knabe herangewachsen und kann unmöglich länger in derartiger Umgebung bleiben. Ich bin auch überzeugt, daß dies keineswegs Ihr Wille ist.«
»Weshalb nicht?« fragte Steinrück kalt. »Ich kenne Wolfram als durchaus zuverlässig und hatte meine Gründe, gerade ihn zu wählen, oder wissen Sie irgend etwas Nachteiliges von ihm?«
»Nein, der Mann ist brav in seiner Art, aber roh und halb verwildert in der Einsamkeit. Seit dem Tode seiner Frau kommt er kaum in Berührung mit Menschen, und sein Haushalt unterscheidet sich nicht von dem des ersten besten Bauern. Das ist schwerlich eine passende Umgebung für einen heranwachsenden Knaben, am wenigsten für den Enkel des Grafen Steinrück.«
Albrecht, der hinter dem Stuhle seines Vaters stand, machte eine Bewegung, der alte Graf zog nur finster die Brauen zusammen, aber er entgegnete mit voller Schärfe:
»Ich besitze nur einen Enkel, das Kind meines Sohnes, und ich bitte Sie, das im Auge zu behalten, Hochwürden, wenn von jener Angelegenheit die Rede ist.«
Die milden Augen des Priesters richteten sich ernst und vorwurfsvoll auf den Sprechenden.
»Verzeihung, Herr Graf, aber der legitime Sohn Ihrer Frau Tochter hat doch wohl Anspruch auf diese Bezeichnung.«
»Gleichviel, er existiert als solcher nicht für mich, wie jene Heirat überhaupt nie für mich und die Meinigen existiert hat.«
»Und dennoch haben Sie meine Bitte gewährt, als Michael –«
Der Graf stutzte. »Michael?« wiederholte er langsam.
»Der Name des Knaben! Kannten Sie ihn nicht?«
»Nein, ich habe das Kind ja überhaupt nicht gesehen, als es Wolfram zur Erziehung übergeben wurde.«
»Von Erziehung konnte bei einem Manne von dem Bildungsgrade Wolframs wohl keine Rede sein, und doch hätte sie gerade hier vieles gut machen müssen. Michael war schon als Kind verwahrlost, verwildert und verschüchtert zugleich durch das unstete Leben, das er so lange mit seinen Eltern geführt hat. Ich habe mich allerdings seiner angenommen und ihn unterrichtet, so viel das bei der weiten Entfernung der Försterei möglich war.«
»Haben Sie das wirklich gethan?« Es klang eine offenbar unangenehme Ueberraschung aus der Frage.
»Gewiß, ein andrer Unterricht war in der Abgeschiedenheit nicht zu ermöglichen, und ich konnte doch nicht annehmen, daß der Knabe geistig verkommen und verbauern sollte in jenem Lebenskreise. Diese Strafe für das Unrecht seiner Eltern wäre doch allzu hart.«
Es lag ein schwerer Vorwurf in den einfachen Worten, und er mußte wohl treffen, denn es flog ein zorniges Aufleuchten über Steinrücks Züge.
»Hochwürden, welchen Einblick Sie auch in unsre Familiengeschichte erhalten haben, Sie urteilen als ein Fremder, und da mag Ihnen manches hart und unbegreiflich erscheinen. Ich habe als Haupt des Hauses die Ehre unsres Namens zu wahren, und wer diese Ehre antastet und befleckt, der wird hinausgestoßen aus meinem Hause und aus meinem Herzen, sei es auch mein eigenes Kind! Ich that, was ich mußte, und wenn die furchtbare Notwendigkeit noch einmal an mich heranträte, ich würde das Gleiche thun.«
Es lag eine eiserne Entschlossenheit in diesen Worten. Valentin schwieg, er mochte wohl fühlen, daß eine solche Natur sich keinem Priesterwort beugte.
»Gräfin Luise ruht im Grabe,« sagte er endlich, und seine Stimme bebte leise, als er den Namen aussprach, »und mit ihr der Mann, dem sie angetraut war! Ihr Sohn steht allein und schutzlos da, ich bin gekommen, für ihn zu erbitten, was Sie jeder fremden Waise gewähren würden, die Sie in Ihren Schutz genommen haben, eine Erziehung, die ihn befähigt, dereinst in die Welt und in das Leben zu treten. Bleibt er in Wolframs Händen, so ist das ausgeschlossen, er taugt dann höchstens noch für das halbwilde Dasein auf irgend einer einsamen Bergförsterei, für eine Bauernexistenz. Wenn Sie, Herr Graf, die Verantwortung dafür übernehmen können und wollen –«
»Genug!« unterbrach ihn Steinrück heftig, indem er sich erhob. »Ich werde die Sache in Erwägung ziehen und dann Bestimmungen über Ihren Schützling treffen, verlassen Sie sich darauf, Hochwürden.«
Der Pfarrer stand gleichfalls auf, er sah, daß die Unterredung zu Ende war, und hegte wohl auch nicht den Wunsch, sie zu verlängern.
»Mein Schützling?« wiederholte er. »Möge es auch der Ihrige werden, Herr Graf, ich glaube, er hat ein Recht darauf.«
Und mit einer kurzen, ernsten Verneigung sich von den beiden Herren verabschiedend, verließ er das Gemach.
»Das war ja ein eigentümlicher Besuch!« sagte Albrecht, der sich bisher völlig schweigsam verhalten hatte. »Was gibt denn diesem Pfarrer das Recht, sich in unsre Familienangelegenheiten zu mischen?«
Steinrück zuckte die Achseln.
»Er war früher der Beichtiger unsrer Verwandten und nimmt noch jetzt eine Vertrauensstellung bei ihnen ein, trotzdem er hoch oben in einem einsamen Alpendorf lebt. Er und kein andrer sollte Steinrück zu Grabe geleiten. Ich werde ihm aber klar machen, daß ich priesterlichen Einflüssen nicht zugänglich bin; ganz zurückweisen konnte ich ihn nicht, da er es war, der damals meine Hilfe für den verwaisten Knaben anrief, so wenig wie ich jene Hilfe verweigern konnte.«
»Nun ja, man mußte für den Buben sorgen, und das ist auch geschehen,« stimmte Albrecht in sehr kühlem Tone bei. »Du hast die Sache damals allein in die Hand genommen, Papa; dieser Wolfram – ich erinnere mich noch dunkel des Namens – stand ja wohl früher als Jäger in deinen Diensten?«
»Ja, mein Fürwort verschaffte ihm die Försterstelle bei unserm Vetter. Er ist verschwiegen und zuverlässig und kümmert sich überhaupt nicht um Dinge, die über seinen Horizont hinausgehen. Er fragte auch damals nicht, was für eine Bewandtnis es mit dem Knaben hatte, den man ihm anvertraute, sondern that, was ihm befohlen wurde, und nahm ihn in sein Haus.«
»Wo er jedenfalls am besten aufgehoben war. Du wirst darin doch keine Aenderung treffen?«
»Das wird sich finden. Zunächst will ich ihn einmal sehen.«
Albrecht stutzte, und eine sichtlich unangenehme Ueberraschung prägte sich in seinen Zügen aus.
»Wozu denn das? Weshalb ihn uns persönlich nahe bringen? Dergleichen unliebsame Dinge schiebt man doch möglichst weit von sich.«
»Das ist deine Art,« sagte der Graf scharf. »Die meine ist es, diesen Dingen standzuhalten und Auge in Auge mit ihnen zu rechten, wenn es notwendig ist.« Er stampfte in plötzlich ausbrechender Heftigkeit mit dem Fuße. »Verkommen und verbauern sollte, als Strafe für das Unrecht seiner Eltern! Das muß ich mir ins Angesicht sagen lassen von diesem Priester.«
»Ja, es fehlte nur noch, daß er die Eltern verteidigte,« warf Albrecht spöttisch ein. »Und Michael haben sie ihren Buben genannt! sie haben es gewagt, ihm deinen Namen zu geben, den alten, traditionellen Namen unsres Hauses, das ist doch offenbarer Hohn.«
»Es kann auch Reue gewesen sein,« sagte Steinrück finster. »Dein Sohn heißt allerdings Raoul.«
»Nicht doch, er ist nach dir getauft und trägt deinen Namen.«
»Im Kirchenbuche! Genannt wird er Raoul, dafür hat deine Frau von Anfang an gesorgt.«
»Es ist der Name von Hortenses Vater, an dem sie mit kindlicher Pietät hängt. Du weißt das ja und hast es niemals getadelt.«
»Wenn es nur der Name allein wäre! Aber es ist nicht das einzige, was mir an meinem Enkel fremd ist. Raoul hat auch nicht einen Zug der Steinrück, weder im Gesicht noch im Charakter, er gleicht einzig seiner Mutter.«
»Nun, ich dächte, das wäre kein Nachteil für ihn. Hortense hat von jeher für eine Schönheit gegolten, du ahnst nicht, welche Triumphe sie noch feiert.«
Die Worte klangen scherzhaft, fanden aber keinen Anklang, der alte Graf blieb kühl und ernst.
»Daher stammt vermutlich auch ihre Anhänglichkeit an den Schauplatz dieser Triumphe. Ihr seid ja mehr in Frankreich, bei ihren Verwandten, als daheim. Die Besuche werden immer häufiger und dauern immer länger, und jetzt ist sogar die Rede davon, dich unsrer Gesandtschaft in Paris zu attachieren. Dann hat Hortense ihren Willen vollends durchgesetzt.«
»Ich muß doch gehen, wohin ich gesandt werde,« verteidigte sich Albrecht, »und wenn man gerade mich wählt –«
»Willst du mir etwa deine diplomatischen Erfolge anführen?« unterbrach ihn der Vater mit herbem Spott. »Ich weiß es besser, welche geheimen Federn da spielen, und der Posten ist wahrlich unbedeutend genug. Ich hatte doch mehr von deiner Laufbahn erwartet, Albrecht! Es standen dir Wege genug offen, um wenigstens einigermaßen zur Geltung zu gelangen, aber dazu gehört Ehrgeiz und Energie, und die hast du nie besessen. Jetzt bewirbst du dich um eine Stellung, die du nur deinem Namen verdanken wirst und in der du ein Jahrzehnt bleiben kannst, ohne vorwärts zu kommen auf Befehl deiner Frau.«
Albrecht biß sich auf die Lippen bei diesem mit vollster Rücksichtslosigkeit ausgesprochenen Vorwurf.
»Papa, in diesem Punkte bist du von jeher ungerecht gewesen, du hast meine Heirat nie mit günstigen Augen angesehen. Ich glaubte bei meiner Wahl deines vollen Beifalls sicher zu sein, und du hast mir beinahe einen Vorwurf daraus gemacht, daß ich dir eine schöne, geistvolle Tochter aus dem edelsten Hause zuführte –«
»Die uns bis auf diese Stunde fremd geblieben ist!« ergänzte Steinrück. »Sie hat es noch immer nicht eingesehen, daß sie zu uns gehört, nicht du zu ihr. Ich wollte, du hättest mir die Tochter des einfachsten deutschen Landedelmannes in das Haus geführt, statt dieser Hortense de Montigny. Es thut nicht gut, dies heiße französische Blut in unserm alten germanischen Stamm, und Raoul hat nur zu viel davon. Es wird ihm heilsam sein, wenn er in die strenge militärische Zucht kommt.«
»Ja – du bestehst ja darauf, daß er in die Armee eintritt,« sagte Albrecht zögernd. »Hortense fürchtet nur – und ich fürchte es auch – daß unser Kind den Anstrengungen nicht gewachsen ist. Es ist ein zarter Knabe, er wird diese eiserne Disziplin nicht aushalten.«
»So muß er es lernen! Dich hat deine Kränklichkeit allerdings vom Waffendienste ausgeschlossen, Raoul ist gesund, aber es ist die höchste Zeit, ihn eurer Verweichlichung und Verzärtelung zu entziehen, und die Armee ist gerade die rechte Schule für ihn. Ich will nicht, daß mein Enkel dereinst ein Schwächling wird. Er soll unserm Namen Ehre machen – dafür werde ich sorgen!«
Albrecht schwieg, er kannte den unbeugsamen Willen seines Vaters, der ihm, obwohl er selbst längst Gatte und Vater war, noch unbedingt Gesetze vorschrieb, und Graf Michael Steinrück war der Mann danach, diesem Willen Geltung zu verschaffen.
» Ja, ich kann mir nicht helfen, Hochwürden, Hochwürden, ich bleib' dabei, es ist ein Elend mit dem Buben. Nichts kann er, nichts versteht er, vom Morgen bis zum Abend läuft er in den Bergen herum, und dabei wird er immer dümmer von Tag zu Tag. Aus dem wird weder ein richtiger Weidmann noch sonst etwas, das ist verlorene Müh'.«
Die Worte kamen aus dem Munde eines Mannes, dessen Aeußeres schon verriet, daß er sich mit dem Weidwerk abgab. Er war mit Flinte und Jagdtasche ausgerüstet, eine untersetzte, kraftvolle Gestalt, mit breiten Schultern und derben Zügen. Haar und Bart gänzlich verwildert, der Anzug, eine Mischung von Jäger- und Bauerntracht, gleichfalls im höchsten Grade verwahrlost, dazu eine Sprache so derb und rauh, wie sein ganzes Wesen – so stand er vor dem Geistlichen. Die beiden befanden sich in der Pfarrwohnung von Sankt Michael, dem kleinen, hochgelegenen Wallfahrtsorte des Gebirges, und der Pfarrer, der vor seinem Schreibtisch saß, schüttelte mißbilligend das graue Haupt.
»Ich habe es Euch schon so oft gesagt, Wolfram, Ihr versteht Michael nicht zu behandeln. Mit Schelten und Drohen richtet Ihr bei ihm gar nichts aus, er wird nur noch scheuer dadurch, und ich dächte, er wäre schon scheu genug, wenn er wirklich einmal mit den Menschen in Berührung kommt.«
»Das macht seine Dummheit,« erklärte der Förster. »Der Bube weiß ja nichts vom helllichten Tage, den muß man derb anfassen, wenn er aufwachen soll, und ich habe es Ihnen ja in die Hand geloben müssen, Hochwürden, ihn nicht mehr zu schlagen.«
»Und ich hoffe, Ihr habt Wort gehalten. Es ist viel an dem Kinde gesündigt worden, Ihr und Eure Frau habt es ja fast täglich gemißhandelt, ehe ich hierher kam.«
»Das war ihm gesund! Alle Buben brauchen Schläge, und der Michel hat von jeher die doppelte Portion gebraucht. Nun, er hat sie auch reichlich bekommen; wenn ich aufhörte, da fing meine Frau an, aber geholfen hat es nie etwas, und klüger ist er auch nicht dadurch geworden.«
»Nein, aber er wäre zu Grunde gegangen an dieser rohen Behandlung, wenn ich nicht eingeschritten wäre.«
Wolfram lachte laut auf.
»Zu Grunde gehen? der Michel? Der hätte das Zehnfache ausgehalten, er hat ja eine wahre Bärennatur. Es ist wirklich eine Schande mit dem Burschen, er ist so stark, daß er Bäume ausreißen könnte, und läßt sich hänseln von den Dorfbuben, ohne einen Finger zu rühren. Ich weiß schon, warum er heute wieder nicht mitging, sondern absolut nachkommen wollte. Er will nicht mit mir durch das Dorf, lieber macht er den Umweg durch den Wald, wie immer, wenn er zu Ihnen geht – der feige Bub' der!«
»Feig ist Michael nicht,« sagte der Pfarrer ernst. »Das solltet Ihr doch am besten wissen, Wolfram, Ihr habt mir ja selbst erzählt, daß er gar nicht zu bändigen ist, wenn er mit seinem Jähzorn losbricht.«
»Ja, dann ist er eben verrückt, und dann muß man ihn laufen lassen. Wenn ich nicht wüßte, daß hier oben bei ihm nicht alles richtig ist, dann würde ich noch ganz anders mit ihm umgehen, aber ein Kreuz ist's doch! Es ist nur merkwürdig, daß er so gut schießt und trifft, wenn er nämlich das Wild sieht, aber das kommt nicht oft vor. Er guckt sich die Bäume und den Himmel an, und derweil läuft ihm der Zwölfender vor der Nase vorbei. Ich bin nicht neugierig, aber das möchte ich doch wissen, wo dies Mondkalb eigentlich herstammt!«
Um die Lippen Valentins zuckte es schmerzlich bei den letzten Worten, aber er erwiderte ruhig:
»Das kann Euch ja gleichgültig sein. Bringt nur Michael nicht auf solche Ideen, er fängt sonst an darüber nachzugrübeln und stellt Euch Fragen, die Ihr nicht beantworten könnt.«
»Dazu ist er viel zu dumm!« behauptete der Förster, für den diese Eigenschaft seines Pflegesohns ein Dogma zu sein schien, das unerschütterlich feststand. »Ich glaube, er weiß nicht einmal, daß er überhaupt geboren ist. Aber da schlägt mein Tyras an, er wird den Michel gesehen haben.«
In der That vernahm man draußen das freudige Gebell eines Hundes und nahende Schritte, und gleich darauf trat Michael ein.
Es war ein Jüngling von etwa achtzehn Jahren, zwar ungewöhnlich groß und stark für sein Alter, aber diese kraftvoll derbe Gestalt mit den ungelenken Bewegungen hatte so gar nichts von der Frische und Anmut der Jugend. Das Gesicht, unregelmäßig und unschön in jeder Linie, zeigte einen halb scheuen, halb träumenden Ausdruck, der es noch weniger anziehend machte. Das dicke blonde Kraushaar lag wirr und wild um Stirn und Schläfen, und darunter blickten ein paar Augen hervor, dunkelblau, aber so leer und träumerisch, als berge sich gar kein Seelenleben dahinter. Der Anzug war ebenso verwahrlost und halb bäuerisch wie der des Försters, und in der ganzen Erscheinung lag auch nicht ein einziger Zug, der Sympathie erwecken konnte.
»Nun, kommst du endlich?« empfing ihn der Pflegevater unfreundlich. »Du hast wohl unterwegs geschlafen, sonst müßtest du längst hier sein.«
»Ich bin durch den Wald gekommen,« versetzte Michael, indem er sich dem Geistlichen näherte, der ihm freundlich die Hand hinstreckte. Wolfram lachte höhnisch auf.
»Sagt' ich es Ihnen nicht, Hochwürden? Er hat sich wieder nicht durch das Dorf getraut, ich wußte es ja.«
Michael ließ den anscheinend ganz begründeten Vorwurf mit vollster Gleichgültigkeit über sich ergehen, ohne eine Silbe zu erwidern, er war an diese Behandlung von seiten des Pflegevaters längst gewöhnt; dieser nahm jetzt seinen Hut und machte sich zum Gehen fertig.
»Ich muß noch hinauf nach dem Bannwald,« sagte er. »Da oben sieht es bös aus, mehr als ein Dutzend der stärksten Stämme sind niedergebrochen, die wilde Jagd hat wieder einmal arg gehaust in den Forsten.«
»Die Stürme der letzten Nächte, wollt Ihr sagen, Wolfram.«
»Die wilde Jagd ist's gewesen, Hochwürden! Jetzt zur Frühjahrszeit ist sie ja Nacht für Nacht los. Vorgestern, als wir im Dunkeln durch den Wald kamen, ist der Spuk dicht an uns vorübergezogen, keine hundert Schritte weit. Das tobte und heulte und stürmte, als ob die ganze Hölle los wäre, und ein Stück davon wird es wohl auch gewesen sein. Der Michel in seiner Dummheit wollte gerade drauf los, aber ich ergriff ihn noch rechtzeitig am Arme und hielt ihn fest.«
»Ich wollte mir den Spuk doch einmal in der Nähe anschauen,« sagte Michael ruhig; der Förster zuckte ärgerlich die Schultern.
»Sehen Sie, Hochwürden, so ist der Bub' nun! Vor den Menschen läuft er, und solche Dinge, bei denen jedem Christenmenschen die Haut schaudert, wo jeder sich scheu beiseite drückt und sein Kreuz schlägt, die will er sich anschauen, da geht er mitten hinein! Ich glaube, er hätte sich in aller Ruhe mit den Gespenstern herumgeschlagen, wenn ich ihn nicht gepackt hätte. Dann läge er jetzt im Walde, denn wer in die wilde Jagd hineingerät, der ist hin.«
»Aber Wolfram, kommt Ihr denn nie los von diesem sündhaften Aberglauben?« mahnte der Priester. »Ihr wollt ein Christ sein und steckt noch mit beiden Füßen im Heidentume. Und den Michael habt Ihr auch schon damit angesteckt, er hat den ganzen Kopf voll von den heidnischen Sagen.«
»Ja, eine Sünd' mag's sein, aber wahr ist's doch,« beharrte Wolfram. »Ich glaub' es schon, daß Sie nichts davon spüren. Sie sind ein heiliger Mann, ein geweihter Priester, vor Ihnen hat es Furcht, all das unheimliche Gesindel, das nachts in den Wäldern und Bergen sein Wesen treibt, aber unsereins sieht und hört oft mehr davon, als ihm lieb ist. – Also der Michel bleibt hier?«
»Gewiß, ich sende ihn am Nachmittag zurück.«
»Nun, dann Gott befohlen,« sagte der Förster, indem er den Riemen seiner Flinte fester zog. Er grüßte den Pfarrer und ging, ohne von seinem Pflegesohne weiter Notiz zu nehmen.
Michael, der im Pfarrhause vollständig heimisch zu sein schien, holte jetzt aus einem Wandschränkchen verschiedene Bücher und Hefte hervor, die er auf den Schreibtisch legte. Der gewohnte Unterricht sollte offenbar beginnen, aber noch ehe es dazu kam, hörte man draußen das Geläut eines Schlittens. Valentin sah befremdet auf, die wenigen und seltenen Besuche, die er erhielt, bestanden ausschließlich aus den Pfarrern der einzelnen Alpendörfer, und Wallfahrer waren um diese Zeit nicht zu erwarten. Sankt Michael gehörte nicht zu jenen großen und berühmten Gnadenorten, wohin die Gläubigen das ganze Jahr hindurch in Scharen pilgern. Zu dem kleinen, stillen Wallfahrtsorte, hoch oben im Gebirge, brachten nur die armen Aelpler ihre Gebete und Gelübde, und nur an hohen Kirchentagen sah er eine größere Zahl von Andächtigen dort versammelt.
Der Schlitten war inzwischen näher gekommen und hielt vor dem Pfarrhause. Ein Herr im Pelze stieg aus, erkundigte sich bei der alten Magd, die ihm an der Thür entgegenkam, ob der Herr Pfarrer daheim sei, und trat dann ohne weiteres in das Studierzimmer.
»Ich wünschte Seine Hochwürden zu sprechen,« sagte er, noch auf der Schwelle.
Valentin zuckte zusammen bei dem Klange der Stimme, dann fuhr er mit dem Ausdrucke der freudigsten Ueberraschung empor!
»Hans! Du bist es!«
»Also erkennst du mich doch noch! Ein Wunder wäre es freilich nicht, wenn wir das beiderseitig verlernt hätten,« entgegnete der Fremde, ihm die Hand hinstreckend, die der Pfarrer mit voller Herzlichkeit ergriff.
»Sei willkommen! Hast du wirklich den Weg zu mir gefunden?«
»Ja, ein Wagestück war es allerdings, bis zu dir heraufzukommen,« meinte der Gast. »Stundenlang haben wir uns durch den Schnee arbeiten müssen, bald lagen die gestürzten Tannen quer über den Weg, bald ging es mitten durch einen verschneiten Wildbach, und zur Abwechselung stäubte eine kleine Lawine von den Felsen nieder. Und dabei behauptet mein Kutscher hartnäckig, das sei eine Fahrstraße! Dann möchte ich eure Fußwege sehen, die werden wohl nur für Gemsen gangbar sein.«
Valentin lächelte. »Du bist der alte geblieben, immer spottend und kritisierend. – Laß uns allein, Michael, und sage dem Kutscher des Herrn, er möge ausspannen.«
Michael gehorchte und entfernte sich, der Fremde hatte sich umgewandt und streifte ihn mit einem flüchtigen Blick.
»Hast du dir einen Famulus angenommen? Wer ist denn dies Traumgesicht?«
»Mein Schüler, den ich unterrichte.«
»Nun, das mag eine Arbeit sein! In den Kopf da ist wohl nichts hineinzubringen, das ganze Talent des Burschen scheint in den Fäusten zu stecken, so sieht er wenigstens aus.«
Der Gast hatte inzwischen seinen Pelz abgelegt. Er mochte fünf bis sechs Jahre jünger sein, als der Pfarrer, die Gestalt war kaum mittelgroß, aber der entschieden bedeutende Kopf mit der hohen Stirn und den geistvollen Zügen fesselte auf den ersten Blick. Die hellen, scharfen Augen schienen gewohnt zu sein, alles und jedes bis auf den Grund zu durchdringen, und in der Haltung wie in dem ganzen Wesen gab sich die Ueberlegenheit eines Mannes kund, der in seinem Kreise für eine Autorität gilt.
Augenblicklich musterte er die Umgebung, das Wohn- und Studierzimmer des Pfarrers, das allerdings von einer wahrhaft klösterlichen Einfachheit war, seine Augen schweiften langsam umher in dem engen Raume, dann sagte er, diesmal ohne jeden Spott, aber mit einem Anfluge von Bitterkeit:
»Also hier hast du Anker geworfen! So öde und weltverloren hätte ich mir deine Einsamkeit denn doch nicht gedacht. Armer Valentin! Du mußt es büßen, daß ich mit meinen Forschungen so unerbittlich euren Dogmen zu Leibe gehe, und daß meine Werke auf dem Index stehen.«
Der Pfarrer machte eine sanft abwehrende Bewegung.
»Was fällt dir ein? Es findet ja oft ein Wechsel in den Pfarrämtern statt, und ich bin nach Sankt Michael gekommen –«
»Weil du Hans Wehlau zum Bruder hast!« ergänzte dieser. »Wenn du dich öffentlich von mir losgesagt und auf der Kanzel einigemal gegen den Atheismus gedonnert hättest, wärst du in eine behaglichere Pfarre gekommen, darauf gebe ich dir mein Wort. Man weiß es recht gut, daß wir nicht miteinander gebrochen haben, wenn wir uns auch seit Jahren nicht mehr sahen, und das mußt du büßen. Warum hast du mich nicht öffentlich verdammt, ich hätte es dir wahrhaftig nicht übelgenommen, da du ja doch meine Lehre unbedingt verwirfst.«
»Ich verdamme niemand,« sagte der Pfarrer leise. »Auch dich nicht, Hans, wenn es mir auch wehe genug thut, dich auf diesem Wege zu sehen.«
»Ja, du hattest nie Talent zum Fanatiker, höchstens zum Märtyrer, aber daß ich auch helfen muß, dich dazu zu machen, quält mich oft. Ich habe übrigens dafür gesorgt, daß mein heutiger Besuch unbemerkt bleibt, ich bin gänzlich inkognito hier. Versagen konnte ich es mir nicht, dich noch einmal zu sehen, da ich jetzt nach Norddeutschland übersiedle.«
»Wie? Du willst die Universität verlassen?
»Schon im nächsten Monat. Ich habe einen Ruf nach der Hauptstadt selbst erhalten und habe ihn sofort angenommen, denn ich fühle, daß dort erst der eigentliche Boden für mich und mein Wirken ist. Da wollte ich dir doch vorher noch lebewohl sagen und hätte dich beinahe verfehlt, denn wie ich höre, warst du gestern in Steinrück zur Bestattung des Grafen.«
»Auf ausdrücklichen Wunsch der Gräfin. Ich habe die Trauerzeremonie vollzogen.«
»Ich dachte es mir! Ich bin gleichfalls telegraphisch nach Berkheim an das Sterbebett gerufen worden.«
»Und du bist dem Rufe gefolgt?«
»Gewiß, wenn ich auch die ärztliche Praxis längst aufgegeben und mich dem Lehrstuhl zugewendet habe – das war ein Ausnahmefall. Ich habe es nicht vergessen, daß ich als junger, unbedeutender Arzt von den Steinrücks angenommen wurde, allerdings auf deine Empfehlung, aber sie kamen mir doch mit vollem Vertrauen entgegen. Ich konnte freilich nichts weiter thun, als dem Grafen die Todesstunde erleichtern, aber meine Anwesenheit war doch eine Beruhigung für die Familie.«
Der Wiedereintritt Michaels unterbrach das Gespräch. Er brachte die Nachricht, daß der Mesner den Herrn Pfarrer nur auf einige Minuten zu sprechen wünsche und draußen warte.
»Ich komme sogleich zurück,« sagte Valentin. »Lege deine Schreibereien fort, Michael, der Unterricht fällt für heute aus.«
Er verließ das Zimmer, während Michael sich daran machte, die Bücher und Hefte zusammenzupacken. Der Professor sah ihm dabei zu und fragte flüchtig:
»Also der Herr Pfarrer unterrichtet dich?«
Michael nickte nur und fuhr in seiner Beschäftigung fort.
»Das sieht ihm ähnlich!« murmelte Wehlau. »Da quält er sich damit ab, diesem beschränkten Burschen Lesen und Schreiben beizubringen, weil vermutlich keine Schule in der Nähe ist. – Zeig doch einmal her!«
Damit griff er ohne Umstände nach den Heften und schlug eines derselben auf, hätte es aber vor Ueberraschung beinahe fallen lassen.
»Was? Lateinisch? Wie kommst du denn dazu?«
Michael begriff die Verwunderung nicht, ihm kam es ganz selbstverständlich vor, daß er Latein verstand, und ruhig entgegnete er:
»Das sind meine Arbeiten.«
Der Professor sah den Jüngling, den er seiner Kleidung nach für einen Bauernburschen gehalten hatte, von oben bis unten an, dann fing er an in dem Hefte zu blättern, las einzelne Seiten und schüttelte den Kopf.
»Du scheinst ja ein vortrefflicher Lateiner zu sein. Wo bist du denn eigentlich her?«
»Aus der Försterei, eine Stunde von hier.«
»Und wie heißest du?«
»Michael.«
»Da führst du ja denselben Namen wie der Wallfahrtsort. Bist wohl nach ihm genannt?«
»Ich weiß nicht – ich glaube nach dem Erzengel Michael.«
Er sprach den Namen mit einer gewissen Feierlichkeit aus, und Wehlau, der das bemerkte, fragte mit einem sarkastischen Lächeln:
»Du hast wohl großen Respekt vor den Engeln?«
Michael warf den Kopf zurück.
»Nein, die beten und lobsingen nur die ganze Ewigkeit hindurch, und das mag ich nicht, aber Sankt Michael, den mag ich. Der thut doch wenigstens etwas – er stößt den Satan nieder!«
Es mußte in den Worten oder in dem Ausdruck wohl etwas Ungewöhnliches liegen, denn der Professor stutzte und heftete seine scharfen Augen fest auf das Gesicht des Jünglings, der dicht vor ihm stand, hell überflutet von dem Sonnenschein, der durch das niedrige Fenster hereindrang.
»Merkwürdig,« murmelte er wieder. »Das ist ja auf einmal ein ganz andres Gesicht! Was liegt nur in diesen Zügen?«
In diesem Augenblicke trat Valentin wieder ein, und als er das Heft in der Hand seines Bruders sah, fragte er:
»Hast du Michael examiniert? Nicht wahr, er ist ein guter Lateiner?«
»Gewiß, aber was soll er mit seinem Latein auf einer einsamen Bergförsterei anfangen? Der Vater hat wohl nicht die Mittel, ihn auf eine Schule zu schicken?«
»Nein, aber ich hoffe, auf anderm Wege etwas für ihn zu erreichen,« sagte der Pfarrer, und fuhr dann, während Michael an den Wandschrank ging, leise fort: »Wenn der Arme nur nicht so häßlich und so unbeholfen wäre! Es hängt alles von dem Eindruck ab, den er an einem gewissen Orte macht, und ich fürchte, der wird sehr ungünstig sein.«
»Häßlich, nun ja, das ist er allerdings, und doch, als er vorhin eine übrigens ganz gescheite Aeußerung that, brach plötzlich blitzähnlich etwas hervor, das mich unwillkürlich erinnerte an – jetzt habe ich's – an den Grafen Steinrück.«
»An den Grafen Steinrück?« wiederholte Valentin auf das äußerste betroffen.
»Ich meine nicht den Verstorbenen, sondern seinen Vetter, das Haupt der älteren Linie. Er war in Berkheim anwesend, und dort lernte ich ihn kennen. Er würde eine solche Idee übrigens als eine Beleidigung betrachten, und da hätte er im Grunde recht. Der schöne, imposante Steinrück und der Hans Träumer da! Auch nicht einen Zug haben sie miteinander gemein – ich weiß nicht, woher mir auf einmal der unsinnige Gedanke kam, als ich das Aufflammen dieser Augen sah.«
Der Pfarrer schwieg zu dieser Aeußerung, er sagte nur ablenkend:
»Ja, ein Träumer ist Michael allerdings. Er kommt mir in seiner Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit oft wie ein Nachtwandler vor.«
»Nun, das wäre noch nicht das schlimmste,« meinte Wehlau. »Nachtwandler kann man wecken, wenn man sie bei dem rechten Namen ruft, und wenn der da einmal aufwacht, kommt vielleicht etwas ganz Erträgliches zum Vorschein. Seine Arbeiten sind gar nicht so übel.«
»Und doch ist ihm das Lernen schwer genug gemacht worden! Wie oft hat er sich durch Sturm und Unwetter kämpfen müssen, um den Unterricht nicht zu versäumen, und er hat es stets unverdrossen gethan.«
»Das wäre so etwas für meinen Hans gewesen,« sagte Wehlau trocken. »Der zeichnet in den Schulstunden Karikaturen von seinen Lehrern, ich habe schon ein paarmal ernstlich dazwischen fahren müssen. Der Bube wird zu übermütig, weil er so eine Art Glückspilz ist. Was er anfängt, gelingt ihm, wo er anklopft, findet er offene Thüren und Herzen, und darum bildet er sich ein, man brauche überhaupt nichts mit Ernst anzugreifen, und das Leben sei nur ein einziges Vergnügen von Anfang bis zu Ende. Nun, ich werde ihm schon eine andre Meinung beibringen, wenn es erst an das Studium der Naturwissenschaft geht.«
»Hat er denn Neigung zu diesem Studium?«
»Gott bewahre! Er hat höchstens Neigung zum Kritzeln und Pinseln, und wenn er eine bemalte Leinwand wittert, ist er nicht zu halten, aber ich werde ihm die Narrenspossen austreiben.«
»Wenn er aber Talent hat –« warf der Pfarrer ein, doch der Bruder unterbrach ihn heftig:
»Das ist ja eben das Unglück, daß er Talent hat! Da setzen ihm seine Zeichenlehrer allerhand Dummheiten in den Kopf, und neulich rückt mir ein Freund unsres Hauses, ein Maler, in förmlich tragischer Weise auf den Leib. Ob ich es denn verantworten könnte, der Welt ein solches Talent zu entziehen? Ich konnte mir nicht helfen, ich bin grob geworden.«
Valentin schüttelte halb mißbilligend den Kopf.
»Aber weshalb läßt du deinen Sohn nicht seiner Neigung folgen?«
»Das fragst du noch? Weil ich meine geistige Erbschaft keinem andern gönne, als ihm. Mein Name hat einen Klang in der Wissenschaft, und der soll dem Hans Thür und Thor öffnen im Leben. Tritt er in meine Fußstapfen, so ist ihm der Erfolg gesichert, er ist eben der Sohn seines Vaters. Aber Gnade ihm Gott, wenn er sich einfallen läßt, ein sogenanntes Genie zu werden!«
Michael hatte inzwischen seine Bücher fortgepackt und kam jetzt herbei, um sich zu verabschieden; da der Unterricht heute ausfiel, hatte er keine Veranlassung, länger im Pfarrhause zu verweilen. Sein Gesicht zeigte wieder ganz den leeren, träumenden Ausdruck, der ihm sonst eigen war, und als er ging, sagte Wehlau halblaut zu seinem Bruder:
»Du hast recht, er ist gar zu häßlich – der arme Teufel!«
Die Grafen von Steinrück waren ein altes, einst sehr mächtiges Adelsgeschlecht, das seinen Stammbaum weit in die Jahrhunderte zurückführte. Die beiden Zweige des Hauses rühmten sich allerdings einer gemeinsamen Abstammung, waren aber jetzt nur weitläufig verwandt, und es hatte Zeiten gegeben, wo sie gar nicht miteinander verkehrten, stand doch schon die Verschiedenheit der Konfession trennend zwischen ihnen.
Die ältere, protestantische Linie, die in Norddeutschland heimisch war, besaß nur ein Majorat, das ein ziemlich mäßiges Einkommen gewährte, die süddeutschen Vettern dagegen waren Herren eines sehr bedeutenden Grundbesitzes, ausschließlich Allodialgüter, und gehörten zu den Reichsten des Landes. Dieser Reichtum lag gegenwärtig in der Hand eines achtjährigen Kindes, das Töchterchen des eben verstorbenen Grafen war die einzige Erbin desselben. Der schon hoffnunglos Erkrankte hatte seinen Vetter zu sich rufen lassen und ihn zum Testamentsvollstrecker und Vormund seines Kindes ernannt. Damit wurde zugleich eine Entfremdung ausgeglichen, die seit Jahren zwischen den beiden Familien bestand und ihren Grund in einem erst geknüpften und dann jäh zerrissenen Bande hatte.
Graf Steinrück hatte außer seinem Sohne noch eine Tochter besessen, ein schönes, reichbegabtes Mädchen, den Liebling des Vaters, dem sie an Charakter sehr ähnlich war. Sie sollte sich dereinst mit ihrem Verwandten, dem jetzt dahingeschiedenen vermählen, das war längst in der Familie beschlossen, und die junge Gräfin war infolgedessen oft wochenlang im Hause ihrer künftigen Schwiegereltern.
Da trat, noch ehe die förmliche Verlobung stattgefunden hatte, in das Leben des achtzehnjährigen Mädchens eine jener Leidenschaften, die zum Unglücke führen, führen müssen, nicht wegen des Standesunterschieds, auch nicht, weil sie den Familienzwist heraufbeschwören, sondern weil ihnen das einzige fehlt, was einem solchen Bunde Segen und Dauer geben kann, die wahre, echte Liebe. Es war ein Rausch, dem Reue und Ernüchterung folgten, aber sie kamen erst, als es zu spät war.
Luise lernte einen Mann kennen, der, obgleich bürgerlicher Herkunft, sich doch den aristokratischen Kreisen vielfach zu nähern wußte. Eine blendende Erscheinung, voll glänzender Eigenschaften und von bestechender Liebenswürdigkeit, gelang es ihm, sich überall Eingang zu verschaffen, aber es war einer jener unsteten, abenteuerlichen Menschen, die in keinem Verhältnisse und an keinem Orte aushalten. Voll leidenschaftlicher Begier nach dem Glanze und Genusse des Lebens, besaß er dennoch nicht die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft emporzuarbeiten, und war ein Glücksritter im vollsten Sinne des Wortes. Vielleicht liebte er die junge Gräfin wirklich, vielleicht wollte er durch sie nur eine Lebensstellung und einen Platz in der Gesellschaft erobern, genug, er wußte sie so vollständig an sich zu ketten, daß sie entschlossen war, trotz des voraussichtlichen Widerstandes des Vaters und der ganzen Familie, sein Weib zu werden.
Es konnte nicht ausbleiben, daß Graf Steinrück von der Sache erfuhr, und er griff sofort mit einer Energie ein, die in diesem Falle verhängnisvoll wurde. Er glaubte mit einem Machtworte, mit Befehlen und Drohungen der Sache ein Ende zu machen, und rief damit nur jenen Trotz wach, den die Tochter von ihm geerbt hatte. Sie weigerte sich entschieden, zu gehorchen, widerstrebte energisch allen Versuchen, sie zur sofortigen Verlobung mit ihrem Vetter zu zwingen, und wußte trotz der strengsten Bewachung in Verbindung mit dem Geliebten zu bleiben. Plötzlich war sie verschwunden, und schon nach wenigen Tagen traf die Nachricht ein, daß die Trauung vollzogen und sie die Gattin Rodenbergs sei.
Die Ehe war unanfechtbar, trotz der Eile und Heimlichkeit, mit der sie geschlossen wurde, Rodenberg hatte dafür gesorgt und alles längst vorbereitet. Er rechnete darauf, daß Graf Steinrück den Gemahl seiner Tochter schließlich nicht verleugnen und fallen lassen könne, rechnete auf die Neigung des Vaters zu seinem Lieblingskinde, aber er kannte jene eiserne Natur nicht. Steinrück antwortete auf die Vermählungsanzeige mit der vollständigen Lossagung von seiner Tochter und verbot ihr, ihm je wieder zu nahen – sie existierte hinfort nicht mehr für ihn.
Er hielt das mit unerbittlicher Strenge aufrecht bis zu ihrem Tode und noch darüber hinaus. Rodenberg machte anfangs noch Versuche, eine Annäherung an den Vater seiner Frau zu erreichen oder zu ertrotzen, er mußte aber endlich einsehen, daß sich von dem Grafen nichts erreichen und erzwingen ließ, und da ihm alle Hilfsquellen abgeschnitten waren, so warf er sich mit Weib und Kind wieder in das Abenteurerleben, das die Zügellosigkeit seiner Natur vollends entfesselte.
Was nun folgte, war ein unlösliches Gewebe von Schuld und Elend, ein stufenweises Sinken zum Abgrunde, und das Los der jungen Frau an der Seite dieses Gatten, dem sie Glanz und Reichtum, Heimat und Familie geopfert hatte, ließ sich nur zu leicht erraten, waren doch all die Hoffnungen gescheitert, die er an sie und ihren Besitz knüpfte. Sie verleugnete auch jetzt ihren Charakter nicht und hielt aus an der Seite des Mannes, dessen Weib sie einmal geworden war, ohne je einen Versuch zu machen, bei ihrem Vater Hilfe und Rettung zu suchen, sie wußte freilich, daß es vergebens gewesen wäre, vermochte doch nicht einmal ihr Tod ihn zu versöhnen. Jetzt deckte sie und ihren Gatten schon seit Jahren das Grab, und damit war auch jenes unselige Familiendrama begraben.
Eine volle Woche war seit der Bestattung auf Steinrück vergangen. Graf Michael, der die ehemaligen Zimmer seines Vetters bewohnte, befand sich in dem Erkergemach und hatte soeben die Meldung empfangen, daß der Förster Wolfram, den er zu dieser Stunde befohlen hatte, angelangt sei. Er war heute in voller Uniform, denn es galt eine Fahrt nach dem benachbarten Städtchen, wo der Bruder des Landesherrn eingetroffen war, um einer Gedenkfeier beizuwohnen. Selbstverständlich hatte man auch die vornehmsten Persönlichkeiten der Umgegend dazu eingeladen, und der nunmehrige Herr von Steinrück konnte sich dieser ersten offiziellen Veranlassung nicht entziehen, wenn er auch mit Rücksicht auf die Familientrauer nur der Feier selbst, nicht den späteren Festlichkeiten beizuwohnen beabsichtigte. Die Stunde der Abfahrt war bereits bestimmt, indessen blieb immer noch Zeit zur Audienz für den Förster.
Der Graf stand am Schreibtische und nahm aus einem der Fächer einen funkelnden Gegenstand, den Stern eines hohen Ordens, der reich mit Brillanten besetzt war. Im Begriff, ihn zu befestigen, bemerkte er, daß das Band sich gelöst hatte, und da Wolfram in diesem Augenblicke bereits eintrat, so legte er das offene Etui auf den Schreibtisch nieder.
Der Förster war heute in der vollen Gala, in der er sich zeigte, eine ganz stattliche Erscheinung. Haar und Bart hatten sich zur Ordnung bequemen müssen, und der Jagdkleidung war die gleiche Sorgfalt zugewendet. Auch schien er seinem ehemaligen Herrn gegenüber nicht ganz die Formen verlernt zu haben, denn er blieb mit ehrerbietigem Gruß an der Thür stehen, bis der Graf ihm einen Wink gab, näher zu treten.
»Da bist du ja, Wolfram,« sagte er freundlich, sich noch der alten vertraulichen Anrede bedienend. »Ich habe dich lange nicht gesehen, wie ist es dir ergangen?«
»Mir ist's ganz leidlich ergangen, Herr Graf,« versetzte der Förster, der in strammer Haltung dastand. »Ich hab' ja mein Auskommen und der hochselige Herr Graf war auch zufrieden mit mir. Ich komm' freilich das ganze Jahr nicht heraus aus meinen Wäldern, aber daran ist unsereins gewöhnt, man muß sich halt finden in das Alleinsein.«
»Du warst ja verheiratet, ist deine Frau nicht mehr am Leben?«
»Nein, sie starb vor fünf Jahren, Gott hab' sie selig, und Kinder haben wir nie gehabt. Man hat mir wohl zugeredet, wieder zu freien, aber ich mochte nicht. Wer die Geschicht' einmal probiert hat, der hat genug davon.«
»Also war deine Ehe nicht glücklich?« fragte Steinrück, über dessen Züge ein flüchtiges Lächeln glitt bei dieser naiven Behauptung.
»Wie man's nimmt!« sagte der Förster gleichmütig. »Wir sind eigentlich ganz gut miteinander ausgekommen, gezankt haben wir uns freilich alle Tage, aber das gehört dazu, und wenn uns dann der Michel dazwischen kam, dann schlugen wir beide auf den los, und dabei vertrugen wir uns wieder.«
Der Graf hob mit einer jähen Bewegung den Kopf.
»Auf wen habt ihr losgeschlagen?«
»Ja so – das war eine Dummheit!« brummte Wolfram verlegen in seinen Bart.
»Ist etwa von dem Knaben die Rede, der dir übergeben wurde?«
Der Förster senkte das Auge vor dem zornigen Blick, der ihn traf, und verteidigte sich etwas kleinlaut.
»Es hat ihm nichts geschadet, und es hat auch bald aufgehört, denn der Herr Pfarrer von Sankt Michael verbot es uns, und da ließen wir es bleiben. Uebrigens hat der Bube die Schläge reichlich verdient.«
Steinrück erwiderte nichts; er hatte es freilich gewußt, daß der Knabe in rohe und gewaltsame Hände kam, aber der Einblick, den er jetzt erhielt, berührte ihn doch peinlich, und ziemlich ungnädig fragte er: »Hast du deinen Pflegesohn mitgebracht?«
»Jawohl, Herr Graf, wie es befohlen war.«
»So laß ihn eintreten.«
Wolfram ging, um den im Vorzimmer harrenden Michael herbeizurufen, während der Blick des Grafen sich mit unruhiger Spannung auf die Thür heftete, durch die in der nächsten Minute sein Enkel treten sollte, das Kind der verstoßenen, der erbarmungslos gerichteten und doch einst so geliebten Tochter. Vielleicht war er das Ebenbild seiner Mutter, jedenfalls trug er einige Züge von ihr, und Steinrück wußte selbst nicht, ob er diese Erinnerung fürchtete oder – ersehnte.
Da öffnete sich die Thür, und an der Seite seines Pflegevaters trat Michael ein. Auch er hatte mit Rücksicht auf diese Vorstellung seinem Aeußeren größere Sorgfalt zuwenden müssen, aber bei ihm half das wenig. Das Sonntagsgewand kleidete ihn nicht besser und war überdies, obgleich neu, doch bäuerisch in Schnitt und Aussehen. Die dichten, wirren Locken ließen sich nun einmal nicht glätten, und die Ordnung, die er heute morgen mühsam hineingebracht hatte, war auf dem Wege hierher längst wieder verloren gegangen, sie legten sich ebenso wild wie sonst um die Stirn. Dazu prägte sich die Scheu und Befangenheit, die er hier in der fremden Umgebung empfand, deutlich auf seinem Gesicht aus, das ausdrucksloser als je erschien, und die nachlässige Haltung, die schwerfälligen Bewegungen seine Erscheinung nur noch abstoßender.
Der Graf warf einen raschen, scharfen Blick auf den Eintretenden, nur einen einzigen, dann preßte er mit dem Ausdruck herbster Enttäuschung die Lippen zusammen. Das also – das war Luisens Sohn!
»Das ist der Michel, Herr Graf,« sagte Wolfram, indem er Michael in nicht gerade sanfter Weise vorwärts schob. »Mach deine Reverenz und bedank dich bei dem gnädigen Herrn, der dich blutarme Waise aufgenommen und für dich gesorgt hat. Es ist ja das erste Mal, daß du deinen Wohlthäter zu Gesicht bekommst.«
Aber Michael machte keine Reverenz und sprach auch keinen Dank aus. Seine Augen hingen wie gebannt an dem Grafen, der sich freilich in der glänzenden Uniform imponierend genug ausnahm, er schien über dem Anschauen alles andre zu vergessen.
»Nun, kannst du nicht reden?« fragte Wolfram ungeduldig. »Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, Herr Graf, es ist nur Dummheit, nichts weiter. Er thut schon daheim kaum den Mund auf, und wenn er viel Neues und Fremdes sieht, wie heut, dann ist es vollends zu Ende mit seinem bißchen Verstand.«
Es war ein Ausdruck offenbaren Widerwillens, mit dem Steinrück sich endlich an den Jüngling wandte, und seine Stimme klang kalt und herrisch, als er fragte:
»Du heißest Michael?«
»Ja,« versetzte dieser, wie mechanisch, er schien das Auge noch immer nicht losreißen zu können von der hohen Gestalt und dem gebietenden Antlitz, das so herb und verächtlich auf ihn niederblickte. Steinrück sah nicht die grenzenlose Bewunderung, die in diesen Augen lag, er sah nur den träumerischen Ausdruck darin, nur ein dumpfes, neugieriges Anstarren, das ihn verletzte.
»Wie alt bist du?« fuhr er, in dem gleichen Tone wie vorhin, fort.
»Achtzehn Jahr.«
»Und was hast du bisher gelernt und getrieben?«
Die Frage schien Michael in Verlegenheit zu setzen, er schwieg und sah den Förster an, der denn auch für ihn das Wort nahm.
»Getrieben hat er eigentlich nichts, Herr Graf, obgleich er den ganzen Tag im Walde herumläuft, und gelernt wird er wohl auch nicht viel haben. Ich hab' keine Zeit, mich darum zu kümmern, zu Anfang thaten wir ihn in die Dorfschule, und später hat sich der Herr Pfarrer seiner angenommen und ihn unterrichtet. Viel wird es aber auch nicht geworden sein, trotz aller Mühe, der Michel begreift nun einmal nichts.«
»Aber er muß sich doch für irgend eine Thätigkeit entscheiden. Wozu taugt er denn und was will er werden?«
»Gar nichts – und er taugt auch zu nichts!« sagte der Förster lakonisch.
»Das ist ja ein glänzendes Zeugnis, das dir ausgestellt wird!« sagte der Graf verächtlich. »Also den ganzen Tag im Walde herumlaufen, das ist deine Arbeit, das kostet allerdings keine Anstrengung, und viel zu lernen braucht man auch nicht dabei, aber es ist eine Schande, daß ein junger, kräftiger Bursche wie du sich so etwas sagen lassen muß.«
Michael schaute betroffen auf bei diesen herben Worten, und in seinem Antlitz begann langsam eine dunkle Röte aufzusteigen, der Förster aber stimmte bei:
»Ja, das mein' ich auch, aber mit dem Michel ist ja nichts anzufangen. Sehen Sie ihn sich nur an, Herr Graf, der gibt sein Lebtag keinen richtigen Weidmann ab.«
Es schien dem Grafen Ueberwindung zu kosten, sich überhaupt noch mit einer Sache abzugeben, die ihm so zuwider war, aber er bezwang sich und sagte hart und befehlend:
»Tritt näher!«
Michael rührte sich nicht, er stand da, als habe er den Befehl gar nicht gehört.
»Hast du so wenig Gehorsam gelernt?« fragte Steinrück drohend. »Tritt näher, sage ich.«
Michael blieb noch immer regungslos, bis der Förster sich veranlaßt fand, seiner vermeintlichen Dummheit zu Hilfe zu kommen, er faßte ihn derb an der Schulter, traf aber auf entschiedenen Widerstand seines Pflegesohns, der sich mit einer heftigen Bewegung losriß. Es lag nur Trotz in diesem jähen Zurückweichen, aber es sah wie Flucht aus und so faßte es auch der Graf auf.
»Also auch noch feig!« murmelte er. »Wahrhaftig, es ist genug!«
Er zog die Klingel und rief dem eintretenden Diener zu: »Der Wagen soll vorfahren,« wandte sich dann aber wieder an den Förster.
»Mit dir habe ich noch ein paar Worte zu reden, folge mir.«
Er öffnete die Thür eines Nebengemaches und schritt voran.
Wolfram versuchte, indem er ihm folgte, das Benehmen seines Pflegesohnes zu entschuldigen.
»Er hat sich vor Ihnen gefürchtet, Herr Graf, der Bub' hat nun einmal keine Courage im Leibe!«
»Das sehe ich!« sagte Steinrück mit grenzenloser Verachtung; wenn er alles verzieh, Feigheit verzieh er nicht, das war in seinen Augen ein unauslöschlicher Makel.
»Laß gut sein, Wolfram, ich weiß, du kannst nichts dafür, aber du wirst den Burschen wohl einstweilen noch behalten müssen, denn der taugt höchstens für deine Bergförsterei. Da mag er meinetwegen sein Leben verdämmern und verdummen, zu etwas anderm auf der Welt taugt er nicht!«
Er ging mit dem Förster, ohne sich weiter um Michael zu kümmern, der noch regungslos an demselben Platze stand. Noch lag die dunkle Röte auf seinem Gesicht, aber es war jetzt nicht mehr leer und ausdruckslos. Finster, mit zusammengebissenen Zähnen schaute er dem Manne nach, der so erbarmungslos den Stab über ihn und seine Zukunft brach. Er hatte ja oft genug Aehnliches gehört, aus dem Munde des Försters, ohne daß es ihn aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln vermochte, aber es klang so anders von jenen stolzen Lippen, und der verächtliche Blick jener Augen bohrte sich wie ein schmerzender Stachel in seine Seele. Zum erstenmal empfand er die Behandlung, an die er von Kindheit an gewöhnt war, als ein brennendes Weh, als einen Schimpf, der zu Boden drückte.
Der Diener war gegangen, um den erhaltenen Befehl auszuführen, und Michael befand sich allein im Gemache. Durch das Erkerfenster strömte der Sonnenschein herein und lag hell auf dem Schreibtische, wo es gleißend aufblinkte, die Diamanten des Ordenssterns sprühten und glänzten in allen Regenbogenfarben. Aber auch über das dunkle Holzgetäfel zuckten goldene Lichter und auf dem Fußboden einten sie sich mit dem Scheine des Kaminfeuers, das schon in Glut zusammensank.
»Was thust du hier?« fragte auf einmal eine Kinderstimme.
Michael wandte sich um, auf der Schwelle des anstoßenden Schlafzimmers, dessen Thür offen geblieben war, stand ein etwa achtjähriges Kind, ein kleines Mädchen, und blickte verwundert auf den Fremden, der jetzt lakonisch antwortete:
»Ich warte.«
Die Kleine, das hinterlassene Töchterchen des Grafen Steinrück, kam näher und besah sich neugierig den Fremden, mußte aber wohl bald zu der Ueberzeugung kommen, daß dieser junge Mensch in der halb bäurischen Kleidung nicht als Gast im Schlosse war, denn sie rümpfte das feine Näschen, da er aber auf jemand wartete, so ließ sich gegen sein Hiersein füglich nichts einwenden. Sie ließ ihn deshalb stehen und lief an den Kamin, wo sie sich damit unterhielt, in die Glut zu blasen und sich an den sprühenden Funken zu ergötzen.
Es war ein kleines, zierliches Geschöpf, schlank und zart wie eine Elfe und unleugbar ein schönes Kind, trotz des stark rötlichen Haares. Aber gerade dieses Haar, das in langen Locken über Hals und Schultern auf den schwarzen Krepp des Trauerkleidchens fiel, gab der Kleinen einen eigentümlichen Reiz. Aus dem rosigen Kindergesicht blickten ein paar große Augen von unbestimmter Farbe, sie glänzten wie Sterne, aber es lag ein seltsam schillernder Glanz darin, harmlose, lachende Kinderaugen waren es nicht.
Es dauerte nur kurze Zeit, dann wurde die Kleine des Spiels mit den Funken überdrüssig und sah sich nach einer andern Unterhaltung um, ihr Blick fiel wieder auf Michael, der diesmal einer näheren Beachtung gewürdigt wurde.
»Wo kommst du her?« fragte sie, sich dicht vor ihn hinstellend.
»Aus dem Walde,« versetzte er ebenso einsilbig wie vorhin.
»Weit von hier?«
»Sehr weit.«
»Und gefällt es dir in unserm Schlosse?«
»Nein!«
Hertha sah ihn höchst verwundert an mit ihren glänzenden Augen, sie hatte die Frage sehr herablassend gethan, und nun unterstand sich dieser fremde Mensch, kurz und trocken zu erklären, daß es ihm in dem Grafenschlosse nicht gefalle. Die Kleine überlegte augenscheinlich, ob sie das übelnehmen solle, da fiel ihr Blick auf den Hut, den Michael in der Hand hielt, und den ein Strauß großer, prachtvoller Schneerosen zierte.
»O, die schönen Blumen!« rief sie erfreut. »Gib sie mir!« Sie streckte begehrlich die kleinen Arme empor und hatte den Hut ergriffen und den Strauß losgenestelt, ehe Michael auch nur antworten konnte. Er sah etwas betroffen aus, als so ohne weiteres über sein Eigentum verfügt wurde, machte aber keinen Versuch, es zu hindern.
Die Kleine hatte sich in den Lehnstuhl am Kamin gesetzt mit ihren Blumen, von denen sie ganz entzückt schien, und begann jetzt unbefangen und zutraulich zu plaudern. Sie erzählte von dem großen Schlosse. wo sie gewöhnlich mit ihren Eltern wohne und wo es viel schöner sei als hier, von ihrem Pony, auf dem sie spazieren reite und der leider dort geblieben sei, von der Mutter, kurz von allem möglichen. Die Blödigkeit ihres Zuhörers schien ihr großen Spaß zu machen, sie versuchte immer wieder, ihn zum Reden zu bringen, und brachte es denn auch wirklich heraus, daß er der Sohn des Försters sei und in der Försterei hoch oben in den Bergen wohne; sie schien sich sehr dafür zu interessieren.
Es lag etwas Berückendes in dieser süßen, schmeichelnden Kinderstimme und in der kleinen Elfengestalt, die sich so zierlich und geschmeidig in die Polster schmiegte, und dazu leuchtete das Haar förmlich auf dem dunkeln Grunde. Michael kam langsam näher und fing allmählich an, Rede und Antwort zu geben, dies Schmeicheln, Lachen und Plaudern umspann ihn mit einer Macht, die er nur dunkel empfand, der er sich aber nicht zu entziehen vermochte.
Hertha hatte während der ganzen Zeit unaufhörlich mit ihren Blumen gespielt, die sie bald zusammenfügte, bald wieder trennte, jetzt aber schien sie auch dieses Spiels müde zu werden und begann den eben noch so heiß begehrten Strauß zu zerpflücken. Die kleinen Hände zerstörten erbarmungslos die weißen Blüten, um sie dann achtlos auf den Boden zu werfen, und waren unendlich flink dabei.
Michael zog die Stirn kraus, und mahnend zwar, aber doch im Tone der Bitte sagte er:
»Nicht zerpflücken! Die Blumen waren schwer zu finden.«
»Ich mag sie aber jetzt nicht mehr!« erklärte Hertha, indem sie, ohne auf das Verbot zu achten, in ihrem Zerstörungswerke fortfuhr, da aber ergriff Michael ohne weiteres ihren Arm und hielt sie fest.
»Laß mich los!« rief die Kleine zornig, indem sie sich zu befreien versuchte. »Ich mag deine Blumen nicht mehr, und ich mag dich auch nicht mehr! Geh fort!«
Es lag nicht bloß ein kindischer Trotz in diesen Worten. Das »Ich mag dich auch nicht mehr!« klang höhnend und verächtlich, und dabei schillerten die Augen wieder in jenem seltsamen Glanz, der sie so unkindlich machte. Michael gab plötzlich die kleine Hand frei, die er festgehalten, aber in demselben Moment entriß er ihr auch den Strauß.
Hertha glitt von dem Armsessel, um ihren Mund zuckte es wie ausbrechendes Weinen, aber die Augen sprühten dabei im hellsten Zorne.
»Meine Blumen! Gib mir meine Blumen zurück!« trotzte sie und stampfte dabei mit ihrem Füßchen auf den Boden. Da trat Wolfram aus dem Kabinett. Die Entlassung mußte wohl sehr gnädig gewesen sein, denn er sah äußerst zufrieden aus.
»Komm, Michel, wir wollen gehen,« sagte er, seinem Pflegesohn zuwinkend.
Hertha kannte den Förster, der zur Jagdzeit einmal auf dem Schlosse gewesen war, als einen Untergebenen ihres Vaters und begriff auf der Stelle, daß er ihr helfen werde, ihren Willen durchzusetzen, sie wandte sich schleunigst zu ihm.
»Ich will die Blumen wieder haben!« rief sie mit der ganzen Heftigkeit eines verwöhnten, verzogenen Kindes. »Sie sind mein, er soll sie mir zurückgeben!«
»Was für Blumen?« fragte Wolfram. »Die Schneerosen dort? Nun, so gib sie doch her, Michel! Es ist ja die kleine Gräfin, das Kind unsrer Herrschaft.«
Die Kleine schüttelte triumphierend ihre Locken und streckte wie vorhin die Arme empor, aber diesmal war Michael auf seiner Hut, er hielt den Strauß so hoch, daß sie ihn nicht erreichen konnte.
»Nun, wird es bald?« fragte der Förster ungeduldig. »Begreifst du wieder einmal nicht? Du sollst der kleinen Gräfin die Blumen geben, auf der Stelle!«
»Auf der Stelle!« wiederholte Hertha, die vorhin so süße Kinderstimme klang schneidend und befehlend. Michael blickte einige Sekunden stumm nieder auf die kleine Tyrannin und schleuderte dann plötzlich den Strauß in den Kamin.
»So, hole ihn dir!« sagte er herb, wandte ihr den Rücken und schritt aus dem Zimmer.
»Wahrhaftig, mit dem Buben leg' ich heute Ehre ein! Gnade dir Gott, wenn wir erst daheim sind!« murmelte Wolfram mit unterdrückter Wut, indem er ihm folgte.
Hertha blieb allein zurück, sie stand regungslos da und sah mit großen Augen den beiden nach, in der nächsten Minute aber besann sie sich und lief schleunigst wieder an den Kamin. Die Glut sprühte auf und verzehrte knisternd ihre Beute, die zarten weißen Blumen färbten sich glühend rot und leuchteten einen Moment lang wie Wunderblüten, dann krümmten sie sich und sanken in Asche zusammen.
Die Kleine hatte die Hände ineinander geschlungen und sah zu, auf ihrem Gesicht lag noch der Ausdruck des Trotzes, aber ihre Augen füllten sich allmählich mit Thränen, und als die letzte der Blumen den Flammentod gestorben war, brach sie plötzlich in lautes Schluchzen aus. –
Als Graf Steinrück nach einer Weile in das Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er niemand mehr dort. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß die Zeit der Abfahrt gekommen war, und er trat rasch an den Schreibtisch, um den Orden anzulegen, der seine Uniform vervollständigen sollte.
Das Etui lag noch an demselben Platze wie vorhin, aber es war leer, wahrscheinlich hatte der Diener das fehlende Band entdeckt und war eben damit beschäftigt, es zu ersetzen, Steinrück zog die Klingel.
»Meinen Orden,« sagte er flüchtig zu dem Eintretenden. »Ist der Wagen da?«
»Zu Befehl! Aber der Orden – die Ordenszeichen pflegen der Herr Graf ja stets selbst zu verwahren.«
»Gewiß, ich habe ihn auch heute selbst herausgenommen. Es war der große Stern mit den Brillanten. Hast du denn nicht bemerkt, daß das Band gelöst war?«
Der Diener schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Stern gar nicht gesehen, ich kam ja nur auf einen Augenblick in das Zimmer, als der Herr Graf den Befehl hinsichtlich des Wagens erteilten.«
Steinrück blickte mit dem äußersten Befremden auf das leere Etui nieder.
»Du bist seitdem nicht im Zimmer gewesen?«
»Mit keinem Schritte.«
»Auch sonst niemand?«
»Doch, der Sohn des Försters blieb allein hier, als ich ging, den Wagen zu bestellen, und ich glaube, er ist ziemlich lange allein geblieben.«
Es lag ein deutlich ausgesprochener Argwohn in diesen Worten, aber der Graf machte eine heftig abwehrende Bewegung.
»Thorheit, davon kann keine Rede sein! Ist wirklich kein andrer hier gewesen? Besinne dich.«
»Nein, Herr Graf, es hat keiner auch nur den Korridor betreten.«
»Aber das Schlafzimmer – es hat freilich keinen eigenen Eingang.«
»Nur die Tapetenthür, und die führt direkt in die Zimmer der Frau Gräfin.«
Steinrück erbleichte, seine Hand krampfte sich unwillkürlich zusammen, aber noch wehrte er sich gegen den aufsteigenden Verdacht.
»Sieh nach!« sagte er kurz. »Der Stern muß sich finden, unter den Papieren oder den Büchern, vielleicht habe ich ihn verlegt.«
Und ohne die Hilfe des Dieners abzuwarten, begann er selbst zu suchen. Er wußte genau, daß er den Stern in das Etui gelegt und offen gelassen hatte, trotzdem wurde jedes Papier aufgehoben, jedes Buch nachgesehen, sogar die einzelnen Fächer aufgezogen, vergebens, das Vermißte fand sich nicht.
»Es ist nicht da,« sagte der Diener endlich leise. »Wenn es hier in dem offenen Etui gelegen hat, so – bleibt nur eine Erklärung.«
Steinrück antwortete nicht, aber auch er zweifelte jetzt nicht mehr. Also Diebstahl! Gemeiner, niedriger Diebstahl! Das brachte das bis an den Rand gefüllte Maß des Hasses und der Verachtung zum Ueberlaufen.
Es folgte ein sekundenlanges Schweigen, der Diener stand da und wartete auf Befehle, zu sprechen wagte er nicht, denn das Gesicht seines Herrn erschreckte ihn, so hatte er es noch nie gesehen.
»Ist Wolfram noch im Schlosse?« fragte der Graf endlich.
»Ich glaube wohl, er wollte noch zum Kastellan.«
»So rufe mir seinen Sohn her! Aber kein Wort von dem Vorgefallenen, auch gegen den Förster nicht, du überbringst nur den Befehl.«
Der Diener entfernte sich, und einen Moment lang legte Steinrück die Hand über die Augen. Das war furchtbar! Und doch, war es denn so ungeheuerlich bei einem Sproß aus solchem Stamme? Daß er keinen Tropfen von dem Blut der Mutter in sich hatte, verriet schon sein Aeußeres, und jenes andre Blut, das der Vater auf ihn vererbte, nun, das zeigte sich eben jetzt und zeigte, daß man das Recht und die Pflicht hatte, es auszustoßen. Fort damit!
Der Graf stand wieder aufrecht da, mit der alten, eisernen Entschlossenheit, als Michael eintrat, der keine Ahnung hatte, was der erneute Ruf bedeutete, aber ihm nur widerwillig folgte.
»Schließe die Thür,« gebot Steinrück, »und komm näher!«
Diesmal war kein zweiter Befehl notwendig, Michael gehorchte ohne Zögern. Er stand jetzt vor dem Grafen, der das Auge durchbohrend auf ihn richtete und ihm dabei das leere Etui entgegenhielt.
»Kennst du das?« fragte er anscheinend ruhig.
Der Gefragte schüttelte langsam verneinend den Kopf, er begriff die seltsame Frage nicht.
»Es lag hier auf dem Schreibtische,« fuhr Steinrück fort, »aber es war nicht leer, wie jetzt, ein Stern mit funkelnden Steinen befand sich darin. Hast du den auch nicht gesehen?«
Michael besann sich, das mußte der funkelnde Gegenstand gewesen sein, der so gleißend aufblinkte im Sonnenschein, den er aber nicht weiter beachtet hatte.
»Nun, ich warte auf Antwort,« sagte der Graf, ohne das Auge von seinem Gesicht zu lassen. »Wo ist der Stern geblieben?«
»Wie soll ich denn das wissen?« fragte Michael, immer mehr verwundert über dies seltsame Examen, die Lippen des Grafen zuckten in tiefster Bitterkeit.
»Also du weißt es wirklich nicht? Scheinst doch nicht so beschränkt zu sein, wie du dich anstellst, wenigstens spielst du trefflich Komödie. Wo ist der Stern geblieben? Ich will es wissen, heraus damit!«
Der drohende Ton der letzten Worte machte dem Jüngling endlich die Wahrheit klar, er stand da wie vom Blitze getroffen, so entsetzt, so fassungslos, daß er im Augenblick gar nicht fähig war, sich zu verteidigen, und das nahm Steinrück den letzten Zweifel, es sah in der That aus wie Schuldbewußtsein.
»Gesteh, Bube!« sagte er mit gedämpfter Stimme, aber mit einem furchtbaren Ausdruck. »Gib das Gestohlene heraus und danke Gott, wenn ich dich dann laufen lasse. Hörst du nicht? Deine Diebsbeute sollst du herausgeben!«
Michael zuckte zusammen, als habe er eine Wunde empfangen, im nächsten Augenblick aber fuhr er auf.
»Ich ein Dieb? Ich soll –«
»Still!« unterbrach ihn Steinrück heftig. »Ich will keinen Lärm, kein Aufsehen, aber du kommst nicht von der Stelle, bis du gestanden hast. Gestehe!«
Er faßte ihn hart am Arm, und seine Hand verstand es, festzuhalten, sie schloß wie eine eiserne Klammer, doch mit einem einzigen kraftvollen Ruck hatte sich Michael losgerissen.
»Lassen Sie mich!« keuchte er. »Sagen Sie das nicht noch einmal, – nicht noch einmal, oder –«
»Willst du mir etwa noch drohen?« rief der Graf, der diesen Ausbruch für den Gipfel der Frechheit hielt. »Wahre dich, Bube! Noch ein Wort, und ich vergesse, daß ich dich schonen muß.«
»Ich bin aber kein Dieb!« schrie Michael gellend auf. »Und wer mich so nennt – den schlage ich zu Boden!«
Zugleich riß er einen schweren silbernen Armleuchter von dem nächsten Tische und schwang ihn wie eine Waffe gegen den Grafen, dieser trat einen Schritt zurück, nicht vor der drohenden Bewegung, sondern vor dem Anblick, der sich ihm bot. War denn das noch derselbe junge Mensch, der vorhin hier gestanden hatte, mit dem leeren, träumenden Gesicht, dem scheuen, blöden Wesen? Jetzt bäumte er sich auf wie ein verwundeter Löwe, bereit, sich auf den viel stärkeren Gegner zu stürzen, maßlose Wut und maßlose Wildheit in jedem Zuge. Und die Augen Steinrücks, die so vernichtend niederflammten, trafen auf ein andres Augenpaar, dunkelblau wie das seinige und in diesem Moment auch flammend wie das seinige, es war ein starres, atemloses Anschauen, aber – so sah kein Feigling und so sah auch kein Dieb aus.
Da flog die Thür auf – man mochte im Vorzimmer wohl die lauten, drohenden Stimmen gehört haben – der Förster stand auf der Schwelle und hinter ihm zeigte sich das erschrockene Gesicht des Dieners.
»Bube – bist du unsinnig geworden?« schrie Wolfram, indem er seinem Herrn zu Hilfe eilte und Michael an der Schulter packte, doch dieser schüttelte ihn ab, wie ein angeschossenes Wild die Meute, schmetterte dann wütend den Leuchter zu Boden und stürzte nach der Thür. Hier aber vertrat ihm der Diener den Weg.
»Halten Sie ihn auf!« rief er dem Förster zu. »Er darf nicht fort, er hat den Herrn Grafen bestohlen!«
Wolfram, der eben Miene machte, sich seines Pflegesohnes zu versichern, hielt entsetzt inne.
»Der Michel – ein Dieb?«
Ein Aufschrei brach aus der Brust des Gequälten, so wild und verzweiflungsvoll, daß Steinrück rasch dazwischen trat. Er wollte Halt gebieten, aber es war zu spät, schon taumelte der Diener, von einem Schlage getroffen, seitwärts, und Michael stürzte, wie gejagt von dem furchtbaren Worte, an ihm vorüber, zur Thür hinaus.
Der Förster Wolfram trat in das Pfarrhaus von Sankt Michael, wo er erwartet zu werden schien, denn der Pfarrer kam ihm schon im Hausflur entgegen.
»Nun, Wolfram, noch immer keine Nachricht?«
»Nein, Hochwürden, keine Spur von dem Buben, aber vom Schlosse kann ich Ihnen Nachricht bringen, ich komm' eben daher.«
Valentin öffnete die Thür zu seinem Studierzimmer und winkte dem Förster, ihm zu folgen, aber die Nachrichten aus dem Schlosse lagen ihm offenbar nicht so am Herzen, wie die Frage, die er mit allen Zeichen der Unruhe wiederholte:
»Also Michael ist auch heute nicht nach Haus gekommen?«
»Nein, Hochwürden, ich sag's ja.«
»Das ist nun der dritte Tag und keine Spur, wo man ihn suchen könnte! Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist!«
»Dem stößt nichts zu,« sagte der Förster mit rauhem Lachen. »Der streift irgendwo herum und wagt sich nicht nach Haus, weil er sich wohl denken kann, was da auf ihn wartet, aber einmal muß er doch wiederkommen, und dann gnad' ihm Gott!«
»Was wollt Ihr thun, Wolfram? Denkt an Euer Versprechen.«
»Das habe ich gehalten, solange der Unheilsbube noch zu regieren war, aber jetzt ist's zu End' damit! Wenn er glaubt, alles niederschlagen und niederrennen zu können, so soll er erfahren, daß es wenigstens noch einen gibt, der ihm gewachsen ist, und das wird er spüren, solange ich die Arme regen kann.«
»Ihr rührt Michael nicht an, bis ich ihn selbst gesprochen habe,« sagte der Geistliche ernst. »Ihr kommt also vom Schlosse? Wie steht es dort, hat sich der vermißte Ordensstern denn nun endlich gefunden?«
»Jawohl, noch an demselben Tage. Die kleine Gräfin Hertha hatte das funkelnde Ding als Spielzeug mitgenommen, war damit nach ihrem Zimmer gelaufen und brachte es schließlich ihrer Mutter, da klärte sich die Geschichte auf.«
»Also um der Spielerei eines Kindes willen!« sagte Valentin mit schmerzlicher Bitterkeit. »Ein so schmachvoller, erniedrigender Verdacht, ohne Untersuchung, ohne Beweise und gerade gegen Michael, der –«
Er brach plötzlich ab, der Förster aber sagte grollend:
»Warum hat er den Mund nicht aufgethan und sich verantwortet! Ich hätte mich schon dagegen gewehrt, aber der Michel wird wohl wieder dagestanden haben wie ein Stock und hernach, als man ihm ernstlich zu Leibe ging, da war er wie ein angeschossener Bär. Auf den Herrn Grafen loszugehen! Es ist nicht zu glauben, aber ich hab' es ja selbst gesehen, wie er dastand mit dem Leuchter in der Hand! Schließlich werde ich die Geschichte ausbaden müssen, die der verdammte Bube angerichtet hat. Der Herr war heut sehr ungnädig, kaum daß er ein paar Worte mit mir sprach, aber einen Brief hat er mir gegeben, den soll ich Ihnen überbringen, Hochwürden.«
Er zog ein Schreiben hervor und reichte es dem Priester, der es in Empfang nahm.
»Es ist gut, Wolfram. Geht jetzt, und wenn sich Michael auf der Försterei blicken läßt, schickt ihn sofort zu mir. Aber ich verbiete Euch noch einmal jede Mißhandlung, erst will ich ihn hören.«
Der Förster ging, grollend darüber, daß er das Strafgericht an dem »Unheilsbuben« noch aufschieben sollte, aber aufgehoben sollte es deshalb nicht sein, das gelobte er sich. Als Valentin allein war, erbrach er den Brief, der nur wenige Zeilen von der Hand des Grafen enthielt.
»Hochwürden! Der vermißte Gegenstand hat sich gefunden, und der ausgesprochene Verdacht erweist sich somit als ungerecht. Was das Benehmen Ihres Schützlings dabei betrifft, der, anstatt sich zu verteidigen und die Sache aufzuklären, sich wie ein Rasender gebärdete und sogar zu einem Angriff auf mich fortreißen ließ, so werden Sie durch Wolfram wohl darüber unterrichtet sein und es begreifen, wenn ich nunmehr jedes Eingehen auf Ihre Wünsche ablehne. Dieser rohe, beschränkte Bursche, mit seiner zügellosen Wildheit, gehört einzig in die Sphäre, die ihm von Anfang an zugewiesen wurde, und in der er allein möglich ist. Wolfram ist gerade der rechte Mann, ihn zu bändigen, er bleibt in seiner Obhut. Bei einer solchen Natur wäre jede Erziehung verschwendet, und ich bin überzeugt, daß Sie mir nach dem Vorgefallenen darin beipflichten werden.
Michael, Graf Steinrück.«
Der Lesende ließ das Blatt sinken und blickte bekümmert vor sich hin.
»Kein einziges Wort des Bedauerns über den schmählichen Verdacht, der einen Unschuldigen getroffen hat, nur Verurteilung und Verachtung. Und es ist doch Blut von seinem Blut!«
»Hochwürden!« klang es mit halb unterdrückter Stimme von der Thür her. Valentin fuhr auf, und ein Atemzug der Erleichterung entrang sich seiner Brust.
»Michael! bist du endlich da? Gott sei Dank!«
»Ich glaubte – Sie würden mich auch fortweisen,« sagte Michael leise.
»Erst will ich dich hören. Was stehst du so fremd an der Thür? Komm herein!«
Der junge Mann kam langsam näher, er trug noch die Sonntagskleidung, die er an jenem verhängnisvollen Tage getragen, aber man sah es ihr an, daß sie inzwischen Sturm und Wetter ausgehalten hatte.
»Ich habe mich geängstigt um dich,« sagte Valentin vorwurfsvoll. »Seit zweimal vierundzwanzig Stunden keine Spur, keine Nachricht von dir! Wo bist du gewesen?«
»In den Wäldern.«
»Und wo hast du die Nächte zugebracht?«
»In der leeren Sennhütte droben.«
»In Sturm und Kälte? Warum bist du nicht nach Haus zurückgekehrt?«
»Der Vater hätte mich geschlagen, ich weiß es, aber ich lasse mich jetzt nicht mehr schlagen. Ich wollte es ihm und mir sparen, was dann geschehen wär'!«
Die Antworten klangen tonlos, aber es war nicht mehr die alte Gleichgültigkeit, es lag in dem ganzen Wesen Michaels etwas Fremdes, etwas Starres, Finsteres, das nichts gemein hatte mit seiner früheren Art. Der Priester blickte ihn unruhig an.
»So hättest du zu mir kommen sollen, ich wartete darauf.«
»Ich komme ja auch, Hochwürden, und was sie Ihnen auch von mir gesagt haben, es ist nicht wahr. Ich bin kein Dieb –«
»Das weiß ich! Ich habe nie auch nur einen Augenblick daran geglaubt, und jetzt ist der Verdacht überhaupt von dir genommen. Das Vermißte hat sich gefunden, die kleine Gräfin Hertha hatte es als Spielzeug mitgenommen.«
Michael strich sich das durchnäßte Haar aus der Stirn, und ein eigentümlich herber Ausdruck legte sich auf seine Züge.
»Ah, das Kind mit den rotgoldenen Locken und den schönen, schlimmen Augen, also dem danke ich das Unheil?«
»Die Kleine trägt keine Schuld, sie hat nach Art verwöhnter Kinder nach einem vermeintlichen Spielwerk gegriffen, das im Zimmer ihres Onkels lag, und es dann ihrer Mutter gebracht. Die Schuld ist dein, hättest du dich ruhig und vernünftig verteidigt, so wäre die Sache sofort aufgeklärt worden, statt dessen – Michael, ist es denn möglich, du hast die Hand gegen den Grafen Steinrück erhoben?«
»Er nannte mich Dieb!« stieß Michael mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn Sie wüßten, was er mir angethan hat! Gestehen sollte ich, das Gestohlene, die Diebesbeute sollte ich herausgeben! Er fragte gar nicht, ob ich schuldig war, er hätte mich am liebsten mit dem Fuße fortgestoßen!«
Es lag eine wilde, qualvolle Bitterkeit in den Worten, Valentin schien sie zu begreifen, er sah ja, daß sein Zögling bis zum Wahnsinn gereizt worden war.
»Man hat dir unrecht gethan,« sagte er, »schweres Unrecht, aber du durftest dich nicht in dieser maßlosen Weise dagegen aufbäumen, und die Folgen deines Jähzornes werden schwer genug auf dich zurückfallen. Der Graf ist begreiflicherweise empört über den Vorfall. Du darfst hinfort nicht mehr auf seinen Schutz rechnen, er will nichts weiter von dir hören.«
»Nicht? Aber er soll von mir hören! Wenigstens einmal noch.«
»Was willst du damit sagen? Du willst doch nicht –?«
»Zu ihm! Ja, Hochwürden! Jetzt weiß er, welchen ungerechten Schimpf er mir angethan hat, jetzt soll er es zurücknehmen.«
»Du willst den Grafen Steinrück zur Rede stellen?« rief der Priester in äußerster Bestürzung. »Welch ein unsinniger Gedanke! Den wirst du aufgeben.«
»Nein!« sagte Michael kalt und hart.
»Michael!«
»Nein, Hochwürden, das thu' ich nicht, auch wenn Sie es mir verbieten. Ich werde ihn fragen, warum er mich Dieb genannt hat.«
All seine Gedanken drehten sich nur um den einen Punkt, um den Schimpf, den man ihm angethan, und der wie ein glühendes Eisen in seiner Seele fortbrannte. Valentin stand ratlos da, er fühlte, daß er hier jede Macht verloren hatte, und die wilde Rachsucht, die aus jenem Vorhaben sprach, erfüllte ihn mit namenloser Angst. Wenn Michael es wirklich wagte, den Grafen zur Rede zu stellen, und dieser den Versuch machte, den »rohen zügellosen Burschen« zu züchtigen – das konnte unabsehbares Unglück geben und das mußte verhindert werden um jeden Preis.
»Ich habe nie geglaubt, daß meine Stimme so machtlos bei dir verhallen würde,« sagte er schmerzlich. »Nun denn, so mag etwas andres zu dir sprechen! Ob dir der Graf unrecht gethan hat oder nicht, es war ein Verbrechen, daß du die Hand gegen ihn hobst; du darfst ihm nie, hörst du, niemals feindselig nahen – er steht dir näher, als du ahnst.«
»Mir? Der Graf Steinrück?«
»Ja. Ich wollte dir das, was für dich bis jetzt noch ein Geheimnis geblieben ist, erst später enthüllen, aber dein unsinniges Vorhaben zwingt mich, jetzt schon zu sprechen. Du wärst im stande, dich zum zweitenmal zu vergreifen – an deinem Großvater!«
Michael zuckte zusammen, starr, mit weitgeöffneten Augen blickte er den Sprechenden an.
»Mein Großvater! Er ist –?«
»Der Vater deiner Mutter! Aber du darfst keine Hoffnungen an jenes Band knüpfen, deine Mutter ist enterbt, verstoßen worden, ihre Heirat riß sie auf immer los von ihrer Familie, und sie ist daran zu Grunde gegangen!«
Er schwieg und blickte auf Michael, der keinen Laut von sich gab, aber man sah es, wie die Enthüllung ihn erschüttert hatte, es arbeitete furchtbar in seinen Zügen, und seine Brust hob und senkte sich stürmisch, endlich, nach einer langen Pause sagte er dumpf:
»Und weiter – wollen Sie mir nichts sagen?«
»Nein, mein Sohn, für jetzt weiter nichts. Es ist eine unselige Geschichte, die in Elend und Jammer endigt, ein unlösliches Gewebe von Schuld und Unglück, das deinem Verständnis noch fern liegt. Später, wenn du älter und reifer geworden bist, sollst du alles erfahren, jetzt laß dir an der Thatsache genügen, ich verbürge sie dir. Du begreifst es nun hoffentlich, daß dir die Person des Grafen Steinrück heilig sein muß.«
»Heilig? Vielleicht weil er mich als einen Dieb von seiner Schwelle jagte?« brach Michael plötzlich wild aus. »Er wußte es, daß er mein Großvater ist, und hat mich so behandelt! Wie einen Hund, den man mit dem Fuße fortstößt! Hochwürden, das hätten Sie mir nicht sagen sollen, das nicht! Ich habe den Grafen gehaßt, weil er hart und erbarmungslos war gegen einen Fremden, jetzt aber, jetzt möchte ich ihn –«
Er ballte die Hände mit einem so furchtbaren Ausdruck, daß Valentin entsetzt zurückwich.
»Um aller Heiligen willen, du willst doch nicht –?«
»Ihn anrühren – nein! Ich weiß es ja nun, daß ich nicht die Hand gegen ihn heben darf, aber könnte ich auf andre Weise mit ihm abrechnen, mein Leben gäbe ich darum.«
Valentin stand sprachlos da, aber es war nicht dieser jähe Ausbruch allein, der ihn verstummen machte. Er sah jetzt auch, was seinem Bruder damals so aufgefallen war, jenes seltsame Aufflammen, das plötzlich, blitzähnlich hervorbrach, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Es waren noch dieselben unschönen, unentwickelten Züge, aber das »Traumgesicht« war es nicht mehr: als sei ein Schleier gelüftet worden, so zeigten sich auf einmal eine ganz andre Stirn und ganz andre Augen, und die Bewegung, mit der sich Michael jetzt nach der Thür wandte, hatte etwas von wilder Energie.
»Wo willst du hin?« fragte der Pfarrer hastig. »Nach der Försterei?«
»Nein, da habe ich nichts mehr zu suchen, jetzt vollends nicht mehr – Leben Sie wohl, Hochwürden!«
»Bleib! Wohin denn sonst?«
»Ich weiß nicht – fort – in die weite Welt!«
»Allein? Ohne Hilfsmittel, in vollster Unbekanntschaft mit der Welt und dem Leben? Was willst du dort?«
»Zu Grunde gehen – wie meine Mutter!« sagte Michael herb.
»Nein, beim Himmel, das sollst du nicht!« rief der Priester, sich mit ungewohnter Energie aufrichtend. »Wenn mir auch das Gelübde die Hände bindet, wenn ich nicht für dich sorgen kann, so kann ich die Sorge doch in die Hände eines andern legen. Es war ein Wink der Vorsehung, der meinen Bruder gerade jetzt herführte, er wird mir seine Hilfe nicht versagen, darauf kenne ich ihn.«
Michael schüttelte finster abwehrend den Kopf.
»Lassen Sie mich gehen, Hochwürden, ich bin es ja gewohnt, überall mißhandelt und fortgestoßen zu werden, ich mag keinem Fremden zur Last fallen. Viel ärger kann es da draußen auch nicht zugehen, als bei meinen Eltern, ich weiß das noch von meiner Kinderzeit her. Ein gutes Wort haben wir nie von dem Vater gehört, ich und die Mutter, aber geschlagen hat er uns beide oft genug – es war nicht viel anders, als später in der Försterei, nur daß ich da nicht mehr zu hungern brauchte.«
Valentin schauderte zusammen, er mochte an die Frau denken, die er einst im vollen Glanze der Schönheit und des Glückes gekannt hatte. Das also war das Ende gewesen? Ein grauenvoller Blick in die Tiefe menschlichen Elends!
»Du gehst nicht, Michael,« sagte er mild, aber mit voller Bestimmtheit. »Von deiner Rückkehr nach der Försterei kann allerdings keine Rede mehr sein, du bleibst einstweilen hier, bis die Antwort meines Bruders eingetroffen ist, ich weiß es freilich im voraus, wie sie lautet, und so lange stehst du unter meinem Schutze.«
Michael widersprach nicht mehr und machte auch keinen Versuch mehr, zu gehen. Stumm und finster kehrte er zurück, trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus, aber auf seinem Gesicht lag noch dieselbe trotzige Energie, mit der er vorhin fortstürmen wollte. Jawohl, der Nachtwandler war aufgewacht, als man ihn beim Namen rief, aber es war ein herber Ruf gewesen und ein bitteres Erwachen!
Aus dem dichten Morgennebel war ein goldig klarer Herbsttag emporgestiegen, der die Berge entschleierte und die Thäler mit hellem Sonnenschein erfüllte.
Die kleine Bergstadt, die, etwa eine Stunde von Schloß Steinrück entfernt, malerisch am Eingang des Thales lag, beherbergte augenblicklich einen berühmten Gast. Professor Hans Wehlau, dessen Ruf längst über die wissenschaftlichen Kreise hinausgedrungen und aller Welt bekannt war, befand sich zum Besuch bei seinem Schwager, dem Bürgermeister des Städtchens. Der Professor lebte seit zehn Jahren in der Hauptstadt Norddeutschlands, wo er an der Universität eine hervorragende Stellung einnahm. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich einigermaßen von der Gesellschaft zurückgezogen, zumal auch seine beiden Söhne durch ihre Berufspflichten fern gehalten wurden, der jüngere vollendete das Studium der Naturwissenschaften, das er unter der Leitung des Vaters begonnen hatte, auf einer andern Universität, und der ältere – eigentlich nur ein Adoptivsohn, das Kind eines früh verstorbenen Jugendfreundes hatte die militärische Laufbahn erwählt und stand mit seinem Regiment in einer Provinzialstadt. Den Ausflug in die Berge und zu den Verwandten hatte man aber gemeinschaftlich geplant. Der Professor befand sich schon seit einigen Wochen dort, und seine Söhne waren gestern eingetroffen.
Das stattliche und geräumige Haus des Bürgermeisters lag am Marktplatze, und die oberen Räume desselben, die für gewöhnlich nicht benutzt wurden, waren den Gästen zur Verfügung gestellt worden. Die Frau Bürgermeisterin that das möglichste, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester den Aufenthalt angenehm zu machen, und das war um so anerkennenswerter, als sie eigentlich mit ihm auf dem Kriegsfuße stand. Sie schwankte fortwährend zwischen dem Respekt vor seiner Berühmtheit, die ihr bei der nahen Verwandtschaft sehr schmeichelhaft war, und dem Abscheu vor der »gottlosen« naturwissenschaftlichen Lehre, der er diese Berühmtheit verdankte, und es war ihr größter Kummer, daß ihr Neffe, den sie bei dem Mangel eigener Kinder wie einen Sohn liebte, sich auf Befehl des Vaters gleichfalls dieser Lehre hatte zuwenden müssen.
Es war in den Morgenstunden, der Professor stand am Fenster seines Zimmers und blickte hinaus auf den stillen Marktplatz. Wehlau hatte sich in dem verflossenen Jahrzehnt nur wenig verändert, es war noch dasselbe geistvolle Gesicht mit dem sarkastischen Zuge und den durchdringenden Augen, nur das Haar war grau geworden.
Neben ihm stand die Frau Bürgermeisterin, eine stattliche Erscheinung, der die bösen Zungen von Tannberg allerdings nachsagten, daß sie ihrerseits den regierenden Herrn Bürgermeister regiere und unbedingt die erste Stimme in ihrem Hause habe.
»Also unsre Buben wären nun glücklich da!« sagte der Professor in offenbar sehr behaglicher Stimmung. »Da wird es bei euch Lärm und Unruhe genug geben, denn der Hans stellt das Haus sicher wieder auf den Kopf, du kennst ihn ja. Uebrigens sehen sie beide ganz stattlich aus, Michael besonders hat schon ein echt männliches Aussehen.«
»Hans ist viel hübscher und auch viel liebenswürdiger,« sagte die Dame in sehr bestimmtem Tone. »Michael hat überhaupt nichts von diesen beiden Eigenschaften.«
»Zugestanden, wenigstens für euch Frauen! Dafür besitzt er aber einen Ernst und eine Tüchtigkeit, an denen sich unser Sausewind ein Beispiel nehmen könnte. Es ist keine geringe Auszeichnung für einen so jungen Offizier, zur Dienstleistung beim Generalstab kommandiert zu werden. Er überraschte mich erst bei seiner Ankunft mit der Neuigkeit, Hans dagegen wird wohl nur mit genauer Not seinen Doktor fertig bringen.«
»Das ist nicht die Schuld des armen Buben,« verteidigte die Frau Bürgermeisterin. »Er ist ja von jeher nur mit halbem Herzen bei dem erzwungenen Berufe gewesen. Es hat meiner Schwester damals manche heimliche Thräne gekostet, als du ihn so unerbittlich zwangst, sein schönes Talent zu begraben.«
»Und dir ganze Thränenströme!« spottete der Professor. »Ihr habt mir damals das Leben schwer genug gemacht, ihr waret ja allesamt im Komplott mit dem Jungen, bis ich endlich ein Machtwort sprach, dem er sich wohl oder übel fügen mußte.«
»Mit Verzweiflung im Herzen! Du hast ihm mit seinem Künstlertraum auch das Ideal und die Poesie seines Lebens genommen.«
»Bleib mir vom Leibe mit der Poesie!« unterbrach Wehlau sie. »Mit der Dame stehe ich auf sehr gespanntem Fuße, weil sie meistenteils nur Unheil anrichtet und den Leuten die Köpfe verdreht. Ich habe meinem Herrn Sohn den seinigen noch zeitig genug zurechtgesetzt. Von Verzweiflung habe ich übrigens nie etwas bei ihm gespürt, der hat überhaupt gar kein Talent zum Verzweifeln.«
»Guten Morgen, Papa!« rief eine helle Stimme, und der Gegenstand des Gespräches erschien in der Thür.
Hans Wehlau der Jüngere war ein schlanker, bildhübscher Junge von vierundzwanzig Jahren, dessen Aeußeres allerdings noch sehr die Würde des künftigen Professors vermissen ließ. Das Strohhütchen saß keck und schief auf dem dunkelblonden Haar, und der höchst kleidsame Anzug, das Sommerjackett mit dem umgeschlagenen Hemdkragen, hatte ein entschieden mehr geniales als gelehrtes Ansehen. In dem jugendlich frischen Gesicht blitzten ein paar lustige, lachende Augen, und die ganze Erscheinung hatte etwas so Herzgewinnendes, daß man den Vaterstolz begriff, mit dem der Professor auf seinen Sohn schaute.
»Nun, du Sausewind, da bist du ja!« sagte er heiter. »Ich habe die Tante soeben darauf vorbereitet, daß es wieder Unheil in ihrem Hause geben wird, wie stets, wenn du da bist.«
»O nein, Papa, diesmal beabsichtige ich vernünftig zu sein, ungeheuer vernünftig,« versicherte Hans und lieferte auf der Stelle den Beweis davon, indem er die Frau Bürgermeisterin, die eben ahnungslos ihr Schlüsselkörbchen niedersetzte, plötzlich umfaßte und mit ihr durch das Zimmer walzte, trotz all ihres Sträubens.
»Du böser Bube, willst du mich wohl in Frieden lassen!« schalt sie atemlos, als er sie endlich losließ und ihr mit abgezogenem Hut eine tiefe Verbeugung machte.
»Verzeihung, Tante, aber das war die notwendige Einleitung zu meiner Botschaft. Man verlangt im Küchendepartement dringend deine Gegenwart, und ich habe die Vermittelung übernommen, da ich mich sehr gern im Hause nützlich mache.«
Die Nützlichkeitsbestrebungen ihres Neffen schienen der Frau vom Hause doch einigermaßen verdächtig zu sein, denn sie fragte in sehr gedehntem Tone:
»Was hast du denn in der Küche bei den Mägden zu suchen?«
»Mein Gott, ich habe nur die alte Gretel begrüßt,« erklärte Hans mit der unschuldigsten Miene.
»So? Und die junge Leni war wohl nicht dabei?«
»Die habe ich mir vorstellen lassen, da ich sie noch nicht kannte. Als Verwandter des Hauses ist das meine Pflicht. O, ich habe eine sehr häusliche Richtung!«
»Mein lieber Hans,« sagte die Frau Bürgermeisterin resolut, »deine häusliche Richtung kann ich hier nicht brauchen, und wenn sie dich noch einmal in die Küche führen sollte, wird der Riegel vorgeschoben, merke dir das.« Damit nickte sie ihrem Schwager zu und ging in voller Majestät zur Thür hinaus.
»Nimm dich in acht,« sagte der Professor strafend. »So sehr du auch das Herzblatt der Tante bist, in dem Punkte versteht sie keinen Spaß, und mit vollem Recht. Wenigstens wird sie nun wohl über deine sogenannte Verzweiflung beruhigt sein, sie hält hartnäckig an der Idee fest, du fühltest dich unglücklich in deinem Berufe.«
»Nein, Papa, ich bin gar nicht unglücklich!« versicherte der junge Mann, indem er sich rittlings auf einen Stuhl setzte und sich seelenvergnügt im Zimmer umschaute.
»Das habe ich auch nie vorausgesetzt. Dergleichen thörichte Jugendideen fallen von selbst, sobald man anfängt, sich mit ernsten Dingen zu beschäftigen.«
»Jawohl, Papa!« stimmte Hans bei, der sich angelegentlich damit beschäftigte, seinen Stuhl in eine schaukelnde Bewegung zu bringen, was ihn höchlich zu amüsieren schien.
»Und das ernsteste ist wohl die Wissenschaft,« fuhr Wehlau mit Nachdruck fort. »Ich habe leider in der letzten Zeit – Hans, man benutzt die Stühle nicht zum Reiten, diese Studentengewohnheit mußt du ablegen, sie paßt nicht mehr für den angehenden Doktor – ich habe wenig Zeit gehabt, deine Studien eingehend zu prüfen. Du weißt ja, daß mein großes, eben vollendetes Werk mich gänzlich in Anspruch genommen hat. Jetzt aber bin ich frei, und nun wollen wir das Versäumte nachholen.«
»Jawohl, Papa!« sagte Hans, der allerdings die väterliche Mahnung beherzigt und den Stuhl verlassen hatte, aber dafür saß er jetzt auf der Tischkante und schlenkerte mit den Füßen. Der Professor sah das zum Glück nicht, da er gerade etwas auf seinem Schreibtisch ordnete, und sprach ruhig weiter.
»Die Studienzeit liegt jetzt hinter dir und hoffentlich auch ihre Ausgelassenheit. Ich rechne unbedingt auf größeren Ernst, wenn ich dich nunmehr in die Wissenschaft einführe. Nimm dich zusammen, Hans, du wirst es mir einst noch danken, wenn du als Professor auf meinem Lehrstuhle dozierst.«
»Jawohl, Papa!« sagte der gehorsame Sohn zum drittenmal, sprang aber in demselben Augenblick mit einem Satz vom Tische, denn der Vater hatte sich umgewandt und sandte ihm einen unwilligen Blick zu.
»Kannst du dir denn diese burschikose Art nicht abgewöhnen? Nimm dir ein Beispiel an Michael, der würde sich nie dergleichen erlauben.«
»Nein, gewiß nicht,« lachte Hans übermütig. »Der Herr Lieutenant ist ja auch zu Hause das verkörperte Dienstreglement. Immer Gewehr beim Fuß, immer zugeknöpft bis an den Hals. Wer hätte das gedacht, als er damals zu uns kam! Da war er noch der scheue, blöde Bube, der die Welt und die Menschen anstaunte wie etwas Unerhörtes. Ich habe ihn im Anfang vollständig unter meine Flügel nehmen müssen.«
»Nun, ich dächte, er wäre ihnen bald genug entwachsen,« sagte der Professor spöttisch.
»Leider! Jetzt hat sich das Verhältnis umgekehrt, und er kommandiert mich. Aber gestehe es nur, Papa, du verzweifeltest im Anfang auch daran, irgend etwas Menschliches aus ihm zu machen.«
»Was die äußeren Formen betraf, allerdings. Gelernt hatte er damals schon viel mehr, als ich voraussetzte, mein Bruder ist ihm ein trefflicher Lehrer gewesen; als er aber erst einmal erwacht war, hat er auch mit so eisernem Fleiße, mit so unermüdlicher Ausdauer an sich gearbeitet, daß ich oft genug die Thatkraft bewunderte, mit der er sich aus der alten Knabenträumerei emporriß.«
»Ja, Michael ist stets dein Liebling gewesen,« schmollte Hans. »Den hast du auch nie gezwungen, du warst sofort einverstanden, als er Soldat werden wollte; ich dagegen –«
»Das ist etwas ganz andres!« unterbrach ihn der Vater. »Michael ist darauf angewiesen, sich seinen Lebensweg und seine Zukunft selbst zu schaffen, und wie er nun einmal ist, taugt er am besten zum Soldaten. Dies rücksichtslose Draufgehen auf das Ziel, ohne rechts oder links zu blicken, dies starre Pflichtgesetz, dies oft tyrannische Beugen jedes widerstrebenden Elementes unter eine eiserne Disziplin decken sich völlig mit seinem Charakter, deshalb wird er auch seinen Weg machen. Du dagegen sollst meine Saat ernten und mußt deshalb auf meinem Felde bleiben, dir wird es bequem genug gemacht im Leben.«
Die Miene des jungen Mannes verriet, daß er sich sehr wenig aus dieser Bequemlichkeit mache; plötzlich aber fuhr er auf und rief fröhlich:
»Da kommt Michael!«
Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Menschenleben, und sie wiegen doppelt schwer, wenn sie in die Entwicklungszeit eines Menschen fallen; hier aber grenzte die Wandlung, die sie hervorgebracht hatten, doch an das Wunderbare. Der einstige Pflegesohn des Försters Wolfram und der junge Offizier, der soeben eintrat, waren zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die auch nicht einen Zug miteinander gemein hatten.
Hübsch war Michael Rodenberg allerdings nicht geworden, in dem Punkte stand er unbedingt hinter Hans Wehlau zurück, aber er war eine von jenen Erscheinungen, die man nirgends übersieht. Die kraftvoll markige Gestalt schien wie geschaffen für die Uniform und den Degen an der Seite, sie hatte das Ungelenke des Knaben abgestreift und dafür die straffe Haltung des Soldaten angenommen. Das blonde Kraushaar hatte, ohne von seiner Fülle und Ueppigkeit etwas einzubüßen, sich doch zur Ordnung bequemt, und der blonde Vollbart umrahmte ein Gesicht, das allerdings keinen Anspruch auf Schönheit machen konnte, aber auch dessen nicht bedurfte. Es war eben kein Jünglingsantlitz mehr; der energische, charaktervolle Kopf schien einem früh gereiften Manne anzugehören, vielleicht zu früh gereift, denn er hatte einen Zug von Ernst, ja von Härte, der sonst bei der Jugend nicht zu finden ist.
Auch die Augen verrieten nichts mehr von der einstigen Träumerei, der Blick war fest und scharf geworden, aber jugendfroh und begeistert zu blicken hatten diese Augen nicht gelernt. Es lag etwas Eisiges darin, wie überhaupt in dem ganzen Wesen des jungen Mannes, das nur vorübergehend im Gespräch von einem wärmeren Hauche belebt wurde; aber wie er so dastand, fest, energisch, hochaufgerichtet, war er das Urbild eines Soldaten vom Scheitel bis zur Sohle.
»In Uniform?« fragte der Professor befremdet, als Michael mit einem kurzen Morgengruß näher trat. »Hast du hier einen offiziellen Besuch zu machen?«
»Teilweise, ja, ich muß nach Elmsdorf hinüber. Mein ehemaliger Regimentschef, der Oberst von Reval, bringt, seit er den Abschied genommen hat, stets die Sommer- und Herbstmonate auf seiner dortigen Besitzung zu. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich schon länger hier bin, denn ich fand gestern bei der Ankunft einige Zeilen von ihm vor, die mich für heute nach Elmsdorf einladen. Die Tante wird mich hoffentlich entschuldigen, der Oberst hat mir stets viel Freundlichkeit erwiesen.«
»Du warst ja immer sein besonderer Günstling,« mischte sich Hans ein. »Als er nach Beendigung des dänischen Krieges zurückkam, hat er den Papa eigens aufgesucht, um ihm zu dem Besitz dieses ausgezeichneten Sohnes zu gratulieren. Ich war damals wütend, denn ich bekam wochenlang nichts weiter zu hören als Loblieder auf dich mit sehr bedenklichen Seitenblicken auf meine Wenigkeit, deine Heldenthaten waren mir im höchsten Grade unbequem.«
»Zu deinem Besitz hat mir allerdings noch niemand gratuliert, am wenigsten während deiner Universitätszeit,« sagte Wehlau mit eigener Schärfe. »Uebrigens haben wir euch schon in der vergangenen Woche erwartet. Weshalb seid ihr so spät gekommen?«
»Michaels wegen, dessen Urlaub sich verzögerte, weil er erst seine Leute von den Uebungen zurückführen mußte. Als ich ihn in der Garnison abholte oder vielmehr abholen wollte, denn ich hatte Glück dabei –«
»Wie gewöhnlich!« schaltete der Professor ein.
»Nun ja, ich hatte mich auf volle acht Tage in der langweiligen Provinzialstadt gefaßt gemacht und höre bei meiner Ankunft, daß sich Michael drei Meilen davon in dem höchst amüsanten Badeorte befindet, in dessen Umgegend manövriert wurde. Natürlich fuhr ich schleunigst nach und segnete diese weise Verfügung der Militärbehörde. Der Herr Lieutenant steckte freilich bis über die Ohren im Diensteifer und war taub und blind für alles andre, sogar für eine Bekanntschaft, um die ihn das gesamte Offiziercorps beneidete und mit der er gar nichts anzufangen wußte. Es war sonst nicht möglich, Zutritt bei der Gräfin Steinrück zu erlangen, da sie recht leidend war.«
Der Professor wurde aufmerksam bei dem Namen und sandte einen forschenden Blick zu Michael hinüber.
»Gräfin Steinrück?«
»Auf Berkheim! Du kennst sie ja, Papa; denn wie die Gräfin mir mitteilte, bist du als junger Arzt vielfach im Hause ihrer Schwiegereltern gewesen und auf ihre Bitte sogar an das Sterbebett ihres Gatten geeilt, sie ist dir noch heute dankbar dafür.«
»Gewiß kenne ich sie; aber wie kamst du denn zu der Bekanntschaft, Michael?«
»Durch Zufall,« versetzte der Gefragte lakonisch.
»Seine Schuld war es allerdings nicht,« spottete Hans mit einer Unbefangenheit, die deutlich verriet, daß er die Rolle nicht kannte, die der Name Steinrück in dem Leben Michaels spielte. »Ich muß dir die Geschichte ausführlich erzählen, Papa, sie fängt hochromantisch an. Also, Michael sitzt im Walde – das heißt eigentlich hält er dort und kommandiert seine Leute – und läßt lustig darauf losschießen. Da kommt ein Wagen die Chaussee entlang, die in einiger Entfernung vorbeiführt. Die Pferde werden scheu bei dem Lärm der Schüsse, sie gehen durch, der Kutscher verliert die Zügel, und die Gefahr ist unabwendbar; da stürmt der Ritter und Retter aus dem Waldesdunkel herbei, bändigt die Tiere, hält den Wagen auf, trägt die ohnmächtigen Damen heraus –«
»Bleib bei der Wahrheit, Hans!« fiel der junge Offizier unmutig ein. »Weder die Gefahr noch die Heldenthat waren so groß, als es dir beliebt, sie zu schildern. Ich sah allerdings, daß die Pferde scheu wurden, und sprengte heran, um ein Unglück zu verhüten; aber die Tiere standen sofort, als ich ihnen in die Zügel fiel, und die Damen blieben ruhig im Wagen. Du mußt alles in das Poetische hinaufschrauben.«
»Und du ziehst alles in die Nüchternheit herab,« gab Hans ärgerlich zurück. »Ich habe die Geschichte aus dem eigenen Munde der Gräfin, die hartnäckig darauf besteht, in dir ihren Lebensretter zu sehen, was du eben so hartnäckig leugnest.«
Michael zuckte die Achseln und wandte sich an den Professor.
»Die Gräfin behauptete das in der That, und da das Haus, in dem ich wohnte, dicht neben ihrer Villa lag, so ließ sich ein öfteres Zusammentreffen nicht vermeiden. Ich war aber sehr von dem Dienst in Anspruch genommen, und hatte wenig Zeit übrig.«
»Ja, er hatte immer und ewig Dienst!« rief Hans entrüstet. »Man bekam ihn schließlich gar nicht mehr zu Gesicht. Ich erreichte es nur mit Mühe, daß er mich überhaupt vorstellte, und dann ging er wieder davon und überließ es mir, sein unverantwortliches Benehmen wieder gut zu machen. Die Damen kamen ihm mit der größten Liebenswürdigkeit entgegen, aber er blieb wie ein Eiszapfen!«
»Michael wird wohl seine Gründe gehabt haben,« sagte Wehlau kühl. »Und wenn er die Zurückhaltung für geboten hielt, so hättest du seinem Beispiele folgen sollen.«
»Nein, das war schlechterdings nicht möglich, dazu war die junge Gräfin zu schön. Eine Gestalt, wie aus einem unsrer Feenmärchen, prachtvolles goldblondes Haar, Augen, die wie Sterne glänzen! Sie können berücken, diese Augen.«
»Und verhöhnen!« ergänzte Michael in einem Tone, dessen Kälte seltsam mit dem Enthusiasmus seines Freundes kontrastierte. »Hüte dich vor ihnen, Hans, es ist ein trauriges Schicksal, erst verlockt und dann verlacht zu werden.«
»Du meinst, weil Gräfin Hertha für sehr hochmütig gilt? Ich glaube allerdings auch, daß ein Sterblicher, der nicht mindestens sechzehn Ahnen zählt, sich einen empfindlichen Korb holen würde, wenn er die Kühnheit haben sollte, um sie zu werben. Da ich aber nicht nach dieser Ehre geize, so stört das meine Bewunderung durchaus nicht. Und wenn ich mich von diesen Augen wirklich verlocken lasse –«
»Das wirst du bleiben lassen!« schnitt ihm der Vater mit vollem Nachdruck das Wort ab. »Du hast dich jetzt weder um Feenmärchen noch um Sternenaugen zu kümmern – dergleichen Unsinn verbitte ich mir überhaupt –, sondern einzig und allein um deine bevorstehende Dissertation.«
Die beiden jungen Männer wechselten einen raschen, etwas eigentümlichen Blick miteinander, dann sagte Michael mit leichtem Spott:
»Sei ohne Sorge, Onkel. Wenn Hans auch wirklich Feuer gefangen haben sollte, dergleichen hat bei ihm keine Gefahr – es kommt zu oft vor.«
»Ja, er hat bisher nur Kindereien und Thorheiten getrieben, aber jetzt wird er die Güte haben und sich zum Ernst bequemen. Ich habe mich für heute vormittag frei gemacht, und nun wollen wir endlich einmal eingehend über deine Studien sprechen, Hans. Der Ueberblick, den du mir bei den Ferienbesuchen gabst, ist doch immer nur ein flüchtiger gewesen, ich wünsche, jetzt Näheres zu hören.«
Wieder wechselten die beiden jenen Blick, der auf ein geheimes Einverständnis zu deuten schien; der Professor aber erhob sich und sagte flüchtig:
»Ich will nur noch der Leni einschärfen, daß sie die heutige Postsendung pünktlich besorgt. Ich komme sogleich zurück.« Damit ging er hinaus.
Hans sah ihm nach, schlug die Arme übereinander und sagte halblaut:
»Jetzt wird die Bombe platzen!«
»Nimm die Sache nicht so leicht,« warnte Michael. »Du hast jedenfalls einen harten Kampf zu bestehen, der Onkel wird außer sich sein.«
»Das weiß ich, deshalb bin ich auch gewappnet und gerüstet. Du willst doch nicht etwa fort? Das geht nicht, ich kann die Reserven nicht entbehren bei der bevorstehenden Schlacht. Wenn es gar zu heiß hergeht, ziehe ich dich als Hilfscorps heran. Thu mir den Gefallen und bleibe.«
»Ich bin froh, daß die Heimlichkeit ein Ende nimmt,« sagte der junge Offizier unmutig, indem er sich in die Fensternische zurückzog. »Ich hatte dir mein Wort gegeben, zu schweigen, aber es ist mir schwer genug geworden, schwerer als dir.«
»Pah, ich wußte mir nicht anders zu helfen. Bei euch Soldaten gilt auch die Kriegslist für erlaubt. Still, da kommt der Papa zurück – jetzt zum Angriff!«
Der Professor kehrte in der That zurück und nahm behaglich in seinem Lehnstuhle Platz, während er seinen Sohn zu sich heranwinkte.
»Du bist jedenfalls in guten Händen gewesen,« begann er. »Mein Kollege Bauer ist eine Autorität in unserm Fach und steht gänzlich auf meinem Standpunkt. Das war auch der Grund, weshalb ich deinen Bitten nachgab und dich noch zwei Jahre nach B. schickte. Ich fürchte allerdings, daß es dir in erster Linie um das lustige Studentenleben zu thun war, ich hielt es aber trotzdem für gut, wenn du deine Studien unter einer andern Leitung fortsetztest, die Grundlage dazu hast du ja doch von mir empfangen. Nun laß hören!«
Dem jungen Manne schien es doch etwas heiß zu werden bei dieser Einleitung, er drehte verlegen sein zierliches Schnurrbärtchen und stotterte ein wenig bei der Antwort:
»Ja, Professor Bauer – ich habe seine Vorlesungen besucht – sehr regelmäßig sogar.«
»Selbstverständlich! Ich hatte dich ja hauptsächlich an ihn empfohlen.«
»Aber gelernt habe ich gar nichts bei ihm, Papa.«
Wehlau runzelte die Stirn und sagte zurechtweisend:
»Hans, es ist unpassend, einen verdienstvollen Gelehrten in dieser Weise zu kritisieren. Sein Vortrag läßt allerdings manches zu wünschen übrig, aber seine Leistungen sind sehr bedeutend.«
»Mein Gott, ich spreche ja nicht von den Leistungen des Herrn Professors, sondern von meinen eigenen, und die waren leider gar nicht bedeutend. Ich fühle das selbst, und deshalb – habe ich mir eine kleine Aenderung im Studium erlaubt.«
»Gegen meine ausdrückliche Weisung? Ich hatte dir deinen Studiengang doch genau vorgeschrieben. Zu wem hast du dich denn eigentlich gehalten?«
Hans zögerte mit der Antwort und warf einen Blick nach der Fensternische, wo seine »Reserve« stand, dann entgegnete er etwas gepreßt:
»Zu – dem Professor Walter.«
»Walter? Wer ist das? Ich kenne den Namen gar nicht.«
»Doch, Papa, du hast sicher schon von Friedrich Walter gehört. Er hat ja einen weltberühmten Namen als Künstler.«
»Als was?« fragte der Professor, der nicht recht gehört zu haben glaubte.
»Als Künstler, und das war auch der Grund, weshalb ich nach B. wollte. Meister Walter lebt dort und würdigte mich des Vorzuges, in sein Atelier aufgenommen zu werden. Ich habe nämlich nicht die Naturwissenschaften studiert – ich bin Maler geworden!«
Jetzt war es heraus! Wehlau fuhr in die Höhe und starrte fast sprachlos seinen Sohn an.
»Junge, bist du toll geworden?« rief er; aber Hans, der sehr gut wußte, daß sein einziger Erfolg darin bestand, den Vater überhaupt nicht zu Worte kommen zu lassen, sprach schleunigst weiter.
»Ich bin sehr fleißig gewesen in diesen zwei Jahren, außerordentlich fleißig. Mein Lehrer wird es dir bestätigen, er meint, daß ich jetzt auf eigenen Füßen stehen könne, und er sagte mir noch beim Abschiede: ›Es wird Ihrem Herrn Papa sicher Freude machen, wenn er Ihre Leistungen sieht, berufen Sie sich nur auf mich.‹«
Er brachte das alles mit unendlicher Geläufigkeit hervor, und die Rede floß wie Honigseim von seinen Lippen; aber das half ihm jetzt nichts mehr, der Professor hatte endlich begriffen, daß es mit der »kleinen Aenderung des Studiums« Ernst sei, und nun brach er los.
»Und das wagst du, mir zu bieten! Du hast dich unterstanden, heimlich, hinter meinem Rücken, eine derartige Komödie zu spielen, meinem Verbote zu trotzen, meinen Willen zu verhöhnen, und bildest dir jetzt ein, ich würde mich dieser sogenannten Thatsache beugen und Ja und Amen dazu sagen – da bist du denn doch sehr im Irrtum.«
Hans ließ den Kopf hängen und nahm eine äußerst zerknirschte Miene an.
»Sei nicht so hart, Papa! Die Kunst ist nun einmal mein Ideal, die Poesie meines Lebens, und wenn du wüßtest, was für Gewissensbisse ich mir schon gemacht habe, wegen meines Ungehorsams!«
»Du siehst mir gerade nach Gewissensbissen aus!« rief der Professor, der immer wütender wurde. »Ideale – Poesie – da haben wir schon wieder die verwünschte Geschichte! Die Schlagworte, die allen Unsinn decken müssen, den die Menschen begehen. Aber bilde dir nur nicht ein, daß du diesen Unsinn wirklich bei mir durchsetzen kannst. Was du auch da für Allotria getrieben haben magst, jetzt kommst du nach Hause zurück, und jetzt nehme ich dich in die Schule. Du wirst zunächst dein Doktorexamen machen, hörst du? Ich befehle es dir!«
»Ich habe aber gar nichts gelernt,« erklärte Hans mit einem förmlichen Triumphe. »Ich habe in den Vorlesungen nur die Herren Professoren und das Auditorium skizziert oder karikiert, wie es gerade kam, und was du mir von Gelehrsamkeit eintrichtertest, das habe ich längst wieder vergessen, damit bringe ich nicht drei Seiten der Dissertationsschrift zu stande, und du kannst mich doch nicht noch einmal auf die Universität schicken.«
»Du rühmst dich ja förmlich deiner Unwissenheit,« sagte Wehlau schneidend, »und den unerhörten Betrug, den du mir gespielt hast, rechnest du dir wohl auch als eine Heldenthat an?«
»Nein, aber als eine Notwehr, zu der ich erst griff, als jedes andre Mittel versagte. Wie habe ich damals gebeten und gefleht, um dich zur Nachgiebigkeit zu bewegen, es war alles umsonst! Ich sollte mein Talent, meine ganze Zukunft einem Beruf opfern, für den ich nicht tauge und in dem ich nie etwas leisten würde. Du versagtest mir die Mittel zur künstlerischen Ausbildung und dachtest mich damit zu zwingen. Als ich dir sagte: ich will Maler werden, setztest du mir ein unerbittliches Nein entgegen; jetzt sage ich dir: ich bin Maler geworden! und dazu wirst du ja sagen müssen.«
»Das wird sich zeigen!« brauste Wehlau von neuem auf. »Ich will doch sehen, ob ich meinen eigenen Sohn nicht meistern kann. In meinem Hause bin ich Herr, da dulde ich keine Rebellion, und wer sich gegen meinen Willen auflehnt, der hat dies Haus fortan zu meiden.«
Der junge Mann erbleichte denn doch bei dieser Drohung, er trat dicht vor den Vater hin, und seine Stimme klang bittend, aber tief ernst.
»Papa, laß es nicht so weit kommen zwischen uns. Ich bin nun einmal anders geartet als du, ich habe von jeher ein Grauen gehabt vor deiner hohen, kalten Wissenschaft, die das Leben so klar macht und so – öde! Du begreifst nicht, daß es noch eine andre Welt, daß es noch eine Jugend gibt, der diese Welt so notwendig ist wie die Luft zum Atmen. Du zwingst der Natur unerbittlich ihre Geheimnisse ab; alles, was darin lebt und webt, muß sich deinen Regeln und Systemen fügen, von jedem Geschöpf kennst du das Werden und das Vergehen. Aber deinen eigenen Buben, den kennst du nicht und den zwingst du auch nicht in eines deiner Systeme. Der hat sich das bißchen Ideal und Poesie noch glücklich gerettet und geht damit seinen eigenen Weg – und er wird dir auch auf diesem Wege keine Schande machen!«
Damit wandte er sich um und schritt nach der Thür; der Professor war aber keineswegs gewillt, die Unterredung so zu beendigen, er rief ihm zornig nach:
»Hans, du bleibst! Du kommst auf der Stelle zurück!«
Hans fand es jedoch für gut, den Befehl zu überhören; er sah, daß sein »Hilfscorps« jetzt heranrückte, und überließ es diesem, ihm den Rückzug zu decken, was denn auch geschah.
»Laß ihn gehen, Onkel,« sagte Michael, der schon während der letzten Minuten hervorgetreten war und den erzürnten Mann zu beschwichtigen suchte. »Du bist jetzt zu gereizt, werde erst ruhiger.«
Die Mahnung blieb fruchtlos. Wehlau dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen, und da der ungehorsame Sohn ihm nicht mehr erreichbar war, so wandte er sich gegen dessen Fürsprecher.
»Und du bist auch mit im Komplott gewesen! Du hast um die ganze saubere Geschichte gewußt, leugne es nur nicht. Hans verschweigt dir ja nichts. Ihr hängt ja zusammen wie die Kletten. Warum hast du geschwiegen?«
»Weil ich mein Wort gegeben hatte und das nicht brechen durfte, wenn ich auch mit der Heimlichkeit nicht einverstanden war.«
»So hättest du auf eigene Hand eingreifen und Hans zur Vernunft bringen müssen.«
»Auch das konnte ich nicht, denn er ist in seinem Rechte.«
»Was? Fängst du auch noch an?« schrie der Professor, indem er ihm drohend auf den Leib rückte; aber Michael hielt stand und wiederholte fest:
»Ja, Onkel, in seinem vollen Rechte! Ich hätte mir auch keinen Beruf aufzwingen lassen, den ich nicht mag und für den ich nicht tauge. Ich hätte allerdings offener und ebendeshalb schwerer gekämpft als Hans, der dem Kampfe einfach aus dem Wege ging. Von dem Tage an, wo du ihn zu dem Studium zwangst, und er sich scheinbar fügte, hat er auch angefangen, seine Vorstudien in der Malerei zu machen; aber er sah schließlich die Unmöglichkeit ein, seine künstlerische Ausbildung unter deinen Augen zu vollenden, deshalb ging er nach B. Er muß dort wohl Tüchtiges geleistet haben, denn wenn ein Mann wie Professor Walter ihm das Zeugnis künstlerischer Reife gibt, so hat er sie, daran darfst du nicht zweifeln.«
»Schweig!« grollte der Professor, »ich will nichts hören. Ich sage ›nein‹ und nochmals ›nein‹, und – kommst du mir auch noch mit deinem Triumph? Du bist wohl auch mit im Komplott gewesen?«
Die letzten Worte waren an die Frau Bürgermeisterin gerichtet, die ganz harmlos zurückkehrte, um das vergessene Schlüsselkörbchen zu holen, und sehr verwundert war ob dieses grimmigen Empfanges.
»Was hast du denn?« fragte sie. »Was ist vorgefallen?«
»Vorgefallen? Nichts ist vorgefallen! Nur eine ganz kleine Aenderung im Studium, wie mein Herr Sohn sich auszudrücken beliebt. Aber wehe dem Jungen, wenn er mir wieder vor die Augen kommt, er soll mich kennen lernen!«
Damit ging Wehlau stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, während seine Schwägerin sich jetzt wirklich erschreckt an Michael wandte.
»Aber in des Himmels Namen, was ist denn eigentlich geschehen?«
»Eine Katastrophe! Hans hat dem Vater ein Geständnis gemacht, mit dem er nicht länger zurückhalten konnte. Er hat nicht studiert, sondern die Universitätszeit dazu benutzt, sich zum Künstler auszubilden. Aber verzeih, Tante, ich muß ihm nach, es ist wirklich nicht gut, wenn er dem Vater jetzt vor die Augen kommt.«
Damit verließ auch Michael eiligst das Zimmer; die Frau Bürgermeisterin stand einige Minuten lang starr wie eine Salzsäule, dann aber verklärte sich ihr Gesicht förmlich, und mit dem Ausdruck der tiefsten Genugthuung sagte sie:
»Da hat er dem unfehlbaren Herrn Professor eine Nase gedreht, und was für eine! Der Goldbub' der!«
Elmsdorf, die Besitzung des Herrn von Reval, lag nicht allzuweit von der Stadt entfernt. Es war kein altes Bergschloß mit Wald- und Jagdrevier und einer historischen Vergangenheit wie Steinrück, sondern ein moderner, freundlicher Wohnsitz, den seine schöne Lage zu einem sehr angenehmen Sommeraufenthalt machte. Das Haus, eine geräumige Villa mit Balkon und Terrassen, war von einem nicht großen, aber vorzüglich angelegten Park umgeben, und die innere Einrichtung zeugte, ohne gerade glänzend zu sein, von dem Geschmack und dem Reichtum der Bewohner.
Oberst Reval hatte vor drei Jahren seinen Abschied genommen infolge einer Verwundung, die er im letzten Krieg erhalten. Seitdem lebte er mit seiner Gemahlin im Winter in der Hauptstadt und im Sommer regelmäßig in Elmsdorf, das er aus einem einfachen Landgute zu einem höchst behaglichen Wohnsitz umgeschaffen hatte.
Michael Rodenberg, der in dem Regiment des Obersten diente und später sein Adjutant gewesen war, hatte sich von jeher einer besonderen Auszeichnung von seiten seines Chefs erfreut, und selbst nachdem dieser den Dienst quittiert hatte, gab er dem jungen Offizier noch vielfache Beweise seines Wohlwollens.
In Elmsdorf fand heute eine größere Festlichkeit statt. Man feierte den Geburtstag der Frau von Reval, und da das reiche, gastfreie Haus vielfache Beziehungen in der Umgegend hatte, so war die Gesellschaft auch sehr zahlreich. Michaels Erscheinen verstand sich von selbst, aber auch Professor Wehlau und Hans hatten Einladungen erhalten. Leider mußte man darauf verzichten, den berühmten Gelehrten unter den Gästen zu sehen. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, in Wahrheit aber verspürte er keine Lust, jetzt in Gesellschaft zu gehen, wo die Eigenmächtigkeit seines Sohnes ihn noch immer mit Empörung erfüllte und seine Stimmung in höchst bedenklicher Weise beeinflußte. Die beiden jungen Männer waren daher allein nach Elmsdorf gefahren.
In den lichtstrahlenden Räumen der Villa empfingen Herr und Frau von Reval ihre Gäste mit jener Liebenswürdigkeit, die ihr Haus zum Mittelpunkt der dortigen Geselligkeit machte. Hans Wehlau rechtfertigte auch hier die Behauptung seines Vaters, daß er ein Glückskind sei, dem sich überall Thüren und Herzen öffneten, ohne daß er sich besondere Mühe darum gab. Er war der Dame des Hauses kaum vorgestellt worden, als er auch schon ihre Gunst erobert hatte; alle Welt fand ihn liebenswürdig, und er bewegte sich auf dem ihm völlig fremden Boden mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, als ob er von jeher dort verkehrt hätte.
Um so fremder fühlte sich Michael, der weder die Neigung noch die Fähigkeit besaß, so leicht und schnell Beziehungen anzuknüpfen. Auch er kannte, mit Ausnahme des Obersten und seiner Frau, niemand in der Gesellschaft, und die flüchtigen Vorstellungen der verschiedensten Persönlichkeiten und die noch flüchtigeren Gespräche, die sich daran knüpften, interessierten ihn wenig. Das glänzende, heitere Treiben, in dem Hans schwamm und plätscherte wie der Fisch im Wasser, vermochte seinem ernsten, ungeselligen Freunde nur eine vorübergehende Aufmerksamkeit abzugewinnen; er war mehr Beobachter als Teilnehmer dabei.
Auf seiner Wanderung durch die verschiedenen Gemächer gelangte er endlich in das Gewächshaus, das die Gesellschaftsräume abschloß und durch Palmen, Lorbeerbäume und Blumengruppen zu einem stillen, lauschigen Ruheplatz umgeschaffen war.
Hier war es kühl und einsam, und der junge Offizier fühlte keine Neigung, sofort wieder in die heißen Zimmer zurückzukehren, wo ihn niemand vermißte. Langsam ging er von einer Pflanzengruppe zur andern, bis er in seinen Betrachtungen durch den Eintritt des Obersten Reval gestört wurde.
»Wieder so ungesellig, Lieutenant Rodenberg?« fragte dieser, halb scherzend, halb vorwurfsvoll. »Sie sind ein schlimmer Gast bei unserm Feste. Was machen Sie denn hier in dem einsamen Gewächshause?«
»Ich bin soeben erst eingetreten,« entschuldigte sich Michael, »und überdies bin ich so fremd in der Gesellschaft –«
»Ein Grund mehr, sich bekannt zu machen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem jungen Freunde, der schwimmt bereits mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit. Ich vermisse Sie schon eine ganze Zeit lang im Saale, ich wollte Sie dem Grafen Steinrück vorstellen. Sie kennen ihn doch noch nicht?«
»Den kommandierenden General – nein!«
»Er ist soeben erst gekommen, und Sie werden sich später jedenfalls noch dienstlich bei ihm melden müssen. Der General ist äußerst einflußreich, allerdings auch sehr gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge im Dienst. Er schont darin niemand, am wenigsten freilich sich selbst, obschon er bereits im Anfang der Siebzig steht, aber der Begriff des Alters scheint für ihn nicht da zu sein.«
Michael hörte schweigend zu, er wußte bereits, daß der Graf sich in Steinrück befand, und mußte auf eine Begegnung gefaßt sein, die ihm bisher erspart geblieben war, die aber in Zukunft nicht vermieden werden konnte, denn er mußte sich allerdings später bei dem kommandierenden General melden.
»Wir hofften auch den jungen Grafen zu sehen,« fuhr Reval fort, »aber wir hören soeben, daß er erst morgen abend eintrifft. Schade! Sie hätten da eine interessante Bekanntschaft gemacht.«
»Sie meinen den Sohn des Generals, Herr Oberst?«
»Nein, der ist schon seit Jahren tot, ich meine den Enkel, Graf Raoul. Er ist wirklich eine der schönsten Männergestalten, die ich je gesehen habe! Immer voran bei allen Tollheiten, immer den Kopf voll von genialen Ideen und dabei von einer so hinreißenden Liebenswürdigkeit, daß er im Sturm alles gewinnt. Er ist in der That eine ungewöhnlich begabte Natur, aber auch ein Tollkopf, der seinem Großvater noch zu schaffen machen wird, wenn dieser ihn nicht beizeiten bändigt.«
»Wie es scheint, ist General Steinrück der Mann dazu,« warf Michael hin.
»Das glaube ich auch! Graf Raoul fürchtet sonst weder Tod noch Teufel, aber vor seinem Großvater hat er einen heillosen Respekt, und wenn Seine Excellenz einen Ukas erläßt – was, unter uns gesagt, ziemlich oft notwendig ist –, bequemt er sich regelmäßig zum Gehorsam.«
Ein leises Rauschen wie von seidenen Frauengewändern ließ sich hinter den beiden Herren vernehmen, die dem Eingang den Rücken zukehrten; sie wandten sich um, und in demselben Augenblick trat der junge Offizier so jäh und hastig zurück, daß der Oberst ihn befremdet anblickte.
Es waren zwei Damen eingetreten; die ältere, eine zarte, blasse Erscheinung in gewählter, aber dunkler Toilette, schien den Ruhesitz aufsuchen zu wollen, der sich unter einer Palmengruppe am Ende des Gewächshauses befand; die jüngere stand noch auf den Stufen, die hinabführten, hell beleuchtet von dem Schein einer Ampel, die sich gerade über ihrem Haupte befand.
Hans Wehlau hatte recht mit seiner enthusiastischen Bemerkung, es war eine Gestalt wie aus einem Feenmärchen, hoch und schlank, mit einem Antlitz von seltsam berückender Schönheit und großen, strahlenden Augen, die wie Sterne glänzten und deren Farbe sich doch nicht erraten ließ, weil sie in dem einen Momente tiefdunkel erschienen und in dem andern leuchtend hell. Die roten Locken, die einst über die Schultern des Kindes fielen, waren freilich verschwunden; auf den reichen goldblonden Flechten ruhte jetzt nur noch ein leichter rötlicher Schimmer und wetteiferte mit dem matten Glanz der Perlenschnüre, die sich durch das Haar schlangen, und doch gleißte es in diesem Augenblick, wo das Licht der Ampel darauf niederfloß, wie das »rote Gold« in den alten Märchenschätzen. Das bläulich schillernde Seidengewand verschwand fast unter einer Wolke von Spitzen, die von einzelnen Blumen gehalten wurde, und dazwischen funkelten Juwelen – die ganze Erscheinung war wie aus Duft und Glanz gewoben.
»Ah, Frau Gräfin Steinrück!« rief der Oberst, indem er zu der älteren Dame eilte und der sichtbar Erschöpften den Arm bot.
»Es war wohl zu heiß im Saale? Ich fürchte, Sie haben uns ein Opfer gebracht mit Ihrem Erscheinen.«
»Es ist nur Ermüdung, nichts weiter,« versicherte die Gräfin, während er sie zu dem Sitze geleitete. »Sieh da, Lieutenant Rodenberg!«
Michael verneigte sich; jetzt rauschte auch das blaue Seidenkleid über den Boden, und Gräfin Hertha trat an die Seite ihrer Mutter.
»Mama ist allerdings etwas angegriffen,« sagte sie, »deshalb haben wir den Saal verlassen. Hier, wo es kühl und still ist, wird sie sich bald erholen.«
»Dann wäre es wohl am besten –« Michael blickte den Obersten an und machte eine Bewegung nach der Thür; aber die Gräfin fiel mit gewinnender Liebenswürdigkeit ein:
»O, nicht doch! Nur die Hitze und das Gewühl greifen mich an. Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Lieutenant Rodenberg.«
Der Oberst schien erstaunt, daß der junge Offizier den Damen bekannt war, und machte eine Bemerkung darüber, was die Gräfin veranlaßte, ihm die Geschichte dieser Bekanntschaft zu erzählen.
Sie bestand darauf, daß Michael durch sein rasches Eingreifen ihr und ihrer Tochter das Leben gerettet habe. Er widersprach umsonst. Gräfin Hertha nahm keinen Anteil an dem Gespräch, das bald lebhafter wurde, sondern wandte ihre ganze Aufmerksamkeit den Blumen zu. Langsam glitt sie durch das Gewächshaus, das nur von dem gedämpften Lichte zweier Ampeln erhellt wurde; ihre Bewegungen hatten etwas ungemein Anmutiges; aber in dem Wesen der jungen Dame selbst lag nichts von der halb schüchternen, halb unbefangenen Anmut des Mädchenalters. Sie zeigte mit ihren neunzehn Jahren schon die volle Sicherheit der Weltdame, das ganze Selbstbewußtsein der reichen Erbin, und wußte ohne Zweifel sehr genau, daß sie schön sei. Jetzt stand sie vor einer Gruppe ausländischer Pflanzen und fragte, den Kopf wendend, in gleichgültigem Tone:
»Kennen Sie vielleicht diese Blumen, Herr Lieutenant? Es sind fremdartige wundervolle Blüten, und ich gestehe, daß meine botanischen Kenntnisse mich hier im Stiche lassen.«
Michael mußte notgedrungen nach der andern Seite des Gewächshauses kommen, und er that dies in ziemlich gemessener Weise; aber es lag eine leichte Blässe auf seinem Gesicht, als er die geforderte Auskunft gab.
»Es scheint eine Dionäa zu sein, eine von jenen mörderischen Blüten, die sich schließen, wenn ein Insekt ihre Blätter berührt, und dem Gefangenen dann den Tod geben.«
Um die Lippen der jungen Dame spielte ein halb mitleidiges, halb verächtliches Lächeln.
»Das arme Ding! Und doch muß es schön sein, so im berauschenden Duft zu sterben – meinen Sie nicht?«
»Nein! Schön ist nur der Tod in der Freiheit; über die Gefangenschaft kann kein Rausch hinwegtäuschen.«
Die Antwort klang beinahe schroff, und Hertha preßte einen Augenblick lang die Lippen zusammen, dann aber ließ sie den Gegenstand des Gespräches fallen und sagte mit leisem Spott:
»Ich sehe mit Vergnügen, daß Sie hier nicht so gänzlich durch den ›Dienst‹ in Anspruch genommen sind wie damals im Bade; dort blieb Ihnen nie Zeit zu irgend einer Geselligkeit.«
»Wir waren dort mitten in den Uebungen, hier bin ich auf Urlaub.«
»Als Gast des Obersten Reval vielleicht?«
»Nein.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier in der Gegend Beziehungen hatten. Sie sind also –?«
»Bei Verwandten.«
Die Spitze des kleinen Fußes in dem blauen Atlasschuh schlug ungeduldig gegen den Boden.
»Der Name scheint Staatsgeheimnis zu sein, da Sie ihn so beharrlich verschweigen.«
»Durchaus nicht, ich habe nicht den mindesten Grund dazu. Ich bin als Gast in Tannberg, bei den dortigen Verwandten des Professors Wehlau.«
Hertha schien überrascht zu sein, sie spielte anscheinend zerstreut mit einer Rose, die sie vorhin abgebrochen hatte, aber ihre Augen hafteten auf dem Gesichte des jungen Offiziers.
»Ah, die kleine Bergstadt, die ganz in der Nähe von Steinrück liegt! Wir denken auch einige Wochen auf dem Schlosse zuzubringen.«
Ein schnelles, blitzähnliches Aufleuchten flog über Michaels Züge, es kam und ging in einem Moment, im nächsten war es schon wieder verschwunden, und er erwiderte in kühlem Tone:
»Die Herbstzeit ist allerdings sehr schön in den Bergen.«
Diesmal wurde die junge Gräfin nicht ungeduldig, vielleicht war ihr jenes Aufleuchten nicht entgangen, denn sie lächelte, während sie in ihrem Spiel mit der Blume fortfuhr.
»Wir werden Sie trotz dieser Nähe schwerlich zu Gesicht bekommen,« sagte sie spottend. »Ich vermute, daß Sie auch hier irgendwo ›Dienst‹ haben.«
»Sie scherzen, Gräfin Steinrück.«
»Ich spreche im vollen Ernste. Auch heute erfuhren wir erst durch Herrn Wehlau von Ihrer Anwesenheit. Sie hatten sich natürlich sofort unsichtbar gemacht und waren jedenfalls in irgend ein strategisches Gespräch mit dem Obersten vertieft, als wir eintraten. Wir bedauern sehr, gestört zu haben, man sah ja, wie unangenehm es Ihnen war.«
»Sie sind gänzlich im Irrtum, ich war sehr erfreut, die Damen wiederzusehen.«
»Und doch erschraken Sie bei unserm Anblick?«
Michael sah auf, und ein finsterer, fast drohender Blick traf die junge Dame, die ihn so erbarmungslos in die Enge trieb; aber seine Stimme klang völlig beherrscht, als er antwortete:
»Ich war nur überrascht, da ich wußte, daß die Frau Gräfin nach beendigter Badekur direkt nach Berkheim zurückzukehren beabsichtigte.«
»Wir haben unsern Plan geändert auf besonderen Wunsch meines Onkels Steinrück, und überdies empfahl der Arzt noch einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in der stärkenden Bergluft. Werden wir Sie wirklich nicht im Schlosse sehen? Es würde meine Mutter freuen und – mich auch.«
Ihre Stimme klang gedämpft, aber schmeichelnd süß bei den letzten Worten; sie stand dicht vor ihm, halb im Schatten und doch schöner noch als vorhin, wo das Licht auf sie niederfloß, umweht von dem Blumenduft, der ringsum aus den Kelchen emporstieg.
Leise rauschte die schimmernde Seide ihres Gewandes, und die Spitzenwolke streifte fast den Arm des jungen Offiziers, der noch bleicher war als vorhin. Einige Sekunden lang schien er nach Atem zu ringen, dann verneigte er sich tief und förmlich und sagte:
»Es wird mir eine große Ehre sein.«
Trotz des Versprechens mußte etwas in seinem Tone liegen, was der jungen Gräfin verriet, er werde nicht kommen, denn in ihre Augen trat wieder jener seltsam schillernde Glanz, der ihnen für einen Augenblick all ihre Schönheit nahm; aber sie neigte wie zustimmend das Haupt und wandte sich, um zu ihrer Mutter zurückzukehren. Dabei entglitt – ganz zufällig – die Rose ihren Fingern und blieb auf dem Boden liegen, ohne daß sie es zu bemerken schien.
Michael verharrte an seinem Platze, aber ein heißer, verlangender Blick fiel auf die Blume, die eben noch in jener Hand geruht hatte. Die zarte, halb erschlossene Knospe lag zu seinen Füßen, rosig und duftig, und dicht vor ihm schimmerten die Blüten der Dionäa, die ihrem Gefangenen den Tod geben – im berauschenden Duft!
Die Hand des jungen Offiziers zuckte unwillkürlich nach der Erde, und ein rascher Blick glitt zu der plaudernden Gruppe hinüber, ob man dort seine Bewegung bemerkte. Da sah er zwei Augen auf sich gerichtet, erwartungsvoll, triumphierend, er mußte sich ja beugen! Aber in demselben Augenblick richtete er sich hoch und fest empor und setzte vorwärts schreitend den Fuß auf die Rose; die zarte Blume starb unter seinem Tritt.
Gräfin Hertha gebrauchte ihren Fächer so heftig, als sei es auf einmal erstickend heiß geworden; Oberst Reval aber, der soeben das Gespräch beendigt hatte, sagte jetzt: »Nun wollen wir aber endlich der Frau Gräfin Ruhe gönnen, damit sie sich völlig erholt. Kommen Sie, lieber Rodenberg.«
Sie verabschiedeten sich von den Damen und kehrten in die Gesellschaftszimmer zurück – aus dem kühlen, dufterfüllten Raum seinem traulichen Dämmerlicht in die heiße Lichtflut des Saales, in das Wogen und Treiben der Gesellschaft. Und doch atmete Michael auf, als trete er aus einer schwülen, erstickenden Luft in das Freie.
Hans Wehlau, der in der That mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit schwamm, erblickte kaum seinen Freund, als sich auch schon seiner bemächtigte und ihn beiseite zog.
»Hast du die Gräfinnen Steinrück gesehen, unsre Bekanntschaft aus dem Bade? Sie sind hier.«
»Ich weiß es,« versetzte Michael einsilbig. »Ich sprach sie soeben.«
»Wirklich? Wo hast du denn gesteckt? Du langweilst dich wohl wieder wie gewöhnlich, wenn du in Gesellschaft bist? Ich amüsiere mich vortrefflich und bin bereits mit aller Welt bekannt geworden.«
»Auch wie gewöhnlich! Du mußt heute deinen Vater mit vertreten; man will wenigstens den Sohn des berühmten Forschers kennen lernen, da er selbst –«
»Fängst du auch damit an!« unterbrach ihn Hans ärgerlich. »Mindestens zwanzigmal bin ich heute in dieser Weise vorgestellt und ausgefragt worden, als Merkwürdigkeit Numero zwei, da die Merkwürdigkeit eins fehlt. Man hat mir die Berühmtheit meines Vaters so oft zu kosten gegeben, daß ich schon ganz in Verzweiflung darüber geraten bin.«
»Hans – wenn dein Vater das hörte!« sagte Michael vorwurfsvoll.
»Ja, ich kann mir nicht helfen! Jeder andre Mensch ist doch wenigstens eine Persönlichkeit, ein Ding an sich, irgend etwas Subjektives, ich bin der Sohn unsres berühmten – und so weiter! Und weiter bin ich gar nichts. Als solcher werde ich vorgestellt, behandelt, ausgezeichnet meinetwegen; aber es ist fürchterlich, immer und ewig als Relativ umherzulaufen.«
Der junge Offizier lächelte flüchtig.
»Nun, du bist ja auf dem Wege das zu ändern; hoffentlich heißt es künftig: der berühmte Künstler Hans Wehlau, dessen Vater ja auch in der Wissenschaft – und so weiter.«
»In dem Falle werde ich allerdings meinem Papa seine Berühmtheit verzeihen. – Du hast also die Steinrückschen Damen schon gesprochen? Das war eine Ueberraschung, sie plötzlich hier auftauchen zu sehen, während wir sie längst in Berkheim glaubten! Die Gräfin-Mutter hat mich, oder vielmehr uns beide, mit der größten Liebenswürdigkeit nach dem Schlosse eingeladen, und ich habe natürlich angenommen. Wir werden doch gemeinschaftlich in Steinrück einen Besuch machen?«
»Nein, ich gehe nicht dorthin,« sagte Michael kurz.
»Aber weshalb denn nicht, in des Himmels Namen?«
»Weil ich keine Veranlassung und keine Lust habe, mich dem Steinrückschen Kreise zu nähern; der Ton, der dort herrscht, ist bekannt genug. Als Bürgerlicher muß man fortwährend unter Waffen sein, wenn man sich in jener Gesellschaft behaupten will.«
»Nun, die Kriegsbereitschaft ist ja dein Fach, da kannst du sie gründlich studieren,« spottete Hans. »Ich finde es übrigens sehr unbequem, fortwährend in Waffen zu starren, wie du und mein Papa, der im Verkehr mit der Aristokratie auch immer und ewig seine Prinzipien im Auge hat. Ich amüsiere mich ohne all und jedes Prinzip, und den Damen gegenüber strecke ich nun vollends die Waffen. Sei vernünftig, Michael, und komm mit.«
»Nein!«
»Nun, so laß es bleiben! Wenn du dir etwas in deinen Starrkopf gesetzt hast, ist nichts mit dir anzufangen, das weiß ich längst; ich werde sicher nicht die Gelegenheit versäumen, dieser goldhaarigen Märchenfee, dieser Gräfin Hertha wieder zu nahen. Du hast es wohl gar nicht einmal bemerkt, wie hinreißend, wie bezaubernd sie heute ist, in dieser Wolke von Seide und Spitzen, das verkörperte Schönheitsideal!«
»Ich glaube allerdings, daß die Gräfin schön ist, aber –«
»Das glaubst du nur?« fiel ihm Hans entrüstet in das Wort. »Wirklich? Und du willst wohl gar noch kritisieren mit deinem ›Aber‹!? Höre, Michael, du bist jetzt eine unbedingte Respektsperson für mich geworden und wirst mir von dem Papa so oft als Muster aufgestellt, daß mir deine Vorzüglichkeit schon längst ein Dorn im Auge ist. Aber wenn es sich um Frauen und Frauenschönheit handelt, dann schweige gefälligst, davon verstehst du rein gar nichts, da bleibst du nach wie vor – der dumme Michel!«
Mit diesen halb lachend, halb ärgerlich gesprochenen Worten ließ er seinen Freund stehen und trat wieder zu einer der plaudernden Gruppen; Michael schritt allein weiter, aber es lag ein unendlich herber Ausdruck auf seinen Zügen.
Inzwischen stand drüben auf der andern Seite des Saales Oberst Reval im Gespräch mit dem Grafen Steinrück. Sie hatten sich in den kleinen Erker zurückgezogen, den eine nur halb zurückgeschlagene Portiere von dem Salon trennte, und Reval sagte soeben:
»Ich möchte Sie auf diesen jungen Offizier aufmerksam machen, Excellenz. Sie werden sich bald überzeugen, daß er im vollsten Maße die Beachtung verdient.«
»Wenn Sie ihn so warm empfehlen, zweifle ich nicht daran,« entgegnete Steinrück. »Sie sind sonst karg mit Ihrem Lobe. Er hat von Anfang an in Ihrem Regiment gedient?«
»Ja, und ich wurde zuerst im dänischen Kriege auf ihn aufmerksam. Damals nahm er als jüngster Lieutenant des Regimentes mit einer Handvoll Leuten eine Stellung, die bisher allen Angriffen getrotzt hatte, und die Art, wie er dies Wagestück ausführte, bewies ebensoviel Energie wie Geistesgegenwart. Im letzten Feldzuge war er mein Adjutant, und jetzt eben ist er auf Grund einer ganz vorzüglichen Leistung zum Generalstab kommandiert worden. Die Arbeit hat Ihnen vielleicht vorgelegen, Excellenz, sie betrifft einen Punkt, für den Sie erst kürzlich mit vollem Nachdruck eingetreten sind, und sie war mit dem Namen unterzeichnet.«
»Lieutenant Rodenberg, ich erinnere mich!« sagte der General nachdenklich. Der Name berührte ihn noch immer peinlich, fiel ihm aber nicht auf, weil er mehrfach in der Armee vorkam. Es gab einen Oberst Rodenberg, dessen drei Söhne gleichfalls dienten, und der Graf nahm mit voller Bestimmtheit an, daß es sich um einen dieser jungen Offiziere handelte, so daß er es für überflüssig hielt, noch eine Frage in dieser Richtung zu thun.
»Ich kenne die Arbeit allerdings,« fuhr er fort. »Sie bekundet eine ungewöhnliche Begabung und hätte dem Verfasser meine Beachtung gesichert selbst ohne Ihre warme Fürsprache, und da Sie ihm auch in Bezug auf den gewöhnlichen Dienst ein so glänzendes Zeugnis geben –«
»Rodenberg ist unbedingt zuverlässig, allerdings nimmt er seinen Kameraden gegenüber eine etwas einsame Stellung ein; seine Ungeselligkeit und sein starres, verschlossenes Wesen schaffen ihm wenig Freunde, aber respektiert wird er von allen.«
»Das ist genug!« erklärte Steinrück, der mit augenscheinlichem Interesse zuhörte. »Wer Ehrgeiz hat und einem großen Ziele nachstrebt, findet selten Zeit, liebenswürdig zu sein. Ich liebe solche Naturen, die ganz auf sich selbst gestellt sind, ich bin in meiner Jugend auch nicht anders gewesen.«
»Da ist er ja! Seine Excellenz wünscht Sie kennen zu lernen, lieber Rodenberg,« sagte der Oberst, indem er diesem, der gerade vorüberkam, einen Wink gab, näher zu treten. Er stellte ihn in aller Form vor und wandte sich dann wieder zu der Gesellschaft, indem er es seinem Günstling überließ, den Eindruck zu vollenden, den jenes Gespräch bei dem General hervorgerufen hatte.
Michael stand vor dem Manne, den er nur ein einziges Mal vor zehn Jahren gesehen hatte und dessen Bild doch unauslöschlich in seiner Erinnerung stand, denn es verband sich mit einer der herbsten Erfahrungen seines Lebens.
Graf Michael Steinrück hatte jetzt bereits die Siebzig überschritten, aber er war eine jener Naturen, an die sich das Alter nicht zu wagen scheint, und die Jahre, die sonst unerbittlich den Verfall zu bringen pflegen, fanden ihn noch aufrecht und ungebeugt wie einst in seiner vollen Manneskraft. Haar und Bart waren weiß geworden, das war aber auch die einzige Veränderung des letzten Jahrzehntes. Die stolzen, energischen Züge hatten sich kaum etwas tiefer gefurcht, die Augen blickten noch scharf und feurig, und es war auch noch die alte gebietende Haltung, die in jeder Bewegung die Gewohnheit des Befehlens verriet. Diese stählerne und durch und geistige Anstrengungen aller Art gehärtete Natur bewahrte sich noch im Greisenalter eine Lebenskraft, um welche sie ein Jüngling hätte beneiden können.
Der General musterte scharf und prüfend den jungen Offizier, aber die Prüfung fiel offenbar günstig aus. Er liebte bei der militärischen Jugend diese männlich kraftvolle Erscheinung, diese ernste Ruhe, die auch auf geistige Disziplin deutete, und er eröffnete das Gespräch mit mehr Wohlwollen, als sonst in seiner Art lag.
»Oberst Reval hat Sie mir warm empfohlen, Lieutenant Rodenberg, und ich gebe viel auf sein Urteil. Sie sind sein Adjutant gewesen?«
»Zu Befehl, Excellenz.«
Steinrück wurde aufmerksam, es lag für ihn etwas Bekanntes in dieser Stimme, als habe er sie schon einmal gehört, und doch war es ihm eine ganz fremde Erscheinung. Er begann von militärischen Angelegenheiten zu sprechen und stellte dabei häufige Fragen nach den verschiedensten Richtungen hin; aber Michael bestand das scharfe Examen, das in Gesprächsform über ihn verhängt wurde, zur vollen Zufriedenheit. Seine Antworten klangen allerdings einsilbig, nicht ein Wort mehr, als unbedingt notwendig erschien; aber sie waren knapp, klar und unbedingt zutreffend, ganz im Geschmack des Generals, der sich immer mehr überzeugte, daß der Oberst ihm nicht zu viel gesagt hatte. Graf Steinrück war in der That gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge, aber er war ebenso gerecht, wo ihm Verdienst oder Talent entgegentrat, und diesem jungen Offizier gegenüber, der sich zweifellos als einer der Tüchtigsten erwiesen hatte, ließ er sich sogar zu einem Lobe herab.
»Die große Laufbahn ist Ihnen nunmehr geöffnet,« sagte er am Schlusse der Unterredung. »Sie stehen auf der ersten Stufe, und das Emporsteigen ist in Ihre Hand gegeben. Wie ich höre, haben Sie sich schon in sehr jugendlichem Alter im Felde ausgezeichnet, und Ihre jüngste Arbeit beweist, daß Sie noch mehr können, als nur mit dem Schwerte dreinschlagen. Es soll mich freuen, wenn sich die Hoffnungen, die Sie daran knüpfen, dereinst erfüllen; wir können jungen kräftigen Nachwuchs brauchen. Ich werde mich Ihrer erinnern, Lieutenant Rodenberg – wie ist Ihr Vorname?«
»Michael!«
Der General stutzte bei diesem ungewöhnlichen Namen, ein seltsamer, ein unmöglicher Gedanke blitzte in ihm auf, freilich nur, um im nächsten Augenblick schon wieder verworfen zu werden; aber er musterte noch einmal scharf die Züge des vor ihm Stehenden.
»Sie sind ein Sohn des Obersten Rodenberg, der in W. kommandiert?«
»Nein, Excellenz.«
»Aber doch mit ihm verwandt?«
»Auch das nicht. Ich kenne weder den Obersten noch seine Familie.«
Jetzt flog ein jähes Erbleichen über das Antlitz Steinrücks, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Und welchem Berufe gehört Ihr Vater an?«
»Mein Vater ist tot, schon seit Jahren.«
»Und die Mutter?«
»Gleichfalls.«
Es folgte eine sekundenlange Pause, die Augen des Grafen bohrten sich förmlich in das Gesicht des jungen Offiziers; endlich fragte er langsam:
»Und wo – wo haben Sie Ihre Jugendzeit verlebt?«
»Auf einer Försterei in der Nähe von Sankt Michael.«
Der General zuckte zusammen; die Entdeckung, die er freilich während der letzten Minuten geahnt hatte, traf ihn dennoch wie ein Schlag.
»Michael, du bist es? – Unmöglich!« stieß er halblaut hervor.
»Excellenz befehlen?« fragte Michael in eisigem Tone. Er stand unbeweglich da, in streng dienstlicher Haltung, nur seine Augen flammten, und jetzt erkannte Steinrück auch diese Augen wieder. Er hatte sie schon einmal so wildflammend gesehen, als er dem Knaben jenen unverdienten Schimpf angethan, sie hatten genau denselben Ausdruck wie damals.
Aber Graf Steinrück verlor selbst nicht in einem solchen Augenblick die Haltung. Schon in der nächsten Minute hatte er sich gefaßt und stand da in der alten gebietenden Weise.
»Gleichviel! Die Vergangenheit mag abgethan sein, und ich sehe den Lieutenant Rodenberg heute zum erstenmal. Ich nehme weder das Lob zurück, das ich Ihnen erteilte, noch die Hoffnungen, die ich hinsichtlich Ihrer Zukunft aussprach. Sie dürfen nach wie vor auf mein Wohlwollen rechnen.«
»Ich danke, Excellenz,« unterbrach ihn Michael mit schneidendem Tone. »Es genügt mir, aus Ihrem eigenen Munde zu hören, daß ich denn doch noch zu irgend etwas in der Welt tauge. Ich habe allein meinen Weg gefunden und werde ihn auch allein weiter gehen.«
Auf der Stirn des Generals stieg eine Wetterwolke empor. Er wollte großmütig vergessen und glaubte mit seiner widerwilligen Anerkennung etwas Ungeheures zu thun, und jetzt wurde beides in der schroffsten Form zurückgewiesen.
»Sehr hochmütig!« sagte er in einem beinahe drohenden Tone. »Sie thäten besser, diesen unbändigen Stolz zu zügeln. Es ist Ihnen einmal Unrecht geschehen, und das mag Ihre Antwort entschuldigen, ich will sie nicht gehört haben. Sie werden sich jedenfalls eines Besseren besinnen.«
»Haben Excellenz noch Befehle für mich?« fragte Michael kalt.
»Nein!«
Ein zorniger Blick traf den jungen Offizier, der es wagte, sich selbst zu verabschieden, ohne die Entlassung abzuwarten; aber Michael schien jenes Nein dafür zu nehmen, er grüßte militärisch, wandte sich um und schritt davon.
Stumm und finster blickte ihm der Graf nach. Er konnte sich noch immer nicht in das finden, was er doch vor Augen sah. Es war ihm freilich damals gemeldet worden, daß der »mißratene Bube« seinem Pflegevater entlaufen und nicht wieder zurückgekehrt sei, wahrscheinlich aus Furcht vor Strafe. Er hatte es nicht der Mühe wert gehalten, Nachforschungen nach dem Entflohenen anzustellen; wenn der Bube verschwunden blieb, um so besser, dann war man ihn los, und mit ihm die letzte Erinnerung an ein Familiendrama, das begraben bleiben sollte um jeden Preis; er war ja stets im Wege gewesen. Wohl drohte bisweilen wie ein dunkler Schatten die Befürchtung, der Verschwundene könne dereinst aus Schande und Elend wieder auftauchen und seine verwandtschaftlichen Beziehungen, die sich doch nun einmal nicht ableugnen ließen, zu Erpressungen benutzen; aber man war mit seinem Vater fertig geworden, als dieser Aehnliches versuchte, man würde auch mit ihm fertig werden. Graf Michael war nicht der Mann, sich vor Schatten zu fürchten.
Und jetzt tauchte der Verschwundene in der That wieder auf, aber auf demselben Boden, wo die gräflich Steinrücksche Familie verkehrte, jetzt wurde er genannt als einer von denen, die dereinst emporsteigen werden ohne fremde Hilfe, durch eigene Kraft, und jetzt wagte er es, die Protektion zurückzuweisen, die man ihm bot, gezwungen und widerwillig genug, aber doch immerhin bot – sah es doch beinahe aus, als wollte er jetzt die Familie seiner Mutter verleugnen!
Auf der Stirn des Grafen lag noch die drohende Wolke, als er in die Gesellschaft zurückkehrte. Soeben erschienen auch Hertha und ihre Mutter wieder im Saale, und die junge Dame wurde sofort der Mittelpunkt des ganzen Kreises. Alles drängte sich um sie, alles huldigte ihr; Hans Wehlau brach in einer förmlichen Kometenbahn durch den Salon, um in ihre Nähe zu gelangen, und selbst das finstere Antlitz Steinrücks erhellte sich flüchtig, als er auf sein schönes Mündel blickte.
Nur Lieutenant Rodenberg schien den Eintritt der Dame nicht zu bemerken. Er stand abseits, im Gespräch mit einem alten Herrn, der ihm ein langes und breites von dem unfreundlichen Sommer dieses Jahres und dem schönen Herbst erzählte und hörte anscheinend sehr aufmerksam zu. Aber sein Blick hing an jenem Bannkreise, dem er doch mit keinem Schritte nahte, so heiß und verlangend wie vorhin an der Rose zu seinen Füßen, und als der Redselige ihn endlich verließ, murmelte er halblaut:
»Der dumme Michel! Ich wollte, ich wäre es geblieben!«
Graf Michael Steinrück nahm in der Hauptstadt eine sehr einflußreiche Stellung ein. Im Beginn des letzten Feldzuges zum General ernannt, hatte er sich dort als einer der tüchtigsten und schneidigsten Führer bewiesen, und seine Stimme war von entscheidendem Gewicht in militärischen Dingen.
Der General hatte vor sechs Jahren seinen einzigen Sohn verloren, welcher der Gesandtschaft in Paris attachiert gewesen war, und seitdem lebten Schwiegertochter und Enkel in seinem Hause. Der letztere hatte ursprünglich in die Armee treten sollen auf Wunsch oder vielmehr auf Befehl seines Großvaters, der entschlossen war, seinen Willen selbst gegen den Widerstand der Eltern durchzusetzen, trotzdem war es nicht dazu gekommen. Raoul, der in der That ein zarter Knabe war, kränkelte gerade in der Zeit, wo es sich um die Entscheidung über seine künftige Laufbahn handelte, in so bedenklicher Weise, daß die Aerzte einstimmig erklärten, er sei den Anstrengungen der militärischen Laufbahn nicht gewachsen. Sie wiesen warnend auf das Brustübel des Vaters hin, das sich schon damals zeigte und dessen Keim in dem Sohne erwachen könne, wenn man ihn nicht hinreichend schone, und dieser Sohn war der einzige und letzte Sprosse des alten Geschlechtes. Dieser Rücksicht beugte sich denn endlich auch Graf Michael; aber er hatte es noch bis zum heutigen Tage nicht verwunden, daß ihm sein Lieblingswunsch versagt geblieben war, um so weniger, als Raoul, nachdem er die kritischen Jahre überwunden hatte, zur vollsten Gesundheit und Schönheit heranwuchs. Er war, nachdem er sein Studium auf einer deutschen Universität vollendet hatte, in den Staatsdienst getreten und arbeitete gegenwärtig im Auswärtigen Amte, wo er freilich seiner Jugend wegen noch eine untergeordnete Stellung einnahm.
Der General, nunmehr seit zehn Jahren der Herr von Schloß Steinrück, war der Gewohnheit seines verstorbenen Vetters treu geblieben; auch er brachte regelmäßig zur Herbst- und Jagdzeit einige Wochen dort zu, da ihm seine militärische Stellung selten einen längeren Urlaub gestattete. Schwiegertochter und Enkel begleiteten ihn meist auf diesen Ausflügen; man empfing dann Gäste, veranstaltete Jagden, und das so öde alte Bergschloß war eine kurze Zeit voll Lärm und Leben, bis es nach wenigen Wochen wieder in seine frühere Einsamkeit zurücksank.
Es war am Morgen nach der Ankunft des Grafen Raoul. Er befand sich in dem Zimmer seiner Mutter, und beide waren in ein 1 Gespräch vertieft, aber der Gegenstand desselben schien kein erfreulicher zu sein, Mutter und Sohn sahen ernst und verstimmt aus.
Gräfin Hortense Steinrück war jedenfalls eine blendende Schönheit gewesen, man sah noch jetzt die Spuren davon, wo sie die Mutter eines erwachsenen Sohnes war, und sie verstand es meisterhaft, noch immer anziehend zu erscheinen, wenn auch wohl die Kunst der Toilette einen hervorragenden Anteil daran hatte. Das geistvolle Antlitz mit den dunkeln, lebhaften Augen besaß einen Reiz, der die Jugend zu ersetzen vermochte, und die etwas üppige Gestalt hatte sich die volle Grazie bewahrt.
Raoul zeigte eine auffallende Aehnlichkeit mit seiner Mutter, deren ganze Schönheit er geerbt hatte; auch nicht ein einziger Zug in dieser schlanken, jugendlichen Erscheinung erinnerte an den Vater oder Großvater, an das Steinrücksche Geschlecht überhaupt. Es war ein herrlicher Kopf, mit dichtem, dunklem Lockenhaar, einer genialen Stirn und dunkeln, sprechenden Glutaugen; aber das Feuer, das sich in der Tiefe dieser Augen barg, konnte verzehrend auflodern, und selbst im ruhigen Gespräche brach es bisweilen daraus hervor wie ein heißer, versengender Strahl. So unbestritten die Schönheit des jungen Grafen war, es lag etwas darin wie ein halbverschleierter, dämonischer Zug, der sie freilich noch fesselnder machte.
»Also gestern abend noch hat er dich rufen lassen?« sagte Hortense in erregtem Tone. »Ich wußte es, daß wieder ein Sturm heranzog, und versuchte, ihn abzuwenden, aber ich glaubte doch nicht, daß er gleich am ersten Abend losbrechen würde.«
»Ja, der Großpapa war äußerst ungnädig,« erklärte Raoul, gleichfalls gereizt. »Er ging wegen einiger Tollheiten so streng mit mir ins Gericht, als ob es Staatsverbrechen wären. Ich hatte dir ja schon gebeichtet, Mama, und hoffte auf deine Fürsprache.«
»Auf meine Fürsprache?« wiederholte die Gräfin bitter. »Du solltest doch wissen, wie machtlos sie ist, zumal wenn es sich um dich handelt. Was gelten denn auch Mutterliebe und Mutterrechte einem Manne, der gewohnt ist, rücksichtslos alles seinem Willen zu beugen und zu brechen, was sich nicht beugen will! Ich habe genug darunter gelitten, daß dein Vater so völlig abhängig war, daß ich es nach seinem Tode bin, auch ich besitze ja nicht das geringste Vermögen, und man weiß uns festzuhalten an der Kette dieser Abhängigkeit. Wie oft schon haben mich diese Fesseln wund gedrückt!«
»Du irrst, Mama,« warf Raoul ein. »Was mich zwingt, das ist nicht die Macht des Großvaters, sondern seine Persönlichkeit. Es liegt etwas in seinem Auge, seiner Stimme, dem ich nicht trotzen kann. Ich will es nötigenfalls mit der ganzen Welt aufnehmen, aber nicht mit ihm.«
»Ja, er hat dich trefflich geschult! Das ist die Frucht einer Erziehung, die darauf berechnet war, mir jeden Einfluß zu rauben und dich einzig an ihn zu ketten. Dir imponiert dieser Gebieterton, dieser Herrscherblick, ich sehe längst darin nur noch die Tyrannei, die ich von Anfang meiner Ehe an ertragen mußte, aber sie wird ja nicht ewig währen!«
Sie atmete tief auf bei den letzten Worten. Raoul erwiderte nichts, er stützte den Kopf in die Hand und sah zu Boden.
»Ich schrieb dir bereits, daß du Hertha und ihre Mutter hier finden würdest,« hob die Gräfin wieder an. »Ich war überrascht von der Erscheinung Herthas, sie hat sich in dem Jahre, wo wir sie nicht gesehen haben, zu einer Schönheit ersten Ranges entwickelt.
Findest du das nicht auch?«
»Ja, sie ist sehr schön – und sehr verwöhnt und voller Launen! Ich habe das bereits gestern empfinden müssen.«
Hortense zuckte leicht die Achseln.
»Sie fühlt sich als reiche, gefeierte Erbin, und überdies ist sie das einzige Kind einer grenzenlos schwachen Mutter, die ihr gegenüber nie einen Willen hatte. Du hast ihn, Raoul, und wirst ihn deiner künftigen Frau gegenüber zur Geltung bringen, daran zweifle ich nicht, und ich bin hier einmal in dem seltenen Falle, ganz und rückhaltlos mit deinem Großvater übereinzustimmen, der den gesamten Familienbesitz dereinst in deiner Hand vereinigt wissen will. Die Einkünfte des Majorates sind sehr mäßig, dem Großvater ist nicht viel mehr als ein Jagdschloß vermacht worden, Hertha dagegen ist die Erbin der sämtlichen Allodialgüter, und auch das reiche Wittum ihrer Mutter fällt dereinst an sie zurück. Ueberdies seid ihr die beiden letzten Sprossen des Steinrückschen Hauses, da ist eine Verbindung zwischen euch beiden selbstverständlich.«
»Wenn Familienrücksichten allein maßgebend sind, allerdings – ihr habt euch ja beeilt, das festzustellen, als wir beide noch Kinder waren,« sagte Raoul mit einem Anfluge von Bitterkeit, der seiner Mutter nicht entging; sie sah ihn befremdet an.
»Nun, ich dächte, du hättest allen Grund, mit dieser Familienübereinkunft zufrieden zu sein. Genügt sie doch selbst mir, die ich sicher die höchsten Ansprüche für dich stellte. Du warst ja stets einverstanden, was soll denn jetzt die Wolke auf deiner Stirn? Hat dich eine bloße Laune Herthas so verstimmt? Ich gebe es zu, sie hat dich gestern nicht besonders liebenswürdig empfangen, aber du wirst dich deswegen doch nicht bedenken, mit der Hand einer schönen Frau einen Reichtum zu empfangen, um den dich Tausende beneiden werden.«
»Das nicht, aber es widerstrebt mir, jetzt schon meine Freiheit zu opfern.«
»Freiheit!« lachte Hortense bitter auf. »Wagst du es wirklich, das Wort in diesem Hause auszusprechen? Bist du es nicht müde, mit deinen fünfundzwanzig Jahren immer noch wie ein Knabe behandelt zu werden, dem man jeden Schritt vorschreibt?
Ausgescholten zu werden, wenn dein Betragen nicht genehm ist, um die Erfüllung jedes berechtigten Wunsches erst bitten zu müssen, und dich demütig zu fügen, wenn von höchster Stelle ein Nein erfolgt? Kannst du auch nur einen Augenblick zögern, die Selbständigkeit zu ergreifen, die dir geboten wird? Schon im nächsten Jahre geht laut Testament die Vormundschaft deines Großvaters über Hertha zu Ende, dann tritt sie in ihre vollen Rechte und ihr Gemahl mit ihr. Mache dich frei, Raoul, dich – und mich!«
»Mama!« sagte der junge Graf warnend, mit einem Blick auf die Thür, aber die erregte Frau fuhr nur leidenschaftlicher fort:
»Ja, auch mich! Was ist denn mein Leben in diesem Hause andres als ein fortwährender Kampf und ein ewiges Erliegen? Du hattest bisher nicht die Macht, mich zu schützen gegen all die tausendfachen Kränkungen, die ich Tag für Tag erdulde, jetzt wirst du sie haben, du brauchst nur zu wollen. Ich flüchte zu dir, sobald du Herr auf eigenem Boden bist.«
Raoul erhob sich mit einer heftigen Bewegung. Die leidenschaftliche Beredsamkeit der Mutter blieb nicht wirkungslos, das sah man, und das Bild von Freiheit und Selbständigkeit, das sie ihm ausmalte, war verlockend genug für den jungen Mann, der eben noch so bitter die Strenge des Großvaters empfunden hatte.
Dennoch zögerte er mit der Antwort, und es war etwas wie geheimer Kampf in seinen Zügen.
»Du hast ja recht, Mama,« sagte er endlich, »vollkommen recht, ich widerstrebe ja auch nicht; aber wenn die Sache jetzt beschleunigt werden soll, wie es den Anschein hat –«
»So hättest du doch allen Grund, dich darüber zu freuen! Ich begreife dich nicht, Raoul. Ich will doch nicht fürchten – du hast dich doch nicht etwa irgendwo gebunden?«
»Nein, nein!« rief der junge Graf, hastig abwehrend, »davon ist keine Rede, ich versichere es dir, Mama.«
Die Mutter schien durch diese Versicherung wenig beruhigt; sie war eben im Begriff, noch weitere Fragen zu thun, da wurde die Thür rasch, aber geräuschlos geöffnet, und die Kammerzofe der Gräfin rief mit gedämpfter Stimme: »Seine Excellenz, der Herr General!«
Sie hatte kaum Zeit, zurückzutreten, der General folgte ihr auf dem Fuße. Er blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen und streifte mit einem raschen, forschenden Blick Mutter und Sohn.
»Seit wann ist denn diese strenge Etikette in unsrer Familie eingeführt?« fragte er. »Ich werde bei dir gemeldet, Hortense?«
»Ich begreife Marion nicht. Sie weiß doch, daß die Meldung überflüssig ist.«
»Wenn es ihr nicht eigens befohlen wurde, allerdings, – es klang beinahe wie ein Warnungsruf!«
Mit diesen Worten nahm Steinrück neben seiner Schwiegertochter Platz, während er den Morgengruß seines Enkels nur mit einem flüchtigen Kopfnicken erwiderte. Die beiden hatten bisher ausschließlich französisch gesprochen, sie bequemten sich aber sofort zur deutschen Sprache beim Eintritt des Generals, der jetzt fortfuhr:
»Ich wollte dich um eine Auskunft ersuchen, Hortense. Ich höre soeben, daß Zimmer für zwei Gäste in Stand gesetzt werden auf deinen Befehl. Ich dächte, wir hätten schon unsre Verwandten zu Gaste und wollten diesmal im Familienkreise bleiben. Wen hast du eingeladen?«
»Es handelt sich nur um einen ganz flüchtigen Besuch, Papa,« erklärte die Gräfin. »Bekannte, die in Wildbad sind und auf der Rückreise nur zwei oder drei Tage bei uns verweilen werden. Ich habe erst heute morgen die Nachricht von ihrem Eintreffen erhalten und hätte es dir jedenfalls mitgeteilt.«
»Nun wohl, aber ich möchte wissen, wen du erwartest.«
»Henri de Clermont und seine Schwester.« Die Antwort wurde mit einem gewissen Zögern gegeben, und das Antlitz des Generals verfinsterte sich sofort.
»Dann bedaure ich, daß du mich nicht vorher von dieser Einladung verständigt hast – ich hätte sie nicht erlassen.«
»Es geschah auf Raouls Wunsch, auf seine besondere Bitte.«
»Gleichviel, ich wünsche die Clermonts nicht in unserm Kreise zu sehen.«
Raoul fuhr auf bei dieser mit voller Bestimmtheit gegebenen Erklärung, und eine dunkle Glut bedeckte plötzlich sein Gesicht.
»Verzeih, Großpapa, aber Henri und seine Schwester sind im Winter schon verschiedene Male in unserm Hause gewesen.«
»Bei deiner Mutter! Ich mache ihr keine Vorschriften in Bezug auf die Besuche, die sie persönlich empfängt; dieser Besuch in Steinrück aber, wo wir im engsten Familienkreise sind, würde eine Vertraulichkeit bedeuten, die ich entschieden ablehne, und muß deshalb unterbleiben.«
»Das ist unmöglich!« entgegnete Hortense, indem sie in nervöser Gereiztheit ihr Taschentuch zusammenpreßte. »Ich habe die Einladung nun einmal erlassen und kann sie nicht rückgängig machen.«
»Weshalb nicht? Du schreibst einfach, daß du erkrankt bist und dich außer stande fühlst, die Pflichten der Wirtin zu erfüllen.«
»Das würde uns ja lächerlich machen!« brach Raoul aus. »Der Vorwand würde niemals geglaubt werden, es wäre eine Beleidigung für Henri und seine Schwester.«
»Der Meinung bin ich auch.« stimmte Hortense bei.
»Wohl, so bin ich andrer Meinung als ihr beide!« sagte der General mit Nachdruck, »und auf mich kommt es hier doch wohl allein an. Es ist eure Sache, wie ihr die Einladung rückgängig machen wollt: geschehen wird es unter allen Umständen, denn ich empfange die Clermonts nicht in meinem Schlosse.«
Das war allerdings der volle Gebieterton, der die leidenschaftliche Frau herausforderte; sie erhob sich stürmisch.
»Soll ich gezwungen werden, die Freunde meines Sohnes zu beleidigen? Freilich, sie gehören ja meinem Land, meinem Volk an, und das bannt sie von dieser Schwelle. Meine Liebe zu der Heimat ist mir ja stets zum Vorwurf gemacht worden, und bei Raoul gilt die Neigung dafür als ein Verbrechen. Er hat seit dem Tode seines Vaters Frankreich nicht wieder betreten dürfen, sein Umgang wird ihm vorgeschrieben und geregelt wie einem Schulknaben, kaum daß er noch mit meinen Verwandten verkehren darf. Aber ich bin dieser ewigen Sklaverei müde, ich will endlich –«
»Raoul – verlaß uns!« unterbrach Steinrück sie. Er war ruhig sitzen geblieben, und sein Gesicht erschien unbewegt, nur auf der Stirn zeigte sich wieder die drohende Falte.
»Du bleibst, Raoul!« rief Hortense heftig. »Du bleibst bei deiner Mutter!«
Der junge Graf schien allerdings geneigt, Partei für die Mutter zu nehmen, er war wie schützend an ihre Seite getreten und schien entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten; jetzt aber erhob sich dieser auch, und seine Augen flammten.
»Du hast gehört, was ich befahl!« herrschte er seinem Enkel zu. »Geh!«
Es lag etwas so Zwingendes in diesem Gebot, daß Raouls Widerstand davor zusammensank. Er vermochte es in der That nicht, diesen Augen und dieser Stimme zu trotzen, einen Moment zögerte er noch, aber auf einen nochmaligen gebieterischen Wink bequemte er sich zum Gehorsam und verließ das Zimmer.
»Ich will nicht, daß Raoul Zeuge von Auftritten wird, wie sie leider zwischen uns nicht selten sind,« sagte der General kalt, indem er sich zu seiner Schwiegertochter wandte. »Jetzt sind wir allein, was wolltest du sagen?«
Wenn irgend etwas die erregte Frau noch mehr reizen konnte, so war es diese kalte, überlegene Ruhe, die ihr wie Hohn erschien, sie geriet darüber völlig außer sich.
»Meine Rechte will ich verteidigen!« rief sie. »Ich will mich auflehnen gegen eine unerhörte Tyrannei, die mich wie meinen Sohn knechtet. Es ist eine Beleidigung für mich, wenn ich die Einladung an die Clermonts widerrufen muß, und das geschieht nicht – eher lasse ich es auf das Aeußerste ankommen.«
»Ich rate dir, Hortense, fordere dies Aeußerste nicht heraus, du könntest es bereuen,« fiel der Graf ein, der jetzt auch seine Ruhe verlor, seine Stimme klang dumpf und drohend. »Wenn du denn die schonungslose Wahrheit willst, so magst du sie haben. Ja, es handelt sich in erster Linie darum, Raoul Umgebungen und Einflüssen zu entziehen, die ich bei meinem Enkel nicht dulden kann und werde. Ich verließ mich auf Albrechts wiederholte, feierliche Versicherung, daß der Knabe eine deutsche Erziehung erhalte; aber bei euren kurzen, flüchtigen Besuchen konnte ich mich nicht davon überzeugen, und das Kind war leider geschult für diese Besuche. Erst nach dem Tode meines Sohnes ist es mir klar geworden, daß er sich auch in diesem Punkte blindlings deinem Willen unterworfen, daß er mich absichtlich getäuscht hat.«
»Willst du meinem Gatten noch im Grabe Vorwürfe machen?« fuhr Hortense auf.
»Ich kann ihm auch dort den Vorwurf nicht ersparen, den ich dem Lebenden ins Antlitz geschleudert hätte. Er hat zugelassen, was er nie zulassen durfte. Raoul war ein Fremdling in seinem Vaterlande, fremd in seiner Geschichte, seinen Aufgaben, in allem, was ihm teuer und heilig sein sollte, er wurzelte mit jeder Faser in dem fremden Boden. Der Einblick, den ich damals erhielt, als du mit ihm in mein Haus zurückkehrtest, war derart, daß er mich zum sofortigen energischen Einschreiten zwang. Es war die höchste Zeit – wenn es nicht schon zu spät war!«
»Ich bin sicher nicht freiwillig in dein Haus zurückgekehrt.« Die Stimme der Gräfin klang in schneidender Bitterkeit. »Ich wäre gern zu meinem Bruder geeilt, aber du beanspruchtest ja Raoul, du nahmst ihn mir kraft deines vormundschaftlichen Rechtes, und ich konnte und wollte mich nicht von meinem Kinde trennen. Hätte ich es mit mir nehmen dürfen –«
»Um vollends einen Montigny aus ihm zu machen!« ergänzte Steinrück. »Das wäre dir nicht schwer geworden, er hat nur zu viel von dir und den Deinen. Ich suche vergebens mein Blut in ihm, aber verleugnen wird und soll er dies Blut niemals. Du kennst mich in dem Punkte, und auch Raoul wird mich kennen lernen. Wehe ihm, wenn er es jemals vergißt, daß er den Namen Steinrück führt, daß er einem deutschen Geschlechte angehört!«
Er sprach mit gedämpfter Stimme, aber es lag etwas so furchtbar Drohendes darin, daß Hortense leise zusammenbebte. Sie wußte, daß es ihm ernst war mit der Drohung, und in dem Gefühl, daß sie wieder einmal erlag in dem alten Kampfe, nahm sie ihre Zuflucht zu Thränen und brach in einen Weinkrampf aus.
Der General war an dergleichen zu sehr gewöhnt, als daß es ihn hätte überraschen sollen; er zuckte schweigend die Achseln und ging. Im Vorzimmer fand er Raoul, der dort unruhig auf und nieder schritt und plötzlich stehen blieb beim Eintritt des Großvaters.
»Geh zu deiner Mutter!« sagte dieser bitter. »Laß es dir wieder einmal sagen, daß ich ein Tyrann bin, ein Despot, der seine Freude daran hat, sie und dich zu quälen, du hörst das ja täglich, du wirst ja regelrecht hineingehetzt in den Argwohn, in die Bitterkeit gegen mich, und das hat längst seine Früchte getragen.«
So herb die Worte klangen, es lag ein unterdrückter Schmerz darin, und derselbe finstere Schmerz stand in den Zügen des Grafen.
Raoul mochte das sehen und fühlen, denn er schlug die Augen nieder und entgegnete leise: »Du thust mir unrecht, Großpapa.«
»So beweise es mir! Zeige mir endlich einmal volles, rückhaltloses Vertrauen, du wirst es nicht bereuen. Ich habe gestern erst wieder zürnen und drohen müssen, du hast mich oft genug dazu gezwungen in der letzten Zeit, und trotz alledem habe ich dich lieb, Raoul – sehr lieb!«
Die sonst so strenge, befehlende Stimme hatte einen Ton von Güte, ja von Weichheit, und das blieb nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann. Auch in ihm wallte die Liebe zu dem Großvater empor, dem er seit seiner Jugend entfremdet worden war, vor dem er immer nur Scheu empfunden hatte, in diesem Augenblicke empfand er nichts davon.
»Ich habe dich ja auch lieb, Großpapa!« brach er aus.
»Komm,« sagte Steinrück, mit einer Wärme, die ihm selten eigen war. »Laß uns einmal eine gute Stunde miteinander haben, wo kein fremder Einfluß zwischen uns steht. Komm, Raoul!«
Er legte den Arm um die Schultern seines Enkels und zog ihn mit fort, da wurde die Thür hastig aufgerissen, und Marion erschien.
»Um Gottes willen, Herr Graf, kommen Sie – die Frau Gräfin ist sehr unwohl – sie verlangt nach Ihnen!«
Raoul fuhr bestürzt auf, als wolle er zu der Mutter eilen, hielt aber plötzlich inne, denn er begegnete dem Blick seines Großvaters, der ernst, aber fast bittend auf ihn gerichtet war.
»Deine Mutter hat wieder ihre Nervenanfälle,« sagte er ruhig.
»Du kennst sie ja so gut wie ich und weißt, daß dabei nichts zu besorgen ist. Komm mit mir, Raoul!«
Er hatte ihn nicht losgelassen, Raoul schien mit sich zu kämpfen, nur einige Minuten lang, dann aber versuchte er, sich freizumachen.
»Verzeih, Großpapa – die Mama ist leidend, sie verlangt nach mir – ich kann sie jetzt nicht allein lassen!«
»So geh!« rief Steinrück hart, indem er ihn fast von sich stieß. »Ich will dich deiner Kindespflicht nicht entziehen. Geh zu deiner Mutter!«
Und ohne auch nur einen Blick weiter auf Raoul zu werfen, wandte er sich um und verließ das Zimmer.
Sankt Michael war eine der höchstgelegenen Ortschaften des Gebirges. Das kleine, stille Alpendorf wäre ganz abgeschieden gewesen, wenn es nicht als Wallfahrtsort eine gewisse Bedeutung gehabt hätte. Die einzelnen Gehöfte lagen zerstreut auf den Matten und am Bergesrand, in der Mitte die Dorfkirche und das Pfarrhaus: alles klein, schmucklos und dürftig; nur die eigentliche Wallfahrtskirche, die, eine Strecke vom Dorf entfernt, auf freier Höhe stand, hatte ein stattliches Ansehen. Es war eine Stiftung der Grafen von Steinrück, die an Stelle der uralten Sankt Michaelskapelle, die einst hier gestanden, das nun auch schon altersgraue Gotteshaus erbaut und ihm seitdem oftmals Schenkungen und Vermächtnisse zugewendet hatten bis in die neueste Zeit. Galt doch Sankt Michael als Schutzpatron des Geschlechtes, wie er dessen Namenspatron war. Der Ahnherr hatte so geheißen, und seitdem hatte der Name von Geschlecht zu Geschlecht sich fortgeerbt. Selbst die protestantische Linie des Hauses, die längst die heimische Stammburg verlassen hatte und nach Norddeutschland aus gewandert war, hielt an dieser Tradition fest, wenn sie ihr auch keine religiöse Bedeutung mehr beilegte, sondern nur noch eine historische. Auch das jetzige Haupt des Hauses war ein Graf Michael, und Sohn und Enkel waren nach ihm getauft, wenn auch ihr Rufname anders lautete. – Das Innere der Wallfahrtskirche bot nicht viel Bemerkenswertes: den gewöhnlichen Schmuck von Bildern und buntbemalten Statuen der Heiligen in oft sehr mangelhafter Ausführung. Nur der Hochaltar machte eine Ausnahme davon, er war im reichsten, kunstvollen Schnitzwerk ausgeführt, und die Engelsgestalten zu beiden Seiten der Stufen, die mit ausgebreiteten Flügeln und betend erhobenen Händen den heiligen Ort zu hüten schienen, gehörten zu den besten Werken der Holzbildnerei. Es war ein Geschenk der gräflich Steinrückschen Familie, ebenso wie die drei gotischen Fenster in der Altarnische, deren kostbare Glasmalereien eine glühende Farbenpracht zeigten. Dagegen entstammte das Altarbild, ein ziemlich umfangreiches Gemälde, der naiven Auffassung einer längst vergangenen Zeit. Es war dunkel geworden vor Alter, hie und da beschädigt, aber doch noch deutlich erkennbar in seinen Einzelheiten. Sankt Michael in langem, blauem Gewande und wallendem rotem Mantel, den Heiligenschein über dem Haupte, war nur durch ein kurzes Panzerhemd als der streitbare Engel gekennzeichnet, sah aber sonst nicht sehr kriegerisch aus. Das Flammenschwert in der Rechten, die Wage in der Linken, thronte er auf einer Wolke, zu seinen Füßen krümmte sich der Satan, ein gehörntes Ungetüm, mit qualverzerrten Zügen, dessen Körper in einem Schlangenleibe endigte. Dazu zuckten blutrote Flammen aus der Tiefe empor, und von oben schaute eine Glorie von Engelsköpfen herab. Das Ganze war ohne jeden künstlerischen Wert.
»Das soll nun Sieg und Kampf bedeuten!« sagte Hans Wehlau, der vor dem Bilde stand und es betrachtete. »Sankt Michael steht so feierlich gemütlich auf seiner Wolke, als ob ihn der Gottseibeiuns da unten gar nichts anginge, und wenn der gescheit ist, so greift er zu und packt das Schwert, das gerade über seiner Nasenspitze schwebt; so hält man doch keine Waffe! Wie ein Adler müßte er aus der Höhe niederstoßen, und wie ein Sturmwind müßte er den Satan packen und vernichten, aber in den langen Gewändern soll er das Fliegen wohl bleiben lassen, und den Flügeln da glaubt man es überhaupt nicht, daß sie ihn tragen, sie sind viel zu schwach.«
»Du hast eine höchst respektlose Art, die Heiligenbilder zu beurteilen!« sagte Michael, der neben ihm stand. »In dem Punkte bist du wirklich der Sohn deines Vaters.«
»Es käme darauf an! Weißt du, daß ich Lust hätte, selbst ein solches Bild zu malen? Sankt Michael und der Satan – der Kampf des Lichtes mit der Finsternis! Aus dem Stoff ließe sich etwas machen, wenn man ihn energisch angreift, und das Modell dazu habe ich ganz in der Nähe.«
Er wandte sich plötzlich um und sah seinem Freunde voll ins Gesicht, der den Blick mit einigem Befremden zurückgab.
»Was fällt dir ein? Ich habe doch sicher –«
»Nichts Engelhaftes! Nein, wahrhaftig nicht, und unter den himmlischen Heerscharen, die in weißen Kleidern mit Palmenzweigen im Aether herumschweben, würdest du eine sehr komische Figur spielen. Aber so mit dem Flammenschwerte auf den Feind losgehen und ihn niederwerfen wie dein heiliger Namensvetter, das ist ganz dein Fall. Natürlich müßte man sehr idealisieren, denn hübsch bist du gar nicht, Michael; aber was man zu solcher Gestalt braucht, das hast du, besonders wenn du wütend bist. Jedenfalls würdest du einen weit besseren Erzengel abgeben als der da oben!«
»Thorheit!« sagte Michael, indem er sich zum Gehen wandte. »Uebrigens mußt du jetzt aufbrechen, Hans, wenn du zu Fuß nach Tannberg zurück willst. Du hast vier Stunden bis dahin.«
»Auf der langweiligen Fahrstraße, die ich natürlich nicht benutze, ich gehe mitten durch den Bergwald, das ist näher.«
»Und dabei verirrst du dich gründlich! Du kennst ja die Gegend nicht so genau wie ich.«
»Ich werde mich schon zurechtfinden,« sagte Hans, während sie die Kirche verließen und ins Freie traten. »Wenigstens werde ich in Tannberg nicht mehr mit einem grimmigen Gesicht empfangen. Ich bin froh, daß der Papa fort ist, und ich glaube, das ganze Haus hat mit mir aufgeatmet. Es hing ja zuletzt wie eine Donnerwolke über uns allen, man mußte fortwährend auf Blitz und Schlag gefaßt sein.«
»Es war schließlich das beste, daß er den Aufenthalt abkürzte und nach Hause zurückkehrte,« entgegnete Michael ernst. »Bei seiner fortwährenden Gereiztheit und Erbitterung wäre es noch zum offenen Bruche gekommen. Ich wollte das um jeden Preis verhüten und redete ihm daher selbst zu, abzureisen.«
»Ja, du hast mich nach Kräften gedeckt. Du und die Tante, ihr standet wie zwei Friedensengel an meiner Seite und schirmtet mich mit euren Flügeln; aber viel hat das auch nicht geholfen, der Papa war gar zu grimmig. Du warst noch der einzige, der mit ihm auskam.«
»Und deshalb schickst du mich regelmäßig zuerst ins Feuer, wenn es etwas durchzusetzen gilt.«
»Natürlich, denn du wagst gar nichts dabei. Papa behandelt dich immer äußerst respektvoll, selbst wenn ihr verschiedener Meinung seid. Merkwürdig – vor mir hat er nie Respekt gehabt!«
»Hans, sei vernünftig und treibe nicht schon wieder Possen,« sagte Michael verweisend. »Ich dächte, du hättest allen Grund, ernsthaft zu sein.«
»Mein Gott, was soll ich denn thun! Ich habe nun einmal kein Talent zu der Rolle des zerknirschten Sünders. Wenigstens hast du mir die allerhöchste Erlaubnis ausgewirkt, in Tannberg zu bleiben, so lange dein Urlaub währt, und wenn wir nach Hause zurückkehren, wird sich der Sturm wohl einigermaßen gelegt haben. Doch da ist der Weg! Bringe dem Onkel Valentin noch einen Gruß von mir. Ich habe ihn wieder einmal ›kompromittiert‹ durch meinen Besuch als Sohn meines Vaters, aber er hat es ja selbst gewollt. Auf Wiedersehen, Michael!«
Er winkte seinem Freunde noch einmal zu und schlug dann einen Seitenweg ein, der bergabwärts führte. Michael sah ihm nach, bis er zwischen den Tannen verschwand; dann trat er gleichfalls den Rückweg nach dem Dorfe an.
Er befand sich seit einigen Tagen in Sankt Michael, und gestern hatte auch Hans dort einen kurzen Besuch abgestattet. Es war ein seltener und langersehnter Besuch für den Pfarrer, der es schmerzlich genug empfand, daß seine nächsten Angehörigen ihm für gewöhnlich fern blieben und bleiben mußten. Man machte ihm jeden Verkehr mit dem Bruder zum Vorwurfe, der allerdings einer religiösen Richtung als erklärter Gegner gegenüberstand. Sie sahen sich nur in den Zwischenräumen von Jahren, wenn der Professor einmal bei den Verwandten in Tannberg war. Daß es aber dennoch bisweilen geschah und daß sie in Briefwechsel standen, erklärte es vielleicht, daß Valentin Wehlau in dem einsamen Alpendorfe gelassen und – vergessen werden konnte.
Michael dagegen war in den letzten Jahren öfter bei seinem alten Freunde und Lehrer gewesen, aber der Lieutenant Rodenberg war eine völlig neue Erscheinung für die Bewohner von Sankt Michael, die sich kaum noch des blöden, scheuen Buben aus der Försterei erinnerten, den sie ja überhaupt nur äußerst selten zu Gesicht bekamen. Er hatte ihnen stets als ein Verwandter Wolframs gegolten, der auch dessen Namen führte, und die Bergförsterei war längst in andern Händen. Graf Steinrück hatte seinem ehemaligen Jäger eine bessere Stellung mit reicherem Gehalte auf einem der Güter seines Mündels zugewendet, vielleicht als Belohnung für die geleisteten Dienste, vielleicht auch, weil er durch nichts mehr an die Vergangenheit erinnert sein wollte, wenn er nach dem Schlosse kam. Jedenfalls hatte Wolfram schon vor zehn Jahren die Gegend verlassen und war nach seinem neuen Wohnort übergesiedelt.
Als Michael in das Pfarrhaus zurückkehrte, das er vor einer halben Stunde in gewohnter Stille und Einsamkeit verlassen hatte, fand er dort eine seltsame Aufregung. In der Küche hantierte die alte Magd voll Eifer und Geschäftigkeit mit Töpfen und Pfannen, als gelte es, ein Gastmahl zu rüsten. Sie hatte sich jedenfalls Hilfe aus den benachbarten Gehöften herbeigeholt, denn zwei junge Bauernmädchen liefen treppauf, treppab, in den Giebelzimmern wurde geräumt und gelüftet, das ganze sonst so friedliche Hauswesen schien auf dem Kopfe zu stehen, und der Mesner verabschiedete sich soeben eilfertig und mit höchst wichtiger Miene, als Rodenberg in das Studierzimmer des Pfarrers trat.
In dem kleinen Raume hatte sich nichts verändert, es war noch die alte Einrichtung mit ihrer klösterlichen Einfachheit: die weißgetünchten Wände, der mächtige Kachelofen, das geschnitzte Kruzifix in der Ecke, und auch noch die alten Möbel von schlichtem Tannenholz: die Zeit war an dem allem spurlos vorübergegangen, nur an dem Bewohner nicht.
Der Pfarrer hatte recht gealtert. Während sein Bruder, der allerdings um mehrere Jahre jünger war, sich noch die Kraft und Frische des Mannesalters bewahrt hatte, machte er bereits den Eindruck eines Greises. Die Gestalt war gebeugt, das Gesicht tief durchfurcht, das Haar weiß geworden, nur die Augen strahlten noch in dem alten milden Glanze und täuschten bisweilen hinweg über das Müde, Gebrochene der ganzen Erscheinung.
»Was gibt es denn, Hochwürden?« fragte Michael etwas verwundert. »Das ganze Haus ist ja auf einmal in Unruhe und Aufregung, und die alte Kathrin hat so vollständig den Kopf verloren, daß sie davonlief, ohne mir Rede zu stehen.«
»Uns ist ganz unerwartet ein Besuch angekündigt worden,« entgegnete Valentin, »ein vornehmer Besuch, der schon einige Umstände beansprucht. Kaum warst du mit Hans fort, so kam ein Bote mit einem Brief der Gräfin Steinrück, sie wird in zwei Stunden hier sein.«
Der junge Mann, der eben im Begriff war, sich niederzusetzen, hielt betroffen inne.
»Gräfin Steinrück? Was will sie denn hier in Sankt Michael?«
»Den Wallfahrtsort besuchen. Die Gräfin ist eine sehr fromme Frau und versäumt das niemals, wenn sie im Schlosse ist. Ueberdies ist unsre Kirche eine Stiftung ihrer Familie und verdankt ihr persönlich manche Zuwendung. Sie besucht alljährlich die Ruhestätte ihres Gemahls und kommt dann regelmäßig auch hierher.«
»Und kommt sie allein?« Die Frage hatte etwas Atemloses, Gepreßtes; um so ruhiger klang die Erwiderung des Pfarrers.
»Nein, mit ihrer Tochter und mit der nötigen Bedienung. Du wirst für heute das Gastzimmer räumen müssen, Michael, die doppelte Bergfahrt ist an einem Tage zu anstrengend für die Damen, sie bleiben stets über Nacht und nehmen alsdann mit der einfachen Gastfreundschaft des Pfarrhauses vorlieb. Ich habe deinetwegen schon mit dem Mesner gesprochen, der dir bis morgen Unterkunft gewähren wird.«
Michael erwiderte keine Silbe, er trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus. Endlich nach einer ganzen Weile sagte er halblaut:
»Ich wollte, ich wäre mit Hans gegangen!«
»Weshalb? Vielleicht weil die Damen den Namen Steinrück führen und weil du nun einmal alles in Acht und Bann gethan hast, was diesen Namen trägt? Wie oft schon habe ich dich ermahnt und gebeten, dich von diesem unchristlichen Hasse loszumachen!«
»Von meinem Hasse?« wiederholte der junge Mann mit eigentümlich bebender Stimme.
»Nun, was ist es denn sonst? Als du mir neulich von dem Zusammentreffen mit deinem Großvater berichtetest, habe ich gesehen, wie starr und unversöhnlich du noch immer daran festhältst, und jetzt überträgst du das sogar auf die ganz unbeteiligten Verwandten des Grafen, von denen du nur Freundlichkeit empfängst. Du hast mir allerdings nichts von der Bekanntschaft erzählt, aber Hans that es um so ausführlicher. Er scheint ja ganz begeistert zu sein von der jungen Gräfin.«
»Solange er sie vor Augen hat! Und sobald wir wieder in der Stadt sind, hat er sie vergessen – ihm wird das leicht genug.«
Die Worte sollten spöttisch sein und klangen so bitter, daß Valentin befremdet den Kopf schüttelte.
»Das ist in diesem Falle ein Glück,« erwiderte er. »Es wäre traurig, wenn Hans die Sache ernst nähme; denn ganz abgesehen von dem Standesunterschied, ist die Hand der Gräfin Hertha längst versagt.«
»Versagt – an wen?« fragte Michael jäh und heftig, indem er sich umwandte.
»An den Grafen Raoul Steinrück, ihren Verwandten. In jenen Kreisen werden die Verbindungen meist durch Familienbeschluß geregelt, und das ist auch hier geschehen, schon vor Jahren. Eine Verlobung hat allerdings noch nicht stattgefunden, weil die Gräfin sich noch nicht zur Trennung von ihrer Tochter entschließen konnte, die Sache steht aber nahe bevor.«
Der Pfarrer, der als ehemaliger Beichtiger der Gräfin noch jetzt ihr ganzes Vertrauen besaß, war in den Verhältnissen ihrer Familie genau bewandert; er erörterte sie jetzt in voller Ruhe und mit einiger Umständlichkeit, und darüber entging es ihm, daß sein Zuhörer so völlig verstummt war. Michael hatte sich wieder dem Fenster zugewendet, er preßte die Stirn gegen die Scheiben und verharrte noch in dieser Stellung, als die Erzählung längst zu Ende war.
»Sie werden heute viel Unruhe im Hause haben, Hochwürden,« sagte er endlich, »und ich möchte auch dem Mesner keine Umstände machen. Es wäre wohl das beste – ich ginge nach der Försterei und bliebe dort bis morgen.«
»Was fällt dir ein!« rief Valentin unwillig. »Ich begreife deine Zurückhaltung, die dir Hans zum Vorwurf macht, aber das geht denn doch zu weit.«
»Die Gräfin weiß nichts von meinem Hiersein, und wenn Sie es ihr verschweigen –«
»So erfährt sie es durch Kathrin oder den Mesner. Ein Gast ist eine Seltenheit in meinem einsamen Pfarrhause, die Leute reden jedenfalls davon, und wie soll ich dann der Gräfin gegenüber deine Flucht entschuldigen?«
»Flucht?« fuhr der junge Offizier auf.
»Nun, dafür muß sie es doch halten, da sie deine Beziehungen zu ihrer Familie nicht kennt.«
»Sie haben recht,« sagte Michael mit einem tiefen Atemzuge. »Es wäre Flucht und Feigheit – ich werde bleiben!«
»Ja, vernünftigen Vorstellungen bist du nicht zugänglich,« meinte Valentin mit einem flüchtigen Lächeln, »aber sobald man vom Fliehen spricht, regt sich der Soldat in dir und zwingt dich, standzuhalten. – Doch ich muß jetzt sehen, was Kathrin schafft; sie scheint wirklich den Kopf verloren zu haben, ich werde ihr wohl mit Rat und That beistehen müssen.«
Michael blieb allein zurück. Er hatte ja fort gewollt, man zwang ihn ja, zu bleiben, und doch wandten sich seine Augen aufleuchtend der Fahrstraße zu, die sich dort drüben aus dem Thale emporwand, Flucht! Der junge Krieger war so empört aufgefahren bei dem Worte, und er war doch seit Wochen auf der Flucht vor einer Macht, der er sich nicht beugen wollte und die ihn trotz alledem zu erreichen wußte. Als sei sie mit einem Dämon im Bunde, so nahte sie ihm immer wieder, dort unten in dem glänzenden Wogen und Treiben der Gesellschaft und hier in dem einsamen Alpendorfe; gerade dann, wenn er sie am fernsten wähnte, tauchte sie urplötzlich vor ihm auf. Jetzt hieß es wieder einmal ihr Auge in Auge gegenüberstehen, und Michael wußte, was das für ihn bedeutete, aber als er sich jetzt emporrichtete, finster, entschlossen, kampfbereit, da sah er nicht aus, als ob er unterliegen werde.
Die erwarteten Gäste waren zur festgesetzten Zeit eingetroffen, die Gräfin in einem kleinen, eigens für solche Fahrten bestimmten Bergwagen, während ihre Tochter es vorgezogen hatte, den Weg zu Pferde zurückzulegen. Eine Kammerfrau, die mit im Wagen fuhr, und ein gleichfalls berittener Diener begleiteten die Damen, denen sich die Gräfin Hortense ursprünglich hatte anschließen wollen; aber sie litt noch an den Folgen eines Nervenanfalles, der ihr die anstrengende Bergfahrt verbot.
Die Damen hatten gleich nach der Ankunft ihre Andacht in der Kirche verrichtet, und die feierliche Messe fand erst morgen früh statt. Jetzt war es Nachmittag geworden, und der Pfarrer schritt, in Begleitung seiner beiden jüngeren Gäste, langsam durch das Dorf. Die Gräfin, die sich ermüdet fühlte, war im Pfarrhause zurückgeblieben; Michael dagegen hatte sich dem Spaziergange angeschlossen oder vielmehr anschließen müssen, denn Gräfin Hertha, die es gewohnt war, sehr souverän über ihre ganze Umgebung zu verfügen, hatte ihn in einer Weise dazu aufgefordert, die keinen Widerspruch duldete.
Man befand sich bereits in der Mitte des September, aber der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Das machte sich selbst in dieser Höhe fühlbar, es herrschte eine schwüle, drückende Temperatur. Die Matte, auf der Sankt Michael zerstreut lag, stand allerdings noch im hellen Sonnenschein, und der Himmel war noch klar; aber die Nebel zogen unruhig an der Bergwand hin, und um die Gipfel, die sich bald verschleierten, bald wieder lichteten, begann sich dunkles Gewölk zu sammeln.
»Ich fürchte, wir werden heute abend ein Wetter bekommen,« sagte Valentin. »Es war ja auch ein Tag wie mitten im Hochsommer.«
»Ja, das haben wir auf unsrer Bergfahrt empfunden,« stimmte Hertha bei. »Glauben Sie, daß wir an den Rückweg denken müssen?«
»Nein,« erklärte Michael mit einem prüfenden Blick nach den Bergen. »Wenn das Gewölk sich dort drüben an der Adlerwand sammelt, wie eben jetzt, hängt es meist stundenlang an den Felsen, ehe es wirklich losbricht, und geht auch gewöhnlich in die Thäler nieder, ohne uns zu berühren. Ein Wetter wird es allerdings geben – da blitzt schon Sankt Michaels Flammenschwert auf!«
Er wies hinüber nach der Adlerwand, wo es in der That aufblitzte, noch matt und fern, aber doch deutlich wahrnehmbar.
»Sankt Michaels Flammenschwert?« wiederholte Hertha fragend.
»Gewiß; kennen Sie nicht den alten Volksglauben, der überall in den Bergen verbreitet ist?«
»Nein, ich bin ja immer nur auf kurze Zeit hier gewesen und kaum jemals mit dem Volke in Berührung gekommen.«
»Nun, jener Glaube sieht in den Blitzen das Schwert des zürnenden Erzengels, das aus den Wolken hervorzuckt, und die Gewitter, die ja oft genug in den Thälern Unheil anrichten, gelten für sein Strafgericht.«
»Sankt Michael liebt den Sturm und die Flammen,« sagte Hertha lächelnd. »Ich bin immer sehr stolz darauf gewesen, daß gerade der Heerführer des Himmels, der mächtige Kriegs- und Schlachtenengel, der Schutzpatron unsres Hauses ist. Sie führen ja auch seinen Namen, gerade wie mein Onkel Steinrück.«
Valentin warf einen raschen, etwas besorgten Blick auf seinen ehemaligen Zögling; aber das Gesicht desselben blieb unbewegt, und er erwiderte mit voller Gelassenheit:
»Jawohl – zufälligerweise!«
»Der Tag des Heiligen steht ja nahe bevor,« wandte sich die junge Gräfin an den Pfarrer. »Der Wallfahrtsort ist dann wohl zahlreich besucht, nicht wahr, Hochwürden?«
»Die Bewohner der benachbarten Dörfer pflegen dann allerdings zu kommen; aber das eigentliche hohe Kirchenfest unsres Wallfahrtsortes fällt in den Mai, auf den Tag, der Michaels Erscheinung kündet. Da strömt das ganze Gebirgsvolk herbei, von den fernsten Höhen und aus den entlegensten Thälern, so daß Kirche und Dorf gewöhnlich nicht die dichtgedrängte Menge zu fassen vermögen. Die Legende läßt den Erzengel an jenem Tage noch immer unsichtbar von der Adlerwand niedersteigen und mit seinem leuchtenden Schwert die Erde furchen, wie es sichtbarlich vor Jahrhunderten geschah, als das Heiligtum gegründet wurde.«
Sie waren bei den letzten Worten stehen geblieben an einem Kruzifix, das sich hier einsam auf grüner Matte erhob und gerade nach der Adlerwand hinüberblickte. Ein Wildrosenstrauch rankte sich an dem Stamme des Kreuzes empor, das er fast überwucherte. Die dichten grünen Zweige überschatteten und umspannten das heilige Bild wie ein lebendiger Rahmen, dessen Blütenpracht freilich längst dahin war. Dennoch hatten die warmen, sonnigen Herbsttage noch einige späte Knospen erschlossen, nicht duftend und farbenreich wie ihre Schwestern drunten in der Ebene, blasse, wilde Gebirgsrosen, die, heute erblüht, morgen vom Sturme entblättert werden, und doch schimmerten sie rosig in dem dunkeln Grün, wie ein letzter Gruß des scheidenden Sommers.
Ein junger Bauer näherte sich jetzt mit abgezogenem Hute und etwas schüchtern der Gruppe, er hatte ein Anliegen an den Herrn Pfarrer, den er schon im Dorfe gesucht hatte. Die Mutter sei wieder recht krank und begehre dringend den Zuspruch seiner Hochwürden; das Häuschen liege ja ganz nahe, kaum zweihundert Schritt weit, und wenn Hochwürden nur auf einige Minuten kommen wolle, so werde die Kranke schon erfreut und getröstet sein.
»Da werde ich wohl mit dem Hies gehen müssen,« sagte Valentin. »Ich lasse die Gräfin unter deinem Schutze, Michael, wenn sie in das Pfarrhaus zurückkehren will –«
»Nein, Hochwürden, wir erwarten Sie hier,« fiel Hertha ein. »Der Blick auf die Adlerwand ist ja prachtvoll!«
»Ich komme auch bald zurück,« versicherte der Pfarrer, indem er mit freundlichem Gruße das Haupt neigte und dann in Begleitung des Hies nach dem nahen Häuschen schritt, in dessen Thür sie beide verschwanden.
Das unerwartete Alleinsein, das erste, seit sie sich überhaupt kannten, schien die beiden Zurückgebliebenen in Verlegenheit zu setzen, denn das eben noch so lebhafte Gespräch verstummte plötzlich.
Sankt Michael erschien fast wie ein einsames Hochalpenthal, so eingebettet lag es in den grünen Alpen, die es rings umgaben. Es hatte nur einen einzigen Ausblick, der es freilich mit jedem andern aufnahm, den Blick auf die Adlerwand. Der mächtige Felsenzug, der dort drüben aufstieg, in ernster, düsterer Majestät, beherrschte völlig die Aussicht und deckte all die andern Berggipfel; war er doch selbst ein Gebirge mit dunkeln Tannenwäldern, wild zerklüfteten Schluchten und stürzenden Wildbächen, deren Brausen dumpf herüberdrang. Die Wand selbst mit ihren nackten, starren Schroffen und ihrem jähen Absturz in die Tiefe schien unzugänglich für jedes menschliche Wesen, ihre Gipfel ragten zu schwindelnder Höhe empor, und der höchste derselben, das Haupt des Adlers, trug eine Gletscherkrone, die in blendender, eisfunkelnder Pracht dastand, seine riesigen Felsenschwingen schirmten das kleine Sankt Michael zu seinen Füßen. Die Wand führte ihren Namen mit Recht, sie glich in der That den ausgebreiteten Flügeln eines Adlers.
Das Schweigen hatte ziemlich lange gewährt, endlich brach Hertha es mit der Frage: »Von jener Höhe also soll der Legende nach der Erzengel niedersteigen?«
»Mit dem ersten Morgenstrahl!« ergänzte Michael, »dort drüben an der Adlerwand geht die Sonne auf. Das Volk hängt nun einmal mit unverbrüchlicher Treue an seinen altgeheiligten Ueberlieferungen, es läßt sich sein Frühlingsfest und seinen Sonnenkultus nicht nehmen. Es ist die uralte Lichtgottheit, die sich segnend oder verheerend dem Menschen zuwendet, die in den Donnerwolken zürnt und dann wieder mit ihrem Flammenschwert die Erde furcht, damit ihr das neue Frühlingsleben entsteige – die Kirche hat sie freilich hier mit der strahlenden Rüstung des Erzengels umkleidet.«
»Das klingt sehr ketzerisch,« sagte die junge Gräfin vorwurfsvoll. »Lassen Sie das den Herrn Pfarrer und meine Mutter nicht hören. Man merkt es, daß Sie im Hause des Professors Wehlau aufgewachsen sind. Er war ja wohl ein Jugendfreund Ihres Vaters?«
Michael neigte nur wie zustimmend das Haupt. Der Professor hatte es ihm längst zur Pflicht gemacht, diese Annahme zu bestätigen, welche unbequemen Nachforschungen vorbeugen sollte, und die selbst Hans für Wahrheit nahm.
»Sie haben Ihren Vater sehr früh verloren?«
»Ja sehr früh!«
»Und auch die Mutter?«
»Auch die Mutter!«
Es klang etwas wie aufquellendes Weh in diesem Worte, Hertha mochte fühlen daß sie unbewußt etwas Bitteres berührt habe, und rasch, wie um den Eindruck zu verwischen, sagte sie:
»Auch ich war noch ein Kind, als mein Vater starb, ich habe nur noch eine dunkle Erinnerung an ihn und an die grenzenlose Liebe und Zärtlichkeit, mit der er mich umgab und verwöhnte. Wo haben Sie denn mit Ihren Eltern gelebt?«
Die Lippen des jungen Mannes zuckten in tiefster Bitterkeit. Auch er hatte noch Erinnerungen an seine Kinderzeit, aber was ihn damals umgab, war nicht Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Die Schmach und das Elend, das er doch kaum zur Hälfte verstand, hatten sich trotzdem wie mit glühenden Zeichen in das Gedächtnis des Knaben eingeprägt, und das war noch heute nicht verwischt, trotzdem zwei Jahrzehnte dazwischen lagen.
»Meine Jugend ist keine frohe gewesen,« sagte er ausweichend. »Sie bietet wenig Bemerkenswertes, so wenig, daß ich Sie wirklich nicht damit behelligen möchte, es kann Sie unmöglich interessieren.«
»Doch, es interessiert mich!« fiel Hertha lebhaft ein. »Aber ich möchte nicht zudringlich erscheinen, und wenn Ihnen meine Teilnahme unangenehm ist –«
»Ihre Teilnahme – mir?« flammte Michael auf und brach dann plötzlich ab, aber was die Lippen nicht aussprachen, das sagte sein Blick, er hing wie gebannt an der jungen Gräfin, die freilich nicht des glänzenden Rahmens einer reichen Toilette bedurfte. Sie war berückend schön gewesen in Seide und Spitzen, in Blumen und Juwelen unter dem strahlenden Glanze der Kronleuchter, und heute, in dem einfachen dunkelblauen Reitkleide, das sich eng um die schlanke Gestalt schmiegte, war sie fast noch schöner. Unter dem Hütchen mit dem blauen Schleier schimmerten die goldblonden Flechten, halb verhüllt durch jenes Schleiergewebe, und die Augen strahlten leuchtend hell. Es lag heute etwas Eigentümliches in dem Wesen Herthas, sie erschien wie losgelöst von dem glänzenden Boden, auf dem sie sich sonst bewegte, wie angeweht von dem Ernst der mächtigen Bergwelt, die sie umgab, und das gab ihr einen neuen, gefährlichen Reiz.
»Nun?« sagte sie lächelnd, ohne jenes jähe Abbrechen bemerken zu wollen. »Ich warte.«
»Worauf?«
»Auf den Bericht aus Ihrer Jugendzeit, den Sie mir noch immer schuldig sind.«
Michael atmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.
»Ich werde ihn wohl schuldig bleiben müssen, denn ich kann nichts berichten von einem Elternhaus und Elternliebe. Ich bin unter Fremden aufgewachsen, habe alles von Fremden annehmen und empfangen müssen, und so gütig und großherzig es mir auch geboten wurde, ich empfinde es doch als eine Schuld, die mich zu Boden drücken würde, hätte ich mir nicht das Wort gegeben, sie mit meiner ganzen Zukunft einzulösen. Jetzt endlich habe ich selbst das Steuer in Händen und darf hinaussteuern in das offene Meer.«
»Und vertrauen Sie diesem Meere mit seinen Wogen und Stürmen?«
»Ja! Wer der Flut vertraut, den trägt sie, und eins wenigstens weiß ich mit Bestimmtheit: ich werde nie auf halbzerschelltem Wrack an das Ufer treiben, froh, nur das nackte Leben gerettet zu haben, ich führe entweder mein Schiff in den Hafen – oder sinke mit ihm!«
Er hatte sich hoch aufgerichtet bei den letzten Worten, die in vollster Energie klangen. Hertha sah ihn betroffen an, auf einmal sagte sie:
»Merkwürdig – wie Sie in diesem Augenblick meinem Onkel Steinrück gleichen!«
»Ich – dem General?«
»Zum Sprechen!«
»Das muß wohl eine Täuschung sein,« entgegnete Michael kalt. »Ich bedaure, die Ehre einer Aehnlichkeit mit Seiner Excellenz ablehnen zu müssen, aber sie besteht wirklich nicht.«
»Für gewöhnlich allerdings nicht, da haben Sie auch nicht einen Zug miteinander gemein, es liegt nur im Ausdruck, und jetzt ist es auch schon wieder verschwunden. Aber in jenem Moment, da waren es die Augen des Grafen, seine Haltung, seine Stimme sogar – ich erschrak förmlich darüber.«
Ihre Augen ruhten noch immer auf seinem Gesicht, und sie schien eine Antwort zu erwarten, die jedoch ausblieb, Michael wandte sich wie zufällig seitwärts und sagte abbrechend:
»Die Aussicht verschleiert sich immer mehr, wir werden bald mitten in den Wolken stehen!«
Das Wetter war in der That drohender geworden, die Sonne begann schon zu sinken, aber ihre Strahlen kämpften noch mit den Nebeln, die jetzt von allen Seiten heranschwebten. Als habe ein mächtiger Heerführer seinen Ruf erschallen lassen, den die ganze Bergwelt vernommen hatte, so stiegen überall die Wolkengestalten auf, bald feierlich langsam, bald in jagender Hast. Aus den Schluchten und Tiefen quoll es unaufhörlich empor, wie weiße Schleier, die lautlos und gespenstisch über die Wälder hinstreiften, hie und da einen flatternden Streifen an den Tannenwipfeln zurückließen und dann immer höher emporstiegen. Aber auch seitwärts über die grünen Alpen kam es jetzt herangezogen, erst einzelnes Gewölk, dann ganze Wolkenmassen, und alles wallte und strebte der Adlerwand zu, wo es sich immer dunkler und drohender zusammenzog.
Die Matte, auf der Sankt Michael lag, erschien bald nur noch wie eine Insel inmitten eines wogenden, flutenden Meeres, dessen Wellen mit jeder Minute höher stiegen. Hier leuchtete es weiß, wie der Schaum der Brandung aufwallend und zerfließend, dort lagerte es grau und gestaltlos wie Schatten, und hoch oben an den Zinnen der Wand, die noch von der Sonne getroffen wurden, schwamm ein goldiger, flimmernder Nebel, in dem seltsame Strahlen zuckten. Er umwob die Felsenhäupter und die Gletscherkrone mit einem leuchtenden Zauberschleier, sie standen halb verschleiert, halb sichtbar, wie Schemen in dem goldigen Duft.
Zu ihren Füßen aber ballte sich das Wetter zusammen, und jetzt klang auch dumpf der erste Donner herüber, der aus dem Schoße des Berges zu kommen schien und dann grollend in der Ferne erstarb.
Die Luft war bisher unbewegt geblieben, jetzt aber erhob sich der Wind. Der Schleier der jungen Gräfin flatterte hoch auf und verfing sich dabei in einem niederhängenden Zweige des Wildrosenstrauches, sie versuchte vergebens, ihn los zu machen. Die Dornen hielten ihre Beute fest, und Rodenberg, der ihr zu Hilfe kam, mochte wohl etwas ungeschickt dabei zu Werke gegangen sein, denn auf einmal löste sich das Band des Hutes und dieser fiel herab. Michael, der sich niedergebeugt hatte, um das leichte Gewebe zu befreien, zuckte zusammen und ließ die Hand sinken, denn dicht vor seinen Augen schimmerten jetzt unbedeckt die reichen Flechten, das »rote Märchengold«.
»Haben Sie sich verletzt?« fragte Hertha, welche diese Bewegung bemerkte.
»Nein!« Er griff plötzlich mitten hinein in das dornige Gezweige und riß Hut und Schleier gewaltsam los, aber die Dornen rächten sich, der Schleier zerriß, und von der Hand des jungen Mannes rieselten einige Blutstropfen nieder.
»Ich danke,« sagte Hertha, indem sie ihren Hut wieder in Empfang nahm. »Aber Sie sind ein ungestümer Helfer. Wie unvorsichtig, mitten in die Dornen zu greifen, Sie bluten ja!«
Es lag eine wirkliche Besorgtheit in dem Tone, um so eisiger klang die Antwort.
»Es ist nicht der Rede wert. Ich werde als Soldat doch einen Dornritz nicht scheuen!«
Er zog sein Taschentuch hervor und preßte es achtlos auf die kleinen Wunden, dabei glitt aber ein Blick bebender Ungeduld nach dem Häuschen hinüber, wo der Pfarrer noch immer weilte. Die Unterredung da drinnen schien kein Ende zu nehmen, und die Folter mußte ausgekostet werden bis auf den letzten Grad!
Die junge Dame mochte wohl eine Ahnung von dieser Folter haben, aber sie fühlte sich nicht veranlaßt, sie abzukürzen. Die verwöhnte, gefeierte Schönheit empfand es als eine Beleidigung, daß der Mann dort es wagte, einer Macht zu trotzen, die sie so oft schon an andern erprobt hatte. Er hatte diese Macht auch kennen gelernt, das wußte sie längst, er war ihr nicht straflos genaht, und doch stand er da, mit dieser eisigen Zurückhaltung, die nicht zu durchbrechen war, mit dieser trotzigen Stirn, die sich nicht beugen wollte – das sollte er büßen!
»Ich möchte eine Frage an Sie richten, Herr Lieutenant Rodenberg,« hob sie wieder an. »Meine Mutter machte Ihnen vorhin Vorwürfe, weil Sie ihrer Einladung noch immer nicht gefolgt sind, ich hörte es.«
»Ich habe die Frau Gräfin bereits um Entschuldigung gebeten. Uns beschäftigte während der letzten Zeit eine Familienangelegenheit, welche auch die unerwartete Abreise des Professors veranlaßte. Sobald ich von Sankt Michael zurückkehre –«
»Werden Sie einen andern Vorwand finden!« fiel Hertha ein. »Sie wollen nicht kommen.«
In dem Gesicht Michaels stieg eine dunkle Glut auf, aber er vermied es, den Augen zu begegnen, die er auf sich gerichtet wußte, er schaute hinüber nach der Adlerwand.
»Sie nehmen das mit einer seltsamen Bestimmtheit an, Gräfin Steinrück – und dennoch wünschen Sie mein Kommen?«
»Ich wünsche nur Aufklärung darüber, was es eigentlich ist, das Sie uns fern hält. Sie haben mir und meiner Mutter das Leben gerettet und entziehen sich unsrer Dankbarkeit in einer Weise, die uns unerklärlich ist, wenn wir sie nicht für beleidigend halten wollen. Bei einem Fremden würden wir kein Wort darüber verlieren, unserm Retter dürfen wir wohl die Frage stellen: Was liegt zwischen uns? Was haben wir Ihnen gethan?«
Die Worte hatten einen weichen, halb verschleierten Klang, aber es verflossen einige Sekunden, ehe die Antwort kam. Michaels Auge hing noch immer an jenen Felsenhäuptern, er wußte, daß es Gewitterwolken waren, die sie umzogen, und sah doch nur den goldigen Nebel, den leuchtenden Zauberschleier, er hörte das Donnergrollen, das jetzt näher und lauter herüberklang, und vernahm doch nur dies leise, vorwurfsvolle: »Was haben wir Ihnen gethan?«
»Sie beschämen mich wirklich,« sagte er endlich, mit einem letzten Versuch, den Ton kühler Artigkeit festzuhalten. »Der kleine Dienst, den ich Ihnen leisten konnte, bedurfte gar nicht des Dankes, Sie haben ihn stets überschätzt.«
»Sie weichen mir wieder einmal aus, darin sind Sie wirklich Meister!« rief die junge Dame mit einer Bewegung der äußersten Ungeduld. »Aber ich erlasse Ihnen die Antwort nicht, ich will endlich die Wahrheit wissen.«
»Und wenn ich nun diesem Befehl, denn ein solcher scheint es doch zu sein, nicht nachkomme?«
»Das steht freilich bei Ihnen, aber es war kein Befehl, nur eine Bitte, die ich jetzt wiederhole: Was haben wir Ihnen gethan? Warum fliehen Sie uns?«
Es spielte wieder ein Lächeln um ihre Lippen, das alte, zauberhafte Lächeln, dem keiner widerstand, aber hier blieb es wirkungslos. Rodenberg richtete das Auge voll und finster auf sie und sagte mit unendlich herber Stimme:
»Das wissen Sie ja, Gräfin Steinrück – das haben Sie längst gewußt!«
»Ich?«
»Ja Sie, Hertha, denn Sie kennen nur zu gut Ihre Macht, und jetzt treiben Sie mich bis zum Aeußersten und lassen mir keinen Ausweg mehr. Nun wohl – ich stelle mich Ihnen!«
Befremdet, fast bestürzt blickte Hertha ihn an, auf eine derartige Wendung war sie nicht gefaßt gewesen, sie hatte sich den Moment ihres Triumphes doch anders gedacht.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Lieutenant Rodenberg,« sagte sie. »Was soll diese seltsame Sprache bedeuten, die dem Hasse verwandt zu sein scheint?«
»Dem Hasse?« brach er mit wilder Heftigkeit aus. »Wollen Sie zu dem Spiele auch noch den Spott fügen? Es ist Ihnen ja niemals ein Geheimnis gewesen, daß ich Sie liebe!«
Es klang eigentümlich genug, das Liebesgeständnis, mit dieser bebenden Stimme, in der Groll und Leidenschaft stritten, mit diesen Augen, in denen es nicht zärtlich, sondern drohend aufblitzte, die Empfindung schien in der That dem Hasse verwandt zu sein.
»Und in solcher Weise werben Sie um die Liebe einer Frau?« fragte Hertha entrüstet, während doch zugleich eine geheime, nie gekannte Bangigkeit in ihrem Innern aufstieg.
»Werben?« wiederholte er mit schneidender Bitterkeit. »Nein, das thue ich nicht, und die Werbung wäre mir auch schwerlich gestattet worden, mir, dem jungen, unbedeutenden Offizier mit dem bürgerlichen Namen, der nichts hat, als sich selbst und vielleicht noch eine Hoffnung auf die Zukunft. Es wäre mir wohl in der schonungslosesten Weise klargemacht worden, daß ich meine Augen nicht zu der Gräfin Steinrück erheben darf, daß ihre Hand längst einem andern zugesagt ist, der wie sie die Grafenkrone trägt.«
Hertha biß sich auf die Lippen, der Vorwurf traf, das wäre allerdings der Ausgang der Sache gewesen. Es war der Gräfin Steinrück nie eingefallen, dies Spiel mit dem bürgerlichen Offizier ernst zu nehmen, aber es überkam sie doch wie eine heiße Beschämung bei der Entdeckung, daß sie von Anfang an durchschaut gewesen war.
»Sie scheinen nicht zu fühlen, wie beleidigend Ihre Worte sind,« sagte sie, sich stolz aufrichtend, »und wie beleidigend dies Geständnis ist –«
»Das Sie doch um jeden Preis hören wollten!« unterbrach er sie. »Nun denn, so nehmen Sie es hin! Ich will Ihnen nicht ableugnen, was sich nun einmal nicht ableugnen läßt, ich will dem Verhängnis ins Auge sehen, denn wie ein Verhängnis ist es über mich gekommen. Ja, ich habe Sie geliebt, Hertha, vom ersten Augenblicke an, wo ich Sie sah, und hätte ich auf Ihre Gegenliebe hoffen dürfen, der Grafentitel der Steinrück hätte mich wahrlich nicht abgeschreckt. Stände mein Glück auch so hoch und unerreichbar wie die Adlerwand dort, ich würde hinaufdringen, und wenn mir auf jedem Schritt das Verderben drohte, ich würde mir das Glück herabzwingen in meine Arme, der ganzen Welt zum Trotz! Aber ich war gewarnt, gewarnt durch ein Kind, das mir einst meinen Schneerosenstrauß abschmeichelte, um ihn dann zu zerpflücken im gedankenlosen Spiel. Es sind noch dieselben rotgoldenen Locken und dieselben schönen, schlimmen Augen, ich erkannte sie wieder bei der ersten Begegnung, aber ich will es nicht zum zweitenmal von diesen Lippen hören, das höhnische, verächtliche: ›Geh fort! Ich mag dich jetzt nicht mehr! Ich bin des Spieles müde!‹ Hat es mir doch ohnehin immer in den Ohren geklungen, wenn mich der Schmeichellaut Ihrer Stimme auch noch so süß umstrickte. Der Knabe ließ seine Blumen eher den Flammentod sterben, ehe er sie in Ihren Händen ließ, und der Mann wird seine Liebe niederzwingen und vernichten, ginge ihm auch ein Stück seines Lebens damit verloren – ein Spielball in Ihren Händen wird sie nimmer sein!«
Hertha war totenbleich geworden; so hatte es noch niemand gewagt, sie zu beleidigen, ihr die Wahrheit so rückhaltlos und schonungslos ins Antlitz zu schleudern, aber was fragte der Mann, den sie auf das Aeußerste gebracht hatte, jetzt noch danach, ob er sie beleidigte oder nicht! Der Sturm, den sie selbst entfesselt, brauste auch über sie hin, sie konnte ihm nicht mehr Halt gebieten. Sie sah das deutlich, als Michael jetzt vor ihr stand und ihr flammend, unaufhaltsam dies seltsame Gemisch von Liebe und Haß entgegenschleuderte. Jede Fiber in ihm bebte in wilder, qualvollster Leidenschaft, und dennoch rang er auch jetzt noch dagegen, rang mit einer Kraft, die nicht erliegen wollte und auch nicht erlag. Er war besiegt – unterworfen war er nicht!
»Sie erlassen es mir wohl, Herr Lieutenant Rodenberg, diese Ausbrüche noch ferner anzuhören,« sagte die junge Gräfin endlich, ihre ganze Selbstbeherrschung zusammenraffend. »Ich werde den Herrn Pfarrer aufsuchen.«
»Dessen bedarf es nicht, ich gehe!« erklärte Michael, seine Stimme klang tonlos, aber fest. »Ich weiß, daß wir uns nach dieser Stunde nichts mehr zu sagen haben – leben Sie wohl, Gräfin Steinrück!«
Er verneigte sich und ging. Hertha sah es nicht, wohin er sich wandte, und bemerkte es auch nicht, daß der Pfarrer jetzt aus dem Hause trat und sich ihr näherte. Sie stand regungslos da.
Der Wind wurde heftiger, die Zweige des Wildrosenstrauches wehten und flatterten über ihrem Haupte, das Wolkenmeer wallte und wogte immer näher heran, und immer höher stieg die Nebelbrandung, als wollte sie die Matte überfluten. Der verklärende Schimmer an der Adlerwand war erloschen, verschwunden die goldigen Schemen, dort schwammen jetzt graue, schwere Nebelmassen, sie sanken tiefer und tiefer und einten sich mit dem dunkeln Gewölk, das jetzt plötzlich zerriß, und mit zackigem, leuchtendem Strahle blitzte es hervor – das Flammenschwert Sankt Michaels!
Das Gewitter war mit voller Macht in die Thäler niedergegangen und hatte sich dort, nachdem es wohl eine Stunde lang mit Blitz und Donner getobt, in einen ausgiebigen Regen verwandelt.
Mitten durch den triefenden Wald schritt ein junger Wandrer, den das Wetter auf seinem Wege überrascht hatte. Wäre Hans Wehlau dem Rate seines Freundes gefolgt und auf der langweiligen Fahrstraße geblieben, so wäre er längst in Tannberg eingetroffen, in dem romantischen Bergwalde verirrte er sich gründlich und schlug eine falsche Richtung ein, die ihn weit von seinem Ziele abführte. Eine überhängende Felswand hatte ihm allerdings einen notdürftigen Schutz gewährt, jetzt aber, wo die Dämmerung hereinbrach und der Regen noch immer strömte, blieb ihm nur die Wahl, entweder die Nacht in dem nassen Walde zuzubringen oder auf gut Glück vorwärts zu gehen, in der Hoffnung, irgend eine Köhlerhütte oder ein sonstiges Obdach zu erreichen, und er entschloß sich zu dem letzteren.
Endlich nahm der dichte Forst ein Ende, und der junge Mann gewahrte, als er in das Freie trat, einen Lichtschein, der aus einiger Entfernung herüberblinkte. Die Dämmerung und der Nebel ließen nicht erkennen, welcher Art das Gebäude war, das auf einer mäßigen, bewaldeten Anhöhe lag und nur zum Teil aus den Bäumen hervorragte; aber jedenfalls wohnten Menschen dort, und der durchnäßte Wandrer richtete schleunigst seine Schritte dorthin.
Der Weg, der zu der Höhe hinaufführte, schien sehr verwahrlost zu sein. Hans blieb verschiedene Male in dem aufgeweichten Boden stecken; dann mußte er über einen Bach, der quer über den Pfad lief, dann über eine morsche Holzbrücke und endlich durch ein Thor, von dem nur noch die beiden steinernen Pfeiler standen, während das Gitter fehlte. Ein anscheinend umfangreiches, aber halb verfallenes Gebäude mit Mauern und Türmen lag vor dem jungen Manne, aber die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, so daß er nur mit Mühe und nur von jenem Lichtschein geleitet eine kleine Pforte fand, die gerade unter dem erhellten Fenster lag und verschlossen war.
Er pochte, anfangs bescheiden, dann lauter und nachdrücklicher an die Thür; nach Verlauf von einigen Minuten wurde dann auch das Fenster geöffnet, und eine heisere Stimme fragte von oben, wer da sei?
»Ein Fremder, der sich verirrt hat und um Obdach für die Nacht bittet.«
»Ich habe kein Obdach für Vagabunden und Herumstreicher. Macht, daß Ihr fortkommt!«
»Das ist ja ein recht liebenswürdiger Empfang!« rief Hans entrüstet. »Ich bin weder Vagabund noch Herumstreicher, sondern ein höchst anständiger Mensch und gern bereit, mein Nachtlager zu bezahlen.«
»Bezahlen! In der Ebersburg!« klang es mit der gleichen Entrüstung von oben. »Hier ist kein Wirtshaus; geht wieder dahin, wo Ihr hergekommen seid.«
»Das werde ich wohl bleiben lassen, denn ich komme geradeswegs aus einem Wolkenbruch und habe dabei im Walde Weg und Steg verloren. Ist das eine Art, einen Gast bei solchem Unwetter vor der Thür stehen zu lassen und ihm den Eintritt zu verweigern? Machen Sie auf!«
»Nein,« sagte die heisere Stimme, offenbar erbost, »ihr bleibt draußen!«
»Zum Kuckuck, jetzt reißt mir die Geduld!« rief der junge Mann wütend, der eben von einem neuen Regengusse überschüttet und bis auf die Haut durchnäßt wurde. »Aufgemacht! Oder ich schlage die Thür ein und renne Sturm gegen die alte Baracke.«
Er begann in der That mit beiden Fäusten gegen die Thür zu trommeln, und was der höflichen Bitte nicht gelungen war, das erreichte die Grobheit, sie imponierte offenbar dem unsichtbaren Hüter des Einganges, denn nach einigen Sekunden ließ sich dessen Stimme in bedeutend gemildertem Tone vernehmen:
»Wer sind Sie eigentlich und was wollen Sie?«
»Ich bin vorläufig nur ein gänzlich aufgeweichter Mensch und suche nur Trockenheit. Uebrigens bin ich im stande, die allerbefriedigendsten Aufklärungen über Stand, Name, Alter, Herkommen, Heimat, Familie und so weiter zu geben, wenn es gewünscht wird.«
»Sie sind also von Familie?«
»Selbstverständlich! Jeder Mensch muß doch eine Familie haben.«
»Ich meine – von Adel?«
»Natürlich! Aber jetzt machen Sie endlich auf!«
»Warten Sie – ich komme!« klang es verheißungsvoll von oben; gleich darauf wurde das Fenster geschlossen und der Lichtschein verschwand.
»Man scheint hier erst auf den Stammbaum geprüft zu werden, ehe man eingelassen wird!« sagte Hans, indem er sich in die Thürnische drückte, um dem Regen zu entgehen. »Meinetwegen! Mir kommt es gar nicht darauf an, mir nötigenfalls eine Grafenkrone beizulegen, wenn sie mir nur ein trockenes Nachtlager verschafft. Gott sei Dank, da wird endlich geöffnet!«
In der That wurde drinnen ein Schlüssel umgedreht und ein Riegel zurückgeschoben; dann öffnete sich die Thür und vor dem Eintretenden stand ein alter Mann, der sich mit der Rechten auf einen Stock stützte und mit der Linken eine Lampe emporhielt.
Es war eine hagere, gebeugte Gestalt, die einst wohl stattlich gewesen sein mochte. Die pergamentfarbige Haut und die tausend Runzeln und Falten gaben dem Gesicht etwas Mumienhaftes, die Augen waren trübe, und unter dem schwarzen Käppchen stahl sich spärliches weißes Haar hervor. Der kurze Gang schien den alten Herrn angegriffen zu haben, denn er stützte sich hüstelnd fester auf seinen Stock, während er zugleich den Gast beleuchtete.
»Ich bitte um Verzeihung wegen meines ungestümen Eindringens, aber ich war wirklich im Begriff, fortgeschwemmt zu werden,« sagte Hans, mit einer Verbeugung, die nach allen Seiten hin Nässe sprühte. »Habe ich die Ehre, den Herrn des Hauses vor mir zu sehen?«
»Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg,« versetzte dieser mit großer Feierlichkeit. »Und Sie, mein Herr?«
»Hans Wehlau-Wehlenberg auf Forschungstein,« war die ebenso feierliche Antwort.
Der Name schien dem alten Freiherrn zu gefallen, er neigte das Haupt und sagte würdevoll: »Sie sind mir willkommen, Herr Hans Wehlau-Wehlenberg, folgen Sie mir!«
Er verschloß sorgfältig wieder die Thür und ging dann voran, um seinem Gaste den Weg zu zeigen. Sie schritten zunächst durch eine Vorhalle, deren Dach nicht mehr fest zu sein schien, denn der Regen hatte seine Spuren überall auf dem Fußboden hinterlassen. Dann ging es eine enge, steil gewundene Treppe mit ausgetretenen steinernen Stufen hinauf, dann durch einen endlosen Gang, wo jeder Schritt auf den Steinfliesen wiederhallte, und in der tiefen Dunkelheit ringsum war die Lampe, die der Schloßherr trug, die einzige Beleuchtung.
Endlich öffnete er eine Thür und trat mit seinem Begleiter ein.
»Verfügen Sie über dies Gemach,« sagte er, die Lampe auf den Tisch niedersetzend. »Das Wetter hat Sie allerdings übel zugerichtet, wie ich sehe. Ich will Sie jetzt beim Umkleiden nicht stören, erwarte Sie aber bei Tische. Auf Wiedersehen, Herr von Wehlau-Wehlenberg.«
Er grüßte mit einer Handbewegung, die wirklich etwas Vornehmes und Ritterliches hatte, und ging. Hans musterte zunächst die Umgebung: es war ein kleines, düsteres und sehr dürftig ausgestattetes Gemach, nur das große Himmelbett, das an der Hauptwand stand, schien ein ehemaliges Prachtstück gewesen zu sein, aber die kunstvolle Schnitzerei war beschädigt und zerbrochen, die Seidenvorhänge verblichen und zerrissen und das Bettzeug vom gröbsten bäuerischen Leinen.
»Das beste wäre es, schleunigst zu Bett zu gehen,« sagte Hans, indem er in der Nähe des Ofens eine Trockenanstalt einrichtete.
»Da mich jedoch dieser Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau zur Tafel geladen hat, so muß ich notgedrungen erscheinen; aber woher ein trockenes Kostüm schaffen? Vielleicht findet sich irgendwo eine alte Ritterrüstung oder sonst ein mittelalterliches Gerümpel, das ich anlegen kann. Ich glaube, es würde hier großen Eindruck machen, wenn ich eisenklirrend in den Ahnensaal träte. Suchen wir also!«
Er begann wirklich zu suchen und fand auch bald einen Wandschrank, in dem der Schlüssel steckte und der die ganze, sehr bescheidene Garderobe des Schloßherrn zu enthalten schien. Hans nahm ohne Besinnen das beste Stück derselben, einen Pelzrock, und war kaum mit dem Umkleiden fertig, als eine schon bejahrte Frau erschien, die ein Kopftuch trug und im unverfälschten Gebirgsdialekt den Herrn »Baron« einlud, zu Tische zu kommen.
»Nur Baron – ich hätte mich mindestens zum Grafen gemacht!« sagte Hans geringschätzig, indem er der Aufforderung nachkam. Die alte Magd führte ihn wieder eine Strecke den Gang hinauf und dann in ein Gemach, das augenscheinlich als Wohn-, Speise- und Empfangszimmer diente.
Es hatte auf den ersten Blick ein ganz stattliches Ansehen, aber ehemalige Pracht und jetziger Verfall mischten sich seltsam darin.
Die Wände zeigten noch kunstvolle Täfelung, die Decke dagegen war ganz einfach weiß getüncht und der Kachelofen in der Ecke von der gewöhnlichsten Art. Derselbe Kontrast zeigte sich auch in der Einrichtung: hochlehnige Eichenstühle standen um einen Tisch von grob gezimmertem Tannenholz; auf einem reich geschnitzten, altertümlichen Kredenzschranke machte sich ganz gemeines irdenes Geschirr breit, und das schöne alte Spitzbogenfenster, wahrscheinlich dasselbe, dessen Lichtschein den Wandrer vorhin geleitet hatte, trug Vorhänge von geblümtem Kattun.
»Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Eigenmächtigkeit,« sagte der junge Mann, indem er sich dem Schloßherrn näherte, der in einem Armstuhle saß. »Meine Toilette war in einem so wenig salonfähigen Zustande, daß ich mir im Vertrauen auf Ihre Güte auch diesen Raub erlaubte.«
Er nahm sich allerdings etwas wunderlich aus in dem Pelzrock, sah aber trotzdem mit dem jugendlichen Gesicht, mit den vom scharfen Bergwind geröteten Wangen und den noch regenfeuchten Locken so bildhübsch aus, daß um die welken Lippen des alten Freiherrn ein Lächeln spielte und er freundlich erwiderte:
»Es freut mich, wenn Sie in meiner Garderobe das Nötige fanden. Nehmen Sie Platz, ich möchte noch eine Frage an Sie richten.«
»Jetzt kommt die Ahnenprobe!« dachte Hans, und er hatte sich nicht getäuscht, sein Wirt steuerte geradeswegs auf dies Ziel los.
»Hans Wehlau-Wehlenberg – das hat einen guten Klang!« fuhr er fort. »Dagegen ist der Name Ihres Stammsitzes etwas ungewöhnlich. Wo liegt eigentlich der Forschungstein?«
»In Norddeutschland, Herr Baron,« versetzte Hans, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Das dachte ich mir, da ich ihn nicht kenne. Die süddeutschen Adelsgeschlechter und ihre Stammsitze kenne ich sämtlich, gehört doch mein Geschlecht zu den allerältesten. Es stammt aus dem zehnten Jahrhundert, das ist historisch beglaubigt, aber die Ueberlieferung reicht noch viel weiter zurück. In Norddeutschland gibt es wohl kaum eine so alte Familie?«
Er machte sich augenscheinlich bereit, nun auch den Stammbaum seines Gastes zu prüfen, aber dieser, der das Unheil kommen sah, parierte geschickt und fuhr mit einer Frage dazwischen.
»Darf ich fragen, wen dies Bild darstellt? Es fiel mir schon beim Eintritte auf,« sagte er, auf ein Gemälde deutend, das ihm gerade gegenüber an der Wand hing. Es war das lebensgroße Brustbild eines Mannes von etwa vierzig Jahren, mit dunklem Haar, lebhaften, dunkeln Augen und edlen, regelmäßigen Zügen, in denen allerdings keine besondere Intelligenz lag. Die Kleidung, die eine Uniform zu sein schien, wurde größtenteils durch einen Mantel verhüllt. Das Porträt war jedenfalls neueren Datums. Der Schloßherr richtete die Augen gleichfalls dorthin, er vergaß auf einmal Stammbaum und Jahrhunderte und fragte angelegentlich:
»Gefällt Ihnen das Bild?«
»Außerordentlich! Welch ein schöner Kopf! und auch vortrefflich gemalt. Jedenfalls auch ein Eberstein?«
Der alte Herr sah halb geschmeichelt, halb gekränkt aus, als er langsam entgegnete:
»Ja, ein Eberstein! Sie erkennen ihn also nicht wieder?«
Hans stutzte, er warf wieder einen Blick auf das Bild und dann auf die zusammengesunkene Gestalt mit den trüben Augen und den welken Zügen.
»Es kann doch nicht – sollte es etwa Ihr eigenes Porträt sein, Herr Baron?«
»Das war es einst – und es soll vor dreißig Jahren sehr ähnlich gewesen sein. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie keinen Zug mehr darin wiederfinden, bin ich doch nur noch eine Ruine, wie meine Ebersburg!«
Die Worte klangen so tief schmerzlich, daß Hans sofort einlenkte und sich bemühte, den alten Mann zu trösten.
»Doch, ich erkenne die Züge deutlich wieder,« versicherte er.
»Das Bild hatte ja schon im ersten Augenblick etwas Bekanntes für mich, aber ich riet auf einen Ihrer Söhne.«
»Ich habe keine Söhne,« versetzte Eberstein wehmütig. »Mein Geschlecht geht mit mir zu Grabe, denn meine erste Ehe ist kinderlos gewesen, und die zweite hat mir nur eine Tochter geschenkt. Ich begreife nicht, wo Gerlinde bleibt, ich werde sie wohl herbeirufen müssen.« Er erhob sich mühsam und schritt nach dem Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.
»Gerlinde von Eberstein – brr!« sagte Hans. »Das klingt ganz nach Söller und Burgverließ. Jedenfalls ein mittelalterliches Burgfräulein, denn da der Herr Papa in den Siebzigen steht, so muß die Tochter mindestens vierzig zählen; nun, der Dame kann man sich allenfalls im Pelzrock vorstellen.«
Er blickte mit sehr mäßiger Neugierde nach der Thür, fuhr aber plötzlich in die Höhe, denn das, was jetzt auf der Schwelle erschien, entsprach keineswegs seinen Voraussetzungen.
Es war die zarte Gestalt eines noch sehr jungen Mädchens im schlichten, grauen Hauskleide, das dunkle Haar einfach zurück gestrichen und in Flechten am Hinterkopfe befestigt. Das noch ganz kindliche Gesichtchen erschien ein wenig bleich, war aber, wenn auch nicht eigentlich schön, doch von unsagbarer Lieblichkeit. Von den Augen sah man nichts als die tiefgesenkten, dunkeln Wimpern. Der Freiherr mußte erst im späteren Alter zu der zweiten Ehe geschritten sein, denn sein Töchterlein zählte höchstens sechzehn Jahre.
»Hans Freiherr von Wehlau-Wehlenberg auf Forschungstein – meine Tochter Gerlinde!« stellte der Schloßherr mit aller Feierlichkeit vor. Hans war so überrascht, daß er zwei Verbeugungen nacheinander machte, welche die junge Dame ihrerseits mit einer unglaublich steifen Bewegung erwiderte, die zwischen Knicks und Verneigung die Mitte hielt. Dann nahm sie, immer noch mit niedergeschlagenen Augen, ihren Platz am Tische ein, wo das kalte Abendessen bereits aufgetragen war, und die sehr bescheidene Mahlzeit nahm ihren Anfang.
Der alte Freiherr war sehr redselig und sprach unaufhörlich mit dem Gast, der durch die Bewunderung seines Bildes sein ganzes Herz gewonnen hatte; um so schweigsamer zeigte sich Fräulein Gerlinde. Sie besorgte still und aufmerksam all die kleinen Geschäfte der Hausfrau, hielt sich dabei aber steif wie ein Holzbild und setzte allen Unterhaltungsversuchen Hans Wehlaus ein hartnäckiges Stillschweigen entgegen; der Vater nahm dann regelmäßig statt ihrer das Wort, und dabei blieb ihr Gesicht so unbeweglich, als höre sie gar nicht, was gesprochen wurde.
»Das arme Kind scheint taubstumm zu sein,« dachte der junge Mann mitleidig. »Schade um das liebliche Gesichtchen! Wenn sie wenigstens nur einmal die Augen aufschlagen wollte!«
Er machte noch einen letzten Versuch, indem er sich direkt an sie wandte mit der Frage, ob das gnädige Fräulein schon auf der Ebersburg wohne, und ob es im Winter hier nicht sehr einsam sei. Gerlinde blieb auch jetzt stumm, und ihr Vater gab die Antwort.
»Wir leben jahraus, jahrein hier, und meine Tochter ist seit frühester Jugend an diese Einsamkeit gewöhnt. Ich habe ihr allerdings erlaubt, in der nächsten Woche auf einige Tage nach Steinrück zu gehen auf dringenden Wunsch der Gräfin, deren Patenkind sie ist. Sie kennen doch die Grafen von Steinrück?«
»Gewiß, ich habe die Ehre.«
»Ein altes Geschlecht, aber volle zweihundert Jahre jünger als das meinige!« sagte der Freiherr mit höchster Genugthuung. »Der Ahnherr der Steinrück wird erst in den Kreuzzügen genannt, und leider haben sie auch einen Fleck auf ihrem Stammbaum, eine Mißheirat der schlimmsten Art, die freilich erst aus der neuesten Zeit stammt. Sie geschah vor etwa dreißig Jahren, bis dahin war die Familie makellos.«
»Seit den Kreuzzügen! Und im neunzehnten Jahrhundert muß ihnen ein solches Unglück begegnen!« rief Hans mit einer Entrüstung, die ihm ein beifälliges Kopfnicken seines Wirtes eintrug.
»Allerdings ein Unglück! Sie haben vollkommen recht, Sie scheinen überhaupt ein sehr lebhaft entwickeltes Standesgefühl zu besitzen, ich liebe das außerordentlich. Ja, Graf Michael hat den Schlag überwunden, ich hätte es nicht gekonnt; mich hätte er zu Boden geworfen, denn mein Stammbaum ist rein bis auf diese Stunde, ganz rein!«
Damit begann er eine sehr weitläufige historische Erörterung über besagten Stammbaum, in der er mit den Jahrhunderten nur so um sich warf und die um volle zweihundert Jahre jüngeren Grafen von Steinrück behandelte, als ob sie Wickelkinder seien. Hans achtete gar nicht darauf, er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, ob Fräulein Gerlinde von Eberstein wirklich taubstumm sei oder nicht, und das beschäftigte ihn so sehr, daß der Erzähler seine Zerstreutheit bemerkte und etwas empfindlich fragte, ob er auch zuhöre.
»Natürlich, ich bewundere den ganz reinen Stammbaum,« versicherte der junge Mann. »Also die Eberstein-Ortenau –«
»Führen diesen Doppelnamen seit dem vierzehnten Jahrhundert,« ergänzte der Freiherr. »Gerlinde, mein Kind, erzähle unserm Gaste, wie das geschah.«
Fräulein Gerlinde faltete die Hände auf dem Tische, sie hob auch jetzt das Auge nicht empor, und ihr Gesicht blieb unbeweglich, aber sie begann plötzlich zum Entsetzen des Gastes zu reden oder vielmehr zu plappern, in der Weise eines Kindes, das eine eingelernte Lektion aufsagt:
»Im Jahre dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil die Hand der Hildegund von Ortenau dem Ritter Kunrad von Eberstein versagt worden war, bei welcher Fehde sowohl die Ebersburg als die Feste Ortenau verschiedene Male berannt wurden, bis im Jahre dreizehnhundertundeinundsiebzig Ritter Balduin in die Gefangenschaft des Ebersteiners geriet und in das Burgverließ geworfen wurde, allwo er endlich in die Vermählung Hildegunds mit Kunrad willigte, welche Vermählung im Jahre dreizehnhundertundzweiundsiebzig mit großer Pracht gefeiert wurde, was zur Folge hatte, daß bei dem Tode des Ritters Balduin im Jahre dreizehnhundertundsechsundachtzig die Feste Ortenau und deren sämtliche Liegenschaften an die Herren von Eberstein kamen, die seitdem den Namen von Eberstein-Ortenau führen.«
»O – das ist erstaunlich!« sagte Hans, der wirklich starr vor Staunen über diese Leistung der vermeintlich Taubstummen war. Er begriff nicht, wie sie beim Sprechen den Atem behielt, den er schon beim Zuhören verlor.
»Ja, meine Gerlinde weiß Bescheid in der Geschichte unsres Hauses,« sagte der Freiherr triumphierend. »Sie hat sie sogar besser im Kopfe als ich; denn mein Gedächtnis beginnt schon vom Alter zu leiden. Erst gestern machte sie mich auf einen Irrtum in der Jahreszahl aufmerksam, als ich von der Belehnung Udos von Eberstein sprach. Nicht wahr, mein Kind?«
Als habe man den Pendel einer Uhr angestoßen, so legte Fräulein Gerlinde auf diese Frage hin von neuem los und erzählte eine noch weit längere Geschichte, diesmal aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem irgend ein Eberstein in irgend einer Schlacht dem Kaiser das Leben gerettet hatte und dafür mit irgend einer Burg belehnt worden war. All diese schwierigen Daten und Namen kamen mit einer unfehlbaren Geläufigkeit und Sicherheit, zugleich aber auch mit einer Eintönigkeit von ihren Lippen, die an das Klappern eines Mühlwerkes erinnerte, und am Ende verstummte sie ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Hans rückte unwillkürlich seinen Stuhl um einige Schritte zurück, denn jetzt fing ihm die Sache an unheimlich zu werden; der Schloßherr aber, der das für eitel Bewunderung hielt, schien sehr geneigt, ihm noch weitere Einblicke in die Chronik seines Hauses zu verstatten, als die alte Wanduhr mit lauten, langsamen Schlägen die neunte Stunde verkündete.
»Schon neun Uhr!« sagte Eberstein, indem er sich erhob. »Wir leben sehr regelmäßig, Herr von Wehlau, und pflegen stets um diese Stunde zur Ruhe zu gehen. Ihnen wird das nach Ihrer anstrengenden Wald- und Bergpartie nur angenehm sein. Ich wünsche Ihnen eine ruhige und angenehme Nacht in der Ebersburg.«
»Das war ja fürchterlich!« sagte Hans Wehlau tief aufseufzend, als er sich in seinem Schlafzimmer allein sah. »Dieser Greis aus dem zehnten Jahrhundert und dieses kleine Burgfräulein, das ich für taubstumm hielt, und das nun die alten Chroniken herunterbetet wie ein Starmatz, dem man die Zunge gelöst hat, haben mich ganz wirr im Kopfe gemacht. Ich stecke auch schon vollständig im Mittelalter, aber ich komme mir doch merkwürdig exklusiv vor, seit ich Hans Wehlau-Wehlenberg auf Forschungstein bin.«
Damit ging er zu Bett und schlief ein und träumte, der alte Freiherr ziehe mit einer Laterne durch ganz Norddeutschland, um den Forschungstein zu suchen, und Fräulein Gerlinde flattere als Starmatz neben ihm her und plappere unaufhörlich von Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, und als sie den Forschungstein nicht fanden, setzten sie sich auf ihren Stammbaum und stiegen damit hoch empor, immer höher, bis in das zehnte Jahrhundert, und das sah sehr imponierend aus.
Als Hans am andern Morgen erwachte, schien die Sonne hell durch das Fenster, und seine Kleider waren wenigstens so weit getrocknet, daß er sie anlegen konnte. Es war noch früh am Tage, und im Hause schien sich noch nichts zu regen; er beschloß deshalb, sich die Ebersburg, wo er in voller Dunkelheit und im vollsten Unwetter angelangt war, jetzt bei Tageslicht zu besehen. Aus seinem Zimmer trat er sofort in den langen Gang, der sich durch ein Fenster erhellt zeigte, fand ohne besondere Mühe die steil gewundene Treppe mit den ausgetretenen Stufen und gelangte durch die Vorhalle in das Freie.
Die Ebersburg war ohne Zweifel in früherer Zeit ein starkes, stattliches Bergschloß gewesen, vielleicht im Laufe der Jahrhunderte mehrmals zerstört und immer wieder aufgebaut worden, jetzt war sie nur noch eine Ruine. Der größte Teil lag in Trümmern und was von dem Mauerwerk noch stand, schien dem Zerfall nahe zu sein. Im Schloßhofe wuchs das Gras lustig empor; dazwischen hatte sich eine ganze Generation von Gesträuchen und jungen Bäumchen angesiedelt, die den Raum zu einer förmlichen Wildnis machten. Auch von der Zinne des alten Wartturms, der noch anscheinend unversehrt stand, winkte grünes Gesträuch, und zu den Fensteröffnungen flogen die Dohlen ein und aus. Dazwischen lagen verfallene Gewölbe, halbversunkene Mauern, und hie und da ragten die Ueberreste der eigentlichen Schloßräume empor.
Der einzige noch erhaltene Flügel, der von dem jetzigen Schloßherrn bewohnt wurde, hatte gleichfalls ein trostloses Ansehen. Die Ruine war in ihrer Verwilderung wenigstens malerisch, hier aber zeigte sich überall das Armselige, mühsam Zusammengeflickte, das den Verfall decken sollte und ihn nur um so krasser hervortreten ließ. Das graue, zerbröckelnde Mauerwerk hatte einen grellen Kalkanstrich erhalten, die fehlenden Fenster und Thüren waren in der einfachsten Weise ersetzt und, wo die Räume nicht benutzt wurden, einfach mit Brettern verschlagen. Der prächtige alte Erker mußte sich ein ganz gewöhnliches Notdach gefallen lassen, und die ehemals steinernen Stufen der Außentreppe, die zum Haupteingange führte, waren durch hölzerne ersetzt worden.
Hans Wehlaus Künstlerauge war förmlich beleidigt von diesem Anblick; er wandte sich schleunigst wieder der Ruine zu, bahnte sich einen Weg durch die grüne Wildnis des Schloßhofes und gelangte endlich durch eine Maueröffnung, die wohl einst ein Pförtchen gewesen sein mochte, auf die ehemalige Burgterrasse. Hier aber wurde seinen weiteren Streifzügen ein Ziel gesetzt; denn aus dem Wartturm, wo sich ein Stall zu befinden schien, tönte ein lustiges Meckern, und gleich darauf sprang eine Ziege aus dem geöffneten Verschlage in das Freie; hinterdrein aber kam Fräulein Gerlinde, trotz der frühen Stunde schon in voller Toilette, das heißt in dem grauen Hauskleidchen von gestern, und trug in beiden Händen vorsichtig ein kleines, hölzernes Milchgefäß, das bis an den Rand gefüllt war.
Das unerwartete Zusammentreffen überraschte beide Teile. Gerlinde blieb wie angewurzelt stehen, der Gast des Hauses mußte ja nun notgedrungen erraten, daß das Fräulein von Eberstein, das aus dem zehnten Jahrhundert stammte und eine unendliche Menge von Ahnen zählte, höchsteigenhändig die Ziege gemolken hatte, um die Milch für den Frühstückstisch zu beschaffen. Ihre sichtbare Bestürzung machte auch Hans verlegen, so daß auch er nicht das passende Wort fand, sondern sich mit einer stummen Verbeugung begnügte. Zum Glück begriff die Ziege das Peinliche der Lage und machte ihr ein Ende, indem sie in lustigem Bocksprunge gegen den Fremden anrannte und sich dann zurückkehrend so ungestüm an ihre junge Herrin schmiegte, daß das Gefäß ins Schwanken geriet und ein Teil der Milch verschüttet wurde.
Das unterbrach in sehr glücklicher Weise die Verlegenheitspause; Hans eilte schleunigst herbei, um der jungen Dame die Milch abzunehmen, was sie sich auch gefallen ließ, aber sie sagte dabei leise wie entschuldigend:
»Muckerl freut sich so, wenn sie in das Freie kommt.«
»Gott sei Dank! Endlich etwas andres als mittelalterliche Chronik!« dachte Hans, förmlich entzückt über diese Aeußerung. Er sprach seine Freude über die Lebhaftigkeit Muckerls aus, erkundigte sich angelegentlich nach deren Alter und Befinden und brachte dann zuvörderst seine Milch in Sicherheit, indem er sie auf einen Mauervorsprung niedersetzte, denn Muckerl betrachtete ihn mit höchst kritischen Blicken und schien sehr geneigt, den Angriff zu wiederholen, besann sich aber schließlich eines Besseren und machte sich über das saftige Gras her, welches den Boden bedeckte.
Der Blick von der Ebersburg war nur ein beschränkter, sie lag in einem ziemlich tiefen Thalkessel, und der ringsum an der Berglehne aufsteigende Wald verdeckte und raubte ihr die weitere Aussicht, aber sie lag wie eingebettet in ein grünes, duftiges Waldmeer, dessen Wipfel leise im Morgenwind schwankten und aus dem hie und da Vogelgezwitscher heraufklang.
Die Morgensonne überflutete hell die alte Burgterrasse. Auch hier überall Verödung und Verfall, und doch überall frisches, blühendes Leben, das mitleidig die Zerstörung deckte. In der ehemaligen Ringmauer klafften breite Lücken, aber wildes Gesträuch wuchs daraus empor und bildete eine lebendige Brustwehr; der mächtige Wartturm, in dem die Dohlen aus- und einflogen, war wie eingesponnen in einem Netze von dichtem, dunkelgrünem Epheu; an die altersgrauen Trümmer ringsum schmiegte sich weiches Moos und üppige Schlingpflanzen wucherten darüber hin. Auf jedem Stein, aus jeder Mauerspalte grünte und blühte es, und über dem allem lag die tiefe, traumhafte Stille der ersten Morgenfrühe.
Inmitten dieser Ueberreste einer längst vergangenen Herrlichkeit stand der letzte Sprößling der Eberstein in dem grauen Aschenbrödelkleidchen, dicht an die Mauer geschmiegt. Verschwunden war die steife Haltung und das lächerliche Gebaren von gestern abend, das junge Mädchen war offenbar befangen durch das Alleinsein mit dem fremden Gast und blickte mit dem Ausdruck eines erschrockenen Kindes zu ihm empor. Er bekam auf diese Weise zum erstenmal ihre Augen zu sehen, ein Paar schöne, braune Augen, sanft und schüchtern wie die eines Rehs, sie entsprachen vollkommen dem holden Gesichtchen.
Das Schweigen dauerte ziemlich lange. Hans war so angelegentlich beschäftigt, in die Augen zu blicken, die sich ihm endlich entschleierten, daß er darüber ganz vergaß, das Gespräch wieder aufzunehmen, und als er es schließlich doch that, geschah es in rein mechanischer Weise, er knüpfte unwillkürlich an das gestern Gehörte an.
»Ich habe vorhin einen Streifzug durch die Ebersburg unternommen,« begann er. »Es muß einst eine stolze Feste gewesen sein, die sicher ihren Feinden zu schaffen gemacht hat, und eine Fehde zu der Zeit, wo Kunrad von Ortenau und Hildegund von Eberstein – nein, die Geschichte war ja wohl umgekehrt.«
Es war ein Unglück, daß er die Namen aussprach; sobald Fräulein Gerlinde vom Mittelalter hörte, wurde sie wieder starr und steif wie ein Holzbild; die langen Wimpern senkten sich, ebenso das Köpfchen, und in dem alten Plappertone begann sie:
»Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau im Jahre des Heils –«
»Jawohl, mein gnädiges Fräulein, ich weiß schon, ich erinnere mich jetzt ganz genau der Sache,« fiel Hans entsetzt ein. »Ich bin durch Ihre Güte ja vollständig eingeweiht in die Chronik Ihres Hauses. Eigentlich wollte ich nur bemerken, daß der Aufenthalt auf dieser alten Bergfeste doch sehr eintönig sein muß. Sie bringen Ihrem Herrn Vater sicher ein großes Opfer damit; eine junge Dame sehnt sich doch hinaus in die Welt und in das Leben.«
Gerlinde schüttelte verneinend das Haupt, und plötzlich öffnete sie den Mund und that mit der Unfehlbarkeit eines siebzigjährigen Weisen den Ausspruch:
»Die Welt und das Leben taugen gar nichts!«
»Nichts?« fragte der junge Mann betreten. »Woher wissen Sie denn das so genau?«
»Mein Papa sagt es,« versetzte Gerlinde mit einer Feierlichkeit, die bewies, daß die Aussprüche ihres Vaters für sie Orakel waren. »Die Welt ist immer schlechter geworden mit jedem Jahrhundert, und das jetzige steht nun vollends im Zeichen des Unterganges, denn der Adel hat gar keine Geltung mehr.«
Sie hielt die Augen wieder hartnäckig gesenkt und sprach in einem Tonfall, der ihren Zuhörer auf das lebhafteste an seinen Traum in der vergangenen Nacht erinnerte. Um seine Lippen zuckte es eigentümlich, aber er bezwang sich und erwiderte mit vollem Ernste:
»Ja, der Adel! Aber es gibt doch auch außerdem noch einige Menschen in der Welt.«
Fräulein Gerlinde sah etwas erstaunt aus; sie schien diese Thatsache zu bezweifeln und verfiel in ein tiefes Nachdenken, als dessen Ergebnis sie endlich erklärte:
»Ja freilich – die Bauern.«
»Richtig! Und noch einigen andern Menschenklassen kann man die Daseinsberechtigung nicht völlig abstreiten. Die Gelehrten zum Beispiel, die Künstler, zu denen ich auch gehöre –«
Fräulein Gerlinde öffnete die rosigen Lippen weit vor Erstaunen und wiederholte:
»Zu den Künstlern?«
»Ja so, sie hält mich auch für solch ein mittelalterliches Subjekt,« dachte Hans, der seine Standeserhöhung ganz vergessen hatte; laut aber fügte er hinzu:
»Gewiß, mein gnädiges Fräulein, ich beschäftige mich mit der Kunst und schmeichle mir sogar, etwas darin zu leisten.«
Die junge Dame fand diese Beschäftigung offenbar sehr unpassend. Zum Glück fiel ihr ein, daß irgend ein Eberstein sich in irgend einem Jahrhundert mit Astrologie abgegeben hatte, und das erklärte einigermaßen den wunderlichen Geschmack des Herrn Wehlau-Wehlenberg, aber sie fand sich doch veranlaßt, ihm einen Ausspruch ihres Vaters zu wiederholen:
»Mein Papa sagt, ein Mann von altem Adel dürfe der Gegenwart keine Zugeständnisse machen, das sei unter seiner Würde.«
»Das ist nun die Ansicht des Herrn Baron,« sagte Hans achselzuckend. »Er scheint sich so vollständig von der Welt zurückgezogen zu haben, daß er jede Fühlung mit ihr verloren hat; seine Standesgenossen denken ganz anders in dieser Beziehung. Sehen Sie zum Beispiel die Grafen von Steinrück, ein Geschlecht, das ebenso alt ist wie das Ihrige.«
»Zweihundert Jahre jünger!« unterbrach ihn Gerlinde entrüstet.
»Ganz recht, volle zweihundert Jahre! Ich erinnere mich, der Ahnherr wird erst in den Kreuzzügen genannt, während der Ihrige aus dem achten Jahrhundert stammt.«
»Aus dem zehnten.«
»Natürlich, aus dem zehnten! Ich habe mich nur versprochen, ich meinte selbstverständlich das zehnte Jahrhundert. Um aber wieder auf die Steinrück zu kommen, so ist Graf Michael kommandierender General; sein Sohn war, soviel ich weiß, bei der Gesandtschaft in Paris, sein Enkel ist im Staatsdienste. Sie alle stehen mitten im lebendigen Strome der Gegenwart und würden sich schwerlich zu den Ansichten Ihres Herrn Vaters bekennen, und auch Sie werden anders darüber denken, wenn Sie erst in die Welt und das Leben eintreten.«
»Ich mag gar nicht dort eintreten,« sagte Gerlinde leise und zaghaft. »Ich fürchte mich so davor.«
Hans lächelte, er trat einen Schritt näher und beugte sich nieder zu dem zarten Geschöpfchen; seine Stimme klang eigentümlich weich und sanft, als spreche er zu einem Kinde.
»Das läßt sich begreifen, Sie leben ja hier so weltentrückt, so eingesponnen in eine längst versunkene Zauberwelt, wie das schlummernde Dornröschen im Märchen. Aber einmal wird doch der Tag kommen, wo die Dornhecke gesprengt wird, wo die grünen Mauern weichen, der Tag, wo Sie erwachen aus dem Zauberschlaf, und glauben Sie mir, mein Fräulein, was Sie dann erblicken, das ist nicht mehr der Staub und Moder der Jahrhunderte, das ist das warme, goldige Sonnenlicht, das auch durch unsre Zeit flutet, trotz aller Kämpfe und Bitternisse – Sie werden auch noch lernen hineinzuschauen!«
Gerlinde hörte schweigend zu, aber ein leises, glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verriet, daß sie das Märchen von Dornröschen kenne. Jetzt hob sie langsam die Augen empor, nur für einen Moment, und senkte sie dann schnell wieder; was ihr aus dem Antlitz des jungen Mannes entgegenleuchtete, mochte auch etwas von jenem Lichte sein, das er ihr eben verheißen – sie wurde plötzlich dunkelrot und wandte sich hastig ab.
Muckerl war jedenfalls eine sehr verständige Ziege; sie hatte bisher ruhig geweidet und nur bisweilen einen ernsthaften Blick auf die beiden geworfen, schien aber im ganzen zufrieden mit dem Verlauf der Unterredung. Jetzt aber mußte ihr die Sache doch bedenklich vorkommen, denn sie ließ plötzlich das Gras im Stich und lief zu ihrer jungen Herrin, an deren Seite sie sich wie ein Wächter aufpflanzte.
»Ich glaube – ich muß in das Schloß zurück,« sagte Gerlinde kaum hörbar.
»Schon?« fragte Hans, der es gar nicht merkte, daß das Gespräch schon eine halbe Stunde gewährt hatte.
Sie traten gemeinschaftlich den Rückweg an, wobei Hans die Milch trug, Fräulein Gerlinde an seiner Seite ging und Muckerl folgte, von Zeit zu Zeit ernsthaft mit dem Kopfe nickend. Verdächtig war und blieb ihr die Sache doch, sie konnte nicht begreifen, weshalb die beiden auf einmal so stumm geworden waren. –
Eine Stunde später stand der junge Wandrer am Fuße der Ebersburg. Er hatte sich von dem Freiherrn und seiner Tochter verabschiedet, ohne sein Inkognito aufzugeben, er wollte dem alten Herrn den alsdann unvermeidlichen Aerger ersparen. Was lag denn auch daran, wenn man ihn hier noch ferner für ein »mittelalterliches Subjekt« hielt; das Abenteuer war ja zu Ende, und er betrat schwerlich jemals wieder die Ebersburg.
Sein Blick flog noch einmal hinauf zu dem grauen Gemäuer, zu der sonnigen Burgterrasse, und die so gepriesene Gegenwart, der er sich jetzt wieder zuwandte, wollte ihm auf einmal recht nüchtern erscheinen gegen den Märchentraum, der ihm dort aufgegangen war, inmitten des grünen Waldmeeres, auf den alten Trümmern, wo es ringsum blühte und duftete, und an der Seite des kleinen Dornröschens, das sich nun wieder einspann in seine Einsamkeit und weiter träumte von dem Ritter, der die Dornenhecke sprengte und es wach küßte aus seinem Zauberschlummer. Hans unterdrückte einen Seufzer, als er sich jetzt abwandte und halblaut sagte: »Es ist doch eigentlich schade, daß ich nicht Hans Wehlau-Wehlenberg auf Forschungstein bin!«
In Steinrück herrschte eine äußerst rege Geselligkeit, die durch die Jagdzeit und die schönen, sonnigen Herbsttage noch mehr begünstigt wurde. Es war zwar niemand zu längerem Aufenthalt in das Schloß geladen worden, Gerlinde von Eberstein ausgenommen, die seit einigen Tagen dort weilte, aber man empfing fast täglich Gäste und machte ebenso häufig Besuche in der Umgegend. Den Mittelpunkt dieser Geselligkeit bildeten gewöhnlich Hertha und Raoul Steinrück. Man wußte ja längst, daß die beiden für einander bestimmt waren, daß das jetzige Zusammensein ihnen nur Gelegenheit zu einer Erklärung geben sollte, die eigentlich nur noch eine bloße Form war, und als der General die Einladungen zu einer größeren Festlichkeit erließ, die den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis des gräflichen Hauses vereinigen sollte, kannte ein jeder die Bedeutung derselben; es handelte sich um die öffentliche Verkündigung der Verlobung.
Der Abend brach bereits herein, und das ganze Schloß war von jener Unruhe erfüllt, die einem größeren Feste voranzugehen pflegt. Die Diener liefen treppauf, treppab, hier und dort wurde noch in aller Eile eine Anordnung getroffen, und die Gesellschaftsräume strahlten bereits im vollsten Lichtglanz.
Die Familie, in der nur noch Hertha und Gerlinde fehlten, trat soeben in den Empfangssalon. Graf Steinrück, der die verwitwete Gräfin führte, sah ungewöhnlich heiter aus; der heutige Tag brachte ihm ja die Erfüllung seines Lieblingswunsches: die Verlobung der beiden letzten Sprossen seines Hauses wurde auf der Stammburg gefeiert, und damit war auch der Glanz dieses Hauses gesichert, der gesamte Steinrücksche Besitz sollte fortan in einer Hand vereinigt sein.
Hortense, die am Arme ihres Sohnes folgte, verriet gleichfalls eine stolze, glückliche Zufriedenheit. Sie sah in der ebenso reichen wie geschmackvollen Toilette und bei Kerzenlicht noch immer schön aus und überstrahlte weit ihre Cousine. Die zarte, blasse Frau verschwand völlig neben dieser glänzenden Erscheinung. Raoul war heiter und liebenswürdig; nur bisweilen schien eine leichte Wolke über seine Stirn zu gleiten, aber sie verschwand schnell wieder, und er zeigte seiner Mutter gegenüber die zärtlichste Aufmerksamkeit.
»Wir haben die Einladungen so viel als möglich beschränkt,« sagte Hortense, indem sie einen prüfenden Blick durch die erleuchteten Gemächer sandte, »und dennoch werden wir nur notdürftig Raum für unsre Gäste haben. Es ist etwas Entsetzliches um diese alten Bergschlösser, die weder einen großen Festsaal noch eine Flucht zusammenhängender Zimmer besitzen; nicht einmal eine Gesellschaft kann man darin geben!«
»Dazu sind sie auch nicht erbaut,« entgegnete der Graf ruhig. »Sie sollten ein Heim für die Familie, sollten Schutz und Wehr nach außen sein; modernen Ansprüchen genügen sie freilich nicht, am wenigsten den deinen, Hortense, denn du hast Steinrück nie geliebt.«
»Nun, in dem Punkte teile ich vollkommen den Geschmack der Mama,« fiel Raoul ein. »Mich reizt hier nur die Jagd in den Bergwäldern. Das Schloß selbst mit seinen engen, düsteren Räumen, den endlosen, hallenden Gängen und steilen, dunkeln Treppen kommt mir immer wie ein Gefängnis vor. Ich atme förmlich auf, wenn ich das alte Gemäuer im Rücken habe.«
»Du scheinst ganz zu vergessen, daß dies alte Gemäuer die Wiege deines Geschlechtes ist und dir als solche teuer und heilig sein muß, selbst wenn es in Trümmern läge,« sagte der General mit einiger Schärfe.
Raoul biß sich auf die Lippen bei dieser sehr deutlichen Zurechtweisung.
»Verzeih, Großpapa, ich habe gewiß die nötige Pietät für unsern Stammsitz, aber schön kann ich ihn beim besten Willen nicht finden. Ja, wenn es das sonnige, heitere Schlößchen in der Provence wäre, mit seiner paradiesischen Umgebung, seiner sagen- und liederreichen Vergangenheit, wo ich früher so oft –«
»Du meinst das Schloß der Montigny?« unterbrach ihn Steinrück in einem Tone, der den jungen Grafen warnte, denn er verstummte. Die Mutter aber nahm statt seiner das Wort.
»Gewiß, Papa, er spricht von meiner schönen, sonnigen Heimat. Du wirst wohl begreifen, daß sie uns ebenso teuer ist, als dir die deinige.«
»Uns?« fragte der General kalt. »Du sprichst doch wohl nur von dir, Hortense? Ich finde es natürlich, daß du an deinem Vaterhause hängst, Raoul aber ist ein Steinrück und hat mit der Provence nichts zu schaffen. Seine Liebe gehört selbstverständlich seinem Vaterlande.«
Die Worte hatten einen beinahe drohenden Klang und Hortense schien eine heftige Antwort auf den Lippen zu haben, als ihre Cousine, die den Zündstoff in der Familie hinreichend kannte, rasch ablenkte.
»Unsre jungen Damen scheinen noch nicht fertig zu sein,« bemerkte sie. »Ich habe Hertha gebeten, Gerlinde in den Toiletteangelegenheiten ein wenig beizustehen; das arme Kind versteht ja nicht das mindeste davon.«
»Das kleine Burgfräulein scheint überhaupt sehr beschränkter Natur zu sein,« spottete Raoul. »Für gewöhnlich ist sie stumm wie ihre Ahnengruft, und sobald man auf die historische Feder drückt, fängt sie an, wie ein Papagei zu plappern. Dann schnurrt sofort ein ganzes Jahrhundert herunter, mit haarsträubenden Ritternamen und unendlichen Jahreszahlen, es ist wirklich grauenhaft!«
»Und doch bist du es gerade, der Gerlinde veranlaßt, sich immer wieder in dieser Weise lächerlich zu machen,« sagte die Gräfin vorwurfsvoll. »Sie ist viel zu unerfahren, um hinter deiner Artigkeit und deiner scheinbaren Bewunderung ihrer Kenntnisse den schonungslosen Spott zu bemerken. Kannst du sie denn nicht in Frieden lassen?«
»Sie fordert aber den Spott geradezu heraus,« warf Hortense ein. »Mein Himmel, welche Toilette und welche Verbeugungen! Und wenn sie den Mund öffnet, ist es vollends aus. Nimm es mir nicht übel, liebe Marianne, aber es ist fast unmöglich, deinen Schützling in die Gesellschaft einzuführen.«
»Das ist nicht die Schuld der armen Kleinen,« sagte Marianne. »Sie hat das Unglück gehabt, schon in den ersten Kinderjahren ihre Mutter zu verlieren, hat nie etwas von der Welt gesehen, ist nie mit Menschen in Berührung gekommen, den Vater ausgenommen, und der alte Sonderling hat das Kind förmlich abgerichtet und untauglich gemacht für jeden andern Umgang.«
»Ich bewundere Ihre Geduld, Marianne, daß Sie überhaupt noch mit Eberstein verkehren,« sagte Steinrück. »Ich habe ihn früher einmal aufgesucht, weil er mir in seiner Vereinsamung leid that, mußte aber sofort hören, daß sein Geschlecht zweihundert Jahre älter sei als das meinige. Ich glaube, er hat mir das sechsmal erzählt; es war überhaupt kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden, so hatte er sich schon damals in seine Marotten verrannt, und jetzt scheint er beinahe kindisch geworden zu sein.«
»Er ist alt und krank, und es ist ein trauriges Schicksal, in Armut und Einsamkeit zu verkümmern,« entgegnete die Gräfin sanft. »Seit ihn sein Gichtleiden zwang, den Abschied zu nehmen, besitzt er nichts als seine kleine Pension und die alten Trümmer der Ebersburg. Wenn er nur wenigstens zu bewegen wäre, Gerlinde auf einige Zeit von sich zu lassen, ich nähme sie gern mit nach Berkheim oder nach der Stadt, da wir ja in diesem Winter auf einige Zeit dorthin gehen, aber das wird kaum zu erreichen sein.«
»Der alte Egoist!« sagte der General ärgerlich. »Was soll denn aus dem armen Kinde werden, wenn er die Augen schließt? Aber unsre jungen Damen lassen in der That auf sich warten, es wird Zeit, daß sie erscheinen.«
Die jungen Damen hatten sich allerdings etwas verspätet, aber es waren nicht Toiletteangelegenheiten, die sie zurückhielten.
Hertha befand sich schon völlig angekleidet in ihrem Zimmer; sie hatte ihre Kammerfrau fortgesandt und stand vor dem großen Spiegel, in den sie unverwandt hineinblickte. Man hätte glauben können, sie sei in die Bewunderung ihrer eigenen Schönheit versunken, aber die Augen hatten einen seltsam träumenden Ausdruck und sahen offenbar nichts von dem Bilde, welches das helle Glas zurückwarf; sie schienen weit darüber hinauszublicken in unendliche Fernen.
Da wurde leise die Thüre des Nebenzimmers geöffnet, und Gerlinde erschien. Die beiden jungen Mädchen hatten stets miteinander verkehrt, wenn die gräfliche Familie nach Steinrück kam; dennoch herrschte nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen. Gerlinde blickte mit scheuer Bewunderung zu der glänzenden Hertha empor, während ihr diese höchstens eine mitleidige Duldung gewährte und sie bisweilen sogar mit dem ganzen Uebermute des verzogenen Glückskindes verspottete. Auch heute ruhten die Augen des »kleinen Burgfräuleins« mit neidloser Bewunderung auf der jungen Gräfin, die in der That bräutlich schön aussah in dem weißen Atlaskleide, das in weichen, schweren Falten niederfloß. Das Haar schmückte nur eine einzige weiße Rose, und ein Strauß duftender, halberschlossener Rosenknospen lag auf dem Tischchen neben dem Spiegel.
»Wie schön du bist!« sagte Gerlinde unwillkürlich. Die junge Gräfin wandte sich um und lächelte, aber es war kein Lächeln befriedigter Eitelkeit.
»Ich kann dir das Kompliment zurückgeben,« erwiderte sie. »Du siehst heute allerliebst aus.«
Das junge Mädchen trug allerdings nicht mehr das graue Aschenbrödelkleidchen, die Gräfin hatte dafür gesorgt, daß ihr Patenkind bei dem heutigen Feste in entsprechender Toilette erschien, aber Gerlinde fühlte sich offenbar bedrückt von der ungewohnten Pracht und verstand es nicht, sich darin zu bewegen. Sie mochte wohl fühlen, wie wenig sie überhaupt in diesen glänzenden Kreis paßte, und das verschüchterte sie noch mehr. Verlegen und ängstlich stand sie da und wagte kaum die Augen aufzuschlagen.
»Nur diese lächerliche steife Haltung mußt du ablegen,« kritisierte Hertha. »Du verlernst es auf der einsamen Ebersburg noch völlig, dich unter Menschen zu bewegen. Du siehst ja niemand dort, als deinen Vater und höchstens die Bauern des benachbarten Dorfes, wo du die Messe hörst.«
Gerlinde schwieg und senkte das Köpfchen. Niemand? Sie dachte an den jungen Gast, der in Sturm und Unwetter gekommen und im hellen Sonnenschein wieder gegangen war, aber sie hatte das bisher noch mit keiner Silbe erwähnt, obgleich es ein Ereignis in ihrem einsamen Leben war. Eine unbewußte Scheu schloß ihr die Lippen, und heute hätte sie nun vollends nicht davon sprechen können. Die Erinnerung an den sonnigen Morgentraum auf den alten Burgtrümmern gehörte nicht vor das Ohr der jungen Dame, welche die Jugendfreundin mit so kühler Ueberlegenheit hofmeisterte.
Hertha hatte sich wieder umgewandt, sie streifte dabei das Tischchen, wo der Rosenstrauß lag, und dieser fiel zu Boden, ohne daß sie es beachtete; Gerlinde hob ihn auf.
»Danke!« sagte Hertha gleichgültig, indem sie die Blumen wieder in Empfang nahm. Sie schienen nur lose zusammengefügt zu sein, denn eine der Rosen hatte sich aus dem Kreise ihrer Schwestern gelöst und lag gerade zu den Füßen der jungen Gräfin, die mit einem eigentümlich herben Ausdruck darauf niederschaute. Vielleicht kam ihr die Erinnerung an jenen Abend, wo auch solch eine duftende, halb erschlossene Knospe ihrer Hand entfallen war, um wenige Minuten darauf zu sterben unter einem eisernen Tritt, der sie zermalmte.
»Laß das!« wehrte sie heftig, als Gerlinde sich von neuem bücken wollte. »Was liegt denn an der einzelnen Rose, ich habe ja genug davon.«
»Es ist aber ein Geschenk deines Bräutigams,« bemerkte das junge Mädchen.
»Nun ja, ich werde es auch am heutigen Abend tragen, mehr kann Raoul doch nicht verlangen. Wenn nur erst die Zeremonie des Glückwünschens vorüber wäre! Es ist tödlich langweilig, von jedem dasselbe zu hören und all diesen banalen Redensarten standhalten zu müssen. Ich bin heute gar nicht in der Stimmung dazu.«
Die Worte klangen sehr ungeduldig, und es lag auch eine nervöse Ungeduld in der Art, mit der sie jetzt im Zimmer auf und ab zu schreiten begann. Gerlindens Augen folgten erstaunt der stolzen, königlichen Erscheinung, der die schwere Atlasschleppe rauschend nachfolgte; sie begriff nicht, daß eine Braut an ihrem Verlobungstage nicht in der Stimmung sein könne, Glückwünsche zu empfangen, und mit naiver Verwunderung fragte sie:
»Hast du denn den Grafen Raoul nicht lieb?«
Hertha blieb plötzlich stehen.
»Seltsame Frage, wie kommst du darauf? Gewiß habe ich ihn lieb, wir sind ja für einander erzogen worden, ich wußte ja schon in meinen Kinderjahren, daß er mir zum Gemahl bestimmt war. Er ist schön, ritterlich, liebenswürdig, mir gleich an Namen und Geschlecht, weshalb soll ich ihn denn nicht lieben? Du glaubst wohl, es müsse bei einer Vermählung noch heute so romantisch zugehen wie in deinen alten Chronikbüchern, wo immer erst um die Braut gekämpft und gestritten wird? Du hast uns ja gestern erst eine derartige Geschichte erzählt von einer Gertrudis –«
»Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher,« fiel Gerlinde schleunigst ein, als habe sie mit dem Namen ein Stichwort erhalten. »Aber sie durfte ihn nicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern nur der Sohn eines Kaufherrn war.«
»Sie durfte nicht?« fragte Hertha, den Kopf aufwerfend. »Sie wollte vielleicht auch nicht, es widerstrebte ihr wahrscheinlich, den alten, edlen Namen ihres Geschlechtes gegen den einer reich gewordenen Krämerfamilie umzutauschen. Begreifst du das nicht, Gerlinde? Was würdest du thun, wenn du zum Beispiel einen Bürgerlichen liebtest?«
»Das wäre schrecklich!« sagte das kleine Burgfräulein, mit dem ganzen Entsetzen eines Sprößlings aus dem zehnten Jahrhundert, setzte aber dann mit voller Ueberzeugung hinzu:
»Mein Papa sagt, das dürfe nicht vorkommen.«
»Es ist aber doch vorgekommen, sogar in eurem eigenen Geschlechte. Wie endete denn die Sache eigentlich, hat deine Ahnfrau auf ihren Dietrich verzichtet?«
Die arme Gerlinde merkte es in der That nicht, daß sie während der ganzen Zeit ihres Hierseins nur das Stichblatt für den Spott Raouls und Herthas gewesen war, die sie bei jeder Gelegenheit veranlaßten, sich lächerlich zu machen. Sie wollte sich so gern dankbar zeigen für die gespendete Gastfreundschaft und glaubte in aller Unschuld und Harmlosigkeit, man interessiere sich in Steinrück wirklich für die Geschichten, die ihr so unendlich wichtig erschienen. So faltete sie denn auch jetzt ernsthaft die Hände und begann wieder in der gewohnten Art einen Abschnitt ihrer Hauschronik herzubeten, der aber diesmal nicht mit einer fröhlichen Hochzeit endete wie bei Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, sondern mit einer Trennung. Die Geschichte war sehr lang, und die Ritternamen und Jahreszahlen, die Raoul so haarsträubend fand, kamen wieder in unendlicher Menge vor, aber die junge Gräfin schien heute ihre Spottlust verloren zu haben. Sie war an das Fenster getreten und blickte unverwandt und regungslos hinaus, bis Gerlinde schloß:
»Also ward Gertrudis vermählt an den edlen Herrn von Ringstetten, und Dietrich Fernbacher zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder.«
»Und kam nimmer wieder – nimmer!«
Herthas Lippen sprachen leise, wie traumverloren, die Worte nach, und dabei nahmen ihre Augen wieder den seltsamen Ausdruck an wie vorhin, als sähen sie etwas, das in weiter Ferne lag, weit hinter dem Nebel und der Dämmerung, welche die Landschaft draußen zu verschleiern begann.
Es entstand ein längeres Schweigen, das Gerlinde nicht zu brechen wagte, aber endlich mahnte sie doch leise:
»Hertha – ich glaube, es ist Zeit.«
Hertha sah auf, als werde sie aus einem Traume geweckt.
»Zeit – wozu?«
»Zu dem Feste, man erwartet uns.«
»Ja so – das hatte ich vergessen! Geh voran, Gerlinde, ich folge sogleich, ich will nur noch eine Kleinigkeit an meiner Toilette ändern. Ich bitte dich, geh!«
Die Aufforderung klang so bestimmt, daß das junge Mädchen ohne weiteres Zögern gehorchte, sie war aber kaum zu der Treppe gelangt, die in das untere Stockwerk führte, als ihr ein Diener entgegenkam, den der General abgesandt hatte. Excellenz ließen die junge Gräfin um ihre Gegenwart bitten, soeben sei der erste Wagen in den Schloßhof gefahren.
Gerlinde kehrte um, um selbst die Botschaft auszurichten; geräuschlos glitt ihr Fuß über den Teppich des Vorzimmers und ebenso geräuschlos öffnete sie die Thür, blieb aber betroffen auf der Schwelle stehen.
Hertha saß oder lag vielmehr in dem Armsessel am Fenster, die Hände krampfhaft ineinander geschlungen, das Haupt zurückgelehnt, aber unter den geschlossenen Wimpern drängte sich Thräne um Thräne hervor, und die Brust hob und senkte sich unter einem wilden, leidenschaftlichen Schluchzen.
Die junge Braut weinte, weinte so heiß und schmerzlich, wie einst das Kind geweint hatte, als die weißen Schneerosen, die man den zerstörenden kleinen Händen entrissen hatte, den Flammentod starben.
»Hertha, liebe Hertha, was ist dir?« rief Gerlinde, erschrocken auf sie zueilend. Die Gerufene fuhr empor, und ein Blitz des Zornes sprühte aus ihren Augen.
»Was willst du? Weshalb kommst du zurück? Kann ich denn nicht eine Minute allein sein?«
»Ich wollte – ich kam nur, dich zu holen,« sagte das junge Mädchen scheu zurückweichend. »Graf Steinrück läßt dich bitten zu kommen, die Gäste fahren bereits vor.«
Hertha erhob sich und fuhr mit dem Taschentuche über das Gesicht. In einem Moment waren die Thränenspuren vertilgt, und die junge Gräfin trat anscheinend ganz ruhig vor den Spiegel, um noch einen prüfenden Blick auf ihre Toilette zu werfen, dann griff sie nach dem Rosenstrauß.
»Nun, so laß uns gehen!«
Sie gingen, das Atlasgewand rauschte über die Treppenstufen, und wenige Minuten später traten sie in den Empfangssaal, wo die Braut bereits mit Ungeduld erwartet wurde.
Im Schloßhofe fuhr jetzt Wagen auf Wagen vor, und die Festräume begannen sich zu beleben, die Gäste trafen immer zahlreicher ein, und noch vor Ablauf einer Stunde war die ganze Gesellschaft versammelt, wo der General Steinrück nunmehr in aller Form die Verlobung seines Enkels mit der Gräfin Hertha verkündete.
Von Raouls Stirn war jede Wolke verschwunden, er schien heute nur Augen für seine Braut zu haben, die so schön, so stolz und siegesgewiß an seiner Seite stand und für jeden Glückwunsch, für jedes Kompliment ein Lächeln hatte. Man fand das sehr natürlich und begriff auch die strahlende Heiterkeit auf dem Antlitz des alten Grafen, dessen eigenstes Werk diese Verbindung war. Er hatte mit fester Hand zusammengefügt, was durch Geburt und Namen, durch Glanz und Reichtum zusammen gehörte, und es war ein so schönes, ein so glückliches Paar.
Ein trüber Oktoberhimmel lag über dem endlosen Häusermeer der Hauptstadt, das sich mit jedem Jahr weiter und mächtiger ausbreitete. In den Hauptstraßen flutete der Verkehr wie gewöhnlich, und das unaufhörliche Menschengewoge, der Lärm und das Wagengerassel hatten etwas Betäubendes für jeden, der aus der stillen Einsamkeit der Berge kam und nun mitten in dies flutende Leben geriet.
Der General Graf Steinrück hatte seine Wohnung in einem der militärischen Dienstgebäude, wo ihm die sämtlichen Räume des ersten Stockwerkes zur Verfügung standen. Die Einrichtung war eine reiche, teilweise sogar prachtvolle, soweit sie die Zimmer der Gräfin Hortense betraf; Steinrück trug in diesem Punkte dem Geschmack seiner Schwiegertochter Rechnung und ließ ihr überhaupt freie Hand in allem, was die Repräsentation betraf, während er andrerseits die Zügel seines Hauses fest in Händen hielt. Seine Stellung erlaubte ihm immerhin auf größerem Fuße zu leben, wenn auch die Einkünfte des Familiengutes nicht bedeutend waren.
Die Wohnräume des Generals waren im Gegensatz zu denen seiner Schwiegertochter sehr schmucklos eingerichtet, und das Arbeitszimmer vollends war von einer beinahe spartanischen Einfachheit. Hier herrschte kein trauliches Halbdunkel, wie in jenen Salons; hier gab es keine weichen Teppiche und orientalischen Vorhänge, sogar der künstlerische Schmuck von Gemälden und Statuen fehlte. Durch die hohen Fenster drang das Tageslicht voll und scharf herein; auf dem Schreibtische waren Papiere, Briefschaften und Bücher sorgfältig geordnet, die Möbel von hellem Eichenholz ohne jede Schnitzerei oder sonstige Verzierung, mit dunklem Leder überzogen, konnten kaum schmuckloser sein, und die Bilder an den Wänden hatten offenbar nur einen persönlichen Wert für den Besitzer, als Familienandenken oder Erinnerungszeichen. Es war ein Gemach zum Arbeiten, nicht zum behaglichen Ausruhen, und es entsprach in seiner strengen, fast nüchternen Einfachheit völlig dem Charakter seines Bewohners.
Steinrück saß am Schreibtisch und sprach mit seinem Enkel, der soeben von Berkheim zurückgekehrt war, wohin er seine Braut und deren Mutter begleitet hatte. Raoul schien wirklich ein glücklicher Bräutigam zu sein; auf seinem Gesicht lag heller Sonnenschein, als er von der Reise berichtete, auch um die strengen Züge des Grafen spielte ein Lächeln; die Erfüllung seines Lieblingswunsches machte ihn weit milder und zugänglicher als sonst.
Sie hatten von dem bevorstehenden Besuch Herthas und ihrer Mutter, von der Vermählung gesprochen, die im nächsten Sommer stattfinden sollte, und Raoul sagte endlich:
»Du wirst mich jetzt wohl fortschicken müssen, Großpapa, es ist die Stunde deines dienstlichen Empfanges.«
»Noch nicht,« entgegnete der General mit einem Blick auf die Uhr. »Wir haben immerhin noch eine Viertelstunde Zeit, und überdies liegt für heute nichts Besonderes vor, nur einige Meldungen und Vorstellungen jüngerer Offiziere.«
Er nahm ein Blatt vom Schreibtische und überflog es, auf einmal aber verfinsterte sich sein Gesicht und halblaut murmelte er:
»Ah so! Also heute!«
Raoul, der neben dem Großvater stand, hatte gleichfalls einen Blick auf die Liste geworfen und dort einen bekannten Namen gefunden.
»Lieutenant Rodenberg? Ist der zum Generalstab kommandiert?«
»Kennst du ihn?« fragte Steinrück, sich rasch umwendend.
»Einigermaßen; ich war im vergangenen Jahre mit den Rodenbergs zu einer Jagdpartie geladen. Es ist doch einer der Söhne des Obersten, der in W. kommandiert?«
»Nein!« sagte der General kalt.
»Nicht? Ich glaubte, es gäbe gar keinen andern Träger dieses Namens in der Armee.«
»Ich glaubte es auch und war in demselben Irrtum befangen wie du. Ich werde dich wohl darüber aufklären müssen, Raoul, welche Bewandtnis es mit diesem Rodenberg hat. Du bist ja durch deine Mutter längst eingeweiht in die Familiengeschichte unsres Hauses.«
Der junge Graf stutzte und richtete einen fragenden Blick auf den Großvater.
»Ich weiß allerdings, daß dieser Name noch eine andre, peinliche Bedeutung für uns hat, aber davon kann doch hier unmöglich die Rede sein. Es ist doch nicht etwa –?«
»Luisens Sohn!« vollendete Steinrück finster.
»Um des Himmels willen, das fehlte nur noch!« rief Raoul in voller Bestürzung. »Taucht diese unselige Geschichte wieder empor, die wir längst begraben und vergessen wähnten? Der Bube war ja davongelaufen, war gestorben und verdorben, wie es damals hieß. Wie kommt dieser Bursche, der Sohn des Abenteurers, zu einer solchen Lebensstellung?«
Der General runzelte die Stirn; in diesem Augenblick überwog bei dem alten Krieger der Corpsgeist alles übrige, selbst die Abneigung gegen den verleugneten und verhaßten Sohn des »Abenteurers« trat davor zurück. Michael trug wie er den Degen an der Seite, beschimpfen ließ er ihn nicht in seiner Gegenwart.
»Mäßige dich!« sagte er streng. »Es handelt sich um einen Offizier der Armee, einen sehr tüchtigen Offizier sogar, von dem spricht man nicht in solchen Ausdrücken.«
»Aber, Großpapa, du wirst doch zugeben, daß dieser Rodenberg uns im höchsten Grade lästig, ja noch mehr werden kann, gerade weil er Offizier ist, denn das gibt ihm die Möglichkeit, unsern Kreisen zu nahen, und auf welchem Fuße sollen wir dann mit ihm verkehren? Und gerade jetzt kommt er zum Vorschein, wo meine Verlobung mit Hertha die Augen der ganzen Gesellschaft auf uns richtet! Er wird natürlich nichts Eiligeres zu thun haben, als seine Beziehungen zu uns aller Welt zu verkündigen.«
»Das bezweifle ich, sonst wäre es längst geschehen; es weiß aber bis zur Stunde niemand darum, ich habe Erkundigungen eingezogen. Jedenfalls muß er wissen, daß wir nicht geneigt sind, diese Beziehungen anzuerkennen.«
»Gleichviel! Anerkannt oder nicht, er wird früher oder später als Enkel des Grafen Steinrück auftreten und den nötigen Vorteil aus dieser Stellung zu ziehen wissen. Glaubst du wirklich, daß ein bürgerlicher Offizier diesem Vorteil entsagen und seine nahe Verwandtschaft mit dem kommandierenden General verschweigen wird?«
»Jedenfalls werde ich versuchen, das zu erreichen. Du hast recht, gerade jetzt muß dies Wühlen in der Vergangenheit, dies Hervorzerren alter, längst begrabener Geschichten um jeden Preis vermieden werden. Ich habe Rodenberg nur ein einziges Mal gesehen, aber wie ich ihn beurteile, bleibt ein Appell an sein Ehrgefühl nicht vergeblich. Er wird sich einer Familie nicht aufdrängen, die ihn nun einmal nicht kennen will, und er hat mindestens ebensoviel Grund wie wir, das Andenken seines Vaters in der Dunkelheit und Vergessenheit zu lassen. Wie sich die Angelegenheit aber auch gestalten mag, du schweigst unbedingt darüber gegen deine Braut und deren Mutter. Sie sind durch Zufall mit Rodenberg bekannt geworden und haben ahnungslos mit ihm verkehrt.«
»Sagte ich es nicht, es ist ein Unglück, daß dieser Mensch gerade Offizier ist!« rief Raoul heftig. »In jedem andern Lebenskreise könnte man ihn fernhalten, jetzt hat er bereits Gelegenheit gefunden, sich den Damen unsres Hauses zu nahen, und das wird in wohlberechneter Absicht geschehen sein. Selbstverständlich dürfen sie nicht erfahren, wer er ist. Wie würde die stolze Hertha mich anblicken, müßte ich mich vor ihr zu diesem Vetter bekennen! Das muß verhindert werden, koste es was es wolle, wir sind ja sicher zu jedem Opfer bereit, wenn –«
»Du vergißt immer, daß es sich jetzt um den Lieutenant Rodenberg handelt,« unterbrach ihn der General mit voller Schärfe. »Einem Offizier unsrer Armee kann man sein Schweigen nicht abkaufen, man kann sich höchstens an seinen Stolz wenden. Er muß und wird begreifen, daß es keine Ehre ist, mit dem Sohne seines Vaters verwandt zu sein; wenn überhaupt etwas von ihm zu erreichen ist, so kann es nur auf diesem Wege geschehen.«
Raoul schwieg, aber seine Miene zeigte, daß er diese Ansicht nicht teilte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn der Erwartete wurde soeben gemeldet, und Steinrück winkte, ihn eintreten zu lassen.
»Verlaß uns!« sagte er halblaut zu seinem Enkel gewendet. »Ich will ihn allein sprechen.«
Raoul gehorchte, aber als er im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, trat Rodenberg bereits ein, und sie trafen an der Thür zusammen. Michael grüßte flüchtig den ihm unbekannten Herrn, aber dieser streifte ihn nur mit einem halb feindlichen, halb verächtlichen Blicke und wollte vorübergehen, ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen. Da aber vertrat ihm der junge Offizier plötzlich den Weg und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, ohne ein Wort zu sprechen, aber sein Auge und seine Haltung forderten so gebieterisch den Gegengruß, daß sich der Graf halb unwillkürlich dazu bequemte. Er neigte widerwillig das Haupt und zog sich dann zurück. Steinrück hatte die Scene, die nur einige Sekunden währte, schweigend beobachtet. So wenig er das Benehmen seines Enkels billigte, er zürnte ihm fast, daß er sich hatte zwingen lassen.
Michael trat jetzt näher, und selbst der schärfste Beobachter hätte nicht bemerken können, daß irgend ein engeres Band zwischen diesen beiden Menschen existierte. Der Untergebene stattete seine Meldung in streng vorschriftsmäßiger Weise ab, und der Vorgesetzte nahm sie in gewohnter Art entgegen, kühl, ernst und gemessen; keiner von beiden verlor auch nur auf einen Moment die streng dienstliche Haltung. Als aber das Nötige gesagt und beantwortet war und der junge Offizier auf seine Entlassung wartete, nahm der General von neuem das Wort.
»Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, was uns beiden von Wichtigkeit ist. Als wir uns das erste Mal sahen, waren Zeit und Ort nicht geeignet dazu; heute sind wir ungestört. Wollen Sie mich hören?«
»Zu Befehl, Excellenz,« lautete die kurze Antwort.
»Ihre Haltung bei jenem Zusammentreffen hat mir gezeigt, daß Sie die Beziehungen, die zwischen uns obwalten, in ihrem ganzen Umfange kennen, und wir werden uns wohl über die Auffassung derselben von beiden Seiten verständigen müssen.«
»Ich halte es nicht für notwendig, daß dieser Punkt überhaupt zwischen uns erörtert wird,« sagte Michael kalt. Der General sandte ihm einen finstern Blick zu; er hatte für gut befunden, eine eisig ablehnende Haltung anzunehmen, um jede etwaige Vertraulichkeit bei dieser Unterredung von vornherein auszuschließen, und begegnete nun genau derselben Haltung, die fast ebenso hochmütig war wie die seinige – hier gab es nichts zurückzuweisen.
»Aber ich halte es für notwendig, daß wir darüber ins klare kommen,« erwiderte er mit scharfer Betonung. »Sie sind der Sohn der Gräfin Luise Steinrück« (er sagte nicht: meiner Tochter). »Ich kann das selbstverständlich weder ableugnen, noch Sie hindern, diese ganz legitime Abkunft geltend zu machen. Sie haben bisher darauf verzichtet, haben die Sache sogar als Geheimnis behandelt, und das läßt mich hoffen, daß Sie selbst die Unzuträglichkeit einer Veröffentlichung einsehen –«
»Die Sie fürchten!« ergänzte Michael.
»Die mir zum mindesten nicht erwünscht ist. Ich will ganz offen gegen Sie sein. Durch Oberst Reval werden Sie erfahren haben, daß kürzlich ein Familienfest in meinem Hause gefeiert worden ist: Mein Enkel, Graf Raoul, hat sich mit der Gräfin Hertha Steinrück verlobt, die Ihnen ja wohl auch bekannt ist.«
In dem Gesicht des jungen Offiziers zuckte etwas auf, freilich nur einen Moment lang, dann war es wieder verschwunden und er entgegnete anscheinend mit vollkommener Ruhe:
»Ich habe es allerdings gehört.«
»Nun wohl. Die Vermählung wird in kurzem stattfinden, und das junge Brautpaar wird sich im Laufe dieses Winters dem Hofe und der Gesellschaft vorstellen. Diese Verbindung der beiden letzten Sprossen meines Geschlechtes legt mir doppelt die Pflicht auf, den Namen und das Wappen dieses Geschlechtes rein zu halten von jeder – Verdunkelung. Ich will Sie nicht beleidigen, Lieutenant Rodenberg; aber ich darf wohl annehmen, daß Ihnen das Leben und die Vergangenheit Ihres Vaters bekannt sind?«
»Ja!«
Das Wort kam kurz und rauh von den bebenden Lippen, aber man hörte doch die innere Qual heraus.
»Es thut mir leid, dem Sohne gegenüber diesen Punkt erwähnen zu müssen, aber er läßt sich leider nicht umgehen. Sie sind ja völlig schuldlos daran, und Sie werden auch schwerlich darunter leiden. Ihr nahes Verhältnis zu dem Professor Wehlau deckt alle unbequemen Nachforschungen. Wie ich höre, gelten Sie für den Sohn seines Jugendfreundes, der in seinem Hause erzogen wurde – ein ganz vorzügliches Auskunftsmittel! Ueberdies ist Ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot und hat die letzte Zeit seines Lebens im Auslande zugebracht. Auch ist er – soviel ich weiß – nie in offenen Konflikt mit den Gesetzen geraten.«
Schneidend scharf wie die Klinge eines Dolches war dies: soviel ich weiß! Michael war totenbleich geworden, er antwortete nicht, aber ein unheilverkündender Blick schoß auf den Mann, der ihn so erbarmungslos folterte und der jetzt mit derselben kalten, überlegenen Ruhe fortfuhr:
»Die Sache liegt jedoch ganz anders, sobald Sie den Namen Ihrer Mutter nennen. Das wird selbstverständlich ein sehr großes Aufsehen geben, zumal in den Kreisen der Aristokratie und der Armee; es wird ein endloses Gerede entstehen, das peinlich, ja gefährlich werden kann, denn das Gerücht geht in solchen Fällen immer über die wirklichen Thatsachen hinaus, und was ein halbes Menschenalter in Vergessenheit gebracht hat, wird rücksichtslos wieder ans Tageslicht gezogen. Ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie es ertragen können und wollen, wenn das Andenken Ihres Vaters dieser Vergessenheit entrissen wird. Was meine Stellung zu der Sache betrifft, so wende ich mich nur an Ihr Gerechtigkeitsgefühl, das Ihnen sagen wird –«
»Genug!« unterbrach ihn der junge Offizier dumpf, mit halb erstickter Stimme. »Ersparen Sie mir das weitere, Excellenz. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß diese ganze Erörterung überflüssig ist, denn ich habe nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, Beziehungen geltend zu machen, die ich ebenso entschieden ablehne wie Sie. Ich sollte meinen, das müßte Ihnen schon unsre erste Begegnung gezeigt haben, wo ich die mir angebotene ›Protektion‹ zurückwies. Ich sehe jetzt erst, daß sie der Preis für mein Schweigen sein sollte.«
Die Worte klangen in tiefster Bitterkeit und Michaels Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Degens; noch wahrte er seine Selbstbeherrschung, aber es geschah offenbar nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft. Auch der General mochte das sehen und fühlen, denn er sagte mit bedeutend gemilderter Stimme:
»Das ist eine ganz irrtümliche Auffassung. Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht beleidigen wollte.«
»Nicht?« brach Michael mit schneidender Heftigkeit aus. »Und was ist denn diese ganze Unterredung andres, als eine Beleidigung vom Anfang bis zum Ende? Oder wie nennen Sie es denn, wenn man einem Sohne dergleichen über seinen Vater anzuhören gibt und ihm zugleich in dieser schonungslosen Weise klarmacht, daß auch er dadurch den Anspruch auf Ehre verwirkt hat? Ich kann meinen Vater nicht verteidigen und nicht rächen, er hat mir die Möglichkeit dazu genommen, und Sie meinen, ich litte nicht unter diesem Bewußtsein! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast daran zu Grunde gegangen bin, bis ich mich aufraffte, um den Kampf mit diesem Schatten zu wagen. Noch stehe ich im Anfange meiner Laufbahn, noch habe ich nichts geleistet; aber wenn einmal ein ganzes Leben voll ehrenhafter Arbeit hinter mir liegt, dann wird auch jener alte Schatten weichen. Die Menschen sind ja nicht alle so erbarmungslos wie Sie, Graf Steinrück, und sie haben, Gott sei Dank, auch nicht alle ein Wappenschild, das vor ›Verdunkelungen‹ behütet werden muß!«
Der General erhob sich plötzlich; er nahm jene gebietende Haltung an, die ihm eigen war, wenn er irgend eine Anmaßung oder Ueberhebung in ihre Schranken zurückwies.
»Mäßigen Sie sich, Lieutenant Rodenberg! Sie vergessen, vor wem Sie stehen.«
»Vor meinem Großvater! Und der wird es wohl auf einige Minuten vergessen können, daß er zugleich mein General ist. Fürchten Sie nichts; es ist das erste Mal, daß ich Sie so nenne, und es wird auch das letzte Mal sein, denn für mich haftet nichts Teures und Heiliges an diesem Namen. Meine Mutter starb in Not und Elend, in Jammer und Verzweiflung; aber sie öffnete nicht ein einziges Mal die Lippen zu einer Bitte an den, der sie und ihr Kind mit einem Worte hätte retten können – sie kannte ihren Vater!«
»Ja, sie kannte ihn!« sagte Steinrück hart. »Als sie dem Vaterhause entfloh, um das Weib eines Abenteurers zu werden, da wußte sie, daß nunmehr jedes Band zerrissen war zwischen ihr und der Heimat, daß es keine Rückkehr und keine Versöhnung mehr gab. Will sich ihr Sohn jetzt anmaßen, die Strenge eines tiefbeleidigten Vaters zu richten?«
»Nein,« entgegnete Michael, das Auge voll und finster auf ihn richtend. »Ich weiß, daß meine Mutter Ihnen offenen Trotz geboten, daß sie Heimat und Familie verwirkt hatte, und wenn das Herz des Vaters nicht mehr sprach, sondern nur sein Recht, so mußte er sie vielleicht verstoßen. Aber ich weiß auch, daß ihre schwerste Schuld die war, daß sie einem bürgerlichen Abenteurer folgte. Wäre es ein Standesgenosse gewesen, der verlorene und verkommene Sohn irgend einer Adelsfamilie, man hätte sie nicht so unerbittlich gerichtet, man hätte ihr im Unglück wieder die väterlichen Arme geöffnet, und ihrem Sohne würde das Andenken seines Vaters jetzt nicht wie ein Schimpf vorgehalten. Ich wäre ja doch der Erbe eines alten Namens gewesen – alles andre hätte man sorgfältig zugedeckt. Zum mindesten hätte man mich nicht den Händen eines Wolfram überantwortet, in der Absicht, mich dort verkommen zu lassen!«
Die Augen des Generals sprühten, aber er gab es auf, den jungen Offizier noch ferner als einen Fremden zu behandeln; er sprach jetzt im vollsten Zorne, aber er sprach zu seinem Enkel.
»Nicht weiter, Michael! Ich bin es nicht gewohnt, daß man in solchem Tone zu mir redet. Was wagst du mir zu bieten?«
»Was ich vertreten kann, denn es ist die Wahrheit!« erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. »Es wäre Ihnen ein leichtes gewesen, den verwaisten Knaben, den Sie nun einmal nicht vor Augen sehen mochten, in irgend eine ferne Erziehungsanstalt zu bringen, wo Sie nichts weiter von ihm sahen und hörten, wo er aber doch wenigstens tauglich für das Leben wurde, aber er sollte eben nicht dafür taugen. Darum wurde ich festgebannt in einem rohen und gemeinen Kreise, wo Mißhandlungen und Schimpfworte der einzige Unterricht waren, den ich empfing, wo jedes geistige Element unterdrückt, jede Anlage zertreten wurde, wo es eigens darauf angelegt war, mich zu dem rohen, blöden Buben zu machen, der sein Leben verdämmern und verdummen sollte in den Wäldern. Dann war ja die Gefahr ausgeschlossen, daß ich jemals dem edlen Steinrückschen Kreise nahte; dann mußte ich dankbar sein, wenn man mir schließlich irgend eine Bauernexistenz gewährte! Eine fremde Hand entriß mich jenem Elend; einem Fremden danke ich die Erziehung, die Lebensstellung, in der ich jetzt vor Ihnen stehe – meinen Blutsverwandten hätte ich nur den geistigen Tod zu danken gehabt!«
Steinrück schien sprachlos zu sein über diese unerhörte Kühnheit, aber es war noch etwas andres, was ihm die Lippen schloß. Schon einmal vor Jahren hatte er ähnliches hören müssen; der Priester hatte ihm ernst und mahnend den gleichen Vorwurf gemacht. Jetzt wurde er ihm mit flammender Energie ins Gesicht geschleudert, und die Anklage kam aus dem Munde dessen, den er allerdings hatte unschädlich machen wollen durch eine »Bauernexistenz«. Graf Michael war sonst nicht der Mann, der einer Anmaßung oder Beleidigung gegenüber verstummte; hier fehlte ihm die Antwort, denn er fühlte die Wahrheit jener Vorwürfe. Wenn er sich damals seine Handlungsweise nicht völlig klargemacht hatte, so wurde sie ihm jetzt wie in einem Spiegel gezeigt, und es war ein häßliches Bild, das dort erschien, ein Bild, welches des stolzen Grafen unwürdig war.
»Du scheinst Wolframs Erziehung doch nicht gänzlich vergessen zu haben,« sagte er endlich herb. »Willst du mir vielleicht wieder eine Scene machen, wie damals in Steinrück? Dein Aussehen ist ganz danach.«
Er hätte nichts Schlimmeres thun können als dies Andenken wachrufen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, aber Michaels Blut siedete noch bei der Erinnerung, welche ihn nur zu neuer Empörung aufstachelte.
»Damals nannten Sie mich Dieb!« stieß er hervor. »Ohne Beweis, ohne Untersuchung, auf einen haltlosen Verdacht hin! Jedem Ihrer Bedienten hätten Sie die Verteidigung gestattet. Ihr Enkel aber galt Ihnen ohne weiteres für einen Verbrecher. Ja, ich griff damals nach dem ersten besten, das mir als Waffe dienen konnte; ich wußte ja nicht, daß es mein eigener Großvater war, der mir den Schimpf anthat, aber von der Stunde an, wo ich das erfuhr, da lebte in mir nur das glühende Verlangen nach Vergeltung.«
»Michael!« fiel ihm der General drohend in die Rede. »Nicht ein Wort mehr in diesem Tone, der weder dem Chef noch dem Vater deiner Mutter gegenüber am Platze ist. Ich verbiete es dir, und du wirst gehorchen!«
Wenn Graf Steinrück in dieser Art sprach, hatte er noch stets Gehorsam gefunden; hier zum erstenmal versagte die Macht seiner Persönlichkeit. Selbst Raoul, der doch wahrlich nicht zu den Furchtsamen gehörte, beugte sich vor dem Zornesblick dieser Augen, aber Michael beugte sich nicht. Wohl zwang er sich auf jene Mahnung hin gewaltsam zur Ruhe, aber wenn seine Stimme auch kälter und beherrschter klang, sie hatte nichts von ihrer Energie verloren.
»Zu Befehl, Excellenz! Ich habe diese Unterredung nicht gesucht, sie wurde mir aufgezwungen; aber ich denke, Sie sind jetzt von der Furcht befreit, daß ich jemals einen verwandtschaftlichen Anspruch geltend machen könnte. Sie dünken sich so erhaben über die gemeine Menschenwelt, mit Ihrem uralten Stammbaum; Sie haben das einzige Glied Ihres Hauses, das dem Ahnenstolz zu trotzen wagte, mit eiserner Hand ausgestoßen und ausgestrichen aus Ihrem Leben! Aber Ihr Wappenschild steht nicht so unerreichbar hoch wie die Sonne am Himmel; es kommt vielleicht ein Tag, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können. Dann werden Sie fühlen, was es heißt, mit einem glühenden, leidenschaftlichen Ehrgefühl in der Brust die Schuld und Schmach eines andern büßen zu müssen, wie Sie mich jetzt das Andenken meines Vaters büßen lassen; dann werden Sie es begreifen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie meiner Mutter gewesen sind! – Darf ich mich nun als entlassen betrachten, Excellenz?«
Er stand wieder da, in der starren Haltung des Soldaten. Der General antwortete nicht, es wehte ihn wie ein Schauer an bei diesen Worten, die fast prophetisch klangen; einen Augenblick lang tauchte etwas vor ihm auf, noch dunkel und gestaltlos, aber wie die Ahnung eines kommenden Unheils, dann sank es wieder zurück in die Nacht. Stumm winkte er dem jungen Offizier, sich zu entfernen, und dieser ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen; in der nächsten Minute schloß sich die Thür hinter ihm.
Als Steinrück allein war, begann er heftig und ruhelos im Zimmer auf und nieder zu gehen, aber dabei kehrte sein Auge immer wieder zu einem Bilde zurück, das ihm gegenüber an der Wand hing und das ihn selbst als jungen Offizier darstellte. Nein, es war keine Aehnlichkeit vorhanden zwischen diesem schönen Kopf mit den edlen, regelmäßigen Linien und jenen charakteristischen, aber unschönen Zügen, nicht die geringste! Und doch waren es dieselben Augen gewesen, die dem Grafen aus jenem Antlitz entgegenflammten, doch war es seine Stimme, die er aus jenem Munde gehört hatte, und sein war auch der unbeugsame Stolz, die eiserne Energie, die den Kampf mit dem Schwersten nicht scheute – nicht in den Zügen, im Blick und in der Haltung lag die Aehnlichkeit.
Das drängte sich mit unabweisbarer Gewalt dem Manne auf, der so düster und unverwandt auf sein Jugendbild blickte. Er war empört, beleidigt, und dennoch zog etwas durch seine Seele, das er nie gekannt und das er oft genug schmerzlich vermißt hatte bei dem Sohne und Enkel, die seinen Namen und seine Grafenkrone trugen: das Bewußtsein, daß es einen Erben seines Blutes und Charakters gab. Er hatte sich vergebens gemüht, in Raoul auch nur einen Zug davon zu entdecken, umsonst! Aber der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter, der als ein Fremdling von der Schwelle ging, der hatte dies Blut in den Adern, und der Großvater fühlte durch all den Haß und Kampf hindurch, daß er ein Reis war von seinem Stamme.
Professor Wehlau bewohnte im westlichen Teile der Stadt eine nicht allzu große, aber sehr hübsche Villa, an die sich ein ziemlich ausgedehnter Garten schloß, und die behagliche und geschmackvolle Einrichtung derselben zeigte, daß sich die strenge Wissenschaft keineswegs ablehnend verhielt gegen die Annehmlichkeiten des Lebens.
Der Winter war zum größten Teile vergangen, man befand sich im Anfange des März, und im Freien begannen sich schon die ersten Vorboten des Frühlings zu zeigen. Im Wehlauschen Hause aber herrschte immer noch eine etwas gewitterschwüle Temperatur: die Spannung zwischen Vater und Sohn war noch keineswegs ausgeglichen, und das »Donnergewölk«, wie Hans sehr respektwidrig die Stimmung seines Vaters nannte, hing oft genug drohend über ihm. Das war auch heute der Fall, wo der junge Künstler sich im Studierzimmer des Professors befand, der wieder einmal die volle Schale seines Zornes auf den ungehorsamen Sohn ausgeschüttet hatte.
»Sieh dir Michael an!« schloß er endlich seine Rede. »Der weiß, was Arbeit heißt, und der kommt auch vorwärts im Leben. Mit neunundzwanzig Jahren ist er schon Hauptmann geworden was bist du dagegen?«
»Ich wollte, Michael machte einmal einen grenzenlos dummen Streich!« sagte Hans mißvergnügt, »dann brauchte ich nicht immer und ewig von seiner Vortrefflichkeit zu hören. Du siehst in dem neugebackenen Hauptmann schon den künftigen Generalfeldmarschall, der die sämtlichen Schlachten unsres Landes gewinnt, und deinem eigenen leiblichen Sohn, der doch zweifellos ein angehendes Genie ist, traust du gar nichts zu. Papa, eigentlich ist das himmelschreiend.«
»Schweig mit deinen Possen,« unterbrach ihn Wehlau in übelster Laune. »Und dabei willst du mir noch einreden, daß du ›fleißig‹ seist! Jawohl, was die Herren Künstler so nennen! Den halben Tag lang umherlaufen und sich amüsieren, unter dem Vorwande, Studien zu machen, und während der andern Hälfte allerhand Tollheiten in den Ateliers treiben! Dazu kommt dann die unvermeidliche Reise nach Italien, wo das Amüsement mit frischen Kräften fortgesetzt wird, natürlich auch nur zum Studium! Und das heißt bei euch arbeiten! Aber dies Leben ist gerade so recht nach deinem Geschmack; es ist überhaupt wohl das einzige, wozu du taugst.«
Die Vorwürfe brachten leider gar keine Wirkung hervor. Hans setzte sich wieder rittlings auf einen Stuhl und erwiderte ganz unbekümmert:
»Zanke nicht, Papa! Oder ich male dich in Lebensgröße, schenke das Porträt der Universität und lasse mir eine Dankadresse votieren. Ich habe dich schon längst fragen wollen, ob du mir nicht einmal sitzen willst.«
»Das fehlte noch!« brauste der Professor auf. »Ich verbitte es mir ernstlich, daß du deine Farbenkleckserei an meiner Person versuchst.«
»So sieh dir wenigstens einmal mein Atelier an, du hast ja noch keinen Blick auf die ›Farbenkleckserei‹ geworfen.«
»Nein,« grollte Wehlau. »Ich will mich nicht von neuem ärgern: verrückte idealistische Richtung – abgeschmacktes sentimentales Zeug – höchstens einmal eine Karikatur, über die man sich dann auch wieder ärgert – etwas andres bringst du nicht zu stande, das weiß ich im voraus. Ich will nichts sehen und hören von der ganzen Geschichte.«
»Nun, gehört hast du doch schon davon!« triumphierte der junge Künstler. »Als ich das Porträt meines Lehrers, des Professors Walter, im Kunstverein ausstellte, sprachen sämtliche Zeitungen darüber, und eine derselben brachte eine höchst wohlthuende Variation auf das stehende Thema von dem ›Sohne unsres berühmten Forschers‹, sie sagte: ›der geniale Sohn eines berühmten Vaters!‹ gib acht, Papa, ich werde einst noch deinen ganzen naturwissenschaftlichen Ruhm verdunkeln. Aber, darf ich mich jetzt beurlauben? Mir ist hoher Besuch angesagt.«
Wehlau zuckte spöttisch die Achseln.
»Das wird was Rechtes sein!«
»Bitte, die Gräfinnen Steinrück.«
»Und die kommen zu dir?« Der Professor maß seinen Sohn mit einem höchst erstaunten Blick.
»Natürlich! Man fängt an berühmt zu werden, man empfängt die Aristokratie in seinem Atelier, man ist ja nicht umsonst der geniale Sohn eines ausgezeichneten Vaters – willst du mir wirklich nicht zu einem Bilde sitzen, Papa?«
»In des Kuckucks Namen, nein!« schnaubte der Professor.
»Gut, dann male ich dich hinterrücks, ohne dein Wissen, und schicke dich meuchlings auf die Ausstellung. Adieu, Papa!«
Und mit dem liebenswürdigsten Lächeln, als ob zwischen ihm und dem Vater das beste Einvernehmen herrsche, entfernte er sich.
Draußen vor der Thür traf er mit Michael zusammen, der soeben nach Hause kam und fragte, ob der Professor in seinem Studierzimmer sei.
»Ja, aber er sitzt wieder in der Donnerwolke,« sagte Hans. »Komm doch nachher noch auf eine halbe Stunde in das Atelier, Michael; ich muß etwas an meinem Bilde ändern und brauche dich notwendig dazu.«
Der junge Offizier sagte flüchtig zu und ging zu dem Professor, dessen finsteres Gesicht sich bei seinem Eintritt etwas aufhellte.
»Gut, daß du kommst,« empfing er ihn. »Ich habe mich wieder dermaßen über Hans geärgert, daß mich wirklich danach verlangt, einen vernünftigen Menschen zu sehen.«
»Was hat denn Hans schon wieder angerichtet?«
»Gar nichts richtet er an, das ist ja eben das Unglück! Ich habe ihm mit aller Strenge den Müßiggang vorgehalten, dem er sich nun schon seit fünf Monaten hingibt und den er Arbeit zu nennen beliebt. Glaubst du, daß das auch nur die geringste Wirkung hervorgebracht hat? Narrenspossen hat er getrieben. Der Junge wird mich noch ins Grab bringen.«
»Onkel, sei nicht ungerecht,« sagte Michael vorwurfsvoll, »du weißt es ja, daß Hans an einem größeren Werke arbeitet, und ich versichere dir, daß er sehr fleißig ist, aber du verweigerst es hartnäckig, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Ich sollte meinen, er hätte dir und uns allen schon eine Probe seines Talents gegeben. Das Bild des Professors Walter hat allseitige Anerkennung gefunden: es war nur eine Stimme des Lobes darüber, und die Zeitungen sprachen sogar –«
»Von dem genialen Sohn des berühmten Vaters!« fiel ihm Wehlau grimmig in die Rede. »Kommst du mir auch damit? Was für Beglückwünschungen habe ich schon deswegen ausstehen müssen und was für Grobheiten habe ich den Leuten darauf gesagt! Aber es nützt nichts. Alle Welt nimmt ja Partei für den Jungen; alle Welt ist im Komplott mit ihm und amüsiert sich köstlich über den Streich, den er mir auf der Universität gespielt hat.«
»Sogar Professor Bauer, als er neulich auf der Durchreise hier war,« schaltete Michael ein.
»Ja, das war nun vollends das ärgste. ›Kollege!‹ habe ich ihm gesagt, ›wissen Sie denn, was mein gottloser Bube in Ihren Vorlesungen getrieben hat? Karikiert hat er Sie und das ganze Auditorium! Eine Skizze hat er gezeichnet, auf der Sie, zum Sprechen ähnlich, angethan mit allen Attributen der Naturwissenschaft, die vier Elemente in einem Hexenkessel zusammenrühren, während Ihre Studenten das Feuer schüren.‹ Was gibt mir der Mann zur Antwort? ›Ich weiß, bester Kollege, ich weiß! Ich habe das Bild sogar gesehen, und es ist bei allem Uebermut so genial hingeworfen, daß ich herzlich gelacht und meinem fahnenflüchtigen Schüler verziehen habe – machen Sie es auch so!‹«
»Du solltest den Rat befolgen, Onkel, das wäre wirklich das beste. Uebrigens wollte ich dich nur begrüßen; ich muß jetzt zu Hans in das Atelier.«
»In das Atelier!« spottete ihm der Professor nach. »Es mag eine schöne Wirtschaft da drinnen sein. Ich wollte, der Gartenpavillon wäre stockfinster, oder das Wasser liefe von den Wänden, dann würde der Herr Maler es schon bleiben lassen, darin zu pinseln. Jetzt hat er sich häuslich dort niedergelassen, mir gerade vor der Nase, als ob sich das von selbst verstände. Nun, so geh du denn meinetwegen in das ›Atelier'! Die große Sehenswürdigkeit wird ja sogar von der Aristokratie in Augenschein genommen, aber ich setze keinen Fuß hinein; das sage ich euch.«
Er wandte sich grollend wieder zu seinen Büchern, und Michael, der aus Erfahrung wußte, daß es das beste war, wenn man ihn in solcher Stimmung allein ließ, ging zu seinem Freunde.
Der Pavillon, wo der junge Künstler seine vorläufig noch sehr bescheidene Arbeitsstätte aufgeschlagen hatte, lag am Ende des Gartens. Er enthielt nur einen einzigen, aber genügend großen Raum; man hatte hier ein Fenster verdeckt, dort eins erweitert, hatte ein Oberlicht hergestellt und auf diese Weise das Atelier geschaffen, das dem Professor ein Dorn im Auge war, um so mehr, als er gar nicht um Erlaubnis gefragt wurde. Hans befolgte dem Vater gegenüber stets die gleiche Taktik; er widersprach ihm niemals offen, und das »Jawohl, Papa!« war eine stehende Redensart bei ihm. Dabei that er aber in aller Gemütsruhe regelmäßig das Gegenteil von dem, was der Vater verlangte, und in der That war es die einzig richtige Art, den cholerischen alten Herrn zu behandeln.
Wehlau hatte seinem Sohne in schroffster Weise die Mittel zu einem eigenen Atelier versagt, und Hans, der noch keine Einnahmen besaß, mußte sich fügen, aber er ergriff noch an demselben Tage Besitz von dem Gartenpavillon, ließ Maurer und Zimmerleute kommen, ließ alles genau nach seiner Angabe einrichten und legte dem Vater, der soeben von einer kleinen Reise zurückkehrte, die Rechnung auf den Arbeitstisch. Der Professor war natürlich außer sich darüber, erklärte, er dulde dergleichen nicht auf seinem Grund und Boden, und schaute das Atelier tagtäglich mit wütenden Blicken an, aber er bezahlte die Rechnung, und Hans hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt.
Augenblicklich stand der junge Künstler vor seiner Staffelei und malte an einem größeren Bilde, während Michael ihm gegenüber mit verschränkten Armen an einem Eckpfeiler lehnte. Die Unterhaltung schien ins Stocken geraten zu sein, denn es vergingen wohl an zehn Minuten, ohne daß einer der beiden ein Wort sprach, plötzlich aber hielt Hans mit seiner Arbeit inne und sagte: »Höre, Michael du gefällst mir gar nicht!«
Michael schien ganz vergessen zu haben, daß er seinem Freunde als Modell diente. Es lag etwas von der alten Knabenträumerei in seinem Blick und etwas von der alten Starrheit in seinen Zügen. Beim Klang der Stimme fuhr er wie erwachend auf.
»Ich? Weshalb nicht?«
»Da haben wir es! Du schreckst auf wie ein Nachtwandler, den man anruft. Woran hast du denn eigentlich gedacht? Du bist der richtige Hans Träumer geworden, seit wir aus den Bergen zurück sind; ich erkenne dich gar nicht mehr wieder.«
Der junge Hauptmann fuhr mit der Hand über die Stirn und erzwang ein Lächeln.
»Ich glaube, mir fehlt der Waffendienst; vielleicht habe ich mich auch etwas überarbeitet in den letzten Monaten.«
»Wahrscheinlich! Du bist ja ein wahrer Arbeitsfanatiker, was mein Fehler nun gerade nicht ist. Jetzt aber thue mir den Gefallen und mache ein andres Gesicht, diese melancholische Miene kann ich nicht brauchen.«
»Wie soll ich denn aussehen?«
»Möglichst wütend! So etwa wie mein Papa aussieht, wenn er sich auf zweihundert Schritt Entfernung mein Atelier anschaut, aber großartiger, heroischer! Du kannst doch so aussehen, das weiß ich. Ich quäle mich nun schon seit Wochen, um den rechten Ausdruck zu finden, aber es will nicht glücken. Ich muß ihn in der Wirklichkeit suchen, und du mußt ihn mir schaffen.«
»Ich begreife nicht, weshalb du so hartnäckig darauf bestehst, gerade meinen Kopf zu benutzen,« sagte Michael unmutig. »Er paßt nun einmal nicht zu einem Idealbild, und es ist ja auch ein ganz andres Gesicht, was du da auf die Leinwand gebracht hast.«
»Das verstehst du nicht,« erklärte Hans überlegen. »Dein Kopf ist mir mehr wert als das beste Modell. Natürlich soll es kein Porträt werden, aber was ich von deinen Zügen brauchen kann, das habe ich auch auf dem Bilde. Nur der Ausdruck, die Augen – da fehlt es! Ich wollte, ich könnte dir einmal einen grenzenlosen Aerger bereiten, dich über irgend etwas in Wut bringen, daß du dies Etwas gleich zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchtest, wie dein Namensvetter da den Gottseibeiuns – dann wäre mir geholfen!«
»Das ist ja ein recht uneigennütziger Wunsch. Leider wird er nicht in Erfüllung gehen, denn ich bin gar nicht in der Stimmung, mich zu ärgern.«
»Nein, du bist in einer höchst langweiligen Stimmung und machst das entsprechende Gesicht dazu; wir müssen es für heute aufgeben. Schade, ich hätte meinem Erzengel gern noch einen charakteristischen Zug gegeben, da er heute doch vor dem erlauchten Geschlecht paradieren soll, dessen Schutzpatron er ist.«
Er legte mit einem Seufzer Pinsel und Palette nieder, Michael aber war bei den letzten Worten aufmerksam geworden.
»Vor wem soll das Bild paradieren?« fragte er rasch.
»Vor der Gräfin Steinrück und ihrer Tochter – was hast du denn?«
»Nichts, ich wundere mich nur, daß sie in dein Atelier kommen. Hast du sie eingeladen?«
»Nicht geradezu, aber es machte sich so gesprächsweise. Ich traf die Damen gestern bei Frau von Reval, sie fragten nach meinen Arbeiten; der Gegenstand schien sie zu interessieren, und da wurde mir der heutige Besuch zugesagt. Ich wittere so etwas von einem Auftrag für die Patronatskirche, und das wäre mir sehr erwünscht. Dann könnte ich meinem Papa beweisen, daß meine Farbenkleckserei auch einen praktischen Erfolg hat, bis jetzt hält er sie immer noch für Spielerei. – Willst du etwa schon wieder fort?«
»Gewiß, ich denke, du brauchst mich nicht mehr.«
»Nein, aber ich habe der Gräfin, die sich nach dir erkundigte, gesagt, du seiest um diese Zeit stets zu Haus und würdest dir ein Vergnügen daraus machen, sie zu begrüßen.«
Michaels Stirn verfinsterte sich; einige Sekunden lang schien er mit sich zu kämpfen, dann sagte er kalt:
»Dann muß ich freilich bleiben.«
»Wenn du dein unverantwortliches Benehmen vom Sommer einigermaßen wieder gutmachen willst, allerdings. Gräfin Hertha hat es dir entschieden übelgenommen; ich sah es deutlich, als von dir die Rede war. Sie war übrigens gestern auffallend ernst und verstimmt.«
»Die glückliche Braut?«
Die Frage klang wie herber Spott. Hans beachtete das nicht, sondern sagte leichthin:
»Nun, was ihr künftiges Glück betrifft, so möchte ich gerade keine Bürgschaft dafür übernehmen. Wenn der alte General glaubt, seinen Enkel durch diese Heirat zu bändigen und in Schranken zu halten, so irrt er sich gründlich.«
»Wieso? Was weißt du von jenem Treiben?« fragte Michael gespannt.
»Nun, ich höre wenigstens genug davon. Als angehender Künstler wird man ja in alle möglichen Kreise gezogen, und dort bin ich auch einige Male dem jungen Grafen begegnet. Eine bestrickende Persönlichkeit ist er, das ist nicht zu leugnen, genial, ritterlich liebenswürdig, aber ich fürchte – da sind die Damen schon! Soeben fährt ihr Wagen vor, das nennt man pünktlich.«
Er hatte einen Blick durch das Fenster geworfen; vor dem Eingangsthor hielt in der That ein Wagen, aus dem die Gräfin Steinrück und ihre Tochter stiegen. Hans eilte ihnen entgegen in den Garten, und nach einigen Minuten traten die Damen, von dem jungen Künstler geleitet, in das Atelier.
Hauptmann Rodenberg hatte seit jenem Zusammentreffen in Sankt Michael die Damen nicht wiedergesehen, obgleich sie sich schon seit sechs Wochen in der Stadt befanden, aber sie verkehrten fast ausschließlich in den Kreisen der hohen Aristokratie. Die Gräfin erwiderte seine Begrüßung mit gewohnter Liebenswürdigkeit.
Sie machte ihm sein Fernbleiben von Schloß Steinrück, trotz ihrer ausdrücklichen Einladung, nicht mehr zum Vorwurf, seit sie in einem Gespräch mit dem General in Erfahrung gebracht hatte, daß der junge Offizier, aus irgend einem Grunde, seinem Chef nicht genehm sei. Er wußte das wahrscheinlich, und dadurch erklärte sich ja seine Zurückhaltung hinreichend; die zartfühlende Frau aber fand sich nunmehr veranlaßt, ihn mit verdoppelter Freundlichkeit zu behandeln.
»Wir haben uns lange nicht gesehen,« sagte sie, ihm die Hand reichend, »und unser letztes Zusammensein in Sankt Michael wurde ja leider durch das Unwohlsein meiner Tochter gestört. Es war sehr unvorsichtig von Hertha, bei dem aufsteigenden Gewitter im Freien zu bleiben und dann den Rückweg im vollen Sturme zu machen; ein Glück, daß wenigstens der Regen in die Thäler niederging, ohne uns zu erreichen, sonst hätte die Erkältung schlimmere Folgen gehabt.«
Michael drückte seine Lippen auf die dargereichte Hand und verneigte sich vor der jungen Gräfin, die damals den ersten besten Vorwand ergriffen hatte, um einem Zusammensein zu entgehen, das nach der stattgehabten Scene für beide Teile unmöglich gewesen wäre. Nur für einen Augenblick hatte er sie wiedergesehen, als sie mit ihrer Mutter in den Wagen gestiegen war, und er sich von beiden verabschiedete. Jetzt aber fiel sie rasch ein:
»Es war gar nicht von Bedeutung, Mama; ich bat dich nur, die Abreise zu beschleunigen, weil ich deine Aengstlichkeit kenne.«
»Du warst immerhin noch einige Tage unwohl,« bemerkte die Mutter. »Ich bin überzeugt, daß Lieutenant Rodenberg, oder vielmehr –« Sie warf einen Blick auf seine Uniform. »Sie sind ja indessen befördert worden, wie ich sehe. Ich gratuliere, Herr Hauptmann.«
»Seit vierzehn Tagen trägt er diese neue Würde,« sagte Hans. »Ich habe mir bereits die Gunst erbeten, den künftigen General malen zu dürfen, sobald er im Besitz dieser Charge ist.«
Die Gräfin lächelte. »Nun, wer weiß! Es scheint ziemlich schnell vorwärts zu gehen mit der Carriere des Herrn Hauptmanns. Auch bei uns hat sich inzwischen ein Ereignis vollzogen, von dem Sie wohl schon gehört haben werden – meine Tochter ist Braut geworden.«
»Ich weiß!« Michael wandte sich zu Hertha, deren Augen jetzt zum erstenmal den seinigen begegneten. Er war gezwungen, einen Glückwunsch zu ihrer Verlobung auszusprechen; aber wenn sie irgend ein Zeichen der Erregung erwartet hatte, etwas von jenem blitzähnlichen Aufflammen, das bisweilen so verräterisch aus seiner Kälte und Zurückhaltung hervorbrach, so täuschte sie sich. Seine Verbeugung war ebenso kühl und höflich wie sein Glückwunsch, den er ganz in der herkömmlichen Form abstattete. Er hätte ihn der fremdesten Dame nicht artiger und – gleichgültiger sagen können.
»Gräfin Hertha ist heute einmal wieder unglaublich hochmütig!« dachte Hans, als er die Miene sah, mit der jener Glückwunsch in Empfang genommen wurde. Er führte die Damen jetzt zu dem Gemälde, das den Hauptplatz im Atelier einnahm, aber erst teilweise vollendet war. Die lebensgroße Gestalt des Erzengels hob sich mächtig und wirkungsvoll von der Leinwand ab; nur das Antlitz schien noch nicht fertig zu sein und bedurfte jedenfalls noch einer weiteren Ausführung, während der Kopf des Satans erst skizziert war. Trotzdem ließ das Bild schon jetzt die Kühnheit und Großartigkeit des Entwurfes, die packende Kraft der Darstellung im vollsten Umfange erkennen, und der junge Künstler konnte zufrieden sein mit dem Eindruck, den sein Werk machte.
Hertha, die zuerst vor das Gemälde trat, zuckte leicht zusammen, und ein fragender, verwunderter Blick traf den Maler, während die Gräfin, die ihr unmittelbar folgte, in lebhafter Ueberraschung rief: »Das ist ja – nein, Hauptmann Rodenberg ist es nicht, aber Sie haben Ihrem Erzengel eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm gegeben.«
»Sehr natürlich, da er mir dazu Modell gestanden hat,« sagte Hans lachend. »Ich habe freilich nur das Charakteristische an seinem Kopfe benutzt, aber das ist wie geschaffen für den Vorwurf.«
Die Gräfin schien ganz hingerissen von dem Bilde und geizte nicht mit ihrem Lobe. Hertha fand den Entwurf genial, die Komposition großartig, die Farbenwirkung herrlich; aber während sie alles mögliche bemerkte und bewunderte, schien das Gesicht Sankt Michaels allein nicht ihren Beifall zu finden; sie äußerte auch nicht ein einziges Wort darüber.
Hans machte mit vollendeter Liebenswürdigkeit den Führer und Erklärer in seinem Atelier, da die Damen auch seine andern Arbeiten zu sehen wünschten. Er hatte soeben einen Karton herbeigeholt, der seitwärts an der Wand lehnte, hatte ihn aufgestellt und bemühte sich nun, ihm die rechte Beleuchtung zu geben. Die Gräfin öffnete inzwischen eine ziemlich umfangreiche Mappe, die seitwärts auf einem Tischchen lag und eine Anzahl von Skizzen und Studien enthielt. Es war die Ausbeute, die der junge Maler von seinem letzten Ausflug im Herbst mitgebracht hatte: kecke Jäger- und Bauerngestalten in der Gebirgstracht, hier und da ein hübscher Mädchenkopf, ein nur skizziertes, aber trotzdem sprechend ähnliches Porträt des Pfarrers von Sankt Michael, dazwischen wieder einzelne Wald- und Bergpartien, aber alles so frisch und lebendig hingeworfen, daß die Gräfin mit immer steigendem Vergnügen ein Blatt nach dem andern umwandte. Auf einmal aber bemerkte Hans ihre Beschäftigung und kam so eilfertig herbeigestürzt, als gelte es, seine Mappe vor einem Attentat zu bewahren.
»Erlauben Sie, Frau Gräfin – die Mappe liegt äußerst unbequem – ich werde Ihnen die Skizzen selbst vorlegen,« sagte er hastig, schob mit ebensoviel Eifer wie Artigkeit einen Sessel heran und begann in der That die einzelnen Blätter vorzulegen. Dabei nahm er aber, anscheinend ganz zufällig, eins derselben heraus und legte es beiseite.
»Soll ich diese Zeichnung nicht sehen?« fragte die Dame, die mit einem flüchtigen Blick die Umrisse eines weiblichen Kopfes erhascht hatte.
»O, das ist nicht der Mühe wert! Ein bloßer Studienkopf, eine ganz verfehlte Arbeit,« versicherte der junge Künstler, aber dabei stieg ihm die helle Röte in das Gesicht. Die Gräfin drohte scherzend mit dem Finger.
»Sieh da, Herr Hans Wehlau scheint seine Geheimnisse zu haben. Wer weiß, was sich da in den Bergen angesponnen hat!«
Hans verteidigte sich lachend gegen den Vorwurf; als aber die Mappe durchgesehen war und die Gräfin sich dem Karton zuwandte, fand er doch für gut, die »verfehlte Arbeit« rasch hinter einem Vorhange verschwinden zu lassen, wo sie vor fremden Blicken sicher war.
Hertha stand noch vor dem Gemälde und neben ihr Michael. Er machte diesmal keinen Versuch, sich ihrer Nähe zu entziehen, sondern blieb mit vollkommener Gelassenheit an seinem Platze und sprach von dem Talent und den Aussichten seines Freundes, von der Absicht desselben, sich an der Konkurrenz für ein großes Wandgemälde im historischen Stil zu beteiligen, und von den bereits entworfenen Skizzen dazu. Die zwanglose Richtung, die er damit dem Gespräche gab, war der jungen Gräfin allerdings willkommen, brachte sie aber doch ein wenig aus der Fassung. Sie, die vollendete Weltdame, hätte kaum so vollständig den leichten Gesellschaftston wiedergefunden nach – nach jener Stunde in Sankt Michael.
»Ich gestehe Ihnen offen, daß diese Leistung des Herrn Wehlau mich überrascht hat,« sagte sie halblaut. »Wir kannten sein Talent bisher nur von der liebenswürdigen, aber oberflächlichen Seite; die Skizzen und Karikaturen, die er damals im Bade zeichnete, sprühten von Uebermut, wie er selbst. Ich hätte ihm nicht die Kraft und Energie zugetraut, die sich in diesem Werke ausspricht.«
»Und er hat es doch beinahe spielend hingeworfen,« entgegnete Rodenberg. »Hans ist eine jener glücklichen Naturen, die alles, selbst das Höchste, fast ohne Mühe erreichen. Zu allen den äußeren und inneren Gaben hat ihm ein gütiges Geschick nun auch noch dieses Talent in die Wiege gelegt, das ihn weit über das Alltagsleben hinaushebt.«
»Ein gütiges Geschick, gewiß! Beneiden Sie Ihren Freund um diese Gaben?«
»Nein, ich wüßte sie vielleicht nicht einmal ganz zu schätzen, denn für mich hat nur das Erkämpfte, Eroberte den vollen Wert. Hans mit seinem ewig heiteren, sonnigen Charakter ist so recht für das Glück und den Genuß des Lebens geschaffen; ich bin mehr auf den Sturm und Kampf dieses Lebens gestellt – jedem das Seine!«
Hertha blickte auf das Gemälde, das auch eine Scene von Sturm und Kampf darstellte. Sie wußte es, daß der Mann da neben ihr kämpfen konnte, nicht bloß gegen einen äußeren Feind, auch gegen sich selbst, wenn es not that; sie hatte es ja gesehen, wie jede Fiber an ihm bebte in stürmischer Leidenschaft, und jetzt stand er so ruhig und gelassen an ihrer Seite, und kein einziges jener verräterischen Zeichen, die sie nur zu gut kannte, strafte diese Ruhe Lügen. Ihre unmittelbare Nähe schien gar keine Wirkung mehr auf ihn auszuüben.
»Wählen Sie den Kampf aus Neigung?« fragte sie, halb spottend. »Ich glaube, Sie sind sehr ehrgeizig, Herr Hauptmann Rodenberg.«
»Vielleicht! Zum mindesten will ich empor, und wer nicht gleich im Anfange das höchste Ziel im Auge hat, der wird es nie erreichen. Ich werde freilich nicht so von den Verhältnissen gehoben und getragen wie Hans, aber es ist auch etwas wert, ganz auf die eigene Kraft gestellt zu sein, hinauszutreten auf den Plan mit dem Bewußtsein: du hast niemand als dich selbst, aber du gehörst auch niemand als dir selber.«
So ruhig die Worte auch gesprochen waren, sie hatten einen eisernen Klang, und sie wurden verstanden. Hertha schlug das Auge plötzlich auf und heftete es auf den Sprechenden, aber es blitzte wie Zorn in diesen schönen Augen.
»Und Sie glauben das durchführen zu können? Würde Ihnen der Ehrgeiz in der That alles ersetzen?«
»Ja!« sagte Michael kalt und fest. »Das einzige, was ich mit hinausnehme in die Zukunft, ist die Dankbarkeit gegen den Mann, der mir ein zweiter Vater war, und die Freundschaft für seinen Sohn – in allem übrigen habe ich mir freie Bahn geschaffen.«
Die Lippen der jungen Gräfin zuckten, aber sie richtete sich mit ihrem ganzen Stolze empor.
»Dazu wünsche ich Ihnen Glück, Herr Hauptmann – Sie werden Carriere machen, daran zweifle ich nicht.«
Sie wandte ihm den Rücken und trat zu ihrer Mutter; aber während sie gleichfalls den Karton betrachtete und lebhaft und ausführlich mit dem jungen Maler darüber sprach, weilten ihre Gedanken immer noch bei jenem Gespräche. Deutlicher konnte man es ihr nicht sagen, daß man Sieger geblieben war, und die Ueberzeugung davon drängte sich ihr mit einer seltsamen, unerklärlichen Empfindung auf. Freilich, er wollte ja seine Liebe niederzwingen und vernichten – das schien ihm überraschend schnell gelungen zu sein.
Die Gräfin machte jetzt Anstalt aufzubrechen, und Michael verabschiedete sich von den Damen, die Hans bis zum Wagen begleitete. Als er zurückkam, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als die »verfehlte Arbeit« aus ihrem Versteck zu erlösen und sie mit der größten Sorgfalt in eine andre Mappe zu legen, die er verschloß.
»Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn die Gräfin das Bild entdeckt hätte,« sagte er. »Sie würde sofort ihr Patenkind erkannt haben, und mit der Herrlichkeit Hans Wehlau-Wehlenbergs auf Forschungstein wäre es aus gewesen. Es lebte fortan nicht mehr als ritterbürtig in den Erinnerungen der Ebersburg.«
»Wen stellt das Bild denn dar?« fragte Michael, der wie in Gedanken verloren auf und nieder ging.
»Gerlinde von Eberstein. Ich habe sie aus der Erinnerung gezeichnet. Du weißt ja von meinem Abenteuer auf der Ebersburg und meiner Standeserhöhung. Es ist merkwürdig: ich kann die Erinnerung an das kleine Dornröschen nicht los werden, das mir so lächerlich und zugleich so lieblich erschien; es drängt sich zwischen mich und jede andre Gestalt. Sogar vorhin, in Gegenwart der schönen goldhaarigen Märchenfee, tauchte mir immer wieder das holde Gesichtchen mit den dunkeln Augen auf, die so träumend in eine längst versunkene Welt schauen. Ich finde übrigens, daß mit Gräfin Hertha eine Veränderung vorgegangen ist, seit sie Braut ist. Seitdem umgibt sie eine gewisse Gletscheratmosphäre, die gar nichts Bräutliches hat. Das ist das gewöhnliche Ergebnis solcher Konvenienzverbindungen, wo von einer etwaigen Neigung gar keine Rede ist. Auch Graf Raoul scheint nicht viel für seine schöne Verlobte zu fühlen, wenigstens treibt er es toller und wilder als je, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn er nicht in ganz andern Banden läge.«
Michael blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
»Jetzt schon? Im Angesichte seiner Braut – das wäre schändlich!«
Hans sah verwundert auf bei dem dumpfen, drohenden Ton.
»Das klang ja förmlich tragisch. Kennst du denn überhaupt den jungen Grafen?«
»Ich sah ihn zuerst bei dem General, und seitdem sind wir noch verschiedene Male zusammengetroffen. Ich war aber genötigt, ihm in der nachdrücklichsten Weise klarzumachen, daß er es mit einem Offizier zu thun hat, der sich nötigenfalls mit dem Degen in der Hand die Rücksicht erzwingt, die man ihm versagen möchte. Er scheint das auch endlich begriffen zu haben.«
In dem Auge des jungen Malers blitzte etwas auf, und während er es scharf und fest auf seinen Freund heftete, nahm er, scheinbar ganz absichtslos, Pinsel und Palette wieder auf und begann von neuem zu malen.
»Das wundert mich, Graf Raoul mag seinen Ahnenstolz besitzen, gewöhnlichen Standeshochmut habe ich aber nie bei ihm bemerkt. Er muß irgend etwas gegen dich haben.«
»Oder ich gegen ihn! Ich glaube, wir wissen es beide, wie wir miteinander stehen!«
»Aha, jetzt kommt es!« murmelte Hans ganz leise, aber triumphierend, während er einen Pinselstrich nach dem andern zog; dabei setzte er aber ruhig das Gespräch fort.
»Nun, ich habe den Grafen nur von der liebenswürdigsten Seite kennen gelernt. Was aber seine Verlobung betrifft, so weiß man ja allgemein, daß sie einzig das Werk des Großvaters ist. Seine Excellenz befahlen, und der Enkel beugte sich dem allerhöchsten Willen.«
»Um so erbärmlicher!« brauste Rodenberg auf. »Wer zwang ihn denn, zu gehorchen? Warum weigerte er sich nicht? Aber dieser vielgepriesene, geniale Steinrück mit all seiner Ritterlichkeit ist doch nur ein Feigling, wenn es sich um den moralischen Mut handelt!«
Es sprach ein so leidenschaftlicher, unbezähmbarer Haß aus den Worten, daß Hans aufhorchte. Aber mit dem Egoismus des Künstlers, der nur sein Werk im Auge hat und dem alles andre daneben verschwindet, fragte und forschte er nicht, wie sein Freund zu dieser wilden Gereiztheit kam. Er sah ihn nur unverwandt an und zog dann wieder Strich auf Strich auf der Leinwand.
»Ich glaube, es wäre dem Grafen übel bekommen, wenn er einen Widerstand versucht hätte,« warf er hin. »Der General soll in seinem Hause ebenso strenge Mannszucht halten wie unter seinen Soldaten und nicht den geringsten Widerspruch dulden. Du kennst ja deinen eisernen Chef. Möchtest du es versuchen, vor ihn hinzutreten und ihm ein offenes Nein zu sagen?«
»Ich habe ihm wohl noch mehr gesagt, als ein bloßes Nein.«
»Du – dem General?«
Hans war so erstaunt, daß er einen Augenblick die Arbeit ruhen ließ, Michael aber vergaß alle Vorsicht, er ließ sich von seiner Erregung fortreißen.
»Dem General Graf Steinrück – ja! Er wollte mich auch zwingen mit seinem Herrscherblick, er gebot mir auch Schweigen mit jenem Gebietertone, dem sich alles beugt, aber ich schwieg nicht. Er sollte und mußte von meinen Lippen hören, was er wohl noch niemals in seinem Leben vernommen hat. Ich schleuderte es ihm rücksichtslos in das Antlitz, und er hat mich angehört! Jetzt sind wir freilich zu Ende miteinander, aber er weiß es nun, was mir sein Name und seine Grafenkrone gelten, weiß, daß ich ihn und sein ganzes Geschlecht –«
»Zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchte – endlich!« brach der junge Künstler triumphierend aus, der soeben noch einige letzte Pinselstriche gemacht hatte.
»Bravo, Michael! Jetzt kannst du wieder gemütlich werden, jetzt habe ich es!«
»Was hast du?« fragte Michael betroffen.
»Den Ausdruck, den Flammenblitz des Auges, nach dem ich so lange suchte. Du warst unvergleichlich in deiner Empörung Sankt Michael, wie er leibt und lebt.«
Rodenberg schien jetzt erst zu fühlen, wie weit er sich hatte fortreißen lassen, er biß sich auf die Lippen.
»Also du hast mich kaltblütig studiert während der ganzen Zeit? Hans, das ist unverzeihlich!«
»Möglich, aber es war notwendig. Sieh dir doch einmal das Bild an, was jetzt aus der Stirn und den Augen geworden ist. Mit wenigen Pinselstrichen habe ich es getroffen.«
Michael trat, noch immer gereizt und unmutig, vor die Staffelei; auch ihn schien die Veränderung an dem Gemälde zu überraschen, aber ehe er noch eine Bemerkung darüber aussprechen konnte, legte Hans den Arm um seine Schulter und sagte, plötzlich ernst werdend:
»Und nun beichte einmal, was ist das zwischen dir und den Steinrück? Warum hassest du den Grafen Raoul, was gibt dir das Recht, dem General, deinem Chef, solche Dinge ins Gesicht zu sagen? Da liegt irgend etwas, was du mir verschwiegen hast.«
Rodenberg gab keine Antwort, sondern wandte sich finster ab.
»Verdiene ich dein Vertrauen nicht?« fragte Hans vorwurfsvoll. »Ich habe niemals ein Geheimnis vor dir gehabt und darf wohl das gleiche fordern. In welchem Verhältnis stehst du zu diesem Steinrück?«
Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Michael kalt und fest:
»In demselben Verhältnis wie Graf Raoul.«
Hans sah ihn starr und völlig verständnislos an; er glaubte nicht recht gehört zu haben.
»Was soll das heißen? Der General –?«
»Ist der Vater meiner Mutter – sie hieß Luise Steinrück!«
Der März zeigte sich diesmal von einer sehr unfreundlichen Seite. Nachdem er mit einigen schönen sonnigen Tagen eingezogen war, hüllte er die Stadt wochenlang in einen grauen Nebel und Regenmantel; im Freien starben die ersten Knospen vor Kälte und Nässe, und hinter den Fenstern blickten die Menschen verdrießlich in den Lenzmonat, der seinem Namen so wenig Ehre machte.
Es war an einem jener Regennachmittage, als Graf Raoul Steinrück die Treppe eines Hauses in dem vornehmeren Stadtteil emporstieg und im ersten Stockwerk die Klingel zog. Er mußte dem Diener, der ihm die Thür öffnete, wohl genau bekannt sein, denn dieser verneigte sich auf die Frage, ob Herr de Clermont zu Haus sei, nur bejahend und ließ den Besuch ohne jede Anmeldung ein.
Der junge Graf trat in den Salon, der trotz seiner eleganten Einrichtung doch die Behaglichkeit vermissen ließ. Alles, was die Mode forderte, war vorhanden, dagegen fehlte alles und jedes, was auf ein persönliches Verhältnis der Bewohner zu den Räumen deutete. Es war eine jener Einrichtungen, die ewig auf der Wanderung sind, die für einen längeren oder kürzeren Aufenthalt zur Verfügung gestellt werden, um dann nach einiger Zeit wieder andre Räume zu füllen und andern Personen zu dienen.
Beim Eintritt des Grafen wandte sich der junge Mann, der am Fenster gestanden hatte, rasch um und kam ihm mit lebhafter Begrüßung entgegen.
»Da bist du ja, Raoul! Wir hatten heute schon darauf verzichtet, dich zu sehen.«
»Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit,« versetzte Raoul, der Hut und Ueberrock bereits draußen abgelegt hatte und sich jetzt in einen Sessel warf, mit einer Zwanglosigkeit, die verriet, daß er hier völlig zu Hause war. »Ich komme direkt aus dem Ministerium.«
»Und da hat der künftige Staatslenker natürlich üble Laune mitgebracht,« sagte Clermont lachend. »Wichtige Regierungsgeschäfte – dagegen muß sich unsereiner freilich bescheiden.«
Die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. Henri de Clermont war vielleicht einige Jahre älter als Graf Steinrück, eine schlanke elegante Erscheinung, die etwas ungemein Gewinnendes hatte; nur stand die harmlose Liebenswürdigkeit seines Wesens nicht recht im Einklang mit dem scharfen Blick der dunkeln Augen, die an das Beobachten gewöhnt zu sein schienen. Sie hafteten auch jetzt forschend auf dem Gesichte Raouls, der unmutig erwiderte:
»Staatslenker – Regierungsgeschäfte – jawohl! Wenn du nur wüßtest, durch welch eine endlose Wüste von Trockenheit und Langeweile man sich da erst hindurcharbeiten muß! Seit einem vollen Jahre bin ich nun im Ministerium und werde noch immer mit den unbedeutendsten, erbärmlichsten Kleinigkeiten geplagt. Ein Graf Steinrück gilt unserm Chef gerade so viel wie der erste beste seiner bürgerlichen Beamten, ja vielleicht noch weniger, wenn jener zufällig eine größere Arbeitskraft hat. Da heißt es, von der Pike auf dienen.«
»Ja man ist bei euch sehr gründlich in solchen Dingen,« sagte Clermont ironisch. »Bei uns pflegt es schneller zu gehen, wenn man Namen und Verbindung hat. Also man vertraut dir noch immer nichts Wichtiges an?«
»Nein!« Raouls Blick flog ungeduldig nach der Thür, die in die inneren Räume führte, als erwarte er dort etwas. »Höchstens einmal eine Uebergabe oder Abschrift bei Vertrauenssachen, wo Name und Stellung des Betreffenden die Bürgschaft für sein Schweigen geben – und das kann noch Jahre währen!«
»Wenn du es aushältst! Denkst du denn im Staatsdienste zu bleiben?«
Der junge Graf sah erstaunt auf.
»Gewiß, was denn sonst?«
»Eine seltsame Frage für jemand, der im Begriff steht, eine der reichsten Erbinnen zu heiraten. Du kannst ja künftig als souveräner Herr auf deinen Gütern leben. Wie ich dich kenne, würdest du das freilich nicht ertragen: du brauchst das Leben, die Gesellschaft, das Wogen und Treiben der Großstadt. Nun, so laß dich doch der Gesandtschaft in Paris attachieren, wie es einst dein Vater that. Das kann ja nicht schwer zu erreichen sein, wenn man die Hebel an der richtigen Stelle einsetzt, und deiner Mutter erfüllst du jedenfalls einen Lieblingswunsch damit.«
»Und mein Großvater? Er würde es nun und nimmermehr zugeben.«
»Wenn er gefragt wird, gewiß nicht, aber seine Macht reicht doch nur so weit, wie seine Vormundschaft über deine künftige Gemahlin. Das Testament weist ja wohl Bestimmungen darüber auf. Wann wird Gräfin Hertha mündig?«
»An ihrem zwanzigsten Geburtstage, im nächsten Herbst.«
»Nun wohl, dann hast du doch nichts mehr zu fragen, als höchstens nach den Wünschen deiner jungen Frau, und die wird sich sicher nicht weigern, mit dir in der Hauptstadt Europas, im Mittelpunkt des Glanzes zu leben. Ein etwaiger Einspruch des Generals kommt nicht mehr in Betracht für dich und sie.«
»Du kennst meinen Großvater nicht,« sagte Raoul finster. »Er wird selbst dann noch seine Autorität behaupten, und ich – wird denn Madame de Nérac heute gar nicht sichtbar?«
»Sie ist noch bei der Toilette, wir fahren zu einem Diner. Wo wirst du denn heute abend sein?«
»Bei meiner Braut.«
»Und das sagst du mit einer solchen Miene?« spottete Clermont. »Alle Welt beneidet dich ja um die glänzende Partie, und mit Recht. Gräfin Hertha ist schön, reich und –«
»Kalt wie Eis!« ergänzte Raoul bitter. »Ich kann dir versichern, daß ich nicht so beneidenswert bin, wie man glaubt.«
»Ja, in der Launenhaftigkeit scheint die junge Gräfin allerdings etwas zu leisten. Das ist nun einmal das Vorrecht schöner Frauen.«
»Wenn es nur Launen wären – das ist mir nichts Neues, das lag von jeher in ihrer Art. Aber seit unsrer Verlobung hat sie einen Ton angenommen, ist sie von einer Unnahbarkeit, die meine Geduld auf die äußerste Probe stellt. Lange halte ich das nicht mehr aus.«
Es sprach in der That die äußerste Gereiztheit aus diesen Worten, Clermont zuckte gleichmütig die Achseln.
»Wer von uns kann ganz nach seiner Neigung wählen? Ich kann es auch nicht, wenn ich früher oder später zu einer Verbindung schreite, und meine Schwester wurde mit sechzehn Jahren an einen Mann vermählt, der bereits in den Fünfzigen stand. Man beugt sich eben der Notwendigkeit.«
Raoul hörte die letzten Worte kaum; sein Blick bewachte noch immer ungeduldig die Thür, und plötzlich fuhr er empor, denn diese Thür öffnete sich, und ein Seidenkleid rauschte über die Schwelle.
Die Dame, welche jetzt eintrat, eine schmächtige, mittelgroße, aber ungemein graziöse Gestalt, war nicht mehr in der ersten Jugendblüte; sie mochte schon am Ausgange der Zwanzig stehen. Das Gesicht konnte nicht schön, vielleicht nicht einmal hübsch genannt werden, aber es hatte einen eigentümlichen pikanten Reiz. Das schwarze Haar, das in kurzen, krausen Locken den Kopf umgab, ließ diesen jugendlicher erscheinen, als er in der That war; die dunkeln Augen hatten etwas Weiches, Verschleiertes, und doch konnten sie blitzähnlich aufsprühen, wie in dem Augenblick, wo sie auf den jungen Grafen fielen. Man fragte sich vergebens, welcher Zauber denn eigentlich in diesen völlig unregelmäßig und nicht einmal edlen Zügen liege, aber er war nun einmal vorhanden, und wenn sich das Antlitz vollends beim Sprechen belebte, erschien es geistvoll und interessant in jeder Linie.
Raoul hatte sich rasch erhoben und war der jungen Frau entgegengeeilt, deren Hand er an seine Lippen zog.
»Ich komme heute nur im Fluge,« sagte er. »Ich wollte Sie doch wenigstens begrüßen, da ich von Henri höre, daß Sie im Begriff sind, auszufahren.«
»O, wir haben immerhin noch eine halbe Stunde Zeit,« versicherte Frau von Nérac mit einem Blick auf die Uhr. »Sie sehen ja, Henri ist noch nicht einmal im Gesellschaftsanzuge.«
»Es wird aber wohl Zeit sein, daß ich auch Toilette mache,« fiel Clermont ein. »Du entschuldigst, Raoul, ich bin sogleich wieder da.«
Er verließ das Zimmer, und Raoul schien durchaus nichts dagegen zu haben, daß er mit der Schwester seines Freundes allein blieb. Er nahm ihr gegenüber Platz, und schon in der nächsten Minute waren beide in ein äußerst lebhaftes Gespräch vertieft, welches sich im Grunde um gleichgültige und alltägliche Dinge drehte, und aus dem doch eine Fülle von Witz, von Geist und Uebermut wie ein Raketenfeuer aufsprühte. Frau von Nérac schien Meisterin in diesem Tone zu sein, und der junge Graf zeigte sich ihr darin völlig gewachsen. Die Wolke, die vorhin auf seiner Stirn lag, war bis auf die letzte Spur verschwunden; er lebte und webte jetzt in seinem Elemente.
Auf einmal aber nahm die Unterhaltung eine andre Wendung. Raoul erwähnte zufällig Schloß Steinrück, und der Name rief sofort ein halb spöttisches, halb boshaftes Lächeln auf die Lippen der jungen Frau.
»Ah, das Schloß in den Bergen!« sagte sie nachlässig. »Henri und ich hätten es gern kennen gelernt, leider verhinderte die – Erkrankung der Frau Gräfin unsern beabsichtigten Besuch.«
»Meine Mutter leidet öfter an diesen Nervenzufällen, die ganz plötzlich eintreten und sehr angreifend sind,« erklärte Raoul, rasch seine Verlegenheit bemeisternd. »Sie raubten ihr auch diesmal das Vergnügen, so liebe Gäste bei sich zu sehen.«
Frau von Nérac lächelte wieder, unendlich liebenswürdig und unendlich boshaft.
»Ich fürchte nur, daß diese Gäste selbst den ›Nervenanfall‹ hervorgerufen haben!«
»Gnädige Frau!«
»Oder vielleicht auch der General. Jedenfalls waren wir die unschuldige Ursache davon.«
»Sie lassen mich noch immer den unglücklichen Vorfall büßen,« sagte Raoul gepreßt. »Henri thut das nicht; er kennt die schwierige Stellung, in der ich und meine Mutter uns befinden, und trägt ihr Rechnung.«
»Das thue ich gleichfalls, ich habe die Gräfin trotzdem aufgesucht. Wir mußten uns freilich auf einige flüchtige Besuche beschränken, denn der Herr General fand sich auch später nicht zu einer Einladung veranlaßt. Seine Excellenz scheinen ein sehr absoluter Herrscher zu sein und haben jedenfalls einen sehr gehorsamen Enkel.«
»Was bleibt mir denn andres übrig, als zu gehorchen!« rief Raoul mit unterdrückter Heftigkeit. »Meine Mutter hat recht; sie wie ich stehen unter einem eisernen Willen, der gewohnt ist, rücksichtslos alles zu beugen und zu brechen, was sich nicht beugen will. Wenn Sie wüßten, wie demütigend es ist, immer noch bevormundet, examiniert, ausgescholten zu werden wie ein Knabe – ich habe es satt und übersatt!«
Er war in voller Erregung aufgesprungen, während Frau von Nérac, graziös zurückgelehnt, mit ihrem Fächer spielte und jetzt mit vollkommener Ruhe sagte:
»Nun, das wird ja ein Ende nehmen mit Ihrer Vermählung.«
»Ja – mit meiner Vermählung!« wiederholte der Graf langsam.
»Wie elegisch das klingt! Nehmen Sie sich in acht, daß Gräfin Hertha diesen Ton nicht hört, sie könnte ihn übelnehmen!«
Raoul antwortete nicht, aber er trat an den Sessel der jungen Frau und beugte sich zu ihr nieder.
»Heloise!«
Das Wort klang halb vorwurfsvoll, halb flehend, schien aber nicht verstanden zu werden, denn sie sah wie erstaunt zu ihm auf.
»Nun?«
»Sie wissen es doch am besten, was mir diese Verbindung ist, zu der ich von meiner Mutter gedrängt, überredet wurde, die ich jetzt schon als eine Fessel empfinde, noch ehe sie geschlossen ist.«
»Und die Sie trotzdem schließen werden.«
»Das ist noch die Frage!«
In Heloisens dunkeln Augen sprühte es wieder blitzartig, dann aber senkte sie die Wimpern und schien angelegentlich die Zeichnung ihres Fächers zu studieren, während sie in leichtem Tone sagte:
»Wollen Sie etwa eine Rebellion versuchen? Das würde einen Sturm ohnegleichen in Ihrer Familie geben, und die allerhöchste Ungnade wäre Ihnen gewiß.«
»Was frage ich danach, wenn mir nur ein Glück verheißen wird!« brach Raoul leidenschaftlich aus. »Um diesen Preis trotze ich selbst dem Zorne meines Großvaters. Ich glaubte es ja überwinden, vergessen zu können, als Hertha meine Braut wurde; da kam ich zurück, da sah ich Sie wieder, Heloise, und da fühlte ich, daß der alte Bann mich festhielt und ewig festhalten wird. – Sie schweigen? Haben Sie wirklich keine Antwort für mich?«
Sein Auge suchte das ihrige und fand es auch endlich; jetzt war der Blick der jungen Frau wieder weich und verschleiert, und ebenso weich klang ihre Stimme, als sie halblaut sagte:
»Sie sind ein Thor, Raoul!«
»Nennen Sie es Thorheit, wenn man glücklich zu sein verlangt?« rief er aufflammend. »Sie sind Witwe, Heloise, Sie sind frei, und wenn –«
Er konnte nicht vollenden, denn in demselben Augenblick wurde die Thür etwas geräuschvoll geöffnet, und Clermont trat wieder ein. Er schien weder das hastige Auffahren seines Freundes, noch den unwilligen Blick, den die Schwester ihm zusandte, zu bemerken, sondern rief im harmlosesten, heitersten Tone:
»Da bin ich! Nun können wir noch eine Viertelstunde plaudern, Raoul.«
Das Gesicht des jungen Grafen verriet, wie unwillkommen ihm diese Unterbrechung war, und in der übelsten Laune entgegnete er:
»Ich habe leider keine Minute mehr übrig, ich sagte es dir ja, daß ich nur im Fluge herkam. Gnädige Frau –«
Er wandte sich wieder an Heloise und schien noch eine leise Frage an sie richten zu wollen, aber plötzlich trat Clermont zwischen beide und legte scherzend, aber doch mit einem gewissen Nachdruck die Hand auf den Arm seiner Schwester.
»Nun, wenn du solche Eile hast, wollen wir dich nicht halten, nicht wahr, Heloise? Auf morgen denn!«
»Auf morgen!« wiederholte Raoul, ihm flüchtig die Hand reichend; er schien keine Lust zu haben, den Freund zum Vertrauten zu machen, sondern verabschiedete sich in gewohnter Weise und ging, wenn auch mit sichtbarer Verstimmung. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so wandte sich die junge Frau mit sehr ungnädiger Miene zu ihrem Bruder:
»Du kamst recht ungelegen, Henri!«
»Das sah ich,« versetzte er ruhig. »Ich hielt es aber für Zeit, der Scene ein Ende zu machen, denn du warst im Begriff, sie ernsthaft zu nehmen.«
Heloise warf mit trotziger Entschiedenheit den Kopf zurück.
»Und wenn ich das nun thäte! Würdest du mich vielleicht hindern?«
»Nein, aber ich würde dir klarmachen, daß du im Begriff bist, eine grenzenlose Thorheit zu begehen; weiter bedarf es hoffentlich nichts, um dich zur Vernunft zu bringen.«
»Meinst du? Du könntest dich doch irren,« sagte sie triumphierend. »Du unterschätzest meine Macht über Raoul. Ein Wort von mir, und er zerreißt seine Verlobung und bietet seiner ganzen Familie Trotz.«
»Und was dann?«
Die kühle, scharfe Frage machte dem Triumphe der jungen Frau ein Ende, sie blickte betroffen den Bruder an, der mit vollkommener Gelassenheit fortfuhr:
»Du kennst den General. Glaubst du, daß er seinem Enkel jemals einen solchen Schritt verzeihen, daß er eine Verbindung mit dir auch nur zulassen würde? Und gegen seinen Willen kann sich Raoul überhaupt nicht vermählen, da er gänzlich von ihm abhängt.«
»Er ist der Erbe seines Großvaters, und dieser steht bereits in den Siebzigen –«
»Ist aber eine eiserne Natur, mit einer stählernen Gesundheit,« fiel Clermont ein. »Er kann noch zehn Jahre leben, und du bist doch nicht thöricht genug, dir einzubilden, daß Raouls Leidenschaft oder deine Jugend so lange standhält? Du bist volle fünf Jahre älter als er.«
Frau von Nérac preßte heftig ihren Fächer zusammen.
»Henri, deine Rücksichtslosigkeit übersteigt bisweilen alle Begriffe!«
»Es thut mir leid, aber ich kann dir die Wahrheit nicht ersparen. Du kannst nicht mehr auf die Zukunft rechnen, dafür muß die Gegenwart wahrgenommen werden. In wenigen Jahren hast du überhaupt nicht mehr zu wählen.«
Heloise antwortete nicht, aber sie nahm eine äußerst gereizte Miene an. Die Erörterung beleidigte sie augenscheinlich, Clermont nahm jedoch keine Notiz davon; er behielt seine kühle, überlegene Ruhe.
»Und gesetzt auch, Raoul käme bald, käme jetzt schon in den Besitz seines Erbes, er wäre dennoch keine Partie für dich. Dem General erlaubt das hohe Einkommen seiner Charge auf anständigem Fuße zu leben, das fällt bei seinem Enkel fort. Schloß Steinrück ist ein Luxusbesitz, der vielleicht noch Zuschuß erfordert, jedenfalls nichts einbringt, und was die großen Herrschaften betrifft, an welche du wahrscheinlich denkst, so gehören sie der süddeutschen Linie. Die norddeutschen Vettern wußten recht gut, warum sie sämtlich in den Staats- und Armeedienst traten. Das Familiengut reicht allenfalls hin, einen braven Landedelmann zu ernähren, der mit Weib und Kind zeitlebens auf seiner Scholle sitzt und sich selbst mit der Bewirtschaftung plagt. Aber du und Raoul in einer solchen Lage – es wäre wirklich zum Lachen! Ueberdies liegt mir sehr viel daran, daß er vorläufig noch auf gutem Fuße mit dem General bleibt; durch ihn allein haben wir Fühlung mit dem Steinrückschen Hause.«
»Das wäre viel leichter durch den Marquis de Montigny zu erreichen,« sagte Heloise, noch immer in gereiztem Tone. »Er ist ja kürzlich an die hiesige Gesandtschaft versetzt worden und verkehrt selbstverständlich im Hause seiner Schwester.«
»Gewiß, aber du irrst sehr, wenn du glaubst, der stolze Montigny würde sich mit solchen Dingen abgeben. Er behandelt mich schon mit einer Nachlässigkeit, einer Nichtachtung, die mir oft genug das Blut ins Antlitz treibt. Er würde eher seine Stellung opfern, als sich herablassen – genug davon! Ich denke, du siehst es jetzt selbst ein, daß Raouls Verhältnisse deinen Ansprüchen auch nicht entfernt gewachsen sind; du hast an der Seite Néracs bewiesen, wie weit diese Ansprüche gehen.«
»Konnte ich dafür, daß er sein Vermögen bis auf den letzten Rest verschwendete?«
»Nun, du hast ihm redlich dabei geholfen, wir wollen das nicht weiter erörtern. Die Thatsache ist, daß wir ohne jedes Vermögen sind, und daß du auf eine glänzende Partie angewiesen bist. Dein Roman mit Raoul muß eben ein Roman bleiben, und du würdest sehr unklug handeln, wenn du ihn zu einem Bruche mit seiner Braut veranlaßtest. Solange der General lebt, ist eine Verbindung zwischen euch überhaupt eine Unmöglichkeit, später wäre sie eine Thorheit. Bedenke das und sei vernünftig!«
»Was gibt es denn?« fragte die junge Frau, sich ungeduldig umwendend, da in diesem Augenblick der Diener mit einer Karte eintrat. »Wir sind im Begriff auszufahren und können keinen Besuch annehmen.«
»Es ist ein Herr von der Gesandtschaft, er wünscht Herrn de Clermont nur auf einige Minuten zu sprechen,« entschuldigte sich der Diener.
»Ah, das ist etwas andres,« sagte Henri rasch, indem er die Karte nahm; plötzlich aber stutzte er und reichte sie seiner Schwester, die ebenfalls einen erstaunten Blick darauf warf.
»Montigny? Er kommt zu dir? Du sagtest ja soeben –«
»Ja, ich begreife es auch nicht, es muß irgend etwas Besonderes sein, was ihn herführt. Verlaß uns nur einige Minuten, Heloise, ich muß ihn empfangen.«
Die junge Frau zog sich zurück, und Clermont gab dem Diener einen Wink, den Besuch einzulassen, der gleich darauf erschien.
Der Marquis de Montigny war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, eine vornehme Erscheinung in stolzer Haltung, der freilich gerade in diesem Augenblick eine kalte, etwas absichtliche Gemessenheit zeigte; trotzdem kam ihm Henri mit der größten Liebenswürdigkeit entgegen.
»Ah, Herr Marquis, ich bin sehr erfreut, daß ich endlich das Vergnügen habe, Sie bei mir begrüßen zu dürfen. Darf ich bitten –«
Er lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen; aber Montigny blieb stehen und entgegnete kühl:
»Sie sind jedenfalls erstaunt, mich hier zu sehen, Herr von Clermont.«
»Das nicht, unsre Beziehungen als Standesgenossen und Landsleute –«
»Sind nur sehr allgemeiner Natur,« fiel ihm der Marquis schroff in die Rede. »Es ist eine durchaus persönliche Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt. Ich wünschte nicht, sie auf der Gesandtschaft zu erledigen.«
Der Ton war in der That sehr nachlässig. Clermont preßte die Lippen zusammen und ein drohender Blick schoß auf den Mann, der es wagte, ihn in seinem eigenen Hause so nichtachtend zu behandeln, aber er schwieg und erwartete das weitere.
»Ich bin soeben meinem Neffen begegnet,« nahm jener wieder das Wort. »Er kam jedenfalls von Ihnen.«
»Gewiß, er hat uns soeben verlassen.«
»Und Graf Steinrück verkehrt täglich in Ihrem Hause, wie ich höre?«
»Allerdings, wir sind eng befreundet.«
»Wirklich?« fragte der Marquis kalt. »Nun, Raoul ist jung und unerfahren; Ihnen möchte ich doch zu bedenken geben, daß diese ›Freundschaft‹ schwerlich der Mühe lohnen wird. Einem jungen, noch ganz unbedeutenden Beamten im Ministerium werden keine Staatsgeheimnisse anvertraut, man ist hier sehr vorsichtig in solchen Dingen.«
»Herr Marquis!« fuhr Clermont mit voller Heftigkeit auf.
»Herr von Clermont?«
»Ich habe schon öfter Gelegenheit gehabt, mich über den Ton zu beklagen, den Sie für gut finden, mir gegenüber anzuschlagen. Ich bitte um eine Aenderung desselben.«
Montigny zuckte die Achseln.
»Ich wüßte nicht, daß ich vor der Gesellschaft die nötigen Rücksichten gegen Sie vergessen hätte. Jetzt sind wir unter vier Augen, und da erlauben Sie mir wohl, offen zu sein. Ich habe erst kürzlich von den Beziehungen des Grafen Steinrück zu Ihrem Hause erfahren und weiß nicht, inwiefern Frau von Nérac daran beteiligt ist. Dem sei nun wie ihm wolle. Sie werden es begreifen, wenn ich die Bitte – oder vielmehr die Forderung – ausspreche, daß bei den Zwecken, die Sie beide verfolgen, der Graf aus dem Spiele bleibt. Suchen Sie sich andre Persönlichkeiten dazu, als den Sohn der Gräfin Hortense und den Neffen des Marquis de Montigny.«
Clermont war totenbleich geworden: seine Hand ballte sich, und seine Stimme klang heiser, als er entgegnete:
»Sie scheinen zu vergessen, daß wir Standesgenossen sind. Mein Name ist alt und edel wie der Ihrige, und ich fordere Achtung für denselben.«
Montigny trat einen Schritt zurück und sah ihn von oben bis unten an, dann sagte er schneidend:
»Ich achte Ihren Namen, Herr von Clermont – nicht Ihr Geschäft!«
Henri machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Beleidiger stürzen; mit halberstickter Stimme stieß er hervor:
»Das ist zuviel! Sie werden mir Genugthuung geben!«
»Nein!« sagte Montigny mit derselben eisigen Ruhe, wie vorhin.
»So werde ich Sie zu zwingen wissen –«
»Ich rate Ihnen, das nicht zu thun,« fiel der Marquis drohend ein, »Sie würden mich sonst zwingen, zu erklären, weshalb ich Ihnen die Genugthuung weigere. Das würde Sie in der Gesellschaft unmöglich machen und mir eine Verantwortung auferlegen, die ich nur im äußersten Notfall tragen würde. Ich wiederhole meine Forderung; wird sie nicht erfüllt, so öffne ich meiner Schwester und ihrem Sohne die Augen – ich denke, Sie lassen es nicht darauf ankommen!«
Er neigte das Haupt so stolz und verächtlich, daß der Gruß füglich für eine neue Beleidigung gelten konnte; dann wandte er sich um und ging. – Clermont stand unbeweglich und sah ihm nach.
Sein ganzer Körper bebte in mühsam unterdrückter Wut, und halblaut murmelte er: »Das sollst du mir büßen!«
Das Revalsche Haus bildete eine Art Mittelpunkt für die Geselligkeit der Hauptstadt, der gern und vielfach aufgesucht wurde. Man fand dort stets einen auserlesenen Kreis, in welchem neben dem Geburtsadel auch die Geistesaristokratie zahlreich vertreten war. Der Oberst und seine Gemahlin setzten ihren Stolz darein, die bedeutendsten Persönlichkeiten der Kunst und Wissenschaft zu den Freunden ihres Hauses zu zählen, und ihr Reichtum erlaubte ihnen, die Gastfreundschaft in großartigem Maßstabe zu üben.
Am heutigen Abend versammelte eine größere Festlichkeit noch einmal am Schluß des Winters den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie gestaltete sich hier, in den weitläufigen, prachtvollen Räumen, um vieles glänzender, als in dem verhältnismäßig einfachen Sommersitze zu Elmsdorf, und auch die Gäste waren weit zahlreicher. Die Gesellschaft wogte durch die lichterfüllten Zimmer und Säle; man begrüßte sich; man lachte und plauderte. Auf den Festlichkeiten des Revalschen Hauses lag immer eine besonders heitere, angeregte Stimmung. Das zeigte sich auch heute, und unter all den unbedeutenden und gleichgültigen Erscheinungen, die jede größere Versammlung aufweist, erblickte man auch manche schöne Frauengestalt, manchen ernsten Männerkopf. Es hatte sich in der That alles zusammengefunden, was irgendwie auf Bedeutung Anspruch machen konnte.
General Steinrück, den eine langjährige Freundschaft mit dem Obersten verband, war mit seiner ganzen Familie erschienen, und man hatte auch die Aufmerksamkeit gehabt, den Bruder der Gräfin Hortense, den Marquis von Montigny einzuladen.
Selbst Professor Wehlau, der sonst die großen Gesellschaften nicht liebte und sich ihnen so viel als möglich entzog, hatte diesmal eine Ausnahme gemacht und war mit seinen beiden Söhnen gekommen. Hans blieb jedoch vorläufig noch unsichtbar, er stellte die lebenden Bilder, die einen wesentlichen Teil des Festes ausmachten, und hatte die Regie der Vorstellung übernommen, während Michael seine Teilnahme daran bestimmt verweigert hatte und nur als einfacher Gast erschien.
»Auf ein Wort, lieber Rodenberg!« sagte der Oberst halblaut, indem er den Hauptmann auf einen Augenblick beiseite zog. »Haben Sie sich dem General gegenüber irgend etwas zu schulden kommen lassen?«
»Nein, Herr Oberst,« entgegnete Michael mit vollkommener Ruhe.
»Nicht? Es fiel mir auf, daß er an Ihnen vorüberging, ohne auch nur ein einziges Wort an Sie zu richten, mit einer sehr kühlen Erwiderung Ihres allerdings sehr gemessenen Grußes. Es ist also wirklich nichts vorgefallen?«
»Durchaus nichts. Ich habe den General ja überhaupt nur einmal gesprochen, als ich mich bei ihm meldete, und dann nur hin und wieder bei dienstlichen Veranlassungen gesehen; weshalb sollte er mir besondere Rücksicht erweisen?«
»Weil er Sie und Ihre Leistungen kennt. Er sprach sich lobend darüber aus, noch ehe er Sie persönlich kannte, und überdies weiß ich, daß meine Empfehlung bei ihm ins Gewicht fällt. Trotzdem hat er während des ganzen Winters so gut wie gar keine Notiz von Ihnen genommen, sogar die Einladung, mit der er sonst die ihm vorgestellten Offiziere beehrt, ist unterblieben, und wenn ich das Gespräch auf Sie bringe, sucht er entschieden abzulenken – mir ist das unerklärlich!«
»Die Erklärung wird wohl darin liegen, daß ich nicht das Glück habe, Seiner Excellenz zu gefallen,« sagte Michael achselzuckend, doch der Oberst schüttelte den Kopf.
»Der General hat keine Launen, und es wäre auch das erste Mal, daß er sich ungerecht zeigte gegen einen Offizier, von dessen Tüchtigkeit er überzeugt ist. Sie müssen durchaus etwas versehen haben.«
Rodenberg schwieg; er wollte lieber einen derartigen Vorwurf tragen, als noch länger dieser peinlichen Erörterung standhalten; zum Glück wurde der Oberst jetzt von andrer Seite in Anspruch genommen und gab ihn frei.
Inzwischen begrüßte Professor Wehlau die Gräfin Steinrück, die er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und wurde von ihr mit großer Freundlichkeit empfangen. Sie vergaß es nicht, daß er sich damals, bei dem Tode ihres Gatten, mitten aus einer wichtigen und dringenden Arbeit gerissen hatte, um an das Sterbebett des Grafen zu eilen. Auf seine Erkundigung nach ihrem Befinden klagte sie über ihre zunehmende Kränklichkeit und ließ den Wunsch durchblicken, seinen Rat in Anspruch zu nehmen, obwohl sie wußte, daß er sich längst von der ärztlichen Thätigkeit zurückgezogen hatte. Der Professor kam ihr artig entgegen mit der Erklärung, daß er ihr gegenüber stets eine Ausnahme mache und ganz zu ihrer Verfügung stehe, und beide waren im besten Einvernehmen, als die Dame unglücklicherweise ein verfängliches Thema berührte.
»Ich habe mich für morgen bei Ihrem Sohne angemeldet,« sagte sie. »Wie ich von ihm höre, ist sein großes Bild fast ganz vollendet und soll in der nächsten Woche ausgestellt werden. Ich möchte es aber vorher noch einmal sehen, da es doch bereits mein Eigentum ist. Sie wissen das vermutlich?«
»Ja,« entgegnete lakonisch der Professor, dessen gute Laune sofort dahin war. Hans hatte ihm bereits triumphierend verkündigt, daß sein Werk noch auf der Staffelei verkauft sei, und zwar an die Gräfin Steinrück, die jetzt unbefangen fragte:
»Nun, und was sagen Sie denn zu diesem Werke unsres jungen Künstlers?«
»Gar nichts! Ich habe es noch nicht angesehen,« gab Wehlau schroff zur Antwort.
»Wie? Das Atelier liegt ja doch im Garten Ihres Hauses.«
»Leider! Aber ich habe noch keinen Fuß hineingesetzt und werde es auch nicht thun.«
»Noch immer so unversöhnlich?« fragte die Gräfin vorwurfsvoll. »Ich gebe ja zu, daß der Streich, den Ihr Sohn Ihnen gespielt hat, ein wenig arg und übermütig war; aber Sie müssen sich doch nun wohl selbst überzeugt haben, daß eine derart begabte und veranlagte Natur für die kalte, ernste Wissenschaft nicht geschaffen ist.«
»Da haben Sie recht, Frau Gräfin!« fiel der Professor mit einem sehr herben Ton ein. »Der Junge taugt zu nichts Ernstem und Vernünftigem, so mag er denn meinetwegen Maler werden!«
»Denken Sie so niedrig von der Kunst? Ich dächte, sie wäre der Wissenschaft ebenbürtig.«
Wehlau zuckte die Achseln mit dem ganzen Hochmut des Gelehrten, der überhaupt keinen Beruf dem seinigen ebenbürtig hält, und dem die Kunst mehr oder minder für eine Spielerei gilt.
»Nun ja, es ist ja recht hübsch, Bilder in seinen Salons zu haben, das leugne ich gar nicht, und Sie haben ja in Berkheim eine ganze Galerie davon. Da wird wohl auch diese neueste Errungenschaft noch Platz finden.«
Die Gräfin sah ihn erstaunt an.
»Sie scheinen den Gegenstand des Gemäldes nicht zu kennen, es ist ja für die Kirche in Sankt Michael bestimmt.«
»Für die Kirche?« fragte Wehlau befremdet.
»Gewiß, da es ein Heiligenbild ist.«
Jetzt fuhr der Professor in die Höhe.
»Was? Mein Sohn malt Heiligenbilder?«
»Allerdings! Hat er Ihnen denn nie davon gesprochen?«
»Er wird sich hüten! Und Michael hat mir auch nichts davon gesagt, trotzdem er zweifellos um die Geschichte weiß.«
»Das ist wohl nicht anders möglich, denn Hauptmann Rodenberg hat Modell dazu gestanden.«
»Nun, das mag ein schöner Heiliger geworden sein!« brach der Professor mit grimmigem Lachen aus. »Der Michael paßt auch gerade dazu! Sind die Jungen denn alle beide verrückt geworden? – Entschuldigen Sie, Frau Gräfin, ich fühle, daß ich grob werde, aber das übersteigt alle Begriffe, das ist – darüber muß ich mir Gewißheit holen!«
Er machte eine kurze Verbeugung und schoß davon, so eilig, daß er fast eine junge Dame streifte, die halb verborgen in der Fensternische hinter dem Sitze der Frau Gräfin stand und ihm ganz erschrocken nachblickte.
»Kommst du endlich zum Vorschein, Gerlinde?« fragte die Gräfin, sich umwendend. »Kind, was soll daraus werden, wenn du dich beim Eintritt in die Gesellschaft sofort hinter die Fenstervorhänge flüchtest! Du hättest eine der Berühmtheiten der Residenz kennen gelernt, wenn du dich nur gezeigt hättest.«
Das junge Mädchen war in der That erst in diesem Augenblick hervorgetreten und fragte nun schüchtern:
»Dieser grimmige Herr, der die Heiligenbilder nicht leiden kann –«
»Ist einer der ersten Forscher der Gegenwart, eine gefeierte Größe der Wissenschaft, und deshalb muß man ihm schon einige Schroffheit hingehen lassen; er ist überhaupt eine etwas cholerische Natur.«
Gerlinde blickte noch immer ängstlich dem Professor nach. In der Unterredung, die sie mit angehört hatte, war kein Name genannt worden, der sie hätte aufklären können, und es kam auch jetzt nicht dazu; denn soeben wurde das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben, und die ganze Gesellschaft flutete nach dem Saale, wo sich die Bühne befand.
Hans Wehlau bedeckte sich an dem heutigen Abend mit Ruhm. Die Bilder, die er, nicht nach vorhandenen Gemälden, sondern nach seinen eigenen Ideen, an allbekannte Sagen und Dichtungen anknüpfend, gestellt hatte, machten seinem Künstlertalent alle Ehre. Jedes einzelne war eine Schöpfung an sich, und so oft sich der Vorhang hob, gab es eine neue Ueberraschung.
Der eigentliche Triumph des Abends fiel jedoch der Gräfin Hertha Steinrück zu, die im reichsten phantastischen Kostüm als Loreley auf einem Felsen thronte. Hans wußte sehr gut, warum er dies Bild als letztes gewählt hatte und die junge Gräfin allein in dem Rahmen erscheinen ließ, ohne ihr irgend einen Gefährten zu geben. Ein Ah! der Bewunderung ging wie ein Rauschen durch die Zuschauermenge bei diesem Anblick, der alles, was man bisher gesehen hatte, in den Schatten stellte. Es war in der That, als sei die Gestalt der Sage lebendig geworden mit ihrem ganzen berückenden Zauber.
Sogar Professor Wehlau vergaß für einige Minuten seinen Aerger, den er während der ganzen Vorstellung hatte aufsparen müssen, und war nur Anschauen und Bewunderung; als aber nun der Vorhang gefallen war und der jugendliche Regisseur mit sämtlichen Mitwirkenden im Saale erschien, da wallte ihm die Galle wieder auf, und versuchte er seines Sprößlings habhaft zu werden.
Das war jedoch nicht so leicht; denn Hans war der allgemein Gesuchte, Unentbehrliche; Hans wurde von allen Seiten mit Lob und Schmeicheleien überhäuft; er teilte den Triumph des Abends mit der Gräfin Hertha. Es verging fast eine Viertelstunde, ehe es dem Professor gelang, sich seiner zu bemächtigen.
»Ich habe mit dir zu sprechen,« sagte er mit unheilverkündender Miene und schleppte den jungen Mann in dieselbe Fensternische, wo vorhin Fräulein Gerlinde von Eberstein gestanden hatte.
»Mit Vergnügen, Papa,« versetzte Hans, der selbst vor Vergnügen strahlte. Das erhöhte noch den Aerger des Professors, der sich nicht lange mit der Vorrede aufhielt, sondern sofort auf das Ziel losging.
»Ist es wahr, was die Gräfin mir soeben mitteilt, daß das Bild, welches du gemalt hast, ein Heiligenbild ist?«
»Jawohl, Papa,« bestätigte der junge Künstler harmlos.
»Und ist es auch wahr, daß Michael dir dazu Modell gestanden hat?«
»Jawohl, Papa!«
»Also doch! Habt ihr denn alle beide den Verstand verloren? Michael als Heiliger! Das wird eine schöne Karikatur geworden sein.«
»Im Gegenteil, er nimmt sich höchst imponierend aus als zürnender Erzengel. Das Bild stellt nämlich Sankt Michael dar –«
»Meinetwegen den Satan!« unterbrach ihn Wehlau ingrimmig.
»Der ist auch dabei, sogar in Lebensgröße. Aber was geht dich denn eigentlich der Gegenstand meines Bildes an?«
»Was es mich angeht?« fuhr der Professor auf, der Mühe hatte, den gedämpften Ton beizubehalten, den die Rücksicht auf die Gesellschaft erforderte. »Du kennst doch meine Stellung der kirchlichen Partei gegenüber. Du weißt, daß ich deswegen von den Priestern in Acht und Bann gethan bin, und jetzt malst du Heiligenbilder für ihre Kirchen? Das leide ich nicht; das dulde ich nicht, ich verbiete es dir!«
»Das kannst du nicht, Papa,« sagte Hans kaltblütig. »Das Bild ist Eigentum der Gräfin und überdies schon in Sankt Michael angekündigt.«
»Wo es natürlich mit allem nur möglichen kirchlichen Pomp eingeführt wird.«
»Jawohl, Papa, am Sankt Michaelsfeste.«
»Hans, du bringst mich um mit deinem: Jawohl, Papa! Am Michaelsfeste also, wo das ganze Gebirgsvolk zusammenströmt – das wird ja immer schöner! Die klerikalen Zeitungen werden sich natürlich der Sache bemächtigen; sie werden spaltenlange Berichte bringen über die Prozession, die Messe, die Andächtigen, und mitten darin fortwährend den Namen Hans Wehlau, meinen Namen.«
»Bitte, das ist mein Name,« entgegnete der junge Künstler mit Nachdruck.
»Ich wollte, ich hätte dich Pankratius oder Blasius taufen lassen, damit die Welt doch einen Unterschied machte!« rief der Professor verzweiflungsvoll.
»Papa, warum bist du eigentlich so wütend?« fragte Hans mit Seelenruhe. »Im Grunde müßtest du mir doch dankbar sein, wenn ich mich der schönen Aufgabe widme, dich mit deinen Gegnern zu versöhnen, und überdies ist das Bild gar kein Heiligenbild im gewöhnlichen Sinne. Es ist der Kampf des Lichtes mit der Finsternis. Ich habe mir unter dem Erzengel natürlich die Aufklärung, die Wissenschaft, gedacht, unter dem Satan den Aberglauben. Das ist ganz dein Fall, Papa, das ist eigentlich nur die Verherrlichung deiner Lehre. Ich könnte das Bild in der Universität, in deinem Auditorium aufhängen; denn es ist dir so recht aus der Seele gemalt. Ich hoffe, du bist mir dankbar dafür und –«
»Junge, hör auf, du bringst mich noch ins Grab!« stöhnte der Professor, dem ganz schwül wurde bei dieser wunderbaren Beweisführung.
»Bewahre! Wir werden noch höchst vergnügt miteinander leben. Aber jetzt entschuldige mich, ich muß wieder in den Saal.«
Und damit kehrte der junge Mann ganz unbekümmert wieder in die Gesellschaft zurück und schickte sich an, Michael aufzusuchen.
In einem kleinen Kabinett, das unmittelbar an den Saal grenzte, aber augenblicklich völlig leer war, saß Fräulein von Eberstein ganz einsam und verlassen. Als der Vorhang gefallen war und die Gesellschaft wieder durcheinander wogte, wurde die Gräfin Steinrück von allen Seiten in Anspruch genommen. Jeder hatte ihr eine Artigkeit oder eine Schmeichelei über ihre schöne Tochter zu sagen, und dabei wurde Gerlinde von ihrer Beschützerin getrennt. Zaghaft und völlig fremd in diesem Kreise hatte sie sich in das Nebenzimmer geflüchtet und wartete nun hier geduldig, bis man sich ihrer erinnerte.
Das junge Mädchen befand sich erst seit acht Tagen in der Stadt. Der Freiherr hatte endlich dem Wunsche der Gräfin und ihrer wiederholten Vorstellung nachgegeben, daß man Gerlinde doch einmal in die Welt einführen, ihr doch wenigstens die Möglichkeit geben müsse, eine standesmäßige Partie zu machen. Die letztere Rücksicht trug denn auch endlich den Sieg davon über die Hartnäckigkeit des Vaters, dem sein leidender Zustand doch öfter den Gedanken an den Tod nahe legte. Er wußte sehr gut, daß in diesem Falle Berkheim die einzige Zuflucht seines verlassenen Kindes war, und so gütig und liebevoll die Gräfin es auch ausgesprochen hatte, daß sie nach der Vermählung ihrer Tochter Gerlinde als einen Ersatz dafür betrachten würde, so sträubte sich doch der Stolz des alten Eberstein gegen diese, wenn auch in zartester Form angebotene Gnade.
Aus diesem Grunde wäre ihm eine standesmäßige Partie für seine Tochter sehr erwünscht gewesen. Der Begriff »standesgemäß« lag für ihn natürlich einzig in einer möglichst langen und möglichst glänzenden Ahnentafel des künftigen Schwiegersohnes, und die streng aristokratischen Grundsätze der Steinrückschen Familie beruhigten ihn in dieser Hinsicht vollkommen. Er ließ Gerlinde daher noch einmal den ganzen Stammbaum und die gesamte Hauschronik aufsagen, ermahnte sie, nie zu vergessen, daß sie aus dem zehnten Jahrhundert stamme, und ließ sie mit der Kammerfrau, welche die Gräfin gesandt hatte, nach der Hauptstadt abreisen, wo sie noch einige Wochen mit der gräflichen Familie verweilen und dann dieselbe nach Berkheim begleiten sollte.
Das kleine Burgfräulein hatte natürlich keine Ahnung von diesen Zukunftsplänen und war nur halb widerstrebend dem Rufe gefolgt. Das glänzende Wogen und Treiben der Gesellschaft, in welches sie schon damals bei dem kurzen Besuche in Steinrück einen Blick gethan hatte, und das ihr hier nun vollends aufging, beängstigte sie mehr, als es sie erfreute. So saß sie denn auch jetzt schüchtern und ängstlich, wie ein verscheuchtes Vögelchen, auf dem Eckdiwan und war froh, einige Minuten allein zu sein.
Da wurde die Portiere, die den Eingang halb verhüllte, rasch zurückgeschoben, ein junger Mann, der jemand zu suchen schien, warf einen flüchtigen Blick in das Kabinett, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen.
»Fräulein von Eberstein!«
Gerlinde schrak zusammen beim Klange dieser Stimme; jetzt erkannte auch sie den Eintretenden.
»Herr von Wehlau-Wehlenberg!«
Hans war bereits an ihrer Seite. Er hatte keine Ahnung von ihrem Hiersein, von ihrer Anwesenheit in der Stadt überhaupt; seine Regiepflichten hielten ihn auf der Bühne fest, und als er den Saal betrat, hatte Gerlinde ihn bereits verlassen. Das Wiedersehen war eine Ueberraschung für beide Teile, aber keine unangenehme: das verrieten die leuchtenden Augen des jungen Mannes und das rosig erglühende Gesicht des kleinen Burgfräuleins.
»Ich glaubte Sie fern von hier, in Ihren heimischen Bergen,« sagte Hans, während er schleunigst an ihrer Seite Platz nahm. »Wie geht es Ihrem Herrn Vater?«
»Der arme Papa ist in diesem Winter sehr leidend gewesen,« berichtete Gerlinde. »Aber als das Frühjahr nahte, hat er sich wieder erholt, so daß ich ohne Besorgnis reisen konnte.«
»Und Muckerl? Wie befindet sich Muckerl?«
Die Nachrichten über Muckerls Befinden lauteten durchaus günstig; Muckerl war lustig und übermütig wie damals im Herbst, und seine junge Herrin verlor bei der Erzählung etwas von der anfänglichen Befangenheit; sie war so froh, von der Heimat sprechen zu können, und Hans störte sie darin nicht, seine Augen hafteten unverwandt auf ihrem Antlitz.
Er hatte soeben erst Gräfin Hertha gesehen im vollsten, siegreichen Glanze ihrer Schönheit, und sein Künstlerauge hatte sich förmlich berauscht an diesem Anblick. Hier sah er nur ein zartes, kindliches Wesen, das sich nicht entfernt mit jener Schönheit messen konnte, und dessen sanfte, braune – Rehaugen halb scheu, halb zutraulich zu ihm emporblickten. Trotzdem erschien ihm das kleine Dornröschen heute unsagbar lieblich in dem Anzuge von leichtem, zartrosigem Stoff, der nur mit einzelnen Gewinden von Heckenrosen geschmückt war und wie eine duftige Wolke die zierliche Gestalt umfloß.
Dieselben rosigen Blüten schimmerten auch in dem dunkeln Haar, das ebenso einfach geordnet war wie früher. Auf der ganzen Erscheinung lag etwas von der tauigen Frische einer Rosenknospe, die eben erst anfängt, sich dem Lichte zu erschließen.
»Und wie gefällt es Ihnen bei uns?« fragte Hans jetzt, als das junge Mädchen schwieg. »Nicht wahr, das Leben der Großstadt hat etwas Berauschendes, Blendendes für jeden, der es zum erstenmal kennen lernt?«
Gerlinde schüttelte das Köpfchen und sah vor sich nieder.
»Es gefällt mir gar nicht,« gestand sie. »Ich wäre weit lieber daheim bei meinem Papa und bei meinem Muckerl. Hier bin ich so fremd und verlassen unter all den fremden Menschen; sie verstehen mich gar nicht, und ich verstehe sie auch nicht.«
»Das werden Sie schon lernen,« tröstete der junge Mann.
Aber sie blieb bei ihrem Kopfschütteln. Das arme Kind hatte doch jetzt ein dunkles Bewußtsein seiner Lächerlichkeit und klagte in beweglichem Tone:
»Hier kümmern sie sich so wenig um ihre Stammbäume; niemand weiß, daß wir aus dem zehnten Jahrhundert stammen und unser Geschlecht das allerälteste ist. Wenn ich davon spreche, dann sagt Hertha: ›Gerlinde, hör auf, du machst dich lächerlich!‹ und die Tante sagt: ›Mein Kind, das paßt nicht hierher!‹ und Graf Raoul lächelt in einer so verletzenden Weise! Ich weiß es jetzt, er macht sich nur lustig über mich. Herr von Wehlau-Wehlenberg, nicht wahr, Sie finden das nicht lächerlich? Sie haben ja ein so lebhaft entwickeltes Standesgefühl, wie mein Papa sagt.«
Dem Ritter von Forschungstein wurde es doch etwas heiß bei diesem Appell an sein Standesgefühl. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er jetzt seinen Uebermut werde büßen müssen, denn sobald man in die Gesellschaft zurückkehrte und Gerlinde seinen Namen nannte, wurde sie aufgeklärt. Es gab nur ein Mittel, dem zuvorzukommen: er mußte es selbst thun.
»Wir haben in allen Adelsbüchern nachgeschlagen und haben auch endlich Ihr Geschlecht gefunden,« fuhr die junge Dame wichtig fort, und urplötzlich wieder in den Chronistenstil verfallend, begann sie die betreffende Stelle aufzusagen:
»Die Herren von Wehlenberg, ein altes reichsfreiherrliches Geschlecht, seit dem Jahre sechzehnhundertunddreiundvierzig ansässig in der Mark und reich begütert in den verschiedenen Provinzen; das derzeitige Haupt der Familie, Freiherr Friedrich von Wehlenberg auf Bernewitz –« Hier brach sie ebenso urplötzlich ab und setzte betrübt hinzu: »Den Forschungstein haben wir aber nicht gefunden.«
»Den konnten Sie auch nicht finden, denn er existiert nicht,« sagte Hans, der jetzt seinen Entschluß gefaßt hatte. »Sie und Ihr Herr Vater sind in einem Irrtum befangen, den ich allerdings verschuldet habe. Ich teilte Ihnen schon bei unserm ersten Zusammentreffen mit, daß ich ein Künstler sei.«
Gerlinde nickte ernsthaft.
»Ich habe es meinem Papa erzählt; er meint aber, das sei sehr unpassend für einen Mann von altem Adel.«
»Ich bin aber gar nicht von altem Adel, nicht einmal von neuem.«
Gerlinde sah ganz erschrocken aus und rückte eiligst seitwärts.
Der junge Mann bemerkte das, und seine Stimme gewann einen Anflug von Bitterkeit, als er weiter sprach:
»Ich habe Ihnen eine Beichte abzulegen, gnädiges Fräulein, und um Verzeihung für eine Täuschung zu bitten, die eigentlich nur der Notwehr entsprang. Ich kam an jenem Abend verirrt und durchnäßt nach der Ebersburg; es war weit und breit kein Obdach aufzufinden; die Dunkelheit brach herein und der Herr Baron versagte mir den Einlaß, weil ich nicht ›von Familie' war, wie er sich ausdrückte. Mir blieb nur die Wahl, wieder in das Unwetter hinauszugehen oder mich selbst in den Adelsstand zu erheben, und ich wählte das letztere. Jetzt aber bin ich Ihnen die Wahrheit schuldig: ich heiße einfach Hans Wehlau, ohne jedes mittelalterliche Beiwerk, und bin meines Zeichens Maler; mein Vater ist Professor an der hiesigen Universität, und wir sind beide bürgerlich vom Scheitel bis zur Sohle.«
Die Wirkung dieser Worte war eine niederschmetternde; das kleine Burgfräulein saß starr und steif da, wie gelähmt vor Entsetzen, und blickte den bürgerlichen Hans Wehlau an, der ihr so Fürchterliches berichtete. Endlich gewann sie die Sprache wieder, sie faltete die Hände und sagte mit einem tiefen Seufzer:
»Das ist schrecklich!«
Hans erhob sich und machte ihr eine sehr gemessene Verbeugung.
»Ich bekenne mich im vollsten Maße schuldig, aber ich glaubte doch nicht, daß die Wahrheit Sie so erschrecken würde. Jedenfalls habe ich nunmehr in Ihren Augen jede Bedeutung verloren und komme wohl Ihrem Wunsche zuvor, wenn ich Sie verlasse. Leben Sie wohl, Fräulein von Eberstein!«
Er wandte sich zum Gehen; jetzt aber fuhr Gerlinde auf und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn zurückhalten.
»Herr Wehlau!«
Er blieb stehen. »Gnädiges Fräulein?«
»Sind Sie nicht ein ganz klein wenig verwandt mit dem Freiherrn Friedrich Wehlenberg auf Bernewitz? Ich meine – nur eine ganz entfernte Verwandtschaft?«
»Auch nicht die allerentfernteste. Ich erfand in der Eile einen Namen, der ähnlich wie der meinige klang, und wußte nicht einmal, daß er in Wirklichkeit existierte.«
»Dann vergibt es Ihnen mein Papa niemals!« brach Gerlinde verzweiflungsvoll aus. »Sie dürfen nie wieder nach der Ebersburg kommen.«
»Wünschen Sie denn jetzt noch, daß ich dahin komme?« fragte Hans.
Sie schwieg, aber die hellen Thränen standen in ihren Augen, und das entwaffnete die Gereiztheit des jungen Mannes. Was konnte denn das arme Kind dafür, daß man es mit diesen Lächerlichkeiten genährt und erzogen hatte? Er kam langsam wieder näher und fragte halblaut:
»Sind Sie mir auch so böse wegen des tollen Streiches? Es war nicht so schlimm gemeint.«
Gerlinde antwortete nicht, aber sie ließ es geschehen, daß er leise ihre herabhängende Hand faßte, und sie hörte auch zu, als er in dem gleichen Tone fortfuhr:
»Herr von Eberstein hängt noch fest an den Traditionen seines Hauses, ich weiß es, und von ihm kann man auch nicht verlangen, daß er im Alter das aufgibt, was ihm der Inhalt seines Lebens gewesen ist; er gehört nun einmal mit Leib und Seele der Vergangenheit. Aber Sie, mein Fräulein, sollen erst in dies Leben eintreten, und im neunzehnten Jahrhundert muß man mit dem Zeitgeist rechnen und die Dinge nehmen, wie sie sind. Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen damals auf der Burgterrasse sagte?«
»Ja,« war die kaum hörbare Antwort.
Hans beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme hatte wieder den warmen, innigen Klang, den Gerlinde von jener sonnigen Morgenstunde her kannte.
»Auch um Sie haben Vorurteile und Traditionen eine Dornenhecke gezogen, die riesengroß aufgewachsen ist. Wollen Sie das ganze Leben darin verträumen? Vielleicht kommt bald die Zeit, wo Sie wählen müssen zwischen einer toten Vergangenheit und der hellen, sonnigen Zukunft – wählen Sie recht!«
Er zog die kleine bebende Hand, die noch immer in der seinigen lag, an seine Lippen, und es dauerte ziemlich lange, ehe er sie wieder frei gab; dann verneigte er sich und verließ das Gemach.
Die Gräfin Steinrück befand sich im Gespräch mit Herrn von Montigny, als Gerlinde endlich wieder an ihrer Seite erschien.
Der Marquis sprach seine Freude über die Verlobung seines Neffen aus, und es schien ihm ernst damit zu sein, ebenso wie mit der Bewunderung der jungen Braut, deren Anblick ihn heute wie jeden andern hingerissen hatte. Er wußte dieser Bewunderung den schmeichelhaftesten Ausdruck zu leihen. Als er sich endlich verabschiedete, um seine Schwester aufzusuchen, wandte sich die Gräfin zu dem jungen Mädchen:
»Wo bist du denn so lange gewesen, mein Kind?« fragte sie. »Ich hatte dich ganz aus den Augen verloren; vermutlich hast du wieder einsam in irgend einem Winkel gesessen. Wirst du es denn nie lernen, dich in der Gesellschaft zu bewegen wie die andern jungen Mädchen?«
Sie blickte mitleidig auf ihre Schutzbefohlene, die sonst dergleichen Vorwürfe schüchtern und schweigsam hinzunehmen pflegte; heute aber öffnete Fräulein Gerlinde die Lippen und that zur Verwunderung der Gräfin den weisheitsvollen Ausspruch:
»Ja, liebe Tante, ich werde es lernen, denn im neunzehnten Jahrhundert muß man dem Zeitgeist Rechnung tragen und die Dinge nehmen wie sie sind!« –
Der Marquis von Montigny hatte inzwischen seine Schwester gesucht und gefunden. Sie saß in einem der Nebenzimmer und war in lebhaftem Geplauder mit Frau von Nérac begriffen, während Henri von Clermont ebenso lebhaft daran teilnahm. Er schien die beiden Damen vortrefflich zu unterhalten, und sie lachten eben über eine seiner Bemerkungen, als Montigny herantrat.
»Da bist du ja, Leon!« rief ihm die Gräfin heiter entgegen.
»Ich brauche dir wohl unsre Landsleute nicht erst vorzustellen, du kennst sie jedenfalls schon von der Gesandtschaft her.«
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Clermonts Auge sprühte einen Moment lang im wildesten Hasse, dann aber verneigte er sich höflich; Montigny bewahrte seine kühle, vornehme Ruhe, als er den Gruß zurückgab und gelassen sagte:
»Jawohl – wir kennen einander!«
Er wandte sich zu Frau von Nérac, um auch sie zu begrüßen; es geschah mit vollendeter Artigkeit, aber trotzdem mußte etwas darin liegen, was die junge Frau verletzte, denn auch ihr Auge flammte auf, obwohl das liebenswürdigste Lächeln um ihre Lippen spielte.
»Gewiß kennen wir uns,« wiederholte sie. »Wir hatten sogar vorgestern das Vergnügen, den Herrn Marquis bei uns zu sehen.«
»Wie, Leon, das hast du ja gar nicht erwähnt, als ich gestern von Frau von Nérac sprach,« sagte Hortense unbefangen.
»Ich hatte nicht das Glück, die gnädige Frau zu sehen,« versetzte Montigny mit einer Kälte, die sogar seiner Schwester auffiel. »Allerdings galt mein Besuch ihrem Bruder, mit dem ich mich über eine Angelegenheit von Wichtigkeit zu verständigen wünschte. Sie haben meine Bitte doch nicht vergessen, Herr von Clermont?«
Die Hand Henris vergrub sich krampfhaft in die Polster des Sessels, an dem er stand, aber er erwiderte anscheinend ruhig:
»Nein, Herr Marquis – solche Dinge vergißt man nicht.«
»Das ist mir lieb. Ich darf also darauf rechnen, daß die Sache in der besprochenen Weise erledigt wird. – Darf ich dich bitten, Hortense? Man geht soeben zum Büffett.«
Er bot seiner Schwester den Arm, verneigte sich leicht gegen Frau von Nérac und führte die Gräfin fort. Als sie das Zimmer verließen, beugte sich Henri zu der jungen Frau nieder und sagte in einem Flüstertone, dem man die heftige Erregung anhörte:
»Was fällt dir ein, Heloise? Du weißt es ja, weshalb Montigny kam, du hast ja im Nebenzimmer die ganze Unterredung mit angehört; wie konntest du es wagen, das zu erwähnen!«
Die Lippen Heloises kräuselten sich verächtlich, aber auch ihre Stimme sank zum Flüstern herab, als sie erwiderte:
»Du scheinst diesen Montigny sehr zu fürchten.«
»Und du bist tollkühn genug, ihn zu reizen. Ich dächte, du hättest seine Worte so gut verstanden wie ich, und du kennst seine Drohungen –«
»Die er nicht ausführen wird.«
Henri warf einen Blick umher, das Zimmer war leer geworden, alles brach zum Büffett auf. Trotzdem behielt er den gedämpften Ton bei, als er weiter sprach:
»Vergißt du, daß wir in seinen Händen sind? Er braucht in der That nur ein Wort zu sprechen –«
»Er darf es aber nicht sprechen; es könnte ihm teuer zu stehen kommen. Wenn man uns preisgibt, gibt man sich selber preis und enthüllt Dinge, die geheim zu halten man alle Ursache hat. Du bist ein Thor, Henri, dich durch solche Drohungen schrecken zu lassen. Montigny muß schweigen, er setzt seine eigene Stellung aufs Spiel, wenn er die unsrige angreift. Man würde ihm eine derartige Enthüllung nie vergeben.«
»Gleichviel, so kann er uns beim Gesandten gefährlich werden und dort unsre Stellung untergraben, sie ist ohnehin unsicher genug. Wir müssen wenigstens scheinbar nachgeben und vorläufig auf die Besuche Raouls verzichten.«
»Glaubst du, daß er darauf verzichten wird?« fragte Heloise mit leisem Hohne.
»Das steht bei dir. Du brauchst nur eine Scene herbeizuführen, die ihn auf einige Zeit fernhält, und du wirst das thun.«
»Auf Befehl des Herrn von Montigny – nein!«
»Heloise, nimm Vernunft an! Du mußt hier deine persönliche Empfindlichkeit unterordnen, ich gebe dir das Beispiel dazu.«
»Ja, nur allzusehr! Ich hätte mir trotz alledem das nicht sagen lassen, was Montigny dir sagte und was du – hinnahmst.«
»Glaubst du, daß es ihm geschenkt ist?« fragte Clermont finster. »Ich warte meine Zeit ab. Wir werden noch abrechnen miteinander. – Doch jetzt komm zur Gesellschaft; es fällt auf, wenn wir uns so zurückziehen. Und noch eins! Der junge Wehlau wird dir seinen Adoptivbruder vorstellen, den Hauptmann Rodenberg.«
»So?« sagte Heloise gleichgültig, indem sie sich erhob und den Arm ihres Bruders nahm, der mit Betonung hinzusetzte:
»Vom Generalstab!«
»Ah so!«
»Sieh zu, daß du ihn bestimmst, Wehlau zu begleiten, wenn dieser zu uns kommt – ich rechne auf dich, Heloise.«
Die Geschwister traten Arm in Arm in den Büffettsaal, wo jetzt die ganze Gesellschaft versammelt war.
Hans Wehlau, der klüglich die Nähe seines Vaters mied, hatte sich Michaels bemächtigt und hörte mit augenscheinlichem Interesse einem kurzen Bericht desselben zu.
»Du hast sie also gesehen und gesprochen?« fragte er gespannt.
»Gesehen – ja, gesprochen – nein. Die Gräfin stellte mich allerdings dem Fräulein von Eberstein vor, aber ich erhielt keine Antwort auf meine Anrede, nur einen ganz unglaublichen Knicks. Es ist ja fast noch ein Kind und viel zu jung, um schon in die Gesellschaft geführt zu werden.«
»Mit sechzehn Jahren ist ein junges Mädchen kein Kind mehr,« sagte Hans ärgerlich. »Wie hat sie dir denn sonst gefallen?«
»Es ist ein sehr liebliches Gesichtchen. Von den Augen habe ich allerdings nichts gesehen, da sie hartnäckig gesenkt blieben, und es war auch nicht möglich, Rede und Antwort zu erhalten. Das kleine Burgfräulein, wie du sie nennst, scheint doch etwas beschränkter Natur zu sein.«
Der junge Künstler sah seinen Freund mit einem Blick der tiefsten Verachtung an.
»Michael, an deinem Geschmack habe ich stets gezweifelt; jetzt zweifle ich auch an deiner Urteilskraft. Beschränkt! Ich sage dir, Gerlinde von Eberstein ist klüger als die andern all zusammen.«
»Das ist eine etwas gewagte Behauptung,« sagte Michael trocken. »Du nimmst es ja gewaltig übel, wenn man ein Wort gegen die junge Dame sagt. Hast du wieder einmal Feuer gefangen. Zum wievieltenmal?«
»Davon ist diesmal gar keine Rede, mein Interesse an diesem holden kindlichen Geschöpf ist ein ganz selbstloses.«
»So?«
»Michael, ich verbitte mir dies spöttische: ›So?‹« erklärte Hans gereizt. »Aber ich vergesse ganz, dich Frau von Nérac vorzustellen, Clermont hat mich ausdrücklich darum ersucht.«
»Clermont? Ah so, der junge Franzose, dessen Haus du öfter besuchst! Du wolltest mich ja auch einmal veranlassen mitzugehen.«
»Und du schlugst es mir ab, wie gewöhnlich.«
»Weil ich weder Zeit noch Neigung zu einer so ausgebreiteten Bekanntschaft habe, zumal in diesem Winter. Mit dir ist das etwas andres, du bist Künstler. Kennst du diesen Clermont schon längere Zeit?«
»Nein, ich lernte ihn erst im Laufe des Winters kennen und wurde mit großer Liebenswürdigkeit eingeladen. Er und seine Schwester haben mich auch schon einigemal ersucht, dich mitzubringen.«
Rodenberg stutzte bei den letzten Worten.
»Mich? Das ist seltsam; sie kennen mich ja gar nicht.«
»Gleichviel, es wird wohl Höflichkeit gewesen sein. Jedenfalls wirst du in der jungen Witwe eine interessante Frau kennen lernen, vielleicht auch eine gefährliche Frau.«
»Wirklich?« Die Frage klang sehr gleichgültig.
»Nun selbstverständlich nicht für dich,« spottete Hans. »Deine Eisnatur hält ja sogar der schönen Gräfin Steinrück stand, ohne zu schmelzen, und Heloise von Nérac ist nicht einmal schön; trotzdem könnte sie ihr den Rang ablaufen an einer Stelle, die selbst die stolze Hertha empfindlich verletzen würde. Ich sprach dir doch einmal die Vermutung aus, daß Graf Raoul in ganz andern Banden liege, als in denen seiner Braut – er ist ein täglicher Gast im Clermontschen Hause.«
»Und du glaubst, daß Frau von Nérac Anteil daran hat?« fragte Michael plötzlich aufmerksam werdend.
»Sehr wahrscheinlich. Jedenfalls macht der Graf ihr mehr den Hof, als es sich mit seinen Bräutigamspflichten verträgt. Wie weit die Sache geht, kann ich natürlich nicht – still, da ist er selbst.«
Raoul kreuzte in der That soeben ihren Weg, er kannte Hans Wehlau nur oberflächlich, trotzdem blieb er jetzt stehen und begrüßte ihn in der verbindlichsten Weise. Es sah fast aus wie eine Absichtlichkeit, denn während er angelegentlich mit dem jungen Künstler sprach und ihm Komplimente über die so äußerst gelungene Vorstellung machte, übersah er den Hauptmann Rodenberg, der dicht daneben stand, so andauernd und beharrlich, daß die Absicht unverkennbar war. Michael beteiligte sich mit keiner Silbe an dem Gespräch und schien ganz ruhig zuzuhören, aber er sah dem Grafen, als dieser sich endlich entfernte, mit einem Blicke nach, der Hans veranlaßte, rasch, wie in erwachender Besorgnis, die Hand auf seinen Arm zu legen.
»Du wirst dieser Unart doch keine Wichtigkeit beilegen?« fragte er, während sie weiter gingen. »Zwischen dir und den Steinrück herrscht ja nun einmal Feindschaft –«
»Die hier einen sehr kindischen Ausdruck fand,« ergänzte Michael. »Graf Raoul müßte es doch nun nachgerade wissen, daß ich mir dergleichen nicht bieten lasse.«
»Was meinst du?« fragte Hans unruhig, aber er erhielt keine Antwort, denn sie standen bereits vor Clermont und seiner Schwester und er mußte seinen Freund vorstellen.
Beide empfingen den Hauptmann mit vollendeter Artigkeit, und Henri trat ihm sofort seinen Platz neben Heloise ab, während er selbst Hans in Beschlag nahm. Er stellte über ein Gemälde, das ihnen gegenüber an der Wand hing, eine Behauptung auf, welcher der junge Künstler mit Lebhaftigkeit widersprach, blieb aber hartnäckig bei seiner Meinung, und endlich traten beide vor das Bild, um dort den Streitpunkt zu entscheiden. Auf diese Weise erhielt Frau von Nérac die Freiheit, sich gänzlich ihrem Nachbar zu widmen, was sie auch mit großer Liebenswürdigkeit that.
Das Gespräch drehte sich anfangs noch um die Gesellschaft, und die junge Frau sagte unbefangen, während sie auf Hertha wies, die wieder den Mittelpunkt eines bewundernden Kreises bildete:
»Gräfin Steinrück ist wirklich eine Schönheit ersten Ranges! Allerdings etwas sehr souverän; die ganze Gesellschaft liegt ihr zu Füßen, und sie nimmt das mit der Miene einer Fürstin hin, die den schuldigen Tribut empfängt. Ich bin überzeugt, sie wird auch dem künftigen Gemahl gegenüber ganz Herrscherin sein.«
»Die Frage ist nur, ob der Gemahl sich dieser Herrschaft beugt,« warf Rodenberg ein.
»Einer schönen und geliebten Frau beugt sich der Mann immer! Sie scheinen freilich sehr unbeugsam zu sein.«
»Vielleicht bin ich nur ruhiger und nüchterner als andre; denn ich pflege selbst schönen Frauen gegenüber die Besinnung zu behalten. Ich weiß allerdings nicht, wie Graf Steinrück in dieser Hinsicht veranlagt ist. – Sie kennen ihn ja wohl näher, gnädige Frau?«
»Er ist ein Freund meines Bruders, und da sehe ich ihn gleichfalls öfter.«
Die Antwort klang ebenso harmlos wie die Frage; aber dabei kreuzten sich die Blicke der beiden, der eine kühl beobachtend, der andre aufblitzend, wie im erwachenden Mißtrauen. Das dauerte freilich nur einen Augenblick, dann lächelte Heloise und ging mit einer leichten Wendung auf andre Dinge über.
Sie sprach viel und lebhaft, während Michael, der zwar kein elegantes, aber ein fließendes Französisch sprach, sich mehr auf das Zuhören beschränkte. Es war ein heiteres, zwangloses Geplauder, das alle möglichen Gegenstände berührte und bei keinem verweilte, aber trotzdem zu fesseln wußte. Politik, Tagesneuigkeiten, Kunst und Gesellschaft: das alles wurde nur wie im Fluge gestreift, aber es waren sehr originelle Streiflichter, die darauf fielen, ein Blitzen und Sprühen von Gedanken und Bemerkungen, das etwas Blendendes hatte. Frau von Nérac war offenbar eine Meisterin in der Unterhaltungskunst.
Rodenberg hatte es auf den ersten Blick bemerkt, daß sie nicht schön war, aber nach fünf Minuten hatte er bereits begriffen, daß diese Frau der Schönheit nicht bedurfte, um gefährlich zu sein; schon in ihrer bloßen Nähe lag etwas Bestrickendes. Sie lehnte in ihrem Sessel mit jener unnachahmlichen Grazie, die ihr eigen war, und spielte nachlässig mit dem Fächer – eine äußerst pikante Erscheinung, die durch die geschmackvollste Toilette noch mehr gehoben wurde. Ihr Lächeln war von bezaubernder Anmut, und das Aufsprühen der dunkeln Augen hatte einen fast dämonischen Reiz. Leider schien Hauptmann Rodenberg gegen diesen Zauber gänzlich unempfindlich zu sein; so oft die sprühenden Augen den seinigen begegneten, sie trafen immer wieder den kalten, forschenden Blick, und Heloise fühlte, daß es kein Blick der Bewunderung war.
Endlich hatten Clermont und Hans ihre Debatte beendigt und traten wieder heran. Die Unterhaltung wurde noch einige Minuten lang gemeinschaftlich geführt, dann empfahlen sich die beiden jungen Männer, und Henri nahm wieder den Platz neben seiner Schwester ein.
»Nun, was ist's mit diesem Rodenberg?« fragte er. »Er war sehr einsilbig, soviel ich bemerken konnte. Du sprachst ja fast allein, vermutlich ein schwerfälliger, pedantischer Deutscher.«
Heloise zuckte kaum merklich die Achseln.
»Den Mann gib auf, Henri, ein für allemal. Der ist starr und unzugänglich wie ein Fels.«
Um die Lippen Clermonts spielte ein halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln.
»Unzugänglich ist niemand; man muß nur die rechte Seite zu finden wissen, und gerade die Schroffsten sind am leichtesten zu nehmen.«
»Diesmal könntest du dich doch täuschen. Dieser Rodenberg hat etwas in der Haltung und in den Zügen, was mich unwillkürlich an den General Steinrück erinnert. Es ist dasselbe Eiserne, Unerbittliche, derselbe kalte, stahlharte Blick, wie bei dem alten Grafen – mir ist er unerträglich!«
»Mir ist er wichtig!« sagte Henri trocken. »Hast du ihn eingeladen?«
»Nein, und er würde auch schwerlich kommen; es müßte denn sein, um zu beobachten, wie er während der ganzen Unterredung beobachtet hat. Ich habe nicht Lust, diesen Augen noch einmal Rede zu stehen. Nimm dich in acht vor ihnen, Henri!«
Clermont schien kein besonderes Gewicht auf diese Warnung zu legen, denn er sah, daß Heloise übler Laune war, und kannte auch den Grund davon. Sie ertrug es nun einmal nicht, durch irgend jemand in Schatten gestellt zu werden, und am heutigen Abend erblich jedes andre Gestirn vor der strahlenden Sonne, die alles in ihren Bannkreis zog. Gräfin Hertha Steinrück feierte Triumphe, die selbst die verwöhnteste Eitelkeit befriedigen mußten. Wo sie nur erschien, umdrängte man sie von allen Seiten; wohin sie sich wandte, folgten ihr die bewundernden Blicke, und sie nahm die Huldigungen, die man ihr verschwenderisch zu Füßen legte, in der That wie eine Fürstin hin, gnädig, aber höchst souverän.
Raoul befand sich fast unausgesetzt an der Seite seiner Braut. Es schien ihm heute doch voll und ganz zum Bewußtsein zu kommen, wie hoch der Preis war, den er mühelos gewonnen, und die alte Neigung, die schon seit den Knabenjahren in ihm wurzelte, flammte wieder hell auf. Es war einer jener Wendepunkte, wo es in Herthas Hand lag, ihn zurückzugewinnen. Ein warmer Blick aus ihren Augen, ein herzliches Wort aus ihrem Munde hätte ihn vielleicht jenen gefährlichen Banden entrissen und eine Brücke über die Kluft geschlagen, die sich mit jedem Tage weiter zwischen ihnen öffnete. Aber auch heute lag wieder in ihrem Wesen jene für Fremde unmerkliche, eisige Abwehr, die ihn bis in das Innerste verletzte und erkältete und seinen ganzen Trotz wachrief.
Augenblicklich befand sich die junge Gräfin nicht im Saale, sondern im Zimmer der Frau von Reval. Sie war, wie alle bei der Vorstellung Mitwirkenden, im Kostüm geblieben, und der Schleier, der von ihrem Haupte niederfloß, hatte sich gelöst. Er mußte von neuem befestigt werden, wobei ihr die Jungfer der Frau vom Hause hilfreiche Hand leistete. Die Sache war bald wieder in Ordnung gebracht, und das Mädchen entlassen, aber Hertha, anstatt in die Gesellschaft zurückzukehren, saß noch im Armsessel und blickte träumend vor sich hin.
Die Wohnzimmer lagen auf der andern Seite des Hauses, getrennt von den Gesellschaftsräumen, und wurden heute nicht benutzt; sie waren nur matt erleuchtet, eine stille, angenehme Zuflucht für jemand, der sich auf einige Minuten der Hitze und dem Gewühl entziehen wollte, und die junge Gräfin schien in der That ermüdet zu sein, ermüdet von Triumphen und Huldigungen.
Der heutige Abend war ja nur ein einziger fortgesetzter Triumph für sie gewesen, sie beugten sich alle der siegreichen Macht ihrer Schönheit, alle – bis auf einen! Nur einer wagte es, ihr zu trotzen; nur der allein behielt mitten im Sturme der Leidenschaft Kraft und Besinnung genug, das Netz zu zerreißen und sich »freie Bahn« zu schaffen. War er doch auch heute so fremd und kalt an sie herangetreten, hatte so artig und eisig mit ihr gesprochen, als sei jene Stunde in Sankt Michael für ihn ausgelöscht und vergessen.
Um so lebhafter stand sie in Herthas Erinnerung. Der Zorn wallte noch immer heiß in ihr auf, wenn sie daran dachte, daß jener Mann es gewagt hatte, ihr ins Gesicht zu sagen, daß er sie für eine Kokette halte, daß er die Liebe zu ihr als etwas Unwürdiges aus seinem Herzen reißen werde. Aber mitten in der Empörung darüber erhob sich eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß er recht gehabt! Ja, sie hatte ein rücksichtsloses Spiel mit ihm getrieben. Es war der Uebermut einer vom Glück verwöhnten, von einer schwachen Mutter zur schrankenlosen Willkür erzogenen Natur, die es nur zu früh gelernt hatte, die Huldigungen der Männerwelt zu verachten oder mit ihnen zu spielen. Freilich, damals war sie noch frei gewesen! Das stolze, eigenwillige Mädchen erkannte jenen Familienbeschluß, der über ihre Hand verfügte, nicht als eine Fessel an; es stand ja bei ihr, ›nein‹ zu sagen, wenn die Entscheidung an sie herantrat. Statt dessen hatte sie Raoul ihr Jawort gegeben, freiwillig, ohne Zwang, allerdings auch ohne Liebe! Aber gab es denn überhaupt eine Liebe? Hatte sie es nicht selbst gesehen, daß eine große, glühende Leidenschaft, welche die ganze Seele eines Mannes auszufüllen schien, sterben und vergehen konnte in wenig Monaten?
Das Oeffnen der Thür des Nebenzimmers und nahende Schritte weckten Hertha aus ihrer Träumerei und mahnten sie, daß es Zeit sei, zu der Gesellschaft zurückzukehren. Sie wollte sich erheben, als eine Stimme, die nebenan ertönte, sie an ihren Platz fesselte.
»Hier sind wir ungestört! Ich werde Sie nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, Graf Steinrück.«
»Sie wünschten mich allein zu sprechen, Hauptmann Rodenberg, ich stehe Ihnen zu Diensten,« ließ sich jetzt auch Raouls Stimme vernehmen.
Hertha konnte die Eingetretenen nicht sehen und auch von ihnen nicht gesehen werden, aber sie lauschte betroffen. Was sie hörte, klang seltsam schroff und feindselig.
Im Nebenzimmer standen sich in der That die beiden jungen Männer gegenüber mit einer Feindseligkeit, die keiner mehr zu verbergen sich bemühte, aber Raoul war erregt und gereizt, Michael kalt und ruhig, und das gab ihm von vornherein eine Ueberlegenheit.
»Es handelt sich nur um eine Frage,« nahm er wieder das Wort. »War es Zufall oder Absicht, daß Sie mich vorhin, als Sie mit meinem Freunde sprachen, so vollständig – übersahen?«
Um die Lippen des jungen Grafen spielte ein sehr verletzendes Lächeln, und noch verletzender war sein Ton, als er fragte:
»Legen Sie so großen Wert darauf, von mir bemerkt zu werden?«
»Nicht den mindesten! Ich geize überhaupt nicht nach der Ehre, mit Ihnen bekannt zu sein. Da wir uns aber nun doch einmal kennen, so fordere ich, daß Sie mir gegenüber die Formen der guten Gesellschaft beobachten, die Ihnen allerdings nicht geläufig zu sein scheinen.«
»Herr Hauptmann Rodenberg!« fuhr Raoul drohend auf.
»Herr Graf Steinrück?« klang es eisig zurück.
»Sie scheinen mich zwingen zu wollen, von Beziehungen Notiz zu nehmen, die nun einmal für mich nicht vorhanden sind. Auf diese Weise werden Sie nichts erreichen.«
Michael zuckte verächtlich die Achseln.
»Ich glaube hinreichend gezeigt zu haben, welchen Wert ich auf die Beziehungen zu der gräflich Steinrückschen Familie lege. Fragen Sie den General danach, er wird es Ihnen bestätigen. Aber ich bin nicht gesonnen, noch länger ein Benehmen zu dulden, das von Anfang an darauf berechnet war, mich zu beleidigen. Werden Sie dies Benehmen in Zukunft ändern? Ja oder nein?«
Die Frage klang so gebieterisch, daß Raoul ihn halb empört, halb verwundert anschaute.
»Das muß man gestehen, Herr Hauptmann, im Hochmut leisten Sie das Aeußerste.«
»Es gibt Persönlichkeiten, die man nur mit ihren eigenen Waffen schlagen kann. Darf ich jetzt um Antwort bitten?«
»Ich bin es nicht gewöhnt, auf einen solchen Ton Rede zu stehen,« sagte der junge Graf stolz. »Am wenigsten dem Sohne eines Abenteurers und einer Mutter, die –«
Er kam nicht weiter, denn Michael stand bereits an seiner Seite, totenbleich, aber mit flammenden Augen.
»Schweigen Sie, Graf Steinrück!« herrschte er ihm zu. »Ein Wort gegen meine Mutter, ein einziges, und ich vergesse mich und schlage Sie zu Boden!«
»Mit den Fäusten?« fragte Raoul höhnisch. »Ich bin an ritterliche Waffen gewöhnt.«
Die Mahnung fruchtete, Rodenberg trat langsam einen Schritt zurück und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.
»Und doch sind Sie unritterlich genug, den Gegner mit Beleidigungen zu reizen, die kein Mann erträgt!« sagte er bitter. »Ich habe diesen Ton nicht angeschlagen, aber ich sehe, daß wir die Unterredung für jetzt endigen müssen. Sie werden morgen weiteres von mir hören.«
»Ich warte darauf,« versetzte Raoul, und mit einem kurzen, hochmütigen Gruße wandte er sich um und verließ das Zimmer.
Michael blieb zurück, er wollte nicht zugleich mit dem Grafen den Saal betreten. Finster, mit verschränkten Armen ging er einigemal auf und nieder und warf sich dann in einen Sessel. Hertha war inzwischen regungslos auf ihrem Platz geblieben, aber ihr anfängliches Befremden hatte sich zur Besorgnis und endlich zum Schrecken gesteigert, als sie den Ausgang des Gespräches vernahm.
Jetzt erhob sie sich und trat bleich, aber mit voller Entschlossenheit auf die Schwelle.
»Herr Hauptmann Rodenberg!« sagte sie leise.
Er sprang auf, überrascht, erschrocken, denn in dem Moment, wo er sie erblickte, fiel es ihm auch ein, daß die Thür des Nebenzimmers offen geblieben war und daß man dort jedes Wort hören konnte – weder er noch Raoul hatten daran gedacht.
»Sie hier, Gräfin Steinrück?« fragte er hastig. »Ich glaubte Sie doch soeben noch im Saale gesehen zu haben.«
»Nein, ich verweilte dort,« – sie deutete auf das Nebengemach – »und ich bin dadurch unfreiwillige Zeugin einer Unterredung geworden, die wohl nicht für fremde Ohren bestimmt war.«
Michael biß sich auf die Lippen. Also doch! Indessen er faßte sich und entgegnete in möglichst leichtem Tone:
»Wir glaubten allerdings allein zu sein, aber die Sache ist ja von keiner Bedeutung. Ich hatte eine kleine Streitigkeit mit dem Grafen Steinrück, die in etwas erregter Weise zwischen uns erörtert wurde, aber zweifellos ausgeglichen wird.«
»Ist das wirklich so zweifellos? Das Ende des Gespräches schien eher das Gegenteil anzudeuten.«
Rodenberg vermied es, ihrem Blick zu begegnen, aber er erwiderte gelassen:
»Unsre Unterredung war in der That auf dem Punkte, sehr gereizt zu werden, deshalb brachen wir sie ab. Wir werden die Sache morgen ruhiger verhandeln.«
»Mit den Waffen in der Hand – ich weiß es!«
»Sie hegen ganz unnötige Besorgnisse, davon ist gar keine Rede.«
»Halten Sie mich für so unerfahren, daß ich die Bedeutung Ihrer letzten Worte nicht verstehe?« fragte Hertha gepreßt, indem sie dicht vor ihn hintrat. »Es war eine Herausforderung und die Annahme derselben.«
Michael schwieg; er sah, daß hier jedes Leugnen nutzlos war.
»Es war ein sehr unglücklicher Zufall, der gerade Sie zur Zeugin unsres Gespräches machte,« sagte er endlich. »Dem Grafen wird das sicher ebenso peinlich sein wie mir, aber es ist nun einmal nicht zu ändern, so wenig wie die Sache selbst, und ich darf Sie daher wohl in unser beider Namen um Schweigen ersuchen. Vergessen Sie, was nicht für Ihre Kenntnis bestimmt war!«
»Vergessen! Wenn ich weiß, daß Sie beide sich morgen vielleicht schon auf Tod und Leben gegenüberstehen!« brach Hertha mit vollster Heftigkeit aus.
Rodenberg sah sie befremdet, fragend an.
»Wir beide? Für Sie kann doch nur die Gefahr Ihres Verlobten in Frage kommen. Es ist natürlich, daß Sie für ihn zittern; mein Tod wird die Gräfin Steinrück sehr gleichgültig lassen, sie muß ihn hier sogar wünschen, denn er bedeutet das Leben für meinen Gegner.«
Hertha antwortete nicht, sie hob nur langsam das Auge zu ihm empor. Es war ein seltsamer Blick, es lag etwas darin wie Vorwurf, und mehr noch: eine bebende Angst. Aber Michael verstand es nicht mehr, in diesen Augen zu lesen, oder wollte es nicht verstehen.
Sollte das alte Spiel von neuem beginnen? Er richtete sich plötzlich auf, und seine Haltung wurde so starr und unzugänglich, als stehe er bereits vor seinem Gegner.
Die junge Gräfin las vielleicht jenen Gedanken von seiner Stirn, denn eine dunkle Röte überflutete ihr Gesicht; sie trat hastig einige Schritte seitwärts, als wolle sie auch äußerlich einen Raum zwischen sich und ihn legen, und auch ihre Haltung wurde kalt und gemessen.
»Ist denn kein Ausgleich möglich?« fragte sie, das Beben ihrer Stimme beherrschend.
»Nein!«
»Auch nicht, wenn ich mit meinem Verlobten spreche, wenn ich ihn bitte –«
»Sie werden nichts erreichen. Der Graf wird sich schwerlich bestimmen lassen, seine Worte zurückzunehmen, und darauf müßte ich unter allen Umständen bestehen. Ich bitte Sie überhaupt, den Gedanken aufzugeben, solche Dinge vertragen nun einmal nicht die Einmischung einer Frau.«
»Aber eine Frau war doch die Veranlassung dazu, und jetzt will man ihr nicht einmal den Versuch zur Versöhnung gestatten!« sagte Hertha mit Bitterkeit. »Sehen Sie mich nicht so verwundert, so fragend an; ich weiß es, weshalb Sie den Streit gesucht haben, wie auch der Vorwand dazu lauten mag. Sie vergessen nie eine Beleidigung, Herr Hauptmann Rodenberg! Nie, das habe ich erfahren, und Sie rächen sich jetzt auf solche Weise dafür.«
Michaels Gesicht verfinsterte sich und seine Antwort klang in voller Schärfe:
»Halten Sie mich in der That einer so niedrigen, gemeinen Rache fähig? Das glaube ich doch nicht verdient zu haben!«
»Und doch hassen Sie Raoul? Ich kenne den Grund nur zu gut –«
»Sie kennen ihn nicht!« fiel er mit vollem Nachdruck ein.
»Sie täuschen sich vollständig darüber. Ich habe überhaupt den Streit nicht gesucht; wenn ich mich veranlaßt sah, den Grafen zur Rede zu stellen, so hat mich sein Benehmen dazu gezwungen. Von ihm ging die Feindseligkeit aus, die ich allerdings teile, aber sie wurzelt in Verhältnissen, von denen Sie keine Ahnung haben, und hat nichts zu thun mit jener Stunde in Sankt Michael!«
Es war das erste Mal, daß er diesen Punkt wieder berührte, aber der herbe Ton, die schroffe Haltung milderten sich nicht, als er jenen Namen aussprach – sie schienen nur noch härter zu werden. Nur seine Augen hafteten auf der jungen Gräfin, die heute in der That den Namen rechtfertigte, den Hans ihr gegeben: eine Märchenfee, vom Märchenglanze umflossen!
Sie stand im vollen Lichtkreise der Lampe, die das Zimmer erhellte, und in diesem Lichte schimmerte das halb mittelalterliche, halb phantastische Prachtgewand, ein kostbares Gemisch von schwerem Goldbrokat, leuchtendem Sammet und zarten, duftigen Schleiergeweben, in dem es überall funkelte und blitzte von Steinen und Geschmeide. Aber von dem Haupte, das ein sternartiges Diadem schmückte, floß noch ein andrer Schleier nieder und gleißte mit rotgoldigem Schimmer: das gelöste Haar, das heute frei und fessellos über die Schultern wogte, in seiner ganzen natürlichen Pracht, es wob sich wie ein Glorienschein um das schöne Antlitz.
Michael stand außerhalb des Lichtkreises, des Bannkreises, aber sein Blick flog doch hinüber. So hatte er sie vorhin im lebenden Bilde gesehen, auf steilem, unzugänglichem Felsen, und so stand sie jetzt vor ihm, die berückende Zaubergestalt der Sage. Auch ihm war ja einst das süße, verlockende Lied erklungen, und was ihn schreckte, das war nicht der Fels und nicht die Gefahr des Sturzes, das war der Preis selbst gewesen! Er wollte nicht Leben und Heil wagen, um endlich vielleicht – einen Dämon zu umarmen. Mit der ganzen Kraft seines Willens hatte er sich losgerissen. Und doch ergriff ihn auch in diesem Augenblick wieder jenes Gefühl, das schon damals aufgewacht war, als sei der eine selige Augenblick es wert, Leben und Heil und Zukunft dafür hinzuwerfen, als gelte der zerschmetternde Sturz ihm nichts, wenn er nur ein einziges Mal ein grenzenloses Glück in die Arme schließen und es sein nennen dürfe!
Aber während es so in seinem Innern wühlte und stürmte, stand er wie festgewurzelt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Hertha sah nur die kalte, unbewegte Miene, hörte nur die herben Worte, und so klang ihre Antwort in dem gleichen Tone:
»Seit jener Stunde sind wir Feinde geworden! Leugnen Sie es nicht, Herr Hauptmann Rodenberg! Wir brauchen uns die Wahrheit nicht zu verhehlen. Von allem, was Sie mir damals so maßlos entgegenschleuderten, ist nur der Haß geblieben, das hätte ich bedenken sollen, als ich Ihre Versöhnlichkeit anrief – auf die Großmut eines erbitterten Feindes darf man nicht rechnen.«
Michael ließ den Vorwurf schweigend über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe dagegen zu verteidigen; nur seine Hand krampfte sich zusammen, und auf seinem Gesicht lag wieder die Blässe, die bei ihm stets das Zeichen der äußersten Erregung war.
»Und gegen wen sollte ich denn Großmut üben?« fragte er endlich. »Soll ich vielleicht den Grafen im Kampfe schonen, während ich weiß, daß ich von ihm die vollste Schonungslosigkeit zu erwarten habe? Zum Märtyrer bin ich nicht geschaffen! Aber noch einmal, Gräfin Steinrück, Sie thun mir unrecht, wenn Sie mich einer kleinlichen, niedrigen Rachsucht zeihen. Geben Sie mir die Möglichkeit eines Ausgleiches, der sich mit meiner Ehre verträgt, und ich werde ihn annehmen. Aber ich glaube nicht an diese Möglichkeit, und wie der Ausgang der Sache auch schließlich sein mag: uns würde sie zu Feinden machen, wenn wir es nicht schon wären – und vielleicht ist es am besten so!«
Er warf noch einen Blick auf den hellen Lichtkreis, auf das schöne, schleierumwobene Haupt, dann verneigte er sich und ging.
Das Fest hatte inzwischen seinen Fortgang genommen, aber einzelne der Gäste brachen schon auf, und unter diesen die gräflich Steinrücksche Familie, die stets spät zu kommen und früh zu gehen pflegte. Die Damen verabschiedeten sich bereits von Frau von Reval, als Michael, der eben allein durch den Saal schritt, plötzlich aufgehalten wurde.
»Hauptmann Rodenberg – auf ein Wort!«
Der junge Offizier wandte sich überrascht um; es war das erste Mal, daß General Steinrück ihn heute einer Anrede würdigte.
»Ich stehe zu Befehl, Excellenz!«
Der Graf gab ihm einen Wink und trat mit ihm seitwärts.
»Ich wünsche Sie zu sprechen,« sagte er kurz. »Morgen früh um neun Uhr in meiner Wohnung!«
Michael stutzte; er wußte nicht, wie er diese Worte nehmen sollte.
»Ist das ein dienstlicher Befehl, Excellenz?«
»Sehen Sie es als solchen an. Jedenfalls lasse ich keine Verhinderung gelten, welcher Art sie auch sei, und rechne unbedingt auf Ihr Erscheinen.«
Rodenberg verneigte sich schweigend. Der General trat noch näher an ihn heran und senkte die Stimme, während er fortfuhr:
»Und wenn Sie zufällig in der Lage sein sollten, einen Entschluß fassen zu müssen, so ersuche ich Sie, das bis nach unsrer Unterredung aufzuschieben. Ich werde sorgen, daß das Gleiche auch von andrer Seite geschieht.«
»Mein Entschluß ist bereits gefaßt,« sagte Michael kalt, »aber ich werde gehorchen.«
»Gut! Auf morgen denn!«
Steinrück wandte sich ab, und der Hauptmann sah, daß er zu der Gräfin Hertha trat, die ihm rasch entgegenkam. Sie hatte also gesprochen, sie hatte, als ihre Einmischung versagte, eine andre Autorität angerufen, die man nun allerdings nicht so ohne weiteres zurückweisen durfte; aber der Ausdruck in Michaels Gesicht, als ihm der Zusammenhang klar wurde, verriet, daß er nicht gesonnen sei, sich dieser Autorität zu beugen.
Der General hatte inzwischen den Arm der jungen Dame genommen und führte sie zu ihrer Mutter; sie sprach keine Frage aus, aber ihre Augen fragten um so angstvoller.
»Sei ruhig, mein Kind!« sagte er halblaut. »Ich habe die Sache in die Hand genommen. Du brauchst dich nicht mehr zu ängstigen. Aber bedenke, daß sie ein Geheimnis bleiben muß; ich fordere dein unverbrüchliches Schweigen.«
Hertha atmete tief auf und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich danke dir, Onkel Michael! Ich vertraue dir unbedingt – Du wirst es nicht zu einem Unglück kommen lassen!«
Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Gräfin Hortense hatte sich soeben erhoben und saß beim Frühstück, als der Marquis von Montigny eintrat.
»Ich bin heute ein früher Gast, aber ich mußte gerade an deinem Hause vorüber,« sagte er, die Schwester begrüßend. »Du bist allein? Ich glaubte, das Frühstück würde hier gemeinschaftlich eingenommen.«
Hortense zuckte die Achseln.
»Davon kann keine Rede sein; mein Schwiegervater pflegt mit Tagesanbruch aufzustehen und hat gewöhnlich schon drei Arbeitsstunden hinter sich, wenn ich mich erhebe. Es ist etwas Entsetzliches um solche eiserne, rastlose Naturen, die niemals das Bedürfnis nach Ruhe empfinden.«
»Ich halte das eher für beneidenswert, zumal im Alter des Generals,« warf Montigny ein.
»Für ihn vielleicht, aber er glaubt das auch von andern verlangen zu können. Unser Hauswesen ist ja auch wie ein Kasernendienst geregelt, alles geht nach militärischem Kommando und wehe dem Diener, der sich eine Unpünktlichkeit zu schulden kommen läßt. Hat es doch einen förmlichen Kampf gekostet, mir wenigstens meine persönliche Freiheit zu wahren; ich habe das endlich durchgesetzt, aber der arme Raoul wird mit vollster Strenge gezwungen, sich diesen pedantischen Vorschriften zu fügen.«
»Ich fürchte, daß die Strenge bisweilen notwendig ist; Raoul ist schwer zu bändigen,« sagte Montigny trocken. »Du als Frau und Mutter weißt freilich nicht viel von Dingen, die ich schon während meines kurzen Aufenthaltes erfahren habe und die dem General jedenfalls bekannt sind. Es ist Zeit, daß dein Sohn vermählt wird, Hortense!«
»Nun ja, er mag seinem Jugendübermut die Zügel schießen lassen,« lenkte die Gräfin ein. »Er ist nun einmal eine feurige, überschäumende Natur, die sich gegen Schranken und Regeln aufbäumt. Die Ehe wird all diesen Tollheiten ein Ende machen, und Hertha ist schön genug, ihn auf die Dauer zu fesseln. Du bewunderst sie ja auch, sie hat gestern wieder einen grenzenlosen Triumph gefeiert.«
»Und mit vollem Rechte! Beiläufig, Hortense, die Clermonts waren ja auch gestern in der Gesellschaft. Haben sie Beziehungen zu Herrn von Reval?«
»Soviel ich weiß, hat Raoul sie dort eingeführt. Es gehört ja zum guten Ton, Zutritt im Revalschen Hause zu haben.«
»So! – Raoul ist wohl sehr befreundet mit dem jungen Clermont?«
»Gewiß, und ich würde ihn und seine Schwester gern bei uns sehen, aber – da hast du wieder einen Beweis von der unglaublichen Tyrannei meines Schwiegervaters – er verbietet es mir geradezu! Ich habe schon einmal eine Einladung, die ich auf Raouls Bitte erließ, unter dem nichtigsten Vorwande zurücknehmen müssen; er besteht mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit darauf, die Clermonts aus unserm Kreise auszuschließen.«
Der Marquis war auf einmal aufmerksam geworden.
»Das ist seltsam! Welche Gründe hat dir der General angegeben?«
»Gründe? Dazu läßt man sich mir gegenüber nicht herab. Man befiehlt oder verbietet einfach, und ich muß mich fügen.«
»Ich glaube, du thust in diesem Falle gut, dich zu fügen,« sagte Montigny in einem so bedeutungsvollen Ton, daß die Schwester ihn überrascht und fragend ansah.
»Weshalb? Hast du auch irgend etwas gegen die Clermonts? Sie scheinen allerdings nicht in glänzenden Vermögensumständen zu sein; aber sie kamen mit den besten Empfehlungen hierher und gehören einer altadligen Familie Frankreichs an.«
»Gewiß, das ist zweifellos.«
»Nun also – ich begreife dich nicht, Leon!«
Der Marquis rückte seinen Sessel um einige Schritte näher und legte seine Hand auf den Arm der Gräfin.
»Hortense, ich bin gezwungen, dir die Augen zu öffnen, denn du scheinst in diesem Punkte völlig blind zu sein. – Du wünschest doch die Verbindung Raouls mit Hertha?«
»Ob ich sie wünsche? Ich setze ja meine ganzen Hoffnungen darauf! Diese Heirat bedeutet für Raoul Glanz und Reichtum und für mich die langersehnte Freiheit. Wie kannst du nur so fragen!«
»Nun, dann rate ich dir, den Verkehr deines Sohnes mit den Clermonts nicht zu begünstigen. Wie ich erfahren habe, ist er täglich dort, und – Frau von Nérac ist Witwe.«
Hortense stutzte, dann aber flog ein ungläubiges Lächeln über ihre Züge.
»Heloise von Nérac? Sie ist ja nicht einmal schön.«
»Aber gefährlich!«
»Doch nicht für Hertha! Eine Braut wie sie kann jeden Mann festhalten.«
»Wenn sie es will, gewiß, sie scheint aber nicht zu wollen. Die junge Gräfin hat ein ganz eigentümliches Wesen ihrem Verlobten gegenüber; sie ist sehr abweisend – Frau von Nérac wird um so entgegenkommender sein.«
»Unmöglich!« rief Hortense aus, in der jetzt auch die Besorgnis erwachte. »Raouls Vermählung steht ja in kurzem bevor, er wird doch nicht die Tollheit, den Wahnsinn begehen, seine ganze Zukunft zu opfern, um dieser Heloise willen!«
»Er wäre nicht der erste, den die Leidenschaft unzurechnungsfähig macht. Doch ich habe dich nur warnen, nicht schrecken wollen. Ich hege vorläufig nur eine Vermutung und an dir ist es, dir Gewißheit zu verschaffen. Aber sei vorsichtig, ein falscher Schritt könnte alles verderben.«
Die Gräfin war bleich geworden, die angedeutete Möglichkeit war für sie allerdings schreckhaft, denn sie bedeutete das Scheitern all ihrer Pläne.
»Du hast recht, das könnte ein Unheil geben,« sagte sie hastig. »Ich danke dir für den Wink, er soll befolgt werden.«
Montigny erhob sich, durchaus befriedigt von dem Erfolg der Unterredung. Der Diplomat hatte seinen Zweck erreicht, ohne irgend etwas von dem preiszugeben, was er nicht preisgeben durfte. Er wußte, Hortense würde jetzt ihre ganze mütterliche Autorität einsetzen, ihren Sohn jenem Umgange zu entreißen, und er glaubte hinreichend dafür gesorgt zu haben, daß Clermont sich in diese Notwendigkeit fügte. Ob die ausgesprochene Vermutung gegründet war oder nicht, kümmerte den Marquis sehr wenig; ihm kam es nur darauf an, seinen Neffen aus Beziehungen zu lösen, deren Verderblichkeit er am besten kannte. Er empfahl seiner Schwester noch einmal Vorsicht in der Behandlung der Angelegenheit und verabschiedete sich dann. –
Inzwischen fand drüben im Arbeitszimmer des Generals eine andre Unterredung statt, deren Verlauf aber stürmischer war. Steinrück hatte sich gestern abend darauf beschränkt, seinem Enkel vorläufig jeden weiteren Schritt zu verbieten. Erst heute morgen hatte er ihn rufen lassen, und nun ergoß sich die volle Schale seines Zornes über den jungen Grafen.
»Hast du denn jede Ueberlegung, jede Besinnung verloren, daß du gerade mit Michael Rodenberg Streit suchen mußtest?« zürnte er. »Wenn es noch eine in der Aufregung, in der Uebereilung gefallene Beleidigung wäre, so ließe es sich begreifen; aber nach allem, was ich von Hertha hörte, scheint dein Benehmen ein planmäßiges und absichtliches gewesen zu sein.«
»Es war der unglücklichste Zufall von der Welt, daß Hertha im Nebenzimmer war!« sagte Raoul, der finster und trotzig vor seinem Großvater stand, »und daß sie nun vollends auf den Einfall kam, es dir mitzuteilen –«
»War das Vernünftigste und Klügste, was sie überhaupt thun konnte,« unterbrach ihn der Graf. »Eine andre hätte dich mit Thränen und Bitten bestürmt, ohne irgend etwas zu erreichen, denn nachdem die Sache einmal so weit gediehen ist, kannst du allein nicht mehr zurücktreten. Deine Braut wandte sich an mich, in der ganz richtigen Voraussetzung, daß ich allein hier eingreifen könne, und das wird auch geschehen. Das Duell darf unter keinen Umständen stattfinden.«
»Es ist eine Ehrensache, das lasse ich mir nicht verbieten,« rief Raoul heftig, »und überdies ist es meine persönliche Angelegenheit.«
»Das ist sie leider nicht, sonst würde ich ihr den Lauf lassen, denn du bist kein Knabe mehr und mußt für deine Handlungen einstehen. Dieser Streit aber berührt unsre Familieninteressen in der peinlichsten Weise. Hast du denn nicht daran gedacht, daß dadurch Beziehungen aufgedeckt werden, die wir um jeden Preis geheim halten wollen?«
Der junge Graf sah betroffen seinen Großvater an. Daran hatte er allerdings nicht gedacht, und etwas kleinlaut erwiderte er:
»Ich glaube nicht, daß das die notwendige Folge ist.«
»Es ist aber die wahrscheinliche Folge! Das Duell, wie es auch ausfallen mag, richtet die allgemeine Aufmerksamkeit auf euch beide; man wird fragen und forschen, was denn der Grund gewesen ist, und da wird der Name Rodenberg die nötige Erklärung liefern. Bis jetzt galt er für bedeutungslos, weil er mehrfach in der Armee vorkommt, und weil der Hauptmann uns als ein völlig Fremder gegenüberstand; jetzt wird man bald herausfinden, daß er das nicht ist, und sobald von seiten seiner Kameraden oder Vorgesetzten eine ernste Frage an ihn ergeht, so muß er die Wahrheit zugestehen. Du warst damals außer dir bei der bloßen Möglichkeit einer solchen Entdeckung, und nun bist du es, der sie mutwillig hervorruft.«
Die Wahrheit dieser Vorwürfe war so einleuchtend, daß selbst Raoul sich ihr nicht verschließen konnte.
»Ich habe vielleicht die ganze Tragweite nicht ermessen,« sagte er unmutig. »Man ist nicht immer Herr seiner Stimmung, und mich reizte der Hochmut dieses Rodenberg. Thut er doch, als wäre er völlig meinesgleichen.«
»Ich fürchte, der Hochmut war auf deiner Seite,« sagte Steinrück streng. »Ich habe schon einmal eine Probe davon erhalten, als du hier mit Michael zusammentrafest; er mußte dich damals geradezu zwingen, ihm die einfachste Höflichkeit zu erweisen, und das wird sich wohl bei euern späteren Begegnungen wiederholt haben. Hast du die Herausforderung veranlaßt oder nicht? Antworte!«
Raoul umging die Antwort, er erwiderte nur in wegwerfendem Tone:
»Konnte ich denn wissen, daß der Sohn des Abenteurers so empfindlich war im Punkte der Ehre? Er hat auch gerade Ursache dazu!«
»Hauptmann Rodenberg ist einer meiner Offiziere, und an seiner Ehre haftet kein Makel; dessen wirst du dich gefälligst erinnern!« Die Stimme des Generals war von schneidender Schärfe. »Ich bitte mir aus, daß keine neue Beleidigung fällt, die den Ausgleich vollends unmöglich macht. Es ist gleich neun Uhr, dein Gegner kann jede Minute kommen.«
»Hierher? Du erwartest ihn?«
»Gewiß, die Sache kann nur persönlich zwischen uns verhandelt werden. Er nahm widerwillig genug meinen Befehl an, aber er wird kommen, und dir ist es jetzt hoffentlich klar geworden, daß und warum dies Duell vermieden werden muß. Du warst der Beleidiger, du wirst dich zur Nachgiebigkeit bequemen müssen.«
»Das thue ich nie!« fuhr Raoul auf. »Eher mag das Aeußerste geschehen.«
»Ich will aber das Aeußerste nicht,« sagte Steinrück kalt. »Ist Hauptmann Rodenberg da? Er soll eintreten.«
Die letzten Worte waren an den Diener gerichtet, der soeben Rodenberg melden wollte, und wenige Minuten später stand Michael im Zimmer.
Er grüßte den General, schien aber die Anwesenheit des jungen Grafen nicht zu bemerken, der seitwärts getreten war und ihm einen feindseligen Blick zuwarf.
»Ich habe Sie hergerufen, um die Angelegenheit zwischen Ihnen und meinem Enkel zu ordnen,« nahm der General das Wort. »Dazu ist aber vor allen Dingen notwendig, daß Sie wenigstens Notiz voneinander nehmen. Ich bitte darum!«
Die Bitte klang wie ein Befehl, der auch befolgt wurde; die beiden jungen Männer grüßten sich, freilich in sehr gezwungener Weise, und dann erst fuhr der General fort:
»Hauptmann Rodenberg, ich habe erfahren – durch wen, thut hier nichts zur Sache –, daß Sie sich von dem Grafen Steinrück für beleidigt erachten und dafür Genugthuung zu fordern beabsichtigen. Ist dem so?«
»Ja, Excellenz,« lautete die ruhige Antwort.
»Der Graf ist selbstverständlich jeden Augenblick bereit, Ihnen diese Genugthuung zu geben, aber ich kann und werde das nicht zulassen. In jeder andern Ehrensache würde ich die Regelungen den Beteiligten selbst überlassen; bei dem eigentümlichen Verhältnis aber, in dem Sie zu unsrer Familie stehen, darf ein solcher Ausgang nicht stattfinden; Sie müssen das selbst einsehen.«
»Das sehe ich keineswegs ein. Wir haben dieses Verhältnis bisher so vollständig vergessen, daß wir auch jetzt nicht verpflichtet sind, ihm Rechnung zu tragen, und Fremde sind überhaupt nicht davon unterrichtet.«
»Es wird aber kein Geheimnis bleiben, wenn es zu einer blutigen Entscheidung kommt. Das Publikum und die Presse pflegen alsdann die persönlichen Verhältnisse der Betreffenden einer sehr eingehenden Kritik zu unterziehen und werden die wahren Beziehungen bald genug herausfinden.«
Michael zuckte die Achseln.
»Das hätte Graf Steinrück bedenken sollen, als er eine solche Entscheidung veranlaßte. Jetzt ist es zu spät für solche Rücksichten.«
»Das ist es nicht! Es soll und muß ein Ausgleich gefunden werden. Ich wiederhole Ihnen, was ich soeben meinem Enkel erklärt habe: das Duell darf unter keiner Bedingung stattfinden.«
Er sprach diese Worte mit vollster Entschiedenheit; sie brachten aber gar keine Wirkung hervor, denn die Antwort Rodenbergs war noch entschiedener:
»Im Punkte der Ehre lasse ich mir keine Vorschriften machen, Excellenz. Wenn der Graf einen derartigen Befehl annimmt – ich thue es nicht!«
Raoul blickte ihn halb empört, halb erstaunt an. Er, der Sohn und Erbe des Hauses, hätte es nie gewagt, seinem Großvater so gegenüber zu treten, und dieser hätte auch niemals eine solche offene Verweigerung des Gehorsams geduldet; von Rodenberg nahm er sie hin. Wohl zog sich seine Stirn drohend zusammen, aber er ließ sich trotzdem zu einer Art von Erklärung herab.
»Ich bin Soldat wie Sie und werde Ihnen nichts zumuten, was sich nicht mit Ihrer Ehre verträgt. – Sie glauben Ihrerseits keine Veranlassung zu dem Streite gegeben zu haben?«
»Nein.«
Steinrück wandte sich zu seinem Enkel.
»Raoul, ich wünsche jetzt deine Erklärung zu hören, ob das, was der Hauptmann als Beleidigung auffaßt, zufällig oder absichtlich geschah. Im ersteren Falle ist die Sache erledigt.«
Raoul kannte diesen Ton hinreichend, aber er dachte trotzdem nicht daran, den Ausweg zu benutzen, den man ihm ließ. Er hatte allerdings beleidigen wollen, und nur die Furcht vor dem Großvater hielt ihn ab, das offen auszusprechen; so hüllte er sich denn in ein trotziges Schweigen.
»Es war also Absicht!« sagte der General langsam, aber mit schwerer Betonung. »Nun wohl, so wirst du diese Beleidigung, diese mutwillige Beleidigung hier in meiner Gegenwart zurücknehmen.«
»Nimmermehr!« brach Raoul aus. »Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Ich gehe schon bis an die weiteste Grenze des Gehorsams, wenn ich mir vor meinem Gegner dergleichen sagen lasse; eine Demütigung lasse ich mir nicht auferlegen. – Hauptmann Rodenberg, ich stehe zu Ihrer Verfügung, bestimmen Sie Zeit und Ort!«
»Das wird noch heute geschehen,« erklärte Michael. »Ich darf mich jetzt wohl entfernen, Excellenz?«
»Nein, du bleibst!« rief Steinrück, indem er plötzlich den fremden Ton fallen ließ und zwischen die jungen Männer trat.
»Ich muß euch beide wohl an etwas erinnern, was ihr vergessen zu haben scheint. Ihr seid Blutsverwandte, und diese Blutsverwandtschaft will ich respektiert wissen. Fremde mögen in solchem Falle zur Pistole greifen; die Söhne meiner beiden Kinder haben ihren Streit auf andre Weise zu schlichten.«
»Großvater!« – »Excellenz!« klang es mit dem gleichen Trotz von den Lippen Raouls und Michaels, aber der General herrschte ihnen gebieterisch zu:
»Schweigt, sage ich, und hört mich an! Es ist eine Familiensache, die nicht vor die Oeffentlichkeit gehört, sondern einzig vor den Chef des Hauses. Ich bin eure höchste Instanz, ich allein habe zu entscheiden, und ich verbiete euch die Entscheidung mit den Waffen. Es ist mein Blut, das in euch beiden fließt, das ihr jetzt vergießen wollt, und das wird nicht geschehen. Ich fordere als Haupt der Familie, als Großvater unbedingten Gehorsam von meinen Enkelsöhnen!«
Sein Ton und seine Haltung hatten etwas so Gebietendes, daß jeder Widerstand unmöglich schien; das alte Familienhaupt der Steinrück wußte sich Gehorsam zu schaffen. In der That widersprach auch keiner der beiden jungen Männer. Raoul stand starr und gänzlich fassungslos vor dem, was er hörte. »Meine beiden Enkelsöhne!« und »mein Blut, das in euch beiden fließt!« – das war ja eine Anerkennung in aller Form!
Auch Michael fühlte das, denn es blitzte auf in seinem Auge, aber es war kein freudiger Strahl, der daraus hervorbrach, und seine Haltung wurde nur noch unbeugsamer, doch er schwieg.
»Raoul ist der Schuldige, er gesteht es selbst zu,« nahm Steinrück wieder das Wort. »In seinem Namen erkläre ich dir, Michael, daß er jede etwa gefallene Beleidigung zurücknimmt: dagegen wirst du die schroffe Haltung aufgeben, die auch eine Art von Herausforderung ist. Genügt dir das?«
»Wenn Graf Raoul es mir bestätigt – ja.«
»Das wird er thun – Raoul!«
Der junge Graf antwortete nicht. Er stand da mit zusammengebissenen Zähnen, die Hand geballt, und schleuderte einen Blick des tiefsten Hasses auf seinen Gegner. Er war augenscheinlich entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten.
»Nun?« fragte dieser nach einer Pause. »Ich warte.«
»Nein – ich will nicht!« stieß Raoul hervor, aber jetzt trat der General dicht vor ihn hin, das Auge fest auf ihn geheftet.
»Du mußt wollen, denn du bist im Unrecht! Wäre Michael der Beleidiger gewesen, so würde ich das Gleiche von ihm verlangen, und er würde gehorchen: da du es warst, so ist es an dir, nachzugeben. Ich verlange nur ein einfaches Ja, nichts weiter. Wirst du meine Worte bestätigen oder nicht?«
Raoul machte noch einen letzten Versuch, seinen Trotz zu behaupten, aber jene flammenden Augen schienen ihn förmlich zu bannen. Es war das einzige, womit ihn der Großvater überhaupt zwingen konnte, aber er zwang ihn in der That damit. Noch einige Sekunden vergingen, dann preßte der junge Graf das verlangte Ja heraus, halb erstickt und fast unverständlich, aber es war gesprochen.
Michael neigte das Haupt.
»Ich ziehe meine Forderung zurück – die Sache ist erledigt.«
Steinrück atmete tief auf. Er war doch nicht so ganz eisern, als er sich zeigte. Das Aufatmen verriet, was er ausgestanden hatte bei dem Gedanken, seine beiden Enkel könnten sich wirklich auf Tod und Leben gegenüberstehen.
»Und nun reicht euch die Hände,« fuhr er in milderem Tone fort, »und erinnert euch künftig daran, daß ihr eines Stammes seid, wenn das auch nach wie vor der Welt ein Geheimnis bleiben muß.«
Jetzt aber war Raouls Gehorsam zu Ende: mit einem Ausdruck offener Feindseligkeit wandte er sich ab, doch auch Michael trat zurück.
»Ich bitte um Verzeihung, Excellenz, aber in diesem Punkte werden Sie uns wohl volle Freiheit lassen müssen,« sagte er kalt. »Der Graf ist nicht zur Versöhnung geneigt, wie ich sehe, ich bin es auch nicht. Ich gebe ihm mein Wort darauf, daß ich keinen Anlaß zu einer Erneuerung des Streites geben werde – die verwandtschaftlichen Beziehungen lehnen wir wohl beide mit der gleichen Entschiedenheit ab.«
»Weshalb? Ist dir meine Anerkennung noch nicht genug?« fuhr Steinrück gereizt auf.
»Eine Anerkennung, die nur der Notfall, die Furcht vor einem öffentlichen Skandal erzwang, die geheim bleiben soll, weil man sich ihrer vor der Welt schämt – nein, die genügt mir nicht! Graf Raoul hat sein Leben lang die Liebe des Großvaters genossen; er kann sich auch seinem Befehle beugen; ich war von jeher der Ausgestoßene, Verleugnete; in jeder Stunde meines Lebens habe ich es fühlen müssen, daß die Steinrück mich als unebenbürtig betrachten und mich aus ihrem Kreise bannen, wie sie das noch heute thun. Hier an dieser Stelle haben Sie es mir erklärt, daß unsre Blutsverwandtschaft für Sie nicht vorhanden ist, und ich gebe Ihnen jetzt das Wort zurück. Ich will nicht heimlich als eine Gnade empfangen, was mein Recht ist vor aller Welt, und wenn Sie mich als Ihren Enkel anerkennen, ich werde Sie nie Großvater nennen – nie! – Und jetzt bitte ich den General Graf Steinrück, mich zu entlassen.«
Er sprach das mit voller Selbstbeherrschung; aber seine Stimme hatte einen Klang, daß Raoul überrascht und betroffen aufblickte, denn er glaubte seinen Großvater zu hören. Die Aehnlichkeit war in der That noch nie so deutlich hervorgetreten wie jetzt, wo die beiden sich hochaufgerichtet gegenüberstanden. Der Blick, die Haltung, alles zeugte von der eben verleugneten Blutsverwandtschaft, und auch die unbeugsame Härte zeugte davon, die der Enkel von seinem Großvater geerbt hatte. Er war dessen verjüngtes Ebenbild.
»So geh!« sagte der General herb und stolz. »Du willst nur den Vorgesetzten in mir sehen – du sollst ihn künftig finden.«
Rodenberg grüßte ihn und grüßte auch seinen Vetter, dann ging er. Im Zimmer herrschte noch einige Minuten lang ein drückendes Schweigen, endlich trat Raoul näher.
»Großvater!«
»Was willst du?« fragte Steinrück, dessen Auge noch immer auf der Thür haftete, die sich längst hinter Michael geschlossen hatte.
»Ich glaube, du hast jetzt eine hinreichende Probe von dem Hochmute deines ›Enkels‹ erhalten.« Der junge Graf sprach das Wort mit dem bittersten Hohne aus. »Es war wirklich großartig, wie er die Anerkennung zurückstieß, die du ihm botest, und uns die Blutsverwandtschaft förmlich vor die Füße warf. Und vor dem Manne hast du mich zu einer Demütigung gezwungen!«
»Ja, dieser Michael ist wie von Eisen!« murmelte Steinrück zwischen den Zähnen. »Der ist nicht zu zwingen, weder mit Güte noch mit Gewalt.«
»Und dabei gleicht er dir zum Sprechen,« fuhr Raoul fort, der in seiner Erbitterung und Gereiztheit gegen den Großvater die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen wollte, ihn nun auch zu kränken. »Ich habe es früher nie bemerkt, aber vorhin, als er dir gegenüberstand, war die Aehnlichkeit fast erschreckend.«
Der General wandte langsam das Auge von der Thür ab und richtete es auf seinen Enkel, aber es war ein rätselhafter Ausdruck darin.
»Hast du das auch gefunden? – Ich wußte es längst!«
Raoul wußte sich diese Ruhe nicht zu deuten, er hatte eine zornige Abwehr, ein entschiedenes Verleugnen jener Aehnlichkeit erwartet. Der Graf bemerkte seinen erstaunten Blick, und rasch abbrechend sagte er in der alten, befehlenden Weise:
»Gleichviel! Der Streit zwischen euch ist nunmehr ausgeglichen, und ich denke, auch du wirst keine Lust haben, ihn wieder zu erneuern. Vermeidet euch künftig, das wird euch nicht schwer werden, und nun laß mich allein!«
Raoul ging, aber mit kochenden Grimm im Herzen. Wenn er bisher gegen Michael nur hochmütige Abneigung empfunden hatte, so haßte er ihn jetzt mit der ganzen Gewalt seiner leidenschaftlichen Natur. Vielleicht hätte General Steinrück doch besser gethan, ihm jene Demütigung nicht aufzuerlegen. Er hatte damit das Tischtuch zwischen den beiden Vettern zerschnitten; das konnte nicht vergessen werden.
Hertha stand allein am Fenster ihres Zimmers und blickte unverwandt hinaus, aber sie sah nichts von dem flutenden Leben und Treiben der großen Hauptstraße. Ihr Blick war mit angstvoller Beharrlichkeit nur nach der einen Richtung gewandt, wo die Wohnung des Generals lag. Dieser hatte versprochen, ihr noch im Laufe des Vormittags Nachricht zu geben. War es ihm wirklich gelungen, das Duell zu verhindern und einen Ausgleich herbeizuführen, so hätte sein Bote schon hier sein können; aber noch immer wollte die Steinrücksche Livree nicht auftauchen, und mit jeder Minute des Wartens stieg die qualvolle Unruhe der jungen Gräfin.
Da auf einmal fuhr sie auf und beugte sich dann weit vor. Sie hatte den General erkannt, der soeben um die Ecke bog. Er kam selbst, und, sie am Fenster gewahrend, winkte er ihr einen Gruß zu. Gott sei Dank, er lächelte! Das konnte keinen schlimmen Ausgang bedeuten!
Hertha trat vom Fenster zurück. Sie wagte es nicht, dem Grafen entgegenzueilen. Es durfte ja niemand ahnen, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging. Erst als sie seinen Schritt im Nebenzimmer hörte, öffnete sie rasch die Thür und flog auf ihn zu.
»Du kommst selbst – du bringst mir gute Nachricht?«
Die Frage klang atemlos gepreßt, wie in Todesangst, aber Steinrück sagte beruhigend:
»Gewiß, mein Kind! Du brauchst dich nicht mehr zu ängstigen. Die Sache ist beigelegt.«
Ein tiefer Atemzug der Erleichterung rang sich aus der Brust der jungen Gräfin empor.
»Gott sei Dank! Ich wagte es kaum zu hoffen!«
Der General warf einen prüfenden Blick auf ihr bleiches, überwachtes Antlitz; dann nahm er ihren Arm und führte sie in das Zimmer zurück, dessen Thür er schloß.
»Ich habe allerdings einen harten Stand gehabt mit den beiden Trotzköpfen,« begann er wieder. »Keiner wollte nachgeben, keiner dem andern auch nur einen Schritt entgegenkommen. Ich mußte schließlich meine ganze Autorität brauchen, um sie zur Vernunft zu bringen. Trotz alledem war die Sache nicht so ernst, wie du sie genommen hast; ein paar unbedachte Worte Raouls, eine gereizte Erwiderung Rodenbergs – das ist genug für zwei junge Hitzköpfe, um zu den Waffen zu greifen. Sie hätten am liebsten aufeinander losgeschlagen. Glücklicherweise erfuhr ich noch rechtzeitig genug davon, um Unheil zu verhüten.«
Er sprach in halb scherzendem Tone, aber Hertha sah und fühlte es, daß sein Lächeln wie seine Heiterkeit erzwungen waren. Sie täuschte er nicht damit; sie kannte den Ernst des Vorfalles, den er so leicht zu nehmen schien.
»Und dir haben sie auch eine schlaflose Nacht damit bereitet, man sieht es dir an,« fuhr er fort. »Jetzt bereut es unsre spröde kleine Braut doch wohl, daß sie den armen Raoul gestern so unverzeihlich behandelt hat. Laß dir das zur Warnung dienen, Hertha! Dergleichen erträgt kein Mann, auch von der geliebtesten Frau nicht.«
»Von ihr vielleicht am wenigsten! Aber glaubst du denn, daß Raoul mich liebt?«
Der General stutzte bei dem bitteren Tone der Frage.
»Nun, ich dächte doch, er hätte um dich geworben.«
»Nach dem Beschluß der Familie, nach deinem ausdrücklichen Willen. Ich weiß, wie hoch ich diese Liebe ›auf Befehl‹ zu schätzen habe.«
»Und ist dir denn das etwas Neues?« sagte Steinrück ernst. »Hast du es nicht von Anfang an gewußt? Ihr folgtet beide einer Bestimmung, wie sie in unsern Kreisen üblich ist. Eine überflüssige Romantik haftet allerdings nicht an solchen Verbindungen; aber du hast sie meines Wissens auch nie vermißt. Warum denn nun auf einmal diese Bitterkeit, dieser Vorwurf gegen Raoul, den er dir mit dem gleichen Rechte zurückgeben könnte?«
Die junge Gräfin schwieg; sie hatte keine Antwort auf dies forschende: Warum?
»Da regt sich wieder der alte böse Geist, der gebannt und gezwungen sein will,« sagte der General mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich habe das schon einmal thun müssen, in den ersten Wochen meiner Vormundschaft. Damals war ich genötigt, mit voller Strenge aufzutreten gegen ein verwöhntes, vergöttertes Kind, das nie einen andern Willen gekannt hatte, als den seinigen. Du trotztest mit vollster Leidenschaftlichkeit, und deine Mutter zerfloß in Thränen, weil ich hart blieb und auch sie verhinderte, dir nachzugeben. Es war eine schlimme Scene. Aber als das Kind ausgetrotzt hatte, da kam es aus freien Stücken zu mir und legte die kleinen Arme um meinen Hals und sagte – weißt du es noch, Hertha?«
Sie lächelte gleichfalls, und das Haupt an seine Schulter lehnend, ergänzte sie:
»Ich habe dich lieb, Onkel Michael! So sehr lieb!«
Er beugte sich nieder und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.
»Weil ich dich zu zwingen verstand! Seitdem war ich deiner Liebe sicher, und das versteht Raoul nicht. Ich glaube beinahe, der Ritter, den sich dies stolze eigensinnige Fräulein als Ideal träumt, müßte etwas vom Drachentöter an sich haben; sonst imponiert er seiner Dame nicht.«
»Er müßte dir gleichen!« rief Hertha aufflammend. »Dir, Onkel Michael, mit deiner eisernen Kraft, deinem unbeugsamen Willen, deiner Härte sogar. Dich hätte ich lieben können, wenn ich dich in deiner Jugend gekannt hätte.«
Steinrück schüttelte lächelnd den Kopf.
»Willst du einem Greise noch Schmeicheleien sagen? Freilich, du bist eine von den Naturen, die erst erobert, erkämpft sein wollen; im Sturme willst du gewonnen werden. Aber, mein Kind, das Schicksal läßt uns nur selten die Wahl in solchen Dingen: es zwingt uns seinen Willen auf. Du wirst das auch noch erfahren. Glaube mir, Raoul gilt hundert andern Frauen als das Ideal von Ritterlichkeit und Liebenswürdigkeit; daß er nicht ganz das Ideal deiner Träume ist, beunruhigt mich nicht mehr, seit ich weiß, daß du ihn trotzdem liebst. Und – offen gestanden, Hertha – ich weiß das erst seit gestern abend. Bis dahin zweifelte ich ernstlich an deiner Neigung. Erst die Todesangst, mit der du heute meiner Nachricht entgegenharrtest, verriet mir, wie du um Raoul gezittert hast.«
In dem Antlitz der jungen Gräfin begann langsam eine tiefe Röte aufzusteigen, und sie senkte das Haupt, ohne eine einzige Silbe zu erwidern.
»Mußte erst die Gefahr deines Bräutigams dir dies Zeugnis entreißen?« fuhr der General vorwurfsvoll fort. »Du hast bisher förmlich etwas darin gesucht, die spröde, kalte Braut zu spielen, und hast dir Raoul dadurch immer mehr entfremdet. Zeige ihm nur einmal diese bebende Angst um sein Leben, wie du sie mir jetzt zeigtest, und du kannst von ihm alles fordern, alles erreichen; dafür bürge ich dir.«
Die Röte in dem Gesichte Herthas war zur dunkeln Glut geworden, und hastig, als wolle sie um jeden Preis dies Gespräch abbrechen, fragte sie:
»Glaubst du denn wirklich, daß diese Gefahr dauernd beseitigt ist?«
»Ja, die Beleidigung wie die Forderung sind in aller Form zurückgezogen, der Streit ist zu Ende.«
»Aber die Feindschaft ist es nicht! Ich konnte dir gestern nur flüchtig das Vorgefallene mitteilen. Du weißt nicht, was für Worte gefallen sind, zumal von seiten Raouls; sie galten allerdings nicht dem Hauptmann selbst, sondern seinen Eltern.«
»Ah, das war es also,« murmelte Steinrück.
»Weißt du irgend etwas Näheres darüber,« fragte die junge Gräfin rasch.
»Ich weiß nur, daß an der persönlichen Ehre Rodenbergs kein Makel haftet und das ist mir genug. Wie nahm er die Aeußerung auf?«
»Wie ein gereizter Löwe! Er war geradezu furchtbar in dem Augenblick. Hätte Raoul noch ein einziges Wort gesprochen, ich glaube, er hätte ihn zu Boden geschmettert.«
Der General wurde aufmerksam bei dem leidenschaftlich erregten Tone, und ein befremdeter, fragender Blick streifte Hertha, die das nicht bemerkte, denn sie sprach mit flammenden Augen und glühenden Wangen weiter:
»Rodenberg schien aufs Aeußerste gebracht zu sein. Er gebot Raoul Schweigen, mit einem Blick und Ton, wie ich sie nur einmal im Leben gesehen und gehört habe – bei dir, Onkel Michael, als dir damals in Berkheim der Wilddieb vorgeführt wurde, der unsern Förster erschossen hatte – ich glaubte dich zu sehen!«
Steinrück hatte sich aufgerichtet; er erwiderte nichts auf die letzte Bemerkung, aber seine Augen hefteten sich starr mit einem seltsamen Ausdruck auf die junge Gräfin, als suche er irgend etwas in ihren Zügen zu enträtseln.
»Vielleicht hatte Raoul nicht unrecht mit seinem Vorwurf,« sagte er endlich langsam. »Wer weiß, was ihm von der Herkunft Rodenbergs bekannt sein mag.«
»Um so unverzeihlicher war es, daß er diesen Punkt berührte,« fuhr Hertha auf, mit einer Leidenschaftlichkeit, von der sie wohl selbst keine Ahnung hatte. »Du sagst es ja selbst, daß an der persönlichen Ehre des Hauptmanns kein Flecken haftet, und Raoul weiß das sicher ebensogut wie du; deshalb griff er ihn in seinen Eltern an. Das ist feig und heimtückisch, das ist eine Unwürdigkeit, das ist –«
»Hertha, du sprichst von deinem Verlobten!« unterbrach sie der General rauh.
Hertha zuckte zusammen; die flammende Glut erlosch, als ob ein Eishauch sie berührt hätte. Jetzt aber legte sich Steinrücks Hand schwer auf die ihrige, und halblaut, aber dumpf und drohend fragte er:
»Für wen hast du gezittert? Wem galt gestern deine Angst?«
Sie schwieg, obgleich sie es nur zu gut wußte; die Todesangst, die schlaflosen Stunden der letzten Nacht hatten ihr die Wahrheit zum Bewußtsein gebracht, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Der Graf sah sie unverwandt an.
»Hertha, ich fordere Antwort! Willst du oder kannst du sie mir nicht geben? Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist.«
»Ja, sie weiß es!« sagte Hertha tonlos, aber fest. »Fürchte nichts, ich stehe bei meinem Worte.«
»Das will ich hoffen!« Er preßte ihre Hand so heftig in der seinigen, als wolle er sie zerbrechen; dann ließ er sie plötzlich fallen und erhob sich.
»Auf welche Zeit ist eure Abreise festgesetzt?« fragte er nach einer Pause.
»Auf den Anfang der nächsten Woche.«
»Gut. Ich wollte anfangs deine Mutter bestimmen, noch hier zu bleiben; jetzt halte ich es für besser, daß ihr so bald als möglich abreist. Dir thut – Luftveränderung not. Und noch eins, Hertha! Hätte Raoul es gesehen und gehört, wie du vorhin von seinem Gegner sprachest, er wäre nicht von dem Duell zurückgetreten, und ich hätte ihm keinen Vorwurf daraus gemacht. Leb wohl!«
Er hatte kalt und finster gesprochen, und jetzt ging er, hochaufgerichtet wie immer; aber draußen im Vorzimmer blieb er doch stehen und legte einen Moment lang die Hand über die Augen. Wankte denn alles, was er so stolz gebaut hatte, so fest gegründet glaubte?
»Er müßte dir gleichen, in deiner eisernen Kraft, deinem unbeugsamen Willen, deiner Härte sogar!« Das Wort hatte den Grafen auf die Spur geleitet. Ja, es gab einen, der ihm darin glich, Zug für Zug, und der verstand es vielleicht auch, das schöne trotzige Kind zu zwingen, wenn man ihm freies Spiel ließ. Das mußte verhindert werden, um jeden Preis! Hertha mußte fort aus dieser gefährlichen Nähe. Ihre Laune – denn etwas andres konnte und durfte es nicht sein – erlosch von selbst, sobald man ihr den Gegenstand entrückte. Sie war in keinem Falle ernst zu nehmen. Aber es traf den General doch schwer, daß die Gefahr gerade von dieser Seite kam, daß dieser Mann es war, der sein Werk bedrohte. Das hatte er nie für möglich gehalten.
Zu derselben Vormittagsstunde saß Professor Wehlau in seinem Studierzimmer vor dem Schreibtische; aber er arbeitete heute ausnahmsweise nicht, sondern hatte sich in eine Zeitung vertieft, die etwas ihm sehr Mißfälliges zu enthalten schien; denn er saß wieder mitten in der »Donnerwolke«.
Das Blatt, das erste und angesehenste der Hauptstadt, brachte in der That einen längeren Artikel über »Sankt Michael«, das erste größere Werk eines jungen Künstlers, eines Schülers des Professors Walter, das in den nächsten Tagen öffentlich ausgestellt werden sollte.
Der Kritiker, der es bereits im Atelier gesehen hatte, sprach sich mit einer wahren Begeisterung darüber aus und verfehlte nicht, dem Publikum mitzuteilen, daß das Gemälde bereits verkauft sei. Es sei für die Wallfahrtskirche von Sankt Michael bestimmt, wo es am Michaelsfeste mit aller Feierlichkeit installiert werden solle. Die letzte Bemerkung schlug nun vollends dem Fasse den Boden aus; der Professor zerknitterte wütend die Zeitung.
»Das wird ja immer besser!« grollte er. »Wenn sie jetzt schon anfangen, dem Jungen in solcher Weise den Kopf zu verdrehen, dann ist vollends nicht mehr mit ihm auszukommen. Großartiger, mächtiger Entwurf – glänzende Durchführung – ein hochbedeutendes Talent, das zu den weitestgehenden Hoffnungen berechtigt und wahrhaftig, da steht es wieder! Der geniale Sohn eines berühmten Vaters – hol' der Kuckuck all die Bewunderer und den Hans und den Michael dazu!«
Er warf das Blatt beiseite und begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen. Wehlau gehörte zu den Menschen, die es nun einmal nicht ertragen können, unrecht zu haben. Er hätte eher behauptet, daß Weiß Schwarz sei, als zuzugeben, daß sein Scharfblick, der sich in der Wissenschaft so untrüglich erwies, ihn mit Bezug auf den eigenen Sohn so gründlich getäuscht hatte. Hans sollte und mußte ein Windbeutel sein, der, da er nicht zum Schüler und Nachfolger des Vaters taugte, überhaupt für keinen ernsten Beruf tauglich war. Er hatte sich förmlich verrannt in diese Ansicht und hielt sie mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters fest. Hätte man in jenem Artikel seinen Sohn einen Stümper genannt, er würde triumphiert haben. Daß man ihn ein Genie nannte, nahm er als eine Beleidigung auf, da es ihm selber unrecht gab.
»Will mir der Mann da etwa weismachen, daß wirklich etwas in dem Jungen steckt?« fuhr er noch grimmiger fort. »Es ist nicht wahr, sage ich! Ein Sausewind ist er, ein Hans Narr, der mit seinem Gesicht und seiner Liebenswürdigkeit den Kritiker bestochen hat, wie er alle Welt besticht! Der und Bedeutendes leisten! Mir soll er nicht damit kommen; ich setze keinen Fuß in sein Atelier, sehe kein einziges seiner Bilder an, und wenn zehn Kritiker sie loben und zwanzig Gräfinnen sie kaufen!«
Er hob wie zum feierlichen Schwur die Hand empor; da wurde die Thür geöffnet und der alte Gärtner, den Hans zugleich als Diener für sein Atelier benutzte, natürlich auch ohne den Vater um Erlaubnis zu fragen, erschien auf der Schwelle.
»Was gibt es?« fuhr ihn der Professor in der übelsten Laune an. »Sie wissen doch, Anton, daß ich in meinen Arbeitsstunden nicht gestört sein will. Was wollen Sie?«
»Verzeihen der Herr Professor,« versetzte der alte Mann mit angstvoller, verstörter Miene. »Ich komme aus dem Atelier, von dem jungen Herrn.«
»Das ist keine Entschuldigung. Künftig unterbleiben derartige Störungen – verstanden?«
»Aber, Herr Professor, es geht dem jungen Herrn ja so schlimm, so sehr schlimm – ich glaubte, er würde mir unter den Händen sterben!«
»Was?« fuhr Wehlau erschrocken auf. »Was fehlt denn meinem Sohne?«
»Ich weiß nicht. Ich arbeitete im Garten, da öffnete er das Fenster und rief mich, und als ich hereinkam, lag er da wie ein Halbtoter. Es war ihm plötzlich übel geworden, sterbensübel. Er hatte kaum noch so viel Kraft, zu sagen: ›Rufen Sie meinen Vater!‹ Da lief ich, Hals über Kopf, um Sie zu holen.«
»Um des Himmels willen, der Junge ist ja bisher gesund gewesen wie der Fisch im Wasser!« rief Wehlau, der schon zur Thür hinausgeeilt war. Vergessen war Groll und Aerger, vergessen der eben geleistete Schwur, das Atelier nicht zu betreten. Er eilte spornstreichs durch den Garten und Anton ihm nach.
Als sie die Thür des Pavillons öffneten, bot sich ihnen ein sehr bedenklicher Anblick. Der junge Künstler lag im Armstuhl, das Haupt matt zurückgesunken, die Augen geschlossen; er hatte die Hand auf die Brust gepreßt, die schwer und mühsam zu atmen schien. Von seinem Gesichte konnte man nicht viel sehen, da der schwere Fenstervorhang völlig herabgelassen war und eine Art Halbdunkel in jenem Teile des Raumes herrschte.
Der Professor trat rasch auf seinen Sohn zu und beugte sich zu ihm nieder.
»Hans, was ist dir? Du wirst doch nicht etwa krank werden? Das ist die einzige Dummheit, mit der du dich bisher noch nicht abgegeben hast, und das verbitte ich mir! So rede doch wenigstens.«
Hans öffnete matt die Augen und sagte mit halbgebrochener Stimme:
»Bist du da, Papa? Verzeih, daß ich dich rufen ließ, ich glaubte –«
»Aber was fehlt dir denn eigentlich?« Der Professor wollte angstvoll nach dem Puls seines Sohnes greifen; aber dieser zog zufällig in demselben Augenblick den Arm zurück und legte ihn unter den Kopf.
»Ich weiß nicht – ich bekam auf einmal heftigen Schwindel und dann Beängstigungen, und dann vergingen mir die Sinne es war ein furchtbarer Zustand.«
»Das kommt von dem verwünschten Malen, von der verdammten Farbenkleckserei!« rief Wehlau in heller Verzweiflung. »Anton, öffnen Sie die Fenster, lassen Sie frische Luft herein! Holen Sie Wasser – schnell!«
Damit griff er nach dem linken Arm des Kranken, der wieder dasselbe Manöver ausführen wollte. Aber diesmal war der Vater schneller als Hans, erwischte das Handgelenk und hielt es fest.
»Was ist denn das? Dein Puls geht ja ganz normal!« fragte er argwöhnisch und riß zugleich mit einem raschen Griffe den Fenstervorhang herab. Das Tageslicht strömte blendend herein und beleuchtete das Antlitz des jungen Mannes, das ebenso frisch und blühend aussah wie gewöhnlich; die leidende Miene täuschte den erfahrenen Arzt auch nicht einen Augenblick.
»Junge, das ist wieder eine von deinen Teufeleien!« brach er los. »Gnade dir Gott, wenn du mir eine Komödie vorgespielt hast, nur um mich in dein Atelier zu bringen!«
»Du bist aber doch nun einmal drinnen, Papa!« rief Hans, der einsah, daß er die Patientenrolle nicht länger fortführen konnte, und nun rasch aufsprang. »Und du wirst sicher nicht wieder gehen, ohne wenigstens einen Blick auf meinen ›Sankt Michael‹ zu werfen. Da steht er, drüben an der Wand, du brauchst dich nur umzuwenden.«
Die Bitte klang sehr inständig, aber Wehlau wendete sich nicht um, sondern schritt geradeswegs auf die Thür los.
»Denkst du mich auf solche Weise zu zwingen? Ueber deinen heimtückischen Streich reden wir noch später. Jetzt gib die Thür frei!«
Hans schlug, anstatt zu gehorchen, dem alten Anton, der soeben mit Wasser zurückkehrte und ein höchst verblüfftes Gesicht machte, die Thür vor der Nase zu und drehte den Schlüssel um.
»Das hilft dir alles nichts, Papa, hinaus kommst du nicht! Hier ist mein Reich; ich habe dich in aller Form gefangen genommen und gebe dich nicht wieder los – sieh dir das Bild an!«
Das war dem Professor denn doch zu stark. Das Ungewitter, das sich schon während der letzten Minuten angesammelt hatte, brach jetzt los mit Blitz und Toben, aber Hans blieb ganz ungerührt dabei und entwickelte zugleich ein strategisches Talent, das seinem Freunde Michael Ehre gemacht hätte. Unter fortwährendem Parlamentieren drängte er seinen wütenden Papa immer weiter von der Thür zurück und immer mehr nach der Hauptwand des Ateliers, wo das Gemälde aufgestellt war, bis er ihn glücklich in dessen unmittelbare Nähe gebracht hatte; dann faßte er ihn urplötzlich an den Schultern und drehte ihn herum.
»Hans, ich sage dir, wenn du dich noch einmal unterstehst –«
Wehlau verstummte plötzlich mitten in der Rede, denn er hatte unwillkürlich doch einen Blick auf das Bild geworfen. Er sah zum zweitenmal hinüber, stutzte dann und trat langsam näher.
In den Augen des jungen Künstlers blitzte es triumphierend auf. Jetzt war er seiner Sache sicher, aber er stellte sich doch wie ein Wachtposten hinter dem Vater auf, um diesem einen etwaigen Rückzug abzuschneiden; doch der Professor dachte nicht mehr daran. Er stand wie gebannt vor der Leinwand und blickte unverwandt darauf hin.
»Es ist mein erstes größeres Werk, Papa,« hob Hans jetzt in seinem sanftesten, einschmeichelndsten Tone an. »Ich konnte es doch unmöglich in die Welt hinausschicken, ohne es dir zu zeigen. Du darfst mir nicht böse sein wegen der Kriegslist, mit der ich dich hierher lockte: es war die einzige Möglichkeit, dich in mein Atelier zu bringen –«
»Schweig still und störe mich nicht, damit ich das Ding in Ruhe anschauen kann!« schnaubte ihn Wehlau zornig an und suchte den besten Standpunkt für die Betrachtung zu gewinnen.
So vergingen einige Minuten; dann ließ der Professor ein Brummen hören, das halb grimmig und halb zustimmend klang.
Endlich sah er sich nach seinem Sohne um und fragte halblaut: »Und du willst mir wirklich einreden, daß du das Zeug da ganz allein zu stande gebracht hast?«
»Gewiß, Papa.«
»Das glaube ich nicht!« sagte Wehlau kurz und bündig.
»Aber du wirst mir doch mein eigenes Werk nicht abstreiten wollen. Wie gefällt es dir?«
Der Professor ließ wieder sein Brummen hören, aber diesmal klang es schon verheißungsvoller.
»Hm, das Ding ist gar nicht so übel – hat wenigstens Kraft und Leben – wo hast du denn den Entwurf her?«
»Aus meinem Kopfe, Papa.«
Wehlau sah erst das Bild, dann seinen Sohn an, in dessen Kopfe, seiner Ansicht nach, nur Narrenspossen steckten und der eben wieder diese »schändliche« Komödie hatte. Die Sache schien ihm völlig unbegreiflich.
»Das Hauptverdienst bei der ganzen Geschichte hat eigentlich Michael,« fuhr der junge Künstler lachend fort. »Er ist mir ein unschätzbares Modell gewesen. Allerdings habe ich Mühe und Not gehabt, ihn in die rechte Stimmung zu bringen; aber einmal gelang es mir doch, ihn so gründlich zu ärgern, daß er losbrach in voller Wut; da packte ich den Ausdruck und hielt ihn fest. Aber ich warte noch immer auf dein Urteil über die Farbenkleckserei.«
In dem Gesichte des Professors zuckte es merkwürdig; er hatte augenscheinlich die größte Lust, wieder zu seinem Grolle und seiner Erbitterung zurückzukehren, aber es ging nicht, und so sagte er denn endlich in halb versöhnlichem Tone:
»Aber in Zukunft malst du keine Altarbilder mehr, das verbitte ich mir!«
»Nein, Papa, zunächst male ich die Naturwissenschaft in Lebensgröße in der Person unsres berühmten Forschers. Wann willst du mir zu einem Porträt sitzen?«
»Laß mich in Ruhe!« brummte Wehlau.
»Das ist nur eine halbe Zusage, ich verlange eine ganze. Wollen wir morgen mit den Sitzungen beginnen?«
»In des Kuckucks Namen, ja – wenn es durchaus nicht anders geht.«
»Viktoria!« rief Hans und umarmte stürmisch den Vater; aber der Professor sträubte sich gar nicht dagegen, im Gegenteil, er hielt ihn fest, und in die hellen, sonnigen Augen seines Sohnes blickend, sagte er mit ausbrechender Herzlichkeit:
»Junge, zum Gelehrten taugst du nicht, das habe ich nun nachgerade eingesehen; aber vielleicht wird doch noch etwas Vernünftiges aus dir, trotz alledem!«
In Sankt Michael wurden die Vorbereitungen zu dem morgen stattfindenden Michaelsfeste getroffen, welches diesmal durch die Einweihung des neuen Altarbildes noch einen besonderen Glanz erhalten sollte. Die Wallfahrtskirche prangte schon im vollen Festschmucke, und in dem kleinen, sonst so stillen Alpendorfe herrschte gleichfalls ein freudiges, festliches Leben. Es galt ja, die Tausende von Wallfahrern zu empfangen, die morgen aus allen Teilen des Gebirges herbeiströmen würden, um in dem alten Heiligtume des Erzengels ihre Andacht zu verrichten; man war am Vorabende des Festes noch nicht mit all den Zurüstungen fertig geworden.
Dieser Vorabend hatte auch dem Pfarrer eine ebenso unerwartete wie freudige Ueberraschung gebracht. Sein einstiger Schüler, Hauptmann Rodenberg, war ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung, eingetroffen, und die Freude des Greises darüber hatte etwas Rührendes.
»Das war eine Ueberraschung!« sagte er, die Hand des Ankömmlings noch immer in der seinigen haltend. »Ich hätte mir eher alles andre träumen lassen, als dich um diese Zeit hier zu sehen.«
»Ich habe auch nur einen einzigen Tag zur Verfügung,« versetzte Michael. »Ich muß übermorgen wieder in M. sein, wohin ich meinen Vorgesetzten, den Obersten Fernau, in einer dienstlichen Angelegenheit begleitet habe. Es gelang mir, noch drei Tage Urlaub zu erhalten, und da machte ich schleunigst den kleinen Umweg, um Sie wenigstens zu sehen, Hochwürden.«
Valentin schüttelte lächelnd den Kopf.
»Das nennst du einen kleinen Umweg? Es ist fast noch eine Tagreise von M. bis hierher. Du mußt allein fünf Stunden durch das Gebirge fahren. Aber es freut mich doch, daß dein alter Lehrer dir noch so viel gilt. So habe ich wenigstens dich am Michaelsfeste; denn meine leise Hoffnung, daß Hans kommen würde, hat sich nicht bestätigt.«
»Er wäre gern gekommen, aber er glaubte sein Fortbleiben dem Vater schuldig zu sein, der es schon schwer genug empfindet, daß der Name Hans Wehlau in eine so enge Verbindung mit einem Kirchenfeste gebracht wird. Sie wissen ja –«
»Ja, ich kenne die Stellung meines Bruders der Kirche gegenüber hinreichend,« sagte Valentin mit einem halbunterdrückten Seufzer. »Dem Hans aber habe ich eine ernste Abbitte geleistet, als sein ›Sankt Michael‹ hier eintraf. Ich hätte unserm Leichtfuß, unserm Uebermut nie die Kraft und Tiefe für ein derartiges Werk zugetraut; ich erkannte ihn gar nicht wieder darin.«
»Sie haben ihm alle unrecht gethan, und am meisten der eigene Vater!« fiel Michael mit voller Wärme ein. »Nur ich, der das Bild von der Skizze an entstehen und wachsen sah, wußte, was es versprach. Uebrigens hat es dem Hans Triumphe genug bereitet in den vier Wochen, wo es öffentlich ausgestellt war. Es wurde sofort zu einem Hauptanziehungspunkte für das Publikum und rief einen förmlichen Sturm der Bewunderung hervor; die Kritik lobte es mit einer seltenen Einmütigkeit, und man hat das möglichste gethan, seinen Schöpfer mit Schmeicheleien zu verwöhnen. Zum Glück ist er eine von den unverdorbenen Naturen, denen das nicht schadet und wohl auch in Zukunft nicht schaden wird. Das Gemälde ist bereits an Ort und Stelle?«
»Schon seit vorgestern. Es ist ein schöner und kostbarer Schmuck, den die Gräfin unserm Gotteshause zugewandt hat. Sie beabsichtigte, selbst der Einweihung beizuwohnen, und ist deshalb eigens von Berkheim nach Schloß Steinrück gekommen.«
»Dann kommt sie also morgen hierher?« fragte Michael mit einem plötzlichen Aufzucken.
»Nein, sie ist leider erkrankt. Das rauhe, stürmische Wetter des Reisetages scheint ihr eine Erkältung zugezogen zu haben, jedenfalls ein ernsteres Unwohlsein, sie sandte mir deshalb –«
Sie wurden unterbrochen, denn jetzt erschien der Mesner, äußerst eilfertig, äußerst geschäftig und mit einer Menge von Mitteilungen und Anfragen in Bezug auf das Fest. Hochwürden sollten überall selbst entscheiden, besichtigen, anordnen; es gab noch unendlich viel zu thun.
»Ich glaube, ich darf Sie jetzt nicht länger in Anspruch nehmen,« sagte Rodenberg. »Der Herr Pfarrer scheint überall notwendig und unentbehrlich zu sein. Ich gehe inzwischen nach der Kirche, um zu sehen, wie Sankt Michael sich in seiner jetzigen Umgebung ausnimmt. Hoffentlich haben wir am Abend einige ruhige Stunden für uns.«
»Ich fürchte, das wird kaum der Fall sein. Du weißt ja noch gar nicht – ich wollte es dir schon vorhin sagen, aber –«
Der Pfarrer kam wieder nicht zu Ende mit seiner Mitteilung; denn jetzt trat die alte Kathrin ein, mit einem ganzen Arm voll Guirlanden von Tannenzweigen, und begehrte zu wissen, wo sie angebracht werden sollten; gleichzeitig erschien noch ein junger Bauernbursche mit einer andern ebenso wichtigen Anfrage, und der Mesner stand wartend da. Valentin wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.
Michael verabschiedete sich und schlug den wohlbekannten Weg nach der Wallfahrtskirche ein. Es war im Anfange des Mai, und das Hochgebirge zeigte sich in der ganzen herben Schönheit der ersten Frühlingstage, die hier so spät einzogen.
Die Adlerwand stand noch eisumgürtet da, in blendender, krystallener Pracht; aber schon stürzten die Gletscherbäche, die der Sonnenstrahl dort oben entfesselt hatte, brausend und schäumend in die Thäler nieder, und die dunkeln Tannenwälder, die sich tiefer unten an ihre Felsenbrust schmiegten, hatten die Schneelasten bereits abgeschüttelt. Auch von den Alpen und Matten, die Sankt Michael umgaben, war der Schnee hinweggeschmolzen: sie lachten im frischen, sonnigen Grün, und auch hier rieselten und rauschten von allen Höhen die Wasseradern, als sei die ganze Bergwelt lebendig geworden. Aber über Höhen und Thäler, über Matten und Wälder brauste der Frühlingssturm und brachte ihnen seinen wilden, verheißungsvollen Gruß, aus dem es wie Siegesjauchzen hervorklang.
Michael trat in die Kirche, die jetzt zur Abendstunde völlig leer war, aber sie trug schon ihr bescheidenes Festgewand. Hier oben in dieser einsamen Höhe gab es kein Frühlingslaub und keine duftende Blütenpracht; nur das ernste, dunkle Tannengrün umkränzte Pforten und Pfeiler, und kleine Sträußchen von Alpenblumen, den ersten, die sich auf den Matten hervorgewagt hatten, bildeten den einzigen Schmuck der Altäre. Dennoch war es so feierlich, so frühlingsduftig in dem weiten stillen Raume, den nur das goldene Licht der Abendsonne erfüllte. Das Gotteshaus mochte einen festlicheren Anblick bieten, wenn sich die andächtige Menge dort drängte; aber es war so viel schöner in der tiefen, weihevollen Ruhe, mit der es seinem Feste entgegenharrte, noch unberührt von all den Wünschen, Bitten und Klagen, die morgen aus seinem Schoße emporsteigen sollten. Kein fremder Laut störte diese Ruhe; selbst das Brausen des Sturmes draußen, der sich in einzelnen langgezogenen Tönen vernehmen ließ, klang wie ferner Orgelton.
Ueber dem Hochaltare thronte Sankt Michael, nicht mehr das alte, dunkle und von der Zeit halb zerstörte Heiligenbild in seiner kindlich naiven Auffassung, das man pietätvoll im Vorraume der Kirche untergebracht hatte, sondern das Werk des jungen Künstlers, der damit so glänzend seine Begabung bewies und sich einen Namen in der Kunstwelt schuf. Michael kannte es von seiner ersten Entstehung an; er hatte es so oft gesehen; aber ihm, wie dem Maler selbst und dem Publikum, war es nur ein Gemälde gewesen: die meisterhafte Darstellung einer stürmischen Kampfscene, die zufällig einen kirchlichen Gegenstand betraf. Er war aufs höchste überrascht von dem Eindruck, den das Bild in dieser Umgebung machte. Im Halbdunkel der Altarnische, zwischen den gotischen Fenstern, deren Malereien in glühender Farbenpracht leuchteten, gewann es eine ganz andre Gestalt; hier erschien es gleichsam losgelöst von allem Weltlichen, die Verkörperung der uralten, heiligen Legende, die sich in jeder Religion und bei jedem Volke wiederholt – des Sieges, den das Licht über die Finsternis davonträgt.
Langsam schritt Rodenberg nach dem Hochaltare. Da gewahrte er in einem der vorderen Betstühle eine Frauengestalt, die der Pfeiler vorhin seinem Blick entzogen hatte. Aber das war keine bäuerliche Erscheinung: ein dunkles Seidenkleid floß auf den Boden nieder, und unter dem schwarzen Spitzenschleier, der über das Haupt geworfen war, leuchtete es mit einem seltsamen rotgoldenen Schimmer, den Michael nur zu gut kannte. Er blieb wie angewurzelt stehen. War es ein Spiel seiner Phantasie, die ihm überall nur dies eine Bild erscheinen ließ? Da wandte die Dame, durch das Nahen seiner Schritte aufmerksam gemacht, den Kopf, und ein Ausruf der Ueberraschung oder vielmehr des Schreckens entrang sich ihren Lippen: es waren Herthas Augen, die ihn anblickten!
Es mußte wohl ein Verhängnis sein, das die beiden zum zweitenmal in dem einsamen, öden Alpendorfe zusammenführte, zu einer Stunde, wo sie sich durch weite Fernen getrennt glaubten; wenigstens empfanden sie so die ungeahnte Begegnung, bei welcher beide ihre Fassung völlig verloren, so daß keiner die Verwirrung des andern bemerkte; es dauerte Minuten, ehe sie ihre Selbstbeherrschung wieder fanden.
»Ich scheine Sie erschreckt zu haben,« sagte Michael endlich. »Ich glaubte bei meinem Eintritt, die Kirche sei leer, und gewahrte Sie erst in diesem Augenblick.«
Hertha erhob sich langsam von den Knieen und mochte wohl fühlen, daß ihr Ausruf, ihre sichtbare Bestürzung eine Erklärung forderten. Sie war in die Betrachtung des Altarbildes vertieft gewesen; sie wußte nicht mehr, wie lange ihr Blick auf Sankt Michael geweilt, an wen sie dabei gedacht hatte, oder wollte es nicht wissen, und urplötzlich stand der, dessen Züge er trug, vor ihr, wie aus der Erde emporgestiegen. Ihre Stimme bebte noch, als sie entgegnete:
»Ich war in der That – überrascht. Der Herr Pfarrer hat mir nicht mitgeteilt, daß Sie gleichfalls sein Gast sind.«
»Ich bin erst vor einer halben Stunde eingetroffen und kam gänzlich unerwartet und unangemeldet. Auch ich erfuhr noch nichts von Ihrem Hiersein. Ich hörte nur, daß Sie und die Frau Gräfin in Schloß Steinrück seien.«
»Wir wollten ursprünglich beide nach Sankt Michael kommen,« sagte Hertha, die jetzt völlig ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Aber meine Mutter ist erkrankt, nicht ernstlich, wie es scheint; dennoch bin ich mit einiger Besorgnis gegangen. Es war ihr ausdrücklichster Wunsch, daß wenigstens ein Glied unsrer Familie dem Feste und der Uebergabe ihres Geschenkes beiwohnen möge, und ich mußte mich fügen.«
Michael sprach einige Worte des Bedauerns und der Teilnahme, bloße Phrasen, die wie mechanisch von seinen Lippen kamen und kaum gehört wurden. Er sah Hertha dabei nicht an, so wenig wie sie ihn. Ihre Blicke vermieden es instinktmäßig, sich zu begegnen; sie weilten auf dem Altargemälde, das eben voll von der Abendsonne beleuchtet wurde. Sie flutete durch die Seitenfenster in das Schiff der Kirche herein und warf einen breiten goldigen Streif auf den Hochaltar.
Das Bild hatte nichts von dem alten traditionellen Beiwerk seines Vorgängers; keine Glorie von Engelköpfen blickte von oben herab, keine Flammen züngelten aus dem Abgrunde empor; nur die beiden lebensgroßen Gestalten hoben sich aus dem Rahmen, jede mächtig und wirkungsvoll in ihrer Art. Ueber ihnen nur die klare, leuchtende Himmelstiefe, wie durchflutet von goldigem Sonnenlicht, unter ihnen ein düsterer Felsenschlund, aus dem es heraufgähnte wie ewige Nacht und ewige Finsternis.
Aus der Höhe herabgestürzt, in seinem Falle schon den Rand der Kluft berührend, bäumte sich der Satan noch einmal empor, mit dem letzten ohnmächtigen Zucken des Besiegten. Aber es war nicht das gehörnte, schlangenartige Ungetüm der Sage, sondern eine menschenähnliche Gestalt, von unheimlicher, dämonischer Schönheit, mit dunkeln Fittichen wie die eines Nachtvogels. Wohl sprachen aus dem Antlitz die Qual, die Wut und zugleich das Grauen vor der Macht, die ihn niedergeworfen; aber in dem Auge, das nach oben gewandt war, lag etwas wie hoffnungslose Verzweiflung, wie ein Sehnen nach dem Lichte, das auch ihn einst umstrahlt und das ihm nun verloren war da unten in der ewigen Nacht. Es war Lucifer, der gefallene Engel, den noch in seinem Sturz ein Abglanz dessen umleuchtete, was er einst gewesen.
Ueber ihm, in jener klaren Himmelstiefe, schwebte Sankt Michael, in strahlender Erzrüstung, getragen von zwei mächtigen Flügeln, die ihn wie Adlerschwingen umrauschten, und wie ein Adler stieß er auch aus der Höhe nieder auf den Feind. Die Rechte zückte das leuchtende Flammenschwert mit dem Kreuzesgriff, und Flammenblitze zuckten auch aus den großen blauen Augen, während die Locken, wie gelöst von dem stürmischen Fluge, um die Stirn wehten. Der Blick, das Antlitz, die Haltung: alles zeugte noch vom Sturm des Kampfes, alles sprühte Vernichtung, und doch war die ganze Gestalt des Erzengels wie getaucht in einen Glorienschein, der den machtvollen, siegreichen Kämpfer des Lichtes umstrahlte.
»Das Bild wirkt ganz anders in dieser Umgebung,« sagte Hertha, den Blick noch immer darauf gerichtet. »Viel ernster, aber auch viel mächtiger! Dieser Erzengel hat etwas Furchtbares; man glaubt den Flammenatem der Vernichtung zu spüren, der von ihm ausgeht. Ich fürchte nur, das Gebirgsvolk wird diese Auffassung nicht begreifen; es sehnt sich vielleicht nach der feierlichen Gleichgültigkeit des alten Heiligenbildes zurück.«
»Da kennen Sie unsre Aelpler nicht,« widersprach Rodenberg. »Gerade dies Bild verstehen sie, wie kein andres, denn das ist ihr Sankt Michael, der im Gewittersturm über ihre Berge und Thäler dahinbraust, dessen Blitze zucken und vernichten. Es ist nicht der Erzengel der kirchlichen Legende, aber der des Volksglaubens, in seiner ursprünglichen Gestalt. Sie nannten es einmal ketzerisch, als ich darin den altheidnischen Lichtkultus und den altgermanischen Donnergott wiederfinden wollte. Sie sehen, daß auch mein Freund sich meiner Auffassung anschließt; er hat seinem Michael etwas vom Wodan gegeben.«
»Und Professor Wehlau hat Ihnen beiden diese Auffassung eingeimpft,« fiel Hertha vorwurfsvoll ein. »Er kann es nun einmal nicht ertragen, daß sein Sohn ein wirkliches Heiligenbild gemalt haben soll; es muß um jeden Preis etwas Heidnisches und Germanisches hineingebracht werden. Als ob das Volk in Sankt Michael nur den Rächer sähe! Morgen, am Feste seiner Erscheinung, da steigt er ihm nur als Segenspender von der Adlerwand herab, da furcht sein Flammenschwert nur den Boden, und die Lichtfunken, die ihm entströmen, geben der Erde die Frühlingskraft und das Frühlingsleben. Ich habe erst heute wieder die schöne Legende gehört.«
»Nun, diesmal scheint er im Sturme niederzusteigen,« sagte Michael. »Es braust schon jetzt um alle Höhen, und aller Wahrscheinlichkeit nach schickt uns die Adlerwand in der Nacht einen jener Frühlingsstürme herab, die in der ganzen Umgegend gefürchtet sind. Ich kenne die Anzeichen.«
Wie zur Bestätigung seiner Worte erhob sich draußen der Wind lauter und heftiger. Es klang nicht mehr wie Orgelton, sondern wie fernes dumpfes Meeresbrausen, das bald anschwoll, bald wieder erstarb. Dazu sank die Sonne, nur von einem leichten, schleierartigen Gewölk umgeben, in flammender Glut, deren Abglanz die ganze Kirche erfüllte. Die alten verblaßten Bilder an den Wänden, die Statuen der Heiligen an den Säulen und Pfeilern, die Kreuze und Kirchenbanner: das alles gewann ein seltsames, geisterhaftes Leben in dem roten Lichte. Die Engelgestalten an den Stufen des Hochaltars schienen leise die Flügel zu regen, und der breite Goldstreif, der das Altarbild überflutete, wurde zum Purpurlichte, das langsam immer höher emporstieg. Der Felsenschlund und Lucifer sanken allmählich in Schatten und Dunkel, während Sankt Michaels mächtige Gestalt mit den Adlerflügeln noch wie von einer Flammenglorie umgeben war.
Es war ein längeres Schweigen eingetreten. Hertha brach es zuerst, aber ihre Stimme hatte etwas Unsicheres, Zögerndes, als sie wieder das Wort nahm.
»Herr Hauptmann Rodenberg – ich habe eine Bitte an Sie.«
Er sah rasch auf. »Sie befehlen?«
»Ich möchte in Bezug auf einen gewissen Vorfall die Wahrheit wissen, die volle rückhaltlose Wahrheit. Werde ich sie von Ihnen erfahren?«
»Wenn es in meiner Macht steht –«
»Gewiß, Sie brauchen nur zu wollen. Mein Onkel Steinrück hat mir mitgeteilt, daß die Angelegenheit, bei der ich ihn zum Einschreiten veranlaßte, völlig ausgeglichen sei, und ich zweifle selbstverständlich nicht an seinen Worten, aber ich fürchte –« Sie hielt inne.
»Sie fürchten?«
»Daß die Aussöhnung nur eine augenblickliche, scheinbare gewesen ist. Sie konnten vielleicht Ihrem General die Nachgiebigkeit nicht verweigern, die er forderte, so wenig wie Raoul sie dem Großvater verweigern konnte, und bei dem nächsten Zusammentreffen wird der Streit erneuert werden.«
»Von meiner Seite nicht,« sagte Michael kalt. »Da Graf Steinrück in Gegenwart des Generals seine Beleidigungen zurückgenommen hat, so habe ich Genugthuung erhalten.«
»Raoul? Er hätte das wirklich gethan?« rief Hertha halb ungläubig, halb empört.
»Unter einer andern Bedingung wäre der Ausgleich wohl nicht möglich gewesen. Der Graf wich allerdings der Autorität seines Großvaters, der diese Zurücknahme auf das bestimmteste von ihm verlangte.«
»Und Raoul hätte sich einem derartigen Befehl gefügt? Unmöglich!«
»Zweifeln Sie an der Wahrheit meiner Worte?« sagte Michael scharf.
»Nein, Hauptmann Rodenberg, nein, aber ich sehe immer mehr, daß hier irgend etwas Besonderes zu Grunde liegt, wenn es mir auch abgeleugnet wird. Schon damals, bei der Scene im Revalschen Hause, fielen seltsame, mir unverständliche Andeutungen. Sie sind doch unsrer Familie fremd, soviel ich weiß.«
»Ja!« antwortete Michael mit eisiger Entschiedenheit.
»Und dennoch war von Beziehungen die Rede, die Sie ebenso wie Raoul abzulehnen schienen. Was sind das für Beziehungen?«
»Sollte Ihnen der General oder Graf Raoul Steinrück die Antwort nicht besser geben können, als ich es vermag?«
Hertha schüttelte verneinend das Haupt.
»Sie können oder wollen mir nichts sagen. Ich habe es bereits versucht. Von Ihnen hoffe ich endlich die Wahrheit zu hören.«
»Und auch ich muß Sie bitten, mir das zu erlassen. Eine derartige Erörterung würde nur peinlich sein, und wie weit sie führen kann, davon sind Sie ja Zeuge gewesen.«
»Ich hörte nur den Anfang des Gespräches,« sagte die junge Gräfin, welche erriet, daß hier ein Punkt berührt wurde, der besser unerörtert blieb. »Es war allerdings genug, um mich einen ernsten Ausgang fürchten zu lassen; das weitere aber habe ich in der That nicht –«
»Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen,« fiel Rodenberg mit der tiefsten Bitterkeit ein. »Ich weiß, daß Sie die ganze Unterredung mit angehört haben, und da wird Ihnen wohl auch das eine Wort nicht entgangen sein, mit dem Graf Steinrück das Andenken meines Vaters beschimpfte.«
Hertha schwieg einige Sekunden, dann sagte sie leise:
»Ja, ich habe es gehört, aber ich wußte, daß es ein Irrtum war. Auch Raoul ist jedenfalls davon überzeugt worden und hat deshalb das Wort zurückgenommen, nicht wahr?«
Michaels Lippen zuckten, er sah es: die junge Gräfin hatte nicht die leiseste Ahnung von seinen Beziehungen zu ihrer Familie, von der Tragödie, die einst dort gespielt hatte, und er wollte ihr die Aufklärung wahrlich nicht geben; aber er wollte auch nicht länger diesen Ton angstvoller, inniger Teilnahme hören, der ihn gefährlicher umspann als einst das alte lockende Sirenenlied. Er wußte freilich, daß schon sein nächstes Wort eine Kluft zwischen ihnen aufriß, die nicht mehr zu überbrücken war. Um so besser! Es war unvermeidlich, wenn er den Rest seiner Selbstbeherrschung bewahren wollte, und mit der ganzen Schroffheit, die ihm zu Gebote stand, entgegnete er:
»Nein!«
»Nein?« wiederholte Hertha, entsetzt zurückweichend.
»Das erschreckt Sie, Gräfin Steinrück, nicht wahr? Aber einmal muß es doch ausgesprochen werden. Ich kann meine eigene Ehre vertreten und schützen gegen jeden, der es wagen sollte, sie anzugreifen. Gegen Angriffe auf meinen Vater bin ich wehrlos. Ich kann den Beleidiger zu Boden schlagen – der Lüge zeihen kann ich ihn nicht.«
Seine Stimme war anscheinend ruhig, wenn auch völlig klanglos; aber Hertha sah und fühlte es, wie das ganze Innere des sonst so eisernen Mannes zuckte unter der Wunde, die er so schonungslos vor ihren Augen aufriß. Sie kannte am besten seinen Stolz, der sich nicht einmal da beugen wollte, wo er liebte, und konnte ermessen, was ihn dies Geständnis kostete, und alles andre vergessend, nur dem augenblicklichen Gefühl folgend, brach sie aus:
»Mein Gott, wie furchtbar müssen Sie darunter gelitten haben!«
Michael zuckte zusammen und sah sie starr und fragend an. Es war das erste Mal, daß er diesen Ton hörte, der so ganz und voll aus dem Herzen kam, in dem eine so leidenschaftliche Teilnahme lag, als empfinde sie in jeder Fiber seine Qual mit. Es blitzte vor ihm auf wie der erste Strahl eines Glückes, von dem er wohl bisweilen geträumt und gegen das er sich doch gewehrt hatte mit dem ganzen Stolze des Mannes, der um keinen Preis zum Spielwerk einer Laune werden will. Das aber, was er jetzt sah und hörte, war kein Spiel; das war ein Ausbruch völliger Selbstvergessenheit, rückhaltloser Wahrheit.
»Können Sie mir das wirklich nachempfinden?« fragte er mit stockendem Atem. »Sie, die auf den Höhen des Lebens geboren und erzogen sind und nie einen Blick in die dunkeln Tiefen des Elends gethan haben? Ja, ich habe furchtbar gelitten und leide noch, wenn ich bei einer Erinnerung, die mir die teuerste und heiligste sein sollte, bei dem Worte ›Vater‹ die Augen niederschlagen muß.«
Hertha war dicht an seine Seite getreten, und jetzt schlug ihre Stimme an sein Ohr, so leise und weich, als gelte es die Berührung einer schweren Wunde.
»Wenn Sie den Vater nicht lieben konnten – Sie haben ja doch eine Mutter gehabt, und ihr Andenken ist doch wenigstens rein geblieben?«
»Ihr Andenken, ja! Aber sie war eine Unglückliche, die Heimat und Familie aufgegeben hatte, um dem Manne zu folgen, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte. Sie hat die Täuschung mit dem Elend eines ganzen Lebens bezahlt – und ist auch daran gestorben!«
»Und ihre Familie wußte das und ließ sie sterben im Elend?«
»Weshalb denn nicht? Es war ja ihre freie Wahl gewesen, sie büßte nur ihre Schuld! Begreifen Sie denn das nicht, Gräfin Steinrück?«
Die Worte waren wieder ganz von der früheren Bitterkeit überflutet. Hertha hob langsam die Augen zu ihm empor; sie hatten jetzt nichts mehr von jenem schillernden Glanze, der sie in manchem Augenblicke halb dämonisch erscheinen ließ; der feuchte Schimmer darin kam von Thränen.
»Nein, aber ich begreife, daß sie dem Manne ihrer Liebe folgte und an ihn glaubte, der ganzen Welt zum Trotze, wenn der Weg auch in Dunkel und Schmach, wenn er selbst ins Verderben führte – ich hätte es auch gekonnt!«
»Hertha, das sagen Sie mir? Das höre ich von Ihren Lippen?« brach Michael mit vollster Leidenschaft aus, und ehe sie es hindern konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und stürmisch seine Lippen darauf gedrückt; aber das brachte die junge Gräfin zur Besinnung, sie schreckte empor.
»Hauptmann Rodenberg, um Gottes willen! Sie vergessen –«
»Was?« fragte er, ihre Hand noch fester umschließend.
»Daß ich die Braut Raouls bin!«
»Nur seine Braut, nicht sein Weib! Das Band kann ja gelöst werden. Geben Sie mir das Recht dazu, und ich zerreiße –«
»Nein, Michael, niemals! Es ist zu spät – ich bin gebunden!«
»Sie sind frei, sobald Sie wollen, aber Sie wollen nicht!«
»Ich kann nicht!«
»Hertha – ist das Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes.«
Michael ließ ihre Hand fallen und trat zurück.
»So bitte ich um Verzeihung wegen meiner – Vermessenheit.«
Hertha sah es, wie tief er verletzt war. Sie büßte jetzt das Spiel, das sie einst im Uebermut mit ihm getrieben. Er glaubte nicht an sie. Der alte böse Geist, der alte Argwohn regte sich wieder in ihm und flüsterte ihm zu, sie habe nur den Mut des Wortes, nicht den der That und ziehe es doch schließlich vor, sich die Grafenkrone zu sichern, anstatt dem Sohne des Abenteurers zu folgen. Ein Wort aus ihrem Munde hätte ihn aus seinem Irrtum reißen können, aber vor der jungen Gräfin erhob sich in diesem Augenblick das strenge, finstere Antlitz des alten Generals; sie fühlte seinen eisernen Händedruck, hörte seine drohenden Worte: »Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist!« Die Erinnerung trat gebieterisch ein für die Heiligkeit des gegebenen Wortes. Man zerriß ein freiwillig geknüpftes Band nicht wenige Wochen vor der Vermählung, weil man sich – anders besonnen. Hertha senkte das Haupt und schwieg.
Die Sonne war gesunken, und mit ihr erlosch auch der Schimmer, der die ganze Kirche wie in Glut und Verklärung getaucht hatte. Kalt und leblos wie sonst standen die Bilder und Statuen da, und graue Dämmerungsschatten schienen leise niederzuschweben; nur die lichte Gestalt des Erzengels war noch erkennbar in dem Dunkel der Altarnische. Aber der Sturm, der draußen um die Mauern brauste, mußte jetzt irgendwo den Eingang gefunden haben; er zog in langen unheimlichen Tönen oben an der Wölbung hin und erstarb dann flüsternd, wie Geisterhauch.
Hertha schauerte unwillkürlich zusammen bei den seltsam klagenden Lauten und wandte sich dann, zu gehen. Michael folgte, aber er blieb einige Schritte hinter ihr zurück. Keiner von den beiden sprach ein Wort. Sie traten eben in die Vorhalle der Kirche, da kam ihnen der Pfarrer entgegen, aber mit erregter, bekümmerter Miene.
»Ich suchte Sie, Gräfin Hertha,« sagte er, noch atemlos von dem eiligen Gange. »Da bist du ja auch, Michael! Es ist ein Bote vom Schloß Steinrück heraufgekommen.«
»Vom Schloß?« fiel Hertha erschrocken ein. »Es ist doch nicht schlimmer mit meiner Mutter geworden?«
»Die Frau Gräfin scheint allerdings kränker geworden zu sein, und Fräulein von Eberstein wollte Ihnen Nachricht davon geben, hier ist der Brief.«
Hertha erbrach hastig das dargereichte Schreiben und durchflog es. Valentin sah, daß sie erbleichte.
»Ich muß fort! Es ist keine Minute zu verlieren. Bitte, Hochwürden, lassen Sie den Wagen in Bereitschaft setzen.«
»Jetzt wollen Sie fort?« fragte der Pfarrer bestürzt. »Es dämmert ja bereits; in einer halben Stunde ist es dunkel, und der Sturm wird heftiger. Sie können doch unmöglich in der Nacht die lange Bergfahrt machen.«
»Ich muß! Gerlinde würde nicht in solchen Ausdrücken schreiben, wenn meine Mutter nicht in wirklicher Gefahr schwebte.«
»Aber Sie bringen sich selbst in Gefahr bei einem solchen Wagnis. Michael, was meinst du dazu?«
»Es wird eine Sturmnacht geben,« sagte Michael hervortretend. » Müssen Sie fort, Gräfin Steinrück?«
Sie reichte statt aller Antwort ihm und dem Pfarrer den Brief, der nur einige, augenscheinlich in höchster Eile hingeworfene Zeilen enthielt:
»Die Tante ist plötzlich kränker geworden; sie verlangt nach Dir, und ich bin in Todesangst. Der Arzt spricht von einem schweren, vielleicht tödlichen Anfall. Komm sofort zurück! Gerlinde.«
»Sie sehen, daß hier keine Wahl ist,« sagte die junge Gräfin mit bebender Stimme. »Wenn ich sofort aufbreche, kann ich vor Mitternacht im Schlosse sein. Lassen Sie uns gehen, Hochwürden!«
Sie waren schon während der letzten Minuten in das Freie getreten und wandten sich jetzt dem Dorfe zu. Hertha und der Pfarrer hatten Mühe, bei dem Sturme vorwärts zu kommen. Valentin machte noch einen Versuch, sie zu bestimmen, wenigstens die Nachtfahrt zu unterlassen; der Tag breche ja jetzt so früh an, und sie könne beim ersten Morgengrauen aufbrechen. Es war umsonst.
Im Pfarrhause trat ihnen der Bote, ein Diener aus dem Schlosse, entgegen, der zu Pferde gekommen war; aber er wußte auf die angstvollen Fragen seiner jungen Herrin nichts Tröstliches zu berichten. Die Frau Gräfin sei allerdings sehr krank; der Herr Doktor scheine die Sache ernst zu nehmen und habe ihm die größte Eile anempfohlen.
Michael hatte sich der Abmahnung des Pfarrers nicht angeschlossen, jetzt aber trat er hervor und fragte leise: »Darf ich Sie begleiten?«
»Nein!« war die ebenso leise, aber mit voller Entschiedenheit gegebene Antwort. Er trat finster zurück.
Zehn Minuten später saß Hertha bereits in dem kleinen Bergwagen, den ihre Mutter stets benutzte, wenn sie nach Sankt Michael kam, und dessen auch sie sich bedient hatte. Der Kutscher war zuverlässig, und der begleitende Diener wie der Bote, der sich gleichfalls anschloß, ritten tüchtige Bergpferde. Dennoch stand der alte Pfarrer mit bekümmerter Miene am Schlage, aus dem die junge Gräfin ihm zum Abschiede die Hand entgegenstreckte. Dann wandte sich das schöne, jetzt so bleiche Antlitz nach der Thür des Pfarrhauses, wo Michael stand. Ihre Blicke trafen sich noch einmal, es war ein Lebewohl für immer!
»Gott gebe, daß der Sturm während der Nacht nicht heftiger wird,« sagte Valentin seufzend, als der Wagen abfuhr. »Bei einer wirklichen Gefahr würden die Diener doch den Kopf verlieren. Ich hoffte, du würdest der Gräfin deine Begleitung anbieten, Michael.«
»Das habe ich gethan, aber sie wurde in der bestimmtesten Weise zurückgewiesen, und aufdrängen konnte ich mich selbstverständlich nicht.«
Der Pfarrer schüttelte unwillig das greise Haupt.
»Wie kannst du in einer solchen Stunde empfindlich und gereizt sein! Du sahst ja, in welcher Aufregung Gräfin Hertha war, aber sobald es sich um die Steinrück handelt, schweigt all dein Gerechtigkeitsgefühl; das weiß ich längst.«
Michael erwiderte nichts auf diesen Vorwurf; sein Blick folgte nur dem Wagen, der jetzt in der Biegung des Weges verschwand, und flog dann zu der Adlerwand hinüber, die weiß und gespenstisch in der zunehmenden Dämmerung dastand. Noch war sie klar; aber um ihre Gipfel begann sich jetzt Gewölk zu sammeln, Sturmgewölk, das sich langsam und drohend zusammenballte.
Valentin und sein Gast waren in das Haus zurückgekehrt; sie hatten sich seit dem Herbste nicht gesehen. Es gab unendlich viel zu fragen und zu berichten, und das gewünschte ungestörte Beisammensein wurde ihnen ja nun im vollsten Maße zu teil. Dennoch wollte das Gespräch nicht in Gang kommen. Michael besonders war ungemein zerstreut und einsilbig: er schien manche Frage gar nicht zu hören, gab falsche Antworten oder fuhr, wie aus einem Traum erwachend, dabei auf. Der Pfarrer bemerkte mit Befremden, daß er mit seinen Gedanken ganz wo anders war.
Die Dämmerung begann überhand zu nehmen, und die alte Kathrin hatte soeben Licht gebracht; da pochte es an die Thür, und gleich darauf trat ein älterer Mann in Jägertracht ein, der geradeswegs auf den Pfarrer zuging und den Hut zog.
»Grüß Gott, Hochwürden, da bin ich einmal wieder in Sankt Michael! Kennen Sie mich noch? Es mögen an die zehn Jahr sein, daß ich von der Bergförsterei fortgegangen bin.«
»Wolfram, Ihr seid es!« rief Valentin in höchster Ueberraschung. »Wo kommt Ihr her?«
»Von Tannberg. Ich hab' dorthin gemußt, ans Landgericht, einer kleinen Erbschaft wegen, die mir ein alter Vetter hinterlassen hat. Da nun morgen grade Michaelsfest ist, wollt' ich mich doch einmal umschauen nach der alten Heimat und auch nach Ihnen, Hochwürden. Bin erst vor einer halben Stunde angekommen und beim Rainwirt abgestiegen; wollt' Ihnen doch aber heut abend noch, Grüß Gott' sagen.«
Der Pfarrer blickte mit einer gewissen Verlegenheit auf Michael. Dies unerwartete Zusammentreffen hatte doch etwas Peinliches für den nunmehrigen Offizier; denn wenn Wolfram ihn auch vorläufig noch nicht erkannte, so konnte das doch nicht ausbleiben.
»Das ist brav, daß Ihr Euch noch die Anhänglichkeit an mich und an die alte Heimat bewahrt habt,« sagte er etwas zögernd.
»Ich bin nicht allein, wie Ihr seht, sondern habe einen Gast im Hause –«
»Weiß schon, einen Offizier,« fiel der Förster ein, indem er sich stramm aufrichtete und auch wirklich einen echt militärischen Gruß zu stande brachte. »Hab's schon gehört beim Rainwirt. Ein Sohn von dem Herr Bruder da oben in Berlin!«
Michael hatte auf den ersten Blick seinen ehemaligen Pflegevater wiedererkannt. Es war noch die kraftvolle gedrungene Gestalt mit den harten Zügen, Haar und Bart jetzt allerdings grau geworden, aber noch ebenso verwildert wie einst, die ganze Erscheinung unverändert in ihrer derben Bauernart. In Rodenbergs Brust wallte eine bittere Empfindung auf, als er den Mann vor sich sah, dessen Roheiten er jahrelang hatte aushalten müssen, unter dessen brutaler Gewalt seine Knabenzeit und seine ersten Jünglingsjahre im eigentlichsten Sinne des Wortes verkommen waren. Wohl sagte ihm sein Gerechtigkeitsgefühl, der Förster habe es eben nicht besser verstanden; dennoch gewann er es nicht über sich, ihm mit der alten Vertraulichkeit entgegenzutreten. Es lag etwas Unnahbares in seinem Wesen, trotzdem er sich jetzt erhob und dem Ankömmlinge die Hand hinstreckte. »Der Offizier ist Ihnen doch nicht ganz fremd, Herr Förster,« sagte er ruhig. »Ich dächte, wir hätten uns schon früher gesehen.«
Wolfram stutzte beim Klange der Stimme und sah den Sprechenden von oben bis unten an, schüttelte dann aber verneinend den Kopf.
»Hab' nicht die Ehre gehabt, Herr Hauptmann, soviel ich weiß. Nur die Stimme meint' ich zu kennen, und Sie haben auch im Gesicht etwas – ja was ist's denn nur? Ich glaub', Hochwürden, der Herr da gleicht dem vertrackten Burschen, dem Michel, der uns davongelaufen ist.«
»Und auf den Ihr nicht gut zu sprechen seid, wie es scheint.«
»Das fehlte noch!« sagte der Förster in seiner derben Weise. »Ich habe Kreuz und Elend genug gehabt mit dem Unheilsbuben. Bärenstark war er ja, aber auch so dumm, daß keine Menschenseele etwas mit ihm anfangen konnte: nichts begriff er, nichts verstand er, und zuletzt brachte er mich noch in Ungnade bei dem Herrn Grafen. Ich war froh, als er auf und davon ging und ich ihn los war; er wird wohl irgendwo verdorben sein, denn er taugte zu gar nichts in der Welt.«
Michael lächelte flüchtig bei dieser nicht gerade schmeichelhaften Charakteristik, der Pfarrer aber sagte ernst: »Da täuscht Ihr Euch, Wolfram, wie Ihr Euch stets in Eurem Pflegesohn getäuscht habt. Seht Euch den Herrn da genau an es ist Hauptmann Michael Rodenberg.«
Wolfram prallte drei Schritt zurück und starrte dann sprachlos, mit weit aufgerissenen Augen Michael an, als sehe er ein Gespenst vor sich.
»Der Hauptmann – der Michel?« brachte er endlich mühsam heraus.
»Der doch nicht so ganz verdorben ist!« ergänzte Michael. »Sie sehen, er hat es trotz seiner Dummheit doch bis zum Hauptmann gebracht.«
Der Förster stand noch immer da, als habe der Blitz vor ihm eingeschlagen, und bemühte sich vergebens, die unerhörte Thatsache zu begreifen. Er blickte in hilfloser Verlegenheit zu Michael auf, der jetzt, als er herantrat, den ehemaligen Pflegevater fast um Kopfeslänge überragte, und wagte es kaum, die dargebotene Hand zu berühren. Er stotterte einige Worte, die halb Begrüßung und halb Entschuldigung waren, kam aber mit beidem nicht zu stande; sein Begriffsvermögen schien völlig aufzuhören.
Valentin in seiner gewohnten Güte kam ihm zu Hilfe, indem er nach seinem Ergehen in den letzten zehn Jahren fragte; aber es dauerte eine ganze Weile, ehe Wolfram sich so weit faßte, um überhaupt Rede und Antwort zu geben, und als es endlich geschah, that er es in ganz verwirrter Weise. Zu berichten hatte er freilich nicht viel; seine jetzige Stellung auf den Gütern der jungen Gräfin Steinrück brachte ihm allerdings ein weit höheres Einkommen als die frühere, sonst aber hauste er nach wie vor in seinen Wäldern, gänzlich auf den Verkehr mit seinen Dienstleuten angewiesen, kam nur selten mit andern Menschen in Berührung und schien das gleiche halbwilde Leben zu führen wie einst auf der Bergförsterei. Den General sah er noch öfter, denn dieser nahm es ernst mit seinen vormundschaftlichen Pflichten und pflegte die Güter seines Mündels persönlich zu inspizieren; die junge Gräfin aber, seine eigentliche Herrin, die niemals nach jenen Besitzungen kam, hatte er heute zum erstenmal nach zehn Jahren wiedergesehen: er war ihr auf dem Wege hierher begegnet, als sie mit ihrer Begleitung in das Schloß zurückkehrte.
Das alles kam jedoch nur stückweise und abgebrochen zum Vorschein. Dabei hielt er noch immer hartnäckig die Augen auf Michael gerichtet, verstummte aber sofort, wenn dieser sich in das Gespräch mischte. Seine Scheu schien eher zu wachsen als sich zu verlieren, sogar seine Derbheit ließ ihn hier vollständig im Stich. Michael zeigte sich übrigens ebenso einsilbig und zerstreut wie vorhin im Gespräch mit dem Pfarrer; selbst dies unerwartete Zusammentreffen vermochte nicht, seine Gedanken selbst abzulenken; sie folgten unaufhörlich dem kleinen Bergwagen, der jetzt wohl schon ein Drittel des Weges zurückgelegt haben mochte, und plötzlich erhob er sich und ging hinaus, um zu sehen, ob der Mond, der soeben aufgegangen war, auch hell genug leuchtete für die nächtliche Bergfahrt.
Wolfram sah ihm nach, sah dann den Pfarrer an und sagte in einem seltsam gedrückten Tone:
»Hochwürden, ist es denn wirklich wahr? Ist das wirklich und wahrhaftig der Michel, unser Michel?«
Valentin konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren, als er entgegnete:
»Ich dächte, das müßtet Ihr doch nun nachgerade sehen.«
»Ja, ich seh' es schon, aber glauben thu' ich es nicht,« erklärte Wolfram. »Das soll der Bub' sein, der so oft meine Hand gespürt hat wegen seiner Dummheit und Verstocktheit? Der Rainwirt sagt ja, er wäre so furchtbar gescheit, daß sie ihn eigens in den Generalstab geholt hätten, und in den beiden letzten Kriegen wäre er auf den Feind losgegangen und hätte dreingeschlagen, daß alles nur so krachte. Er ist ja auch jetzt Hauptmann geworden, grade wie mein gnädiger Herr Graf, als ich vor vierzig Jahren bei ihm in Dienst trat, und er kann am Ende auch noch General werden wie Seine Excellenz.«
»Möglich ist das wenigstens; aber hat der Rainwirt denn keinen Namen genannt, der Euch aufklären konnte?«
»Nein, er hat immer nur von dem Hauptmann gesprochen und scheint einen gewaltigen Respekt vor ihm zu haben. Nun, so viel hab' ich auch schon gemerkt, nah' kommen darf man dem Herrn Michel nicht mehr. Er ist ja freundlich genug, aber er hat etwas in seiner Art wie: bleib mir zehn Schritt vom Leibe! Er nennt mich ja jetzt auch ›Herr Förster‹, da werd' ich wohl auch ›Herr Hauptmann‹sagen müssen.«
»Ihr werdet allerdings den veränderten Verhältnissen Rechnung tragen müssen,« sagte der Pfarrer ernst. »Und noch eins, Wolfram! Es ist nicht nötig, daß Ihr dem Rainwirt und den andern Bekannten erzählt, Hauptmann Rodenberg sei Euer einstiger Pflegesohn. Er ist damals mit den Dorfleuten so wenig in Berührung gekommen und hat sich so vollständig verändert, daß niemand ihn wiedererkannte, als er nach Jahren als Offizier zu mir kam. Ich weiß, Graf Steinrück hatte Euch strenges Schweigen über Euren Pflegling auferlegt, und Ihr habt geschwiegen. Ihr würdet Michael und mich verbinden, wenn Ihr das auch jetzt thun wolltet.«
»Das Schwatzen ist meine Sache nicht, das wissen Sie ja, Hochwürden,« entgegnete Wolfram kurz. »Viel Ehr' kann ich auch nicht einlegen mit meinen Prophezeiungen über den Michel; die Leute würden mich nur hänseln damit, und übermorgen geh' ich ja schon wieder fort – mir ist's recht, wenn die Geschichte unter uns bleibt.«
Der Wiedereintritt Michaels machte dem Gespräch ein Ende. Gleich darauf verabschiedete sich der Förster und kehrte zu dem Rainwirt zurück, der die kleine Gastwirtschaft des Dorfes hielt und dessen Gehöft eine ganze Strecke vom Pfarrhause entfernt lag. Die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, und bald lag Sankt Michael in tiefem Schlafe.
Die Anzeichen, die dem geübten Auge schon den ganzen Abend hindurch sichtbar gewesen waren, hatten nicht getäuscht. Gegen Mitternacht brach der Sturm in der That los, mit einer Heftigkeit und Wildheit, die selbst in diesen Bergen zu den Seltenheiten gehört.
Das kleine Alpendorf war hinreichend vertraut mit den Herbst- und Frühlingsstürmen, und die Bewohner schliefen meist ruhig und sorglos, wenn es über die niedrigen, steinbeschwerten Häuser hinbrauste und an Thüren und Fenstern rüttelte. Diesmal aber war das Heulen und Toben so arg, daß es sie aus ihrer Ruhe aufschreckte. Sie schlugen ein Kreuz und blieben wach für alle Fälle. Schien es doch, als sollte das ganze Sankt Michael vom Boden weggefegt werden.
Auch im Pfarrhause schimmerte Licht. Der Pfarrer hatte sich gleichfalls erhoben und stand völlig angekleidet am Fenster, als er Michaels Schritt auf der Treppe hörte.
»Ich sah Licht in Ihrem Zimmer, deshalb kam ich herunter,« sagte dieser eintretend. »Der Sturm hat Sie auch aus dem Bette gejagt; ich dachte es mir.«
»Und du bist wohl überhaupt gar nicht zu Bett gewesen?« fragte Valentin. »Ich habe wenigstens fortwährend deinen Schritt im Giebelzimmer gehört. Du scheinst stundenlang auf und nieder gegangen zu sein.«
»Ich konnte nicht schlafen und dachte wirklich nicht daran, daß ich Sie stören würde.«
»Nicht doch, ich schlief ohnehin unruhig, weil ich fortwährend an Gräfin Hertha und ihre Bergfahrt denken mußte. Gott sei Dank, daß der Sturm erst gegen Mitternacht ausbrach! Sie muß schon um elf Uhr im Schlosse gewesen sein.«
»Nehmen Sie das mit solcher Bestimmtheit an?« fragte Michael hastig und gepreßt.
»Gewiß, die Niederfahrt ist selbst bei aller Vorsicht in drei Stunden zu machen: so lange war der Himmel noch ziemlich klar, und überdies haben wir Vollmond. Was ich fürchtete, war ein zu frühes Ausbrechen des Sturmes, der die Gräfin auf dem Wege hätte überfallen können. Wenn sie erst im Thal angelangt ist, gibt es überhaupt keine Gefahr mehr.«
» Wenn sie angelangt ist – wer sich darüber Gewißheit verschaffen könnte!« murmelte Michael. Er mußte dem Pfarrer recht geben: aller Wahrscheinlichkeit nach war Hertha längst schon in Sicherheit. Aber die verzehrende Unruhe, die ihm den Schlaf geraubt und ihn rastlos umhergetrieben hatte, wollte nicht weichen. Es lag auf ihm wie eine unbestimmte Angst, wie die Ahnung irgend eines Unheils.
Er war gleichfalls an das Fenster getreten, und beide blickten eine Weile schweigend hinaus in die Sturmnacht, die ein ungewisser Dämmerschein erfüllte. Der Mond leuchtete selbst durch den Wolkenschleier hell genug, um auf einige Entfernung hin die Gegenstände zu unterscheiden; plötzlich tauchte die dunkle Gestalt eines Mannes auf, der vom Eingange des Dorfes zu kommen schien und, kraftvoll gegen den Sturm ankämpfend, geradeswegs auf das Pfarrhaus zuschritt. Michaels scharfes Auge entdeckte ihn zuerst; er machte den Pfarrer aufmerksam, der verwundert den Kopf schüttelte.
»In solchem Wetter? Da kann es sich nur um einen Kranken handeln, der das Sakrament verlangt; aber ich weiß augenblicklich von keinem einzigen Krankheitsfall im Dorfe. Der Mann kommt wirklich hierher; da werde ich ihm wohl öffnen müssen.«
Er ging in der That hinaus, um selbst zu öffnen, und gleich darauf hörte man draußen Wolframs Stimme.
»Ich bin's, Hochwürden! Ich komm' wie ein Gespenst um Mitternacht, aber es hilft nichts. Wenn Sie nicht wach gewesen wären, so hätte ich Sie herauspochen müssen.«
»Was gibt es denn? Was bringt Ihr?« fragte Valentin besorgt, indem er mit dem späten Gast wieder in das Zimmer trat.
»Nichts Gutes, Hochwürden! Lassen Sie mich nur erst zu Atem kommen – der verwünschte Sturm – er hat mich fast umgerissen auf dem Wege! Ich komm' wegen der jungen Gräfin –«
»Gräfin Steinrück? Wo ist sie?« fiel Michael ihm heftig in das Wort.
»Ja, das weiß der Himmel! In das Pfarrhaus ist sie doch nicht zurückgekommen?«
»Um Gottes willen, nein!« rief Valentin erschrocken. »Die Gräfin wollte ja nach dem Schlosse.«
»Ja, aber sie hat umkehren müssen. Dies verdammte Pferd scheute vor einem Wildwasser! Ich möchte der Kreatur, die das ganze Unglück angerichtet hat, den Hals dafür umdrehen. Und der Kutscher, anstatt die Zügel festzuhalten, fliegt vom Bock; nun liegt er da, mit einem zolltiefen Loch im Kopfe. Der Diener hat ihn mit Mühe und Not zum Wirtshaus geschleppt, und die junge Gräfin ist verloren gegangen auf dem Rückwege. Kein Mensch weiß, wo sie ist – und das gerade in dieser Nacht, wo alle Teufel los sind!«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen; Michael war leichenblaß geworden. So unklar und verworren der Bericht auch klang: er sah doch, daß seine Unheilsahnung ihn nicht getäuscht hatte.
»Ist die Gräfin unverletzt geblieben? Wo hat der Unfall stattgefunden? Zu welcher Stunde? So antworten Sie doch!«
Er stürmte mit all diesen Fragen so leidenschaftlich auf den Förster ein, daß Valentin ihn trotz seiner Angst befremdet anblickte. Wolfram bemühte sich augenscheinlich, mehr im Zusammenhange zu erzählen, und es gelang ihm auch einigermaßen, aber sein Bericht lautete darum nicht tröstlicher.
»Zu Anfang ist es ganz gut gegangen,« berichtete er. »Die Straße war im Mondlicht hell wie am Tage und sie kamen ziemlich schnell vorwärts. Da scheut die Bestie, das Pferd, vor einem Wildbach, der inzwischen losgebrochen ist und vom Felsen tobt; es setzt in blinder Angst seitwärts in das Steingeröll, kommt dabei zu Fall und reißt im Sturze den ganzen Wagen mit sich.«
»Und die Gräfin ist wirklich nicht verletzt worden?« Die Frage klang ebenso stürmisch wie die vorhergehenden.
»Nein, sie stand gleich wieder auf den Füßen, aber der Kutscher lag da und blutete, und am Wagen war ein Rad gebrochen. Die Diener haben natürlich den Kopf verloren; solches Volk macht ja nur Dummheiten, wenn es einmal anders hergeht, als in seinem Schlosse. Die junge Gräfin scheint die einzig Vernünftige gewesen zu sein, und sie brachte mit ihren Befehlen denn auch Ordnung in die Geschichte. Mit dem zerbrochenen Wagen konnten sie nicht weiter: also blieb nichts übrig, als umzukehren. Der Kutscher, der nicht von der Stelle konnte, wurde in die Wagenkissen gesetzt, und der eine Diener blieb bei ihm, während die Gräfin mit dem andern sich auf den Rückweg nach Sankt Michael machte und versprach, sofort Hilfe zu schicken – seitdem hat man nichts wieder von ihr gesehen und gehört.«
»Um welche Stunde ist das gewesen?« unterbrach ihn Michael.
»So etwa gegen neun Uhr.«
»Dann hätte sie um zehn Uhr hier sein müssen – und jetzt ist es eine Stunde nach Mitternacht!«
Er stieß die Worte mit einer solchen Todesangst hervor, daß der Pfarrer ihm wieder jenen halb fragenden, halb bestürzten Blick zusandte. Aber Michael hatte jetzt nur Augen und Ohren für den Bericht des Försters und drängte in bebender Ungeduld:
»Weiter, weiter!«
»Ja, weiter ist nicht viel zu sagen,« erklärte Wolfram. »Die beiden auf der Straße warteten zwei Stunden lang; als aber die Hilfe noch immer nicht kam und das Wetter immer drohender wurde, waren sie gescheit genug, auf eigene Hand aufzubrechen. Der Kutscher, der wieder etwas zu sich gekommen war, wurde auf das Pferd gesetzt, das der andre am Zügel führte, und so langten sie denn endlich beim Rainwirt an, kamen aber nicht weiter, weil der Sturm gerade ausbrach; sie glaubten jedoch steif und fest, die Gräfin sei schon längst im Pfarrhause. Nun kam es freilich heraus, daß sie gar nicht ins Dorf zurückgekehrt war; sie hätte ja beim Wirtshaus vorbei gemußt, aber niemand hatte sie gesehen. Der Diener jammert um seine junge Herrschaft und lamentiert wie ein altes Weib; aber er war nicht dazu zu bringen, in dem Sturm auch nur bis zum Pfarrhause zu gehen. Da hab' ich es übernommen, denn wissen müssen Sie die Geschichte doch, Hochwürden. Was machen wir nun?«
»Da ist ein Unglück geschehen!« rief der Pfarrer, der mit steigender Angst zugehört hatte. »Ich ahnte es ja, als diese unselige Bergfahrt angetreten wurde. Sie sind unterwegs irgendwo abgestürzt.«
»Ich glaube eher, daß sie sich verirrt haben,« sagte Michael; aber seine Stimme bebte, trotz seines Bemühens, sich zu beherrschen. »Die beiden Zurückkehrenden haben keine einzige Spur der Vermißten gefunden?«
»Nein, nicht die geringste,« versetzte Wolfram mit Bestimmtheit.
»Dann ist auch kein Absturz erfolgt. Zwei Menschen mit zwei Pferden können auf der verhältnismäßig sicheren Fahrstraße nicht so spurlos verschwinden – sie haben den Weg verfehlt.«
»Aber er ist ja gar nicht zu verfehlen,« wandte der Pfarrer ein.
»Doch, Hochwürden, beim Almenbach, wo es aufwärts nach der Bergkapelle geht. Die Wege gleichen sich nur zu sehr; das Mondlicht täuscht, und wenn die Gräfin den Irrtum nicht rechtzeitig bemerkt hat, dann ist sie – in die Klüfte der Adlerwand geraten!«
»Gott steh uns bei!« rief der Pfarrer. »Das wäre ja fast so schlimm wie der Absturz!«
Michael biß die Zähne zusammen; er wußte, daß es keine Uebertreibung war; er kannte die Klüfte und Abgründe der Adlerwand noch von seiner Knabenzeit her.
»Es ist die einzig denkbare Möglichkeit,« entgegnete er. »Jedenfalls ist keine Minute mehr zu verlieren; es sind schon Stunden darüber hingegangen. Wir müssen sofort hinaus!«
»Jetzt? In dieser Nacht?« fragte Wolfram, den Hauptmann anstarrend, als glaube er, dieser sei nicht recht bei Sinnen, und der Pfarrer rief erschrocken:
»Michael, was fällt dir ein? Du willst doch nicht etwa –?«
»Die Gräfin suchen! Gewiß, das ist doch selbstverständlich. Soll ich vielleicht ruhig im Hause bleiben, während sie draußen all den Schrecken der Sturmnacht preisgegeben ist?«
»Du sollst nur warten und nicht versuchen, das Unmögliche zu erzwingen; denn für den Augenblick ist das unmöglich. Du kennst ja unsre Berge und mußt es wissen, daß nichts zu unternehmen ist, solange der Sturm mit solcher Wut tobt. Sobald er nachläßt, sobald der Morgen graut, werden wir aufbieten, was Menschenkräfte nur vermögen. Jetzt hinauszugehen wäre mehr als Tollkühnheit, das wäre offenbarer Wahnsinn.«
»Wahnsinn oder nicht! Es muß versucht werden!« brach Michael aus. »Glauben Sie, daß ich mein Leben achte, wenn es das ihrige gilt? Und müßte ich ihr folgen bis auf die Gipfel der Adlerwand und drohte dort zehnfacher Tod – ich entreiße sie der Gefahr oder gehe mit ihr unter!«
Valentin faltete entsetzt die Hände. Der jähe, verzweiflungsvolle Ausbruch verriet ihm das lang behütete Geheimnis, das er freilich in den letzten Minuten geahnt hatte, und leise sagte er:
»Steht es so? Allmächtiger Gott!«
Michael achtete nicht darauf, er hatte sich wieder zu Wolfram gewandt und sagte hastig:
»Ich brauche Gefährten; wir müssen in verschiedenen Richtungen suchen – werden Sie mich begleiten?«
»Ich?« rief der Förster zurückweichend. »Jetzt, wo alle Höllengeister los sind da draußen in den Bergen? So hat die wilde Jagd ja nie getobt in all den Jahren, wo ich auf der Bergförsterei war!«
»Verwünschter Aberglaube!« murmelte Rodenberg, mit dem Fuße stampfend. »So schaffen Sie mir den Rainwirt her; der ist ein tüchtiger Bergsteiger und ein unerschrockener Mann.«
»Mag sein, aber hinaus geht er doch nicht bei solchem Wetter. Er hat es schon vorhin verschworen, als die Red' davon war, und gesagt, wenn man ihm eine Tonne Goldes bieten wollte, er thät es doch nicht probieren, er müßt' an Weib und Kinder denken.«
»Wohl, so gehe ich allein!« sagte Michael entschlossen. »Schickt mir Hilfe nach, sobald der Morgen graut. Der Rainwirt mit seinen Leuten soll den Weg nach der Bergkapelle einschlagen, den ich nehme, und ihn nötigenfalls bis an die Adlerwand verfolgen. Wolfram, Sie durchforschen mit den andern die Waldungen der Bergßförsterei, Ihr ehemaliges Revier; Hochwürden, lassen Sie die ganze Fahrstraße noch einmal absuchen, bis zu der Stätte des Unfalls, vielleicht findet sich doch noch eine Spur – bieten Sie das ganze Dorf auf! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.«
Er hatte trotz seiner furchtbaren Erregung in jenem energischen, befehlenden Tone gesprochen, in dem er mit seinen Untergebenen zu verkehren pflegte, und jetzt stürmte er hinaus. Der Förster blickte ihm ganz verdutzt nach, aber der Ton imponierte ihm augenscheinlich.
»Das Kommandieren hat er gelernt. Das sieht man!« sagte er halblaut. »Er thut ja, als ob das ganze Dorf zu seiner Kompanie gehörte und Ordre parieren müßte. Merkwürdig! Genau so hat mein gnädiger Herr Graf es gemacht. Der Michael hat wahrhaftig denselben Ton und Blick, als ob er es ihm abgelernt hätte oder als ob es sein Sohn wäre. Hochwürden, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, das ist Hexerei.«
Der Pfarrer antwortete nicht, er war wie betäubt. Herthas Gefahr, Michaels tollkühner Entschluß, ihr zu folgen, die Entdeckung, welche er soeben hinsichtlich der beiden gemacht hatte: das alles stürmte mit vollster Heftigkeit auf den Greis ein, der an leidenschaftliche Erregungen nicht mehr gewöhnt und ihnen auch nicht mehr gewachsen war; er fühlte etwas wie Schwindel.
Schon nach wenigen Minuten kam Michael zurück, vollständig ausgerüstet für den nächtlichen Gang, im Lodenmantel, mit dem Bergstock, und bot seinem alten Lehrer die Hand.
»Leben Sie wohl, Hochwürden, und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten – behüt' Gott!«
Valentin faßte krampfhaft seinen Arm; die Angst, seinen Liebling zu verlieren, überwog bei ihm den Gedanken an Herthas Gefahr.
»Michael, so nimm doch Vernunft an. Höre nur, wie es draußen tobt! Du kommst nicht hundert Schritt weit vorwärts. Warte wenigstens noch eine halbe Stunde!«
Rodenberg machte sich mit einer ungeduldigen Bewegung los.
»Nein, hier kann jede Minute verhängnisvoll werden – leben Sie wohl!«
Er schritt nach der Thür; dort stand Wolfram regungslos, aber es arbeitete seltsam in seinen harten Zügen, und jetzt fragte er zögernd:
»Herr Hauptmann, Sie wollen also wirklich hinaus und noch dazu ganz allein?«
»Ja, da doch keiner den Mut hat, mit mir zu gehen!« sagte Michael herb.
»Oho! Feiglinge sind wir auch nicht!« rief der Förster beleidigt. »Ein Christenmensch, der wie der Rainwirt Weib und Kinder hat, kann es freilich nicht probieren. Ich hab' nichts dergleichen, und wenn es durchaus nicht anders geht, meinetwegen – ich geh' mit!«
Valentin atmete auf bei diesen Worten; ihm war es schon eine Beruhigung, daß Michael nicht allein ging; dieser aber sagte nur kurz:
»So kommen Sie! Zwei sind immerhin besser als einer.«
»Es kommt darauf an,« meinte Wolfram trocken. »Vielleicht denkt die wilde Jagd das auch und holt uns alle beide. Behüt' Gott, Hochwürden, es kann nicht schaden, wenn Sie indes recht kräftig beten für uns. Sie sind ein heiliger Mann, und wenn Sie ein gutes Wort einlegen bei Sankt Michael, hat er vielleicht ein Einsehen und bannt den Teufelsspuk da draußen; es thäte not!«
Michael war bereits in der Thür, er winkte dem Pfarrer noch einen Abschiedsgruß zu; Wolfram folgte ihm, und nach wenigen Minuten waren beide draußen verschwunden.
Die Adlerwand hatte in der That einen jener Frühlingsstürme herabgesandt, die mit Recht in der ganzen Umgegend gefürchtet waren. Wer abergläubisch war, wie der Förster, konnte immerhin meinen, es sei eine ganze Schar von Höllengeistern losgelassen, die nun verderbenbringend über die Erde hinrase. Es tobte durch die Lüfte, brauste in den Wäldern, und der Mond, halb verschleiert durch das Sturmgewölk, hüllte Erde und Himmel in ein fahles, gespenstisches Dämmerlicht, das noch unheimlicher war als selbst die Dunkelheit. Wolfram schlug verschiedenemal ein Kreuz, wenn das Toben zu arg wurde; aber er kämpfte sich trotzdem tapfer vorwärts durch das Unwetter; es gehörte freilich seine kraftvolle, mit der Bergwelt und ihren Schrecken vertraute Natur dazu, um hier überhaupt vorwärts zu kommen.
Den Weg bis zur Bergkapelle hatten die beiden Männer gemeinsam gemacht, ohne irgend eine Spur aufzufinden, und sich dann getrennt.
Michael war trotz alles Abmahnens weiter vorwärts gedrungen, nach der Adlerwand hin, deren Gebiet hier begann, während Wolfram die Richtung seitwärts nahm, in die Waldungen der Bergförsterei, die er als sein ehemaliges Revier genau kannte. Es war verabredet worden, daß, wer zuerst auf die Vermißten stieß, mit ihnen nach der Bergkapelle zurückkehren solle, um dort den Anbruch des Tages abzuwarten. In jedem Falle aber wollten die beiden Männer beim Morgengrauen dort zusammentreffen, um, wenn ihr Suchen erfolglos gewesen war, die Hilfsmannschaften aus Sankt Michael abzuwarten und dann bei Tageslicht die Nachforschungen fortzusetzen. So hatte es Hauptmann Rodenberg angeordnet.
»Wenn er überhaupt zurückkommt!« brummte Wolfram, der eben mitten im Walde Halt machte, um auf einige Minuten zu rasten. »Es ist ja die bare Tollheit, in solcher Nacht in die Klüfte der Adlerwand zu gehen; aber er geht auch hinauf, wenn er die Gräfin unten nicht findet, darauf verwette ich meinen Kopf! Dreinreden läßt er sich ja nicht, im Gegenteil, er befiehlt, als wäre er mein Herr und Meister. Wenn ich nur wüßte, warum ich mir das eigentlich gefallen lasse und warum ich überhaupt mit ihm gegangen bin! Hochwürden hat recht: es ist heller Wahnsinn, in solcher Höllennacht in den Bergen herumsteigen, wo kein Ruf gehört wird, kein Zeichen möglich ist. Wir wissen ja nicht einmal die Richtung; aber das kümmert den Michel alles nicht! Und den habe ich für feig gehalten! Freilich, er wollte ja schon als Bube in die wilde Jagd hinein, um sich den Spuk einmal in der Nähe anzuschauen; nur vor den Menschen lief er davon. Jetzt scheint er nicht mehr vor ihnen davonzulaufen, aber kommandieren thut er sie, daß es nur so eine Art hat. Man gehorcht auch, es geht eben nicht anders – grade wie bei meinem gnädigen Herrn Grafen!«
Er stieß einen Seufzer aus und wollte seinen Weg fortsetzen. Der Sturm machte gerade eine Pause, und der Förster stieß wieder einen lauten, langgezogenen Ruf aus, wie er das schon unzähligemal umsonst gethan hatte. Diesmal aber stutzte er und horchte auf, denn etwas wie der Laut einer menschlichen Stimme ließ sich vernehmen. Wolfram rief noch einmal mit aller Kraft seiner Lunge, und jetzt kam auch deutlich die Antwort zurück; in nicht allzuweiter Entfernung klang es in kläglichem Tone: »Hier! Hierher!«
»Endlich!« rief der Förster, indem er sich schleunigst nach jener Richtung wandte. »Die Gräfin ist's nicht, das hör' ich an der Stimme, aber wo der eine ist, wird auch der andre sein, also vorwärts!«
Er drang, von neuem rufend, weiter vor. Die Antwort klang jetzt schon näher, und nach etwa zehn Minuten stieß er denn in der That auf den Begleiter Herthas, der kaum an seiner Seite war, als er sich auch an ihn anklammerte, wie der Ertrinkende an die rettende Planke.
»Nun, reißt mich nur nicht um!« brummte Wolfram. »Habt Ihr denn mein Rufen nicht früher gehört? Seit zwei Stunden schreien wir nach allen Windrichtungen hin. Wo ist die Gräfin?«
»Ich weiß nicht – ich habe sie verloren – wohl schon seit einer Stunde.«
Der Förster machte unsanft seinen Arm frei, den jener noch immer umklammert hielt.
»Was? Verloren? Da schlag doch der Donner drein! Ich denk', endlich die Gräfin zu haben, und nun hab' ich nur den Bedienten! Unglücksmensch, warum habt Ihr Eure junge Herrin im Stich gelassen? Warum seid Ihr nicht bei ihr geblieben, wie es doch Eure verfluchte Schuldigkeit war?«
»Es war nicht meine Schuld,« jammerte der Diener. »Der Nebel – der Sturm – und die Pferde sind auch davon!«
»Hier handelt es sich um die Menschen und nicht um die Pferde!« fuhr ihn Wolfram mit seiner ganzen Derbheit an. »Ich kann überhaupt aus Eurem Gejammer nicht klug werden. Erzählt doch ordentlich, der Reihe nach!«
Es dauerte eine ganze Weile, ehe der vor Erschöpfung und Todesangst halb Besinnungslose im stande war, die Fragen des Försters ausführlich zu beantworten. Es war ein alter Diener des gräflichen Hauses, treu und zuverlässig im gewöhnlichen Leben, weshalb ihn die Gräfin auch eigens zum Begleiter ihrer Tochter bestimmt hatte; in der Gefahr aber war er augenscheinlich ganz rat- und hilflos gewesen und hatte die Lage seiner Herrin nur verschlimmert.
Sie hatten in der That, wie Michael vorausgesetzt, den falschen Weg genommen und bemerkten erst an der Bergkapelle ihren Irrtum. Jetzt wandten sich allerdings die Pferde, aber der Mond, der bis dahin hell geleuchtet, begann sich zu verschleiern und ihre Unkenntnis der Gegend wurde ihnen verhängnisvoll. Vergebens wandten sie sich hierhin und dorthin; sie konnten die Fahrstraße nicht wiederfinden, verloren endlich ganz die Richtung und gerieten vollständig in die Irre. Die Pferde, abgehetzt und unruhig geworden durch das planlose Umherirren, waren schließlich nicht mehr von der Stelle zu bringen; es blieb nichts übrig, als abzusteigen.
Jetzt brach der Sturm los, und von allen Seiten zog das Gewölk heran. Die Gräfin hatte befohlen, die Pferde zurückzuholen, die sie nicht allzuweit an einem Abhange zurückgelassen hatten. Es war der letzte Rettungsversuch, sich dem Instinkt der Tiere anzuvertrauen, und der Diener hatte das auch ausführen wollen, aber plötzlich sah er sich von dichtem, eisigem Nebel umgeben, der selbst das Nächste verhüllte. Er fand weder die Pferde, noch fand er sich zu seiner Herrin zurück. Sein angstvolles Rufen verhallte im Toben des Sturmes, und wahrscheinlich entfernte er sich immer weiter von ihr, während er sie suchte. Wie er schließlich hierher geraten war, wußte er nicht zu sagen.
»Das ist nun noch das Tollste von allem!« brach der Förster aus. »Jetzt ist die Gräfin gar allein und möglicherweise ist sie wirklich nach der Adlerwand zu, wie Hauptmann Rodenberg es sich in den Kopf gesetzt hat. Wenn ich nur wüßte, was sie ihn eigentlich angeht, daß er wie toll und blind sein Leben für sie einsetzt! Aber nun vorwärts! Zurück zur Bergkapelle! Auf dem Wege rufen wir noch ununterbrochen, vielleicht hilft es doch!« –
Das Unwetter tobt noch immer mit unverminderter Gewalt. Jagendes Sturmgewölk am Himmel, jagendes Sturmgewölk an den Bergen, ein wildes Heer von Nebel- und Schattengestalten! Dazu ein Brausen, Tosen, Heulen, das durch die Lüfte zieht und aus den Klüften emporzusteigen scheint, wie tausend Stimmen der Nacht und des Verderbens.
Am Fuße einer mächtigen Wettertanne, deren Wipfel kahl und abgestorben in die Luft hinausragt, ist eine Frauengestalt zusammengesunken, zu Tode erschöpft von dem stundenlangen Umherirren, erstarrt von dem eisigen Nebel, an jeder Rettung verzweifelnd. Das zarte, verwöhnte Grafenkind, das, nur von Glanz und Pracht umgeben, sorgfältig vor jeder Anstrengung, jeder Unbequemlichkeit behütet wurde, hat sich doch tapfer und unerschrocken gezeigt der wirklichen Gefahr gegenüber, hat dem zagenden Begleiter Mut zugesprochen und ihn und sich aufrecht erhalten, solange sie beisammen waren. Der alte zitternde Diener konnte seine junge Herrin nicht schützen und beraten, aber es war doch wenigstens ein Mensch an ihrer Seite, jetzt ist auch der verschwunden; kein Rufen, kein Suchen bringt ihn zurück, und jetzt ist sie allein, umgeben von allen Schrecken dieser wilden Sturmnacht, ganz allein!
Seitdem ist mehr als eine Stunde verflossen, und Hertha hat nur eine traumartige Erinnerung von dieser Zeit: finstere, brausende Wälder, dunkle Felshäupter, die gespenstisch aufragen, Wildwasser, deren schäumender Gischt matt aufblinkt in der Mondesdämmerung – das alles ist wie Schatten an ihr vorübergezogen, und sie ist weiter geirrt, immer weiter, immer in der Hoffnung, noch einen Ausweg zu finden. Wie eine Nachtwandlerin ist sie an Klüften und Abgründen vorübergegangen, ohne die Furchtbarkeit ihres Weges zu ahnen, den sie nun und nimmermehr im hellen Tageslicht gemacht hätte. Aber jetzt endet der Pfad, der sie immer weiter aufwärts geführt hat, und sie kann auch nicht mehr, sie bricht zusammen.
Der Sturm scheint auf eine Minute den Atem anzuhalten; der Himmel ist heller geworden, und jetzt tritt der Mond hervor und beleuchtet klar und scharf die Umgebung. Hertha sieht, daß sie auf einen schmalen, felsigen Abhang geraten ist und daß ihr unmittelbar zur Seite die Tiefe gähnt – ringsumher ein wild zerklüftetes Meer von Felsen und Klippen, tiefer unten die nachtschwarzen Wälder und oben, in schwindelnder Höhe aufragend, die Adlerwand, an deren Felsenschroffen die Wolken dahinjagen und deren Gipfel geisterhaft leuchten in ihrem blendenden Schneegewande. Dumpf, aber deutlich vernehmbar dringt das Rauschen der stürzenden Gletscherbäche herüber, doch das alles dauerte nur Minuten. Dann beginnt von neuem das Toben, das jeden andern Laut verschlingt; der Mond verschwindet, und wieder verschwimmt alles in dem fahlen unheimlichen Dämmerschein.
Die alte Tanne schwankt und ächzt und senkt sich immer tiefer; es ist, als wolle der Sturm sie losreißen von ihrem Felsengrunde. Hertha hält mit beiden Armen den Stamm umklammert; sie weint nicht, jammert nicht, aber ihr ganzer Körper bebt in Todesangst, und ein schwerer eisiger Druck legt sich auf ihre Schläfe. Ihre Augen hängen noch immer an jenen weißleuchtenden Gipfeln, die allein noch deutlich niederschimmern, und die alte Michaelssage steigt wieder in ihrer Erinnerung auf. Von dort steigt ja Sankt Michael nieder, beim Anbruch des nächsten Tages! Kann der mächtige Schutzpatron ihres Geschlechtes, der siegreiche Heerführer des Himmels, zu dem morgen Tausende flehen: kann er nicht auch ein armes Menschenkind erretten, dessen junges warmes Leben zurückschaudert vor der eisigen Umarmung des Todes? Aber sein Reich beginnt ja erst mit dem aufsteigenden Lichte; erst mit dem Morgenstrahle zuckt sein Flammenschwert segnend und heilbringend über die Erde hin, und jetzt herrscht noch die Nacht und das Verderben!
Ein heißes, flehendes Gebet ringt sich empor aus der Brust der Verirrten. Vor ihren Blicken steht ja noch so deutlich das Bild des Erzengels mit den Adlerflügeln und Flammenaugen, wie es über dem Hochaltar thront, von der Glut der Abendsonne wie von einem Glorienschein umwoben, und neben ihr an jener Stätte hat ein andrer gestanden, der die Züge jenes Bildes trägt und der ihr einst zurief: »Stände mir mein Glück auch so hoch und unerreichbar wie die Adlerwand, ich würde hinaufdringen, und brächte mir jeder Schritt Verderben!«
Hertha weiß, daß es keine Phrase ist; Michael würde ihr folgen in jede Gefahr; er würde sie suchen und finden, wenn er ihr Schicksal ahnte, aber er glaubt sie ja längst geborgen in dem heimatlichen Schlosse. Und doch ist es ihr, als müsse das angstvolle, leidenschaftliche Sehnen, in das sich ihr ganzes Denken und Fühlen zusammendrängt, ihn herbeiziehen, als könne und müsse er den Aufschrei hören, der jetzt laut und verzweiflungsvoll von ihren Lippen bricht, halb ein Gebet zu Sankt Michael und halb ein Ruf nach dem Geliebten:
»Michael – zu Hilfe!«
Da klingt ein andrer Ruf zu ihr empor, noch fern, halb verweht, aber es ist seine Stimme und die hört sie durch all das Sturmesbrausen, wie er die ihrige gehört hat. »Hertha!« Und jetzt zum zweitenmal, wie mit einem stürmischen Aufjauchzen: »Hertha!« Sie rafft sich empor und antwortet; immer näher kommt der rettende Klang, und jetzt muß der Retter sie entdeckt haben, denn dicht unter ihr tönt es:
»Da oben? – Mut! – Ich komme!«
Es vergehen noch einige endlose, qualvolle Minuten. Michael scheint langsam, mühsam emporzusteigen, aber jetzt taucht er auf, setzt den Bergstock ein und schwingt sich auf die Felsplatte; jetzt steht er neben Hertha und legt beide Arme um die Wankende, und sie schmiegt sich an seine Brust, als wollten sie sich nimmer wieder lassen.
Aber der Moment seligen Selbstvergessens ist nur ein kurzer; noch umringt sie die Gefahr, es darf keine Minute versäumt werden.
»Wir müssen hinunter!« drängt Michael. »Die Tanne wankt und ist schon halb entwurzelt; sie kann jeden Augenblick stürzen; hier in den Klüften ist überhaupt keine Sicherheit. Komm, Hertha!«
Er hat sie nicht losgelassen, und sie lehnt sich an seine Schulter, mit vollem, hingebendem Vertrauen. Michael geht voran und sie führend, oft halb tragend, geleitet er sie niederwärts. Der Mond ist wieder hervorgetreten und leuchtet ihnen auf ihrem Wege; aber er zeigt ihnen auch die ganze Furchtbarkeit dieses Weges, den Hertha halb unbewußt gemacht hat und dessen Gefahren sich bei der Rückkehr verdoppeln. Aber Michael hat nicht umsonst zehn Jahre lang in diesen Bergen gelebt, und der Mann hat nicht vergessen, was der Knabe einst gelernt, dem kein Felsgipfel zu hoch und keine Kluft zu tief war – das zeigt er jetzt. So klimmen sie abwärts, ihnen zur Seite der Abgrund, rings um sie her die wilde, brausende Sturmnacht und in ihren Herzen ein grenzenloses, triumphierendes Glück, das keine Stürme und Abgründe mehr schrecken. So erreichen sie endlich den sicheren Boden. Michael hat Wort gehalten – er holt sich sein Glück von der Adlerwand! – –
Der Sturm hatte gegen Morgen nachgelassen; er tobte nicht mehr mit der alten Wut, und auch der Himmel begann sich allmählich aufzuhellen; langsam sanken die Wolken in die Thäler nieder und um die Berge wob sich das erste matte Grau der Morgendämmerung.
Michael hatte am Ausgange der Felsenklüfte Halt gemacht. Die Bergkapelle lag noch fast eine Stunde entfernt, und er mußte seiner aufs äußerste erschöpften Begleiterin Ruhe gönnen. Die Gefahr war auch jetzt überwunden, der Rückweg bot keine Schwierigkeiten mehr, wenn man das Tageslicht abwartete. Er hakte Hertha im Schutze eines Felsens geborgen, wo der Sturm sie nicht erreichte, und ihr auf einem Stein einen Sitz bereitet, während er neben ihr stand. Der Anzug der jungen Gräfin trug noch die Spuren der nächtlichen Wanderung; ihr dunkler Regenmantel war zerfetzt und zerrissen, der Hut verloren, die schweren Flechten hatten sich gelöst und fielen über die Schultern, während das Haupt noch bleich und matt an der Felswand lehnte. Und doch glaubte Michael sie nie so schön gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, seine so schwer erkämpfte, seine im Sturme errungene Braut.
Sie hatten kaum gesprochen auf dem Wege hierher; jeder Schritt ging ja um das Leben; auch jetzt schwiegen sie noch und blickten empor zu der Adlerwand, wo das Dämmerungsgrau einem leichten rötlichen Schein zu weichen begann, der mit jeder Minute heller wurde. Endlich beugte sich Michael nieder und sagte leise, aber mit vollster Innigkeit:
»Hertha!«
Sie sah zu ihm empor und streckte ihm plötzlich beide Hände entgegen.
»Michael, wie konntest du mich finden in jenen Klüften? Du hattest ja nicht einmal eine Spur meines Weges!«
Er lächelte und zog die Hände an seine Lippen.
»Nein, aber ich hatte eine Ahnung, wo meine Hertha war, wo sie sein mußte, und die leitete mich zu ihr! Du ahntest ja auch meine Nähe, du riefst nach mir, noch ehe du meine Stimme hörtest. Und jetzt lasse ich mich nicht mehr schrecken mit dem herben ›Niemals!‹, das du mir gestern zuriefest, mit dem Worte, das du einem ungeliebten Manne gegeben hast. Ich habe dich der Adlerwand abgekämpft; da werde ich auch wohl Sieger bleiben über Raoul Steinrück.«
»Ich kann auch sein Weib nicht werden!« brach Hertha aus. »Jetzt weiß ich, daß ich es nun und nimmermehr kann! Aber laß den Streit nicht wieder beginnen, Michael, ich flehe dich an. Wenn es möglich ist –«
»Es ist aber nicht möglich!« unterbrach sie Michael ernst. »Täusche dich nicht, Hertha; es gilt einen Kampf, wahrscheinlich einen Bruch mit deiner ganzen Familie, die es dir nie verzeiht, wenn du ein Band zerreißest, das sie so sorgsam geknüpft hat, wenn du einen Grafen Steinrück opferst, um einem bürgerlichen Offizier anzugehören, der nichts besitzt als seinen Degen und seine Zukunft. Und es gibt noch etwas andres, mit dem man dich und mich quälen wird; ich habe es dir ja gestern in der Kirche enthüllt – den dunkeln Punkt meines Lebens.«
»Das Andenken deines Vaters!« sagte sie leise.
»Ja. Man wird es dir immer und immer wieder in das Gedächtnis rufen, daß du dem Sohne eines Abenteurers folgst, dessen Name nicht rein ist. Ich dachte dich gestern damit zu schrecken, und du dachtest nur an mein Leiden dabei; aber wirst du auch standhalten, wenn der Schatten in dein eigenes Leben hineingreift, wenn jener Name der deinige ist?«
Sein Auge suchte das ihrige, mit einem letzten Aufflammen des alten Argwohns, welcher der einstigen Gräfin Steinrück galt mit ihrem hochmütigen, übermütigen Selbstbewußtsein. Aber jetzt war der trügerische Schimmer geschwunden aus den »schönen schlimmen Augen«, die es einst schon dem Knaben angethan hatten; sie leuchteten in der sonnigen Klarheit der Liebe und des Glückes.
»Muß ich es dir denn wiederholen, was ich dir schon gestern sagte, als du von deiner Mutter sprachest? Auch ich folge dem Manne meiner Liebe, der ganzen Welt zum Trotze, und wäre es selbst in Elend und Schmach, wäre es selbst in das Verderben!«
Er zog sie stürmisch in seine Arme, und sie schmiegte sich an ihn, wie vorhin auf jenem Felsen der Adlerwand, hinter der es jetzt dunkelrot aufglühte. Wie ein leuchtender Flammenbote stieg das Morgenrot empor. Schon begannen sich die Schneegipfel rosig zu färben, und jetzt erglühte auch das Sturmgewölk, das noch immer den Himmel umlagerte, in seltsamer feuriger Pracht.
»Der Tag bricht an!« sagte Michael, während er wieder und immer wieder seine Lippen auf die Stirn der Geliebten preßte, auf das »rote Märchengold«, das jetzt an seiner Brust ruhte. »Sobald du dich erholt hast, treten wir den Rückweg an; ich bringe dich noch heute zu deiner Mutter.«
»Meine Mutter!« wiederholte Hertha schmerzlich. »O mein Gott, ich habe kaum an sie gedacht in diesen letzten Stunden; ich war ja vielleicht dem Tode näher als sie. Die Mutter würde meinen Bitten nachgeben, das weiß ich; aber sie kennt keinen andern Willen als den meines Onkels Michael, dem sie sich blind unterwirft, und der Kampf mit ihm wird unendlich schwer werden.«
»Den überlaß mir,« fiel Michael ein. »Ich werde dem General sofort nach meiner Rückkehr mitteilen, daß du dein Wort von Raoul zurückforderst, daß –«
»Nein, nein!« wehrte sie angstvoll. »Den ersten Sturm muß ich aushalten. Du kennst meinen Vormund nicht.«
»Ich kenne ihn, besser als du glaubst, und es ist nicht das erste Mal, daß wir beide miteinander kämpfen. Wenn einer diesem Kampfe gewachsen ist, so bin ich es – bin ich doch von seinem Blute!«
Hertha sah ihn verwundert, aber verständnislos an.
»Was sagtest du? Ich verstand dich nicht.«
Er ließ sie aus seinen Armen und richtete sich empor.
»Ich habe dir noch etwas verschwiegen, Hertha, absichtlich verschwiegen. Ich wollte erproben, ob du mir angehören würdest, auch wenn ich dir nichts andres war, als der Sohn eines fremden, heimatlosen Abenteurers. Ich bin dir und den Deinen nicht fremd, auch mein Vater war es nicht. Hast du nie von einem zweiten Kinde des Generals, von einer Tochter gehört?«
»Gewiß! Luise Steinrück! Sie war sogar, wie ich glaube, ursprünglich meinem Vater zur Gemahlin bestimmt; aber sie starb ja so jung, kaum achtzehn Jahr alt.«
»Also du hast von ihr nur als von einer Toten gehört? Ich dachte es mir! Ja, sie starb, für ihren Vater, ihre Familie, die sie verstießen, als sie dem Manne ihrer Wahl folgte – es war meine Mutter!«
Die junge Gräfin fuhr auf in grenzenloser Ueberraschung.
»Ist es möglich? Du ein Steinrück?«
»Ein Rodenberg, Hertha! Vergiß das nicht, ich habe keinen Teil an dem Namen meiner Mutter und an ihrer Familie, will keinen haben.«
»Und dein Großvater? Weiß er –«
»Ja, aber er sieht in mir nur den Sohn der verstoßenen, verleugneten Tochter, deren Name noch heute nicht vor ihm genannt werden darf, und wenn ich dich vollends seinem Erben, seinem Raoul entreiße, wird er das Aeußerste gegen uns aufbieten. Gleichviel, du hast dich mir zu eigen gegeben, jetzt werde ich mein Glück zu wahren wissen!«
Er stand in der That da, als sei er bereit, der ganzen Welt Trotz zu bieten. Dann bot er der Geliebten die Hand, um sie zurückzuführen in diese Welt, die so fern lag, da unten in der Tiefe, noch umsponnen von Nebelduft und Dämmerung. Hier oben aber waren die Schneegipfel schon in Purpurglut getaucht, der ganze östliche Himmel leuchtete und flammte; jetzt blitzte es dort auf, fast wie das Zucken eines Schwertes, und dann stieg langsam, glutrot die Sonne empor. Im Sturme geboren, grüßte das Licht des neuen Tages die Erde – im flammenden Morgenstrahle stieg Sankt Michael nieder von der Adlerwand!
Die Gräfin Steinrück war allerdings sehr bedenklich erkrankt, so bedenklich, daß man ihr auf den Rat des Arztes vollständig die Gefahr verschwieg, in der ihre Tochter geschwebt hatte. Hertha, die im Laufe des nächsten Tages eingetroffen war, mußte der Mutter erzählen, daß der Ausbruch des Sturmes sie so lange in Sankt Michael zurückgehalten hatte, und so erfuhr die Kranke nicht einmal das Zusammentreffen mit dem Hauptmann Rodenberg.
Es war ungefähr eine Woche später. In einem der Fremdenzimmer von Schloß Steinrück saß der Pfarrer von Sankt Michael bei seinem Bruder, der hier eingetroffen war und ihm seine Ankunft gemeldet hatte. Das Gespräch der beiden mußte ernster Natur gewesen sein; das sah man an ihren Mienen, und soeben sagte Professor Wehlau:
»Ich kann dir leider keine Hoffnung geben. Die Wendung, die das langjährige Leiden der Gräfin genommen hat, ist eine tödliche. Ihr Zustand ist ja glücklicherweise schmerzlos, und sie hat keine Ahnung von der Gefahr desselben, aber er ist auch hoffnungslos. Ich gebe ihr nur noch vier bis sechs Wochen; sie wird die Vermählung ihrer Tochter nicht mehr erleben.«
»Ich habe es gefürchtet, als ich die Gräfin wiedersah,« entgegnete Valentin. »Jedenfalls ist es mir eine Beruhigung, daß du gekommen bist. Ich weiß, du hast dich mitten aus deinen Vorlesungen gerissen und behandelst ja sonst überhaupt keine Kranken mehr.«
Wehlau zuckte die Achseln.
»Was sollte ich denn machen! Erstlich ist mir die Gräfin keine Fremde; meine Beziehungen zu der Steinrückschen Familie sind ja fast so alt wie die deinigen, und dann hat mir auch Michael, der die Nachricht von der Erkrankung mitbrachte, keine Ruhe gelassen. Er drängte so lange, bis ich mich zur Reise entschloß. Ich fand das sonderbar; er kennt die Gräfin doch nur in gesellschaftlicher Hinsicht; aber er ließ nicht nach, bis er mein Versprechen hatte.«
Der Pfarrer war aufmerksam geworden bei den letzten Worten, doch er äußerte nichts darauf, sondern er fragte nur:
»Du hast Hans mitgebracht? Ich werde ihn doch sehen?«
»Gewiß, er kommt in den nächsten Tagen zu dir. Selbstverständlich ist er drüben in Tannberg, bei unsern Verwandten, während ich der Gräfin wegen im Schlosse bleibe. Der Junge ist ganz unberechenbar in seinen Launen! Schon im April sprach er davon, daß er wieder in die Berge müsse, um Studien zu machen, bis ich ihm zu Gemüt führte, daß das eine Verrücktheit sei, da die Berge noch im Schnee lagen. Jetzt, als er von meiner Abreise hört, fällt es ihm auf einmal ein, daß er sich in Tannberg ›erholen‹ müsse. Wahrscheinlich von der Bewunderung und all dem sonstigen Unsinn, womit man ihm in der letzten Zeit den Kopf verdreht hat, und das wird meine Schwägerin natürlich mit frischen Kräften fortsetzen.«
»Du hast ihn aber trotzdem mitgenommen?«
»Mitgenommen?« spottete Wehlau. »Als ob ich dabei noch etwas zu sagen hätte! Der Herr Künstler ist ja selbständig geworden, und ich darf beileibe dem Genie keine Fesseln mehr anlegen, auch wenn es die allerverrücktesten Einfälle hat. Genug, er ging mit und kommt täglich mit der größten Regelmäßigkeit von Tannberg herüber, um mich zu besuchen und zu sehen, wie es hier steht. Ich werde nicht klug aus dem Jungen, so wenig wie aus dem Michael! Sie kümmern sich um die kranke Gräfin mit einem Eifer, als ob es ihre Mutter wäre. Uebrigens ist sie in guten Händen bei dem hiesigen Arzte und bei ihrer jungen Pflegerin – wie heißt sie doch?«
»Gerlinde von Eberstein.«
»Ganz recht! Ein seltsames kleines Ding, das kaum den Mund öffnet und ganz unglaubliche Knickse macht. Aber als Pflegerin ist sie vorzüglich, mit ihrem sanften, stillen Wesen. Gräfin Hertha ist viel zu erregt und angstvoll am Krankenbett.«
Sie wurden unterbrochen. Der Arzt war gekommen und wünschte seinen berühmten Kollegen zu sprechen. Dieser erhob sich und ging hinaus, aber der Diener brachte noch eine zweite Meldung. Auch der Förster Wolfram war da und bat, mit Hochwürden reden zu dürfen. Valentin ließ ihn eintreten und wandte sich freundlich zu ihm.
»Ihr seid noch hier, Wolfram? Ich glaubte, Ihr wäret schon nach Eurer Försterei zurückgekehrt.«
»Ich geh' morgen nach Haus,« versetzte der Förster. »Mein Geschäft in Tannberg ist jetzt erst zu End gebracht; da wollt' ich doch vorher noch einmal anfragen, wie es mit der gnädigen Gräfin steht. Die Diener sagen, es ginge gar nicht gut, aber ich hörte von ihnen, daß Sie im Schloß wären, Hochwürden, und da dacht' ich –« Er stockte, ganz wider seine Gewohnheit, und schien nach Worten zu suchen.
»Ihr wolltet mir lebewohl sagen,« fiel Valentin ein.
»Ja, das auch, aber eigentlich ist's was andres, Hochwürden! Ich hab' die Sache nun acht Tage lang mit mir herumgetragen, aber jetzt halt' ich es nimmer aus – Ihnen muß ich es sagen!«
»Nun, so sprecht, was ist es denn?« Wolfram warf einen Blick nach der Thür, ob sie auch geschlossen sei; dann trat er näher und dämpfte die Stimme.
»Der Michel – den Hauptmann Rodenberg mein' ich – ich glaube, der holt sich nächstens die Sonne vom Himmel herunter, wenn es ihm grad einfällt. Was er jetzt angestiftet hat, ist nicht viel anders. Das wird einen Lärm geben in der hochgräflichen Familie! Seine Excellenz, der General, wird mit einem Donnerwetter dreinfahren, daß die Berge zittern, und dann wird der Hauptmann wieder auf ihn losgehen, wie damals; dem traue ich jetzt alles zu.«
»Ihr sprecht von Michael?« fragte Valentin befremdet. »Er ist ja aber längst wieder in der Stadt; mein Bruder hat mir soeben einen Gruß von ihm gebracht.«
»Kann schon sein. Ich sprech' auch nur von der Sturmnacht, in der wir die junge Gräfin suchten. Ich war mit dem Diener, den ich unterwegs aufgegriffen hatte, bei der Bergkapelle angelangt, wo wir uns treffen wollten. Da ließ ich den Mann zurück, damit doch einer da sei, um Auskunft zu geben, und ich ging noch ein Stück nach der Adlerwand zu, grad beim Morgengrauen. Ich dacht' irgend eine Spur zu finden; denn ich glaubte eigentlich nicht, daß der Hauptmann oder die Gräfin lebendig zurückkommen würde. Aber nach einer Weile fand ich sie alle beide, an einem Felsen, und sie waren sehr lebendig – sie küßten sich!«
»Wie?« rief der Pfarrer zurückweichend.
»Ja, darüber entsetzen Sie sich, Hochwürden! Ich hab' es auch gethan, aber ich hab' es gesehen mit meinen beiden leiblichen Augen. Er, der Michel, hatte die junge Gräfin im Arme und küßte sie – da muß doch die Welt untergehen!«
Valentin hätte wahrscheinlich eine ähnliche Empfindung gehabt, wenn man ihm früher eine derartige Eröffnung gemacht hätte; seit jenem Abend war er einigermaßen darauf vorbereitet und sah mehr bekümmert als überrascht aus, während er leise vor sich hin sagte:
»Also ist es doch zu einer Erklärung gekommen; ich habe es gefürchtet! – Und die Gräfin?«
»Nun, der Gräfin schien die Sache ganz pläsierlich zu sein, denn sie sträubte sich nicht im mindesten. Die beiden sahen und hörten mich nicht, aber ich hörte es ganz deutlich, wie er sagte: ›Meine Hertha!‹ Als ob sie ihm von Rechts wegen gehörte, und sie ist doch die Braut des jungen Grafen! Jetzt frag' ich Sie, Hochwürden, was soll aus der Geschicht' werden?«
»Das weiß der Himmel!« sagte Valentin mit einem tiefen Seufzer. »Es wird einen schweren Kampf in der Familie geben.«
»Natürlich,« stimmte der Förster bei. »Ich sag' es ja, der Bub' hat immer nur Unheil angerichtet! Jetzt macht er es grad so. Der ist nicht mit einem Kuß zufrieden, der ist im stande und will die Reichsgräfin aus dem erlauchten Geschlecht mit all ihren Ahnen und Millionen heiraten! Und wenn man sie ihm nicht geben will, dann schießt er den jungen Grafen über den Haufen, schlägt sich mit dem General und der ganzen hochgräflichen Familie herum, schlägt alles kurz und klein, holt sich ›seine Hertha‹ aus dem Schlosse, wie er sie sich schon von der Adlerwand geholt hat, und heiratet sie! Geben Sie acht, so kommt es!«
Wolfram war augenscheinlich in das andre Extrem geraten und zu einer schrankenlosen Bewunderung des einst so verhöhnten Pflegesohnes übergegangen, die er allerdings noch hinter einem grollenden Tone verbarg. Er war überzeugt, Michael könne jetzt schlechterdings alles erreichen, es sogar mit dem General aufnehmen, und das war in seinen Augen die ungeheuerste aller Leistungen.
Den Pfarrer dagegen hatte diese Eröffnung in schwere Sorge gestürzt; was er gefürchtet, war nur zu schnell eingetroffen, und doch konnte er für den Augenblick nichts thun als schweigen und auch den Förster dazu veranlassen. Das letztere bot keine Schwierigkeit. Wolfram schien die Sache als eine Art Beichte zu betrachten und gab bereitwillig das geforderte Versprechen. Aber als er gegangen war, faltete der Greis die Hände und sagte schmerzlich:
»Das gibt einen Kampf auf Leben und Tod mit dem General! Und wenn diese beiden gleich eisernen und unbeugsamen Naturen sich erst feindlich gegenüberstehen – mein Gott, was soll daraus werden?«
Es war am Nachmittage desselben Tages. Valentin war bereits wieder auf dem Rückwege nach Sankt Michael, und der Professor befand sich in seinem Zimmer und erledigte einige Briefe, die man ihm nachgesandt hatte, als ihm der Freiherr von Eberstein gemeldet wurde.
Der alte Herr war gekommen, um seine Tochter zu sehen und sich Nachrichten über das Befinden der Gräfin zu holen, und da er von der Ankunft des berühmten Professors aus der Hauptstadt gehört hatte, wollte er die Gelegenheit benutzen und diesen auch über sein eigenes Leiden zu Rate ziehen. Wehlau ahnte so etwas, als er die hüstelnde, gebrechliche Gestalt eintreten sah, und nahm sofort eine ablehnende Haltung an; denn er war keineswegs geneigt, die Ausnahme, die er mit der Gräfin machte, auf Fremde auszudehnen.
»Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg!« sagte der alte Herr, mit steifer, feierlicher Würde den Kopf neigend.
»Ist mir bereits gemeldet,« versetzte Wehlau trocken, indem er dem Gast einen Stuhl hinschob. »Womit kann ich dienen?«
Der Freiherr ließ sich nieder, etwas verdutzt über diesen Empfang, sein Name und Titel schienen hier gar keine Wirkung zu üben.
»Ich habe gehört, daß Sie herberufen sind, um die Frau Gräfin Steinrück zu behandeln,« hob er wieder an, »und wünschte ausführlich mit Ihnen darüber zu sprechen.«
Der Professor ließ einen brummenden Laut hören. Er liebte es überhaupt nicht, mit Laien über Krankheitsfälle zu sprechen, und dachte nicht daran, die Auseinandersetzung, die er allerdings seinem Bruder gegeben hatte, hier zu wiederholen. Eberstein aber, der jenen Laut für Zustimmung nahm, fuhr fort:
»Zugleich möchte ich auch Ihren Rat wegen meines eigenen Leidens in Anspruch nehmen, das mich schon jahrelang –«
»Bedaure sehr,« fiel ihm Wehlau schroff in die Rede. »Ich übe keine ärztliche Praxis mehr aus und bin überhaupt nicht ›herberufen‹. Wenn ich an das Krankenbett der Frau Gräfin eile, so ist das eine Freundschaftssache: die Behandlung Fremder übernehme ich nicht.«
Der Freiherr sah höchst erstaunt und entrüstet den bürgerlichen Professor an, der die ärztliche Behandlung einer Gräfin Steinrück Freundschaftssache nannte und die Behandlung eines Eberstein überhaupt ablehnte. Er hatte in seiner weltfernen Einsamkeit keine Ahnung von der äußeren Lebensstellung des berühmten Forschers; aber er hatte früher einmal gehört, daß die Gelehrten eine ganz eigene Klasse von Menschen seien, lauter Sonderlinge, gänzlich unbekannt mit den Formen der guten Gesellschaft und infolgedessen sämtlich grob und rücksichtslos. Er verzieh dem Professor daher großmütig diese Standeseigentümlichkeit, und da er seinen Rat und Beistand doch nun einmal brauchte, beschloß er, ihm vor allen Dingen klar zu machen, wer eigentlich vor ihm sitze.
»Ich bin der gräflichen Familie eng befreundet,« begann er wieder. »Wir sind wohl die beiden ältesten Geschlechter im Lande; das meinige ist allerdings zweihundert Jahre älter, es stammt aus dem zehnten Jahrhundert.«
»Das ist sehr merkwürdig,« sagte Wehlau, der durchaus nicht begriff, was das zehnte Jahrhundert hier zu thun hatte.
»Es ist eine Thatsache!« erklärte Eberstein, »eine historisch beglaubigte Thatsache. Graf Michael, der Ahnherr der Steinrück, taucht erst in den Kreuzzügen aus dem Dunkel der Sage auf, während Udo von Eberstein –« und damit tauchte er selbst in die Tiefen seiner Hauschronik und begann einen ähnlichen Sermon, wie jener, mit dem Gerlinde auf der Ebersburg den jungen Gast so erschreckt hatte. Es wimmelte darin von Ritternamen und Fehden und von all dem glorreichen Mord und Totschlag des Mittelalters, soweit das Ebersteinsche Geschlecht daran beteiligt war.
Der Professor schien anfangs zu überlegen, wie er den unbequemen Besuch am schnellsten zur Thür hinausbefördern könne; allmählich aber wurde er aufmerksam; er rückte sogar seinen Stuhl näher und sah dem alten Herrn minutenlang starr und unverwandt in die Augen; plötzlich aber unterbrach er ihn mitten in der Rede und ergriff seine Hand.
»Erlauben Sie – Ihr Zustand interessiert mich – merkwürdig, der Puls geht ganz normal.«
Der Freiherr triumphierte: ja freilich, jetzt wußte dieser unhöfliche Professor, daß er den Sprossen eines alten höchst erlauchten Geschlechtes vor sich hatte, und ließ sich schleunigst zu der erst verweigerten Behandlung herbei!
»Sie finden meinen Puls normal?« fragte er. »Das freut mich, aber Sie werden mir trotzdem doch einige Verordnungen –«
»Eisumschläge auf den Kopf, mindestens vierundzwanzig Stunden lang,« sagte Wehlau lakonisch.
»Um des Himmels willen – bei meiner Gicht!« rief der alte Herr entsetzt. »Ich kann nur Wärme vertragen, und wenn Sie meinen Zustand eingehend untersuchen, so –«
»Ist gar nicht nötig! Was Ihnen fehlt, weiß ich schon!« erklärte der Professor.
Die Achtung des Freiherrn stieg. Das mußte allerdings ein bedeutender Arzt sein, der durch bloßes Anschauen den Zustand des Patienten erkannte, ohne auch nur eine Frage an ihn zu richten.
»Die Gräfin hat mir allerdings Ihren Scharfblick gerühmt,« entgegnete er, »aber ich möchte noch eine Frage an Sie richten, Herr Professor Wehlau. Ihr Name fällt mir auf. Stehen Sie vielleicht in irgend einer Beziehung zu den Wehlau-Wehlenberg auf Forschungstein?«
»Forschungstein?« Der Professor griff schleunigst wieder nach dem Puls des Freiherrn, was dieser sich auch ruhig gefallen ließ, während er wohlwollend fortfuhr:
»Es wäre ja nicht das erste Mal, daß das Mitglied eines alten Hauses auf die Führung des Adelstitels verzichtet, wenn es durch die Verhältnisse gezwungen wird, eine bürgerliche Profession zu ergreifen.«
»Bürgerliche Profession!« fuhr Wehlau auf. »Herr, glauben Sie etwa, daß die Naturwissenschaften ein Schusterhandwerk sind?«
»Jedenfalls sind sie kein passender Beruf für den Adel,« sagte Eberstein hochmütig. »Was aber den Forschungstein betrifft, so ist es der Stammsitz eines jungen Edelmannes, der im vorigen Herbste nach der Ebersburg kam und während einer Gewitternacht meine Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Ein liebenswürdiger junger Mann, dieser Hans Wehlau-Wehlenberg –«
»Auf Forschungstein!« fiel der Professor laut auflachend ein.
»Jetzt wird mir die Geschichte klar! Das ist wieder einer der tollen Streiche meines Jungen. Hat er mir doch selbst erzählt, daß er während eines Gewitters in einer alten Burg Unterkunft gesucht und gefunden hat. Es thut mir leid, Herr Baron, aber da hat Ihnen mein gottloser Bube eine fürchterliche Nase gedreht. Der Einfall mit dem Forschungstein ist gar nicht so übel, aber das ist auch der einzige Adel, den er und ich aufzuweisen haben. Im übrigen ist er gut bürgerlich Hans Wehlau, gerade so wie ich, und wegen seiner Standeserhöhung werde ich ihm noch gründlich den Text lesen.«
Er fing von neuem an zu lachen. Aber der alte Herr schien die Sache durchaus nicht von der komischen Seite zu nehmen. Er saß anfangs ganz sprachlos da vor Zorn und Entrüstung, und endlich brach er aus:
»Ihr Sohn? Nur Hans Wehlau? Und ich habe ihn als einen Standesgenossen aufgenommen! Ich habe ihn völlig als meinesgleichen behandelt! Einen jungen Menschen, ohne Namen, ohne Familie –«
»Bitte sehr!« unterbrach ihn der Professor gereizt. »Ich will den tollen Streich nicht entschuldigen. Was aber den Namen und die Familie betrifft, so ist Hans erstens mein Sohn, und ich glaube doch einiges in der Wissenschaft geleistet zu haben, und zweitens hat er selbst schon Tüchtiges geleistet, auf einem andern Felde. Der Name Wehlau kann sich getrost neben den der Eberstein stellen, der seine ganze Bedeutung nur einer alten verrotteten Anschauung verdankt, die heutzutage gar keine Berechtigung mehr hat.«
Das traf den Freiherrn an seiner empfindlichsten Seite; er erhob sich in voller Empörung.
»Verrottete Anschauung? Keine Berechtigung mehr? Herr Wehlau, ich kann von Ihnen kein Verständnis für Dinge verlangen, die einem Bürgerlichen offenbar zu hoch sind, aber ich fordere Ehrfurcht vor –«
»Fällt mir gar nicht ein!« schrie der Professor, der jetzt auch in Zorn geriet. »Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der Aufklärung und habe nicht die mindeste Ehrfurcht vor dem Staub und Moder des zehnten Jahrhunderts und vor den Udos und Kunos und Kunrads und wie die Kerle alle heißen, die nichts weiter verstanden, als sich zu betrinken und untereinander totzuschlagen. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, und wenn das alte Eulennest, die Ebersburg, erst ganz in Trümmer gefallen ist, weiß kein Mensch mehr etwas davon!«
»Mein Herr –« schrie Eberstein, zitternd und kirschrot im ganzen Gesicht; weiter kam er nicht, denn die Aufregung zog ihm einen fürchterlichen Hustenanfall zu. Er rang nach Atem und bot einen so jammervollen Anblick, daß sich in Wehlau denn doch der Arzt zu regen begann. Er sprang hinzu, drückte seinen Gegner auf den Stuhl nieder, stützte ihm den Kopf und bemühte sich, ihm Luft zu schaffen, alles in voller Wut, aber der alte Herr wehrte sich dagegen.
»Lassen Sie mich!« keuchte er. »Ich will keine Hilfe von einem Umstürzler – einem Gottesleugner – einem –«
Er stand mit einem Aufflammen seiner einstigen Kraft plötzlich wieder auf den Füßen, griff nach seinem Stock und hinkte energisch zur Thür hinaus.
»Eisumschläge auf den Kopf – vierundzwanzig Stunden lang – vergessen Sie das nicht!« rief ihm der Professor nach und warf sich in einen Stuhl, um seinen Aerger verrauchen zu lassen. Der Freiherr aber wollte im Gegenteil den seinigen erst austoben, und hinkte schleunigst nach dem Empfangszimmer, um seiner Tochter die unerhörte Geschichte mitzuteilen. Sie kannte ja auch diesen »jungen Menschen ohne Namen und Familie«, der sich als ritterbürtig auf der Ebersburg eingeschlichen hatte; sie teilte zweifellos die Empörung darüber.
Während die beiden Väter sich so in vollster Feindseligkeit gegenüberstanden, saßen ihre Kinder ganz friedlich und freundschaftlich bei einander. Hans Wehlau war von Tannberg herübergekommen, um seinen lieben Papa zu sehen und sich nach dem Befinden der Gräfin zu erkundigen. Das letztere schien ihm aber das Wichtigere zu sein, denn er that es regelmäßig zuerst, und zwar holte er sich die Nachrichten nicht bei dem Vater, der sie ihm doch am besten hätte geben können, sondern – bei Fräulein von Eberstein, welche die gewünschte Auskunft stets selbst zu geben pflegte. Der Professor ahnte natürlich nichts von diesen Anfragen und Auskünften, sondern war der Meinung, sein Sohn komme direkt zu ihm, und freute sich über diese Anhänglichkeit, die offenbar neueren Datums war.
Auch heute hatte der junge Künstler sich bei dem gnädigen Fräulein melden lassen, und das gnädige Fräulein war schleunigst in das Empfangszimmer gekommen, wo sie nun schon länger als eine halbe Stunde bei einander saßen und wohl auch von andern Dingen gesprochen hatten, als von der Krankheit der Gräfin; denn Hans sagte soeben:
»Sie haben es also Ihrem Herrn Vater noch nicht mitgeteilt? Er hält mich noch immer für einen Wehlau-Wehlenberg?«
»Ich – ich fand noch keine Gelegenheit dazu,« versetzte Gerlinde stockend. »Schreiben wollte ich es dem Papa nicht, denn ich wußte, es würde ihn kränken; deshalb habe ich ihm unser Zusammentreffen ganz verschwiegen. Dann gingen wir nach Berkheim und als wir hierher kamen, erkrankte die arme Tante gleich am ersten Tage – da konnte ich vollends nicht von solchen Dingen sprechen.«
Die Worte klangen sehr ängstlich und zaghaft; Hans sah es deutlich, daß ihr nicht die Gelegenheit, sondern der Mut gefehlt hatte.
»Und überdies fürchten Sie den Zorn des Freiherrn gegen mich!« ergänzte er. »Ich begreife das vollkommen und werde Ihnen selbstverständlich diese peinliche Auseinandersetzung ersparen. Ich fahre in den nächsten Tagen selbst nach der Ebersburg und bekenne dort reuig meine Sünden.«
»Um des Himmels willen nicht!« rief Gerlinde erschrocken. »Sie kennen meinen Papa nicht; er hat so strenge Grundsätze in dieser Beziehung und würde es nie zugeben –«
»Daß der bürgerliche Hans Wehlau als Gast in sein Haus kommt und mit seiner Tochter verkehrt – möglich! die Frage ist nur, ob Sie mir das erlauben, mein Fräulein?«
»Ich?« fragte das junge Mädchen in äußerster Befangenheit. »Ich habe ja nichts zu verbieten oder zu erlauben.«
»Und doch verlange ich die Antwort von Ihnen allein! Weshalb glauben Sie denn, daß ich hierhergekommen bin? Doch nicht meiner Verwandten in Tannberg wegen! Ich hielt es nicht mehr aus in der Stadt, trotzdem mir die letzten Monate so viel Glück gegeben hatten. Der erste Erfolg des Künstlers hat ja etwas Berauschendes, und mir ist er so ganz und voll zu teil geworden, wie ich es kaum gehofft hatte. Von allen Seiten strömte es mir entgegen, und doch konnte ich eine Erinnerung, ein Sehnen nicht los werden, das immer wieder auftauchte, das mir keine Ruhe ließ und zuletzt so allmächtig wurde, daß es mich gewaltsam fortzog – meiner Sehnsucht nach!«
Gerlinde saß mit tiefgesenkten Wimpern und glühenden Wangen da. So jung und unerfahren sie auch noch war, diese Sprache verstand sie doch; sie wußte, wohin die Sehnsucht ihn gezogen. Er hatte sich erhoben und stand jetzt an ihrer Seite, und während er sich tief zu ihr niederbeugte, gewann seine Stimme wieder jenen weichen, innigen Ton, den man selten von den Lippen des übermütigen jungen Künstlers hörte.
»Darf ich nach der Ebersburg kommen! Ich möchte sie so gern noch einmal erleben, die sonnige Morgenstunde auf den alten Burgtrümmern, hoch über dem grünen Waldmeer. Dort, an Ihrer Seite, ist mir zum erstenmal die Poesie der Vergangenheit, die alte Märchenherrlichkeit aufgegangen. Durfte ich doch dem holden Dornröschen in die dunkeln, träumenden Augen schauen. Ich habe diese Augen nicht wieder vergessen; sie sind mir tief in das Herz gedrungen – darf ich kommen, Gerlinde?«
Die Glut in dem Antlitz des jungen Mädchens wurde tiefer, aber die gesenkten Augen hoben sich nicht, und die Antwort klang fast unhörbar.
»Ich hatte immer gehofft, Sie würden wiederkommen den ganzen langen Winter hindurch – und immer vergebens.«
»Aber jetzt bin ich da!« rief Hans aufflammend, »und jetzt gehe ich nicht wieder, ohne mir mein Glück zu sichern. Mein süßes kleines Dornröschen, ich habe es dir ja schon damals gesagt, daß ein Tag kommen wird, wo der Ritter erscheint, der die Dornhecke sprengt und die Träumende wach küßt aus ihrem Schlummer, und schon damals habe ich tief im Herzen den Wunsch gehegt, der Ritter möchte – Hans Wehlau heißen.«
Er hatte bei den letzten Worten den Arm um sie gelegt, Gerlinde schrak zusammen, aber sie entzog sich ihm nicht; langsam hob sie die dunkeln träumenden Augen zu ihm empor und leise, ganz leise, aber mit der ganzen Innigkeit des Glückes, sagte sie:
»Ich auch!«
Es war dem jungen Manne nicht zu verdenken, wenn er sich auf dies Geständnis hin nun auch genau an die Vorschrift des Märchens hielt und sein Dornröschen küßte, das sich an ihn schmiegte und glückselig zu ihm aufschaute. Aber als er sie nun fester in die Arme zog und sie seine süße kleine Braut nannte, fuhr Gerlinde auf einmal schreckensbleich empor.
»Ach Hans, lieber Hans, das geht ja nicht! Ich hatte es ganz vergessen – wir dürfen uns nimmer heiraten!«
»Weshalb denn nicht?« fragte Hans erstaunt.
»Mein Papa – er wird es niemals zugeben – wir stammen ja aus dem zehnten Jahrhundert!«
»Das zehnte Jahrhundert ist für mich durchaus kein Hindernis, im neunzehnten zu heiraten. Mit dem Freiherrn wird es allerdings einen Sturm geben. Darauf bin ich gefaßt, aber ich bin ziemlich sturm- und wetterfest in solchen Dingen. Ich weiß aus reichlicher Erfahrung, was es heißt, einem wütenden Papa standzuhalten und schließlich doch seinen Willen durchzusetzen.«
»Aber wir werden ihn nicht durchsetzen,« klagte das kleine Burgfräulein trostlos. »Es wird uns gehen wie Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher, die sich auch so sehr liebten. Aber Gertrudis war vermählt an den Edelherrn von Ringstetten, und Dietrich zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder!«
»Das war sehr unklug von dem Dietrich,« erwiderte Hans. »Er hatte bei den Ungläubigen gar nichts zu schaffen! Er hätte daheim bleiben und seine Gertrudis heiraten sollen.«
»Aber sie durfte ihn nicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern der Sohn eines Kaufherrn war!« rief Gerlinde, der die hellen Thränen in den Augen standen, während sie pflichtschuldigst den Wortlaut der alten Chronik wiederholte.
»Das war im Mittelalter,« beruhigte sie Hans. »Jetzt ist man viel vernünftiger in solchen Dingen. Ich ziehe nicht gegen die Ungläubigen: ich laufe höchstens Sturm gegen die Ebersburg, und die nehme ich unter allen Umständen.«
»O Gott, mein Papa – das ist sein Schritt!« rief Gerlinde, indem sie sich losmachte und schleunigst an das Fenster flüchtete.
»Hans, was fangen wir nun an?«
»Wir stellen uns ihm als Brautpaar vor und bitten um seinen Segen!« erklärte der junge Mann kurz und bündig. »Einmal muß es doch geschehen, also je eher, desto besser.«
Man hörte in der That im Nebenzimmer den schweren, schlürfenden Schritt des Freiherrn und das Aufstoßen seines Stockes.
Jetzt öffnete er die Thür, blieb aber wie erstarrt auf der Schwelle stehen. Er sah den »Menschen ohne Namen und Familie« bei seiner Tochter, allerdings augenblicklich in respektvoller Entfernung von derselben; aber die bloße Thatsache dieses Beisammenseins genügte schon, ihn in Entrüstung zu versetzen; er trat langsam näher.
»Ah – Herr Hans Wehlau!« sagte er, den Namen scharf und hohnvoll betonend; der junge Mann verbeugte sich.
»Zu dienen, Herr von Eberstein.«
Der alte Herr wollte offenbar eine erhaben zürnende Stellung annehmen, die dieser Gerichtsscene entsprach, aber da spielte ihm seine Gicht einen bösen Streich. Er hatte sich vorhin schon überanstrengt, jetzt versagten ihm die Füße vollständig den Dienst. Er sank in den ersten besten Sessel und bot dort einen mehr kläglichen als fürchterlichen Anblick dar; trotzdem überwand er seine Schmerzen und fuhr fort:
»Ich komme soeben von einem« – er verschluckte einen andern grimmigeren Ausdruck – »einem gewissen Professor Wehlau, der Ihr Vater zu sein behauptet.«
»Der es sogar ist!« erklärte Hans, der nun wohl einsah, daß sein Bekenntnis nicht mehr nötig sei.
»Und das geben Sie mir wirklich zu?« rief der Freiherr empört. »Sie gestehen es also ein, daß Sie mir eine schändliche Komödie vorgespielt, daß Sie sich unter falschem Namen bei mir eingeschlichen, sich einen Adelstitel angemaßt haben –«
»Bitte, Herr Baron, das habe ich nicht gethan,« fiel Hans ein. »Ich erlaubte mir nur, meinem eigenen Namen, der mir doch unzweifelhaft gehört, einen zweiten beizufügen. Den ›Baron‹ aber haben Sie mir zudiktiert. Uebrigens sind Sie vollkommen in Ihrem Rechte, wenn Sie mir Vorwürfe machen, und ich bitte aufrichtig um Verzeihung wegen des tollen Einfalls, mit dem ich mir eine anfangs versagte Gastfreundschaft erzwang. Ich rufe Fräulein von Eberstein zum Zeugen dafür auf, daß es meine Absicht war, aus freiem Antriebe nach der Ebersburg zu kommen und Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Dem flüchtigen Gast, der eines Abends kam und am nächsten Morgen wieder davonzog, konnte man den Uebermut vielleicht verzeihen, eine fortgesetzte Täuschung wäre Betrug gewesen. Das wurde mir sofort klar, als ich das gnädige Fräulein in der Hauptstadt wiedersah, und ich habe nicht einen Augenblick gezögert, ihr die Wahrheit zu bekennen.«
Eberstein warf seiner Tochter einen erstaunten und entrüsteten Blick zu.
»Wie, Gerlinde, du hast das gewußt und es mir verschwiegen? Du hast diesem Herrn Hans Wehlau trotzdem erlaubt, in deine Nähe zu kommen, und vielleicht sogar seine Entschuldigung angenommen über Dinge, die nicht zu entschuldigen sind? Ich finde das sehr unpassend.«
Gerlinde antwortete keine Silbe; sie stand bleich und zitternd am Fenster und blickte angstvoll zu Hans hinüber: eine Heldin war das kleine Dornröschen gerade nicht. Um so unerschrockener zeigte sich der junge Ritter vom Forschungstein. Er sah, daß hier mit dem Parlamentieren nichts zu erreichen war; der Sturm mußte gewagt werden, und so nahm er denn einen Anlauf und setzte tapfer mitten in die Dornhecke hinein.
»Das gnädige Fräulein hat sogar noch mehr gethan,« entgegnete er, »sie hat mir auf eine Frage, die ich an sie richtete, eine höchst beglückende Antwort gegeben. Ich gestand ihr soeben meine Liebe und empfing das Geständnis ihrer Gegenliebe. Sie erlauben uns daher wohl, Herr Baron, um Ihren väterlichen Segen zu bitten?«
Der alte Herr nahm wider Erwarten diese Worte ziemlich ruhig auf, weil er sie einfach nicht verstand. Er hielt das für eine neue »schändliche Komödie«; denn daß der Sohn eines bürgerlichen Professors im Ernste um ein Fräulein von Eberstein freien könne, fiel ihm gar nicht ein.
»Mein Herr, ich verbitte mir dergleichen taktlose und empörende Scherze!« sagte er in hohem Tone. »Sie scheinen gar nicht zu fühlen, was Sie sich eigentlich damit herausnehmen, und ich sollte meinen, Sie hätten allen Grund, mir gegenüber ernst zu sein.«
Hans trat zu seiner Braut und ergriff ihre Hand.
»So muß ich dich bitten, Gerlinde, zu sprechen und meine Worte zu bestätigen. Sage deinem Vater, daß du mir das Recht gegeben hast, bei ihm um deine Hand zu werben, daß du mir angehören willst und keinem andern.«
Die Worte klangen in vollster Zärtlichkeit, aber Gerlinde hörte doch die ernste Mahnung darin und fühlte, daß sie jetzt ihre Zaghaftigkeit überwinden müsse und ihrem Hans an Tapferkeit nicht nachstehen dürfe. Ueberdies war er ja an ihrer Seite, bereit, sie u schützen, und so brach sie denn aus:
»O Papa, ich habe ihn so lieb, so grenzenlos lieb! Und wenn er auch keinen Adel und kein Wappen hat – ich will keinen andern, als meinen Hans!«
»Meine Gerlinde!« rief Hans, sie stürmisch in seine Arme schließend. Und nun geschah das Unglaubliche, Unfaßbare! Vor den Augen des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau küßte der Mensch ohne Namen und Familie den letzten Sprößling des erlauchten Geschlechtes aus dem zehnten Jahrhundert, und zwar that er dies zweimal hintereinander!
Der alte Herr war in der ersten Minute völlig sprach- und bewegungslos. Er sah starr auf die Gruppe und dann ebenso starr nach der Decke hinauf; denn er erwartete nichts Geringeres, als daß die Mauern einstürzen und den Frevler begraben würden. Schloß Steinrück schien aber der Meinung zu sein, daß diese Sache eigentlich nur die Ebersburg angehe, die in diesem Augenblick zweifellos mit dumpfem Krachen in Trümmer fiel, und blieb stehen. Der Freiherr sah, daß das Weltgericht unbegreiflicherweise nicht eintrat, daß er dessen Rolle übernehmen müsse, und nun wollte er allerdings aufspringen. Aber sogar die Gicht war mit den beiden im Bunde: sie hielt ihn erbarmungslos fest. Anstatt wie ein Racheengel dazwischenzutreten und sie auseinanderzureißen, brachte er es nur zu einer kläglich zappelnden Bewegung und sank dann wieder kraftlos und hilflos in den. Lehnstuhl zurück.
»Gerlinde!« rief er mit heiserer Stimme. »Entartetes Kind! Komm zu mir – komm augenblicklich an meine Seite!«
Gerlinde machte einen allerdings nicht sehr energischen Versuch, zu gehorchen; als aber Hans sie daran hinderte und sie festhielt, ließ sie sich ganz geduldig festhalten und wiederholte nur schluchzend:
»O Papa, ich habe ihn so lieb!«
»Herr Hans Wehlau,« schrie Eberstein, der jetzt alle Haltung verlor, gellend. »Lassen Sie meine Tochter los, auf der Stelle! Ich befehle es Ihnen! Entfernen Sie sich augenblicklich!«
»Sogleich, Herr Baron,« versicherte Hans. »Erlauben Sie mir nur, von meiner Braut Abschied zu nehmen.« Und damit küßte er Gerlinde von neuem, was ein erneutes krampfhaftes Zappeln des Freiherrn zur Folge hatte.
»Ich rufe um Hilfe! Ich rufe die ganze Dienerschaft herbei! Ich läute Sturm!« schrie er und bemühte sich vergebens, die Tischglocke zu erreichen, die in einiger Entfernung stand. Da öffnete sich die Thür, und Hertha, die der Lärm herbeigezogen hatte, erschien.
»Gräfin Hertha?« rief Eberstein, der bei ihrem Anblick neuen Mut schöpfte. »Retten Sie mein Kind, das dieser Mensch da bezaubert, behext hat, weisen Sie ihn aus Ihrem Schlosse!«
Hertha stand ganz entsetzt da. Sie sah Gerlinde in den Armen Hans Wehlaus, der noch immer mit den Abschiedsfeierlichkeiten beschäftigt war, und den alten Baron jammernd und zappelnd im Lehnstuhl; die Scene war ihr völlig unverständlich.
Hans fand sich nun endlich bewogen, dem Befehle des Freiherrn nachzukommen, aber er führte Gerlinde nicht zu ihm, sondern zu der jungen Gräfin und sagte im Tone der Bitte:
»Ich übergebe meine Braut Ihrem Schutze, Gräfin Steinrück. Der Herr Baron weist vorläufig noch meine Werbung zurück, und ich muß für den Augenblick allerdings weichen, denn ich darf meinem künftigen Schwiegervater –«
»Unverschämter!« schrie Eberstein, der jetzt einen förmlichen Krampfanfall zu bekommen schien.
»– weder in schroffer Weise entgegentreten, noch kann ich diesen beleidigenden Ton länger ertragen,« vollendete der junge Mann ruhig. »Nehmen Sie sich meiner Gerlinde an! Ich bitte Sie recht herzlich darum; ich komme wieder, sobald Herr von Eberstein sich etwas beruhigt haben wird.«
Damit küßte er in aller Seelenruhe seine Gerlinde zum viertenmal, küßte der jungen Gräfin die Hand, machte dem Freiherrn eine artig ritterliche Verbeugung und ging zur Thür hinaus. –
Professor Wehlau hatte inzwischen seinen Aerger überwunden und seine Briefschaften erledigt. Was ging ihn auch schließlich dieser verrückte alte Freiherr aus dem zehnten Jahrhundert an! Der Mann war offenbar unzurechnungsfähig, und deshalb war Wehlau auch geneigt, den tollen Streich seines Sohnes milder zu beurteilen, als er es sonst gethan hätte. Der Einfall mit dem Forschungstein amüsierte ihn sogar höchlich, aber er beschloß trotzdem seinem übermütigen Sprößling den Text zu lesen, und fand auch bald Gelegenheit dazu, denn soeben trat Hans bei ihm ein.
»Ich habe wieder einmal schöne Streiche von dir hören müssen!« empfing ihn der Vater. »Was hast du wieder für Tollheiten auf der Ebersburg getrieben? Du – Ritter vom Forschungstein!«
»War das nicht ein guter Einfall, Papa?« fragte der junge Mann lachend. »Ich habe soeben erfahren, daß die Sache zwischen dir und dem Freiherrn zur Sprache gekommen ist. Er wollte dich vermutlich wegen seines Gichtleidens konsultieren?«
»Möglich, ich habe die Diagnose auf Verrücktheit gestellt!« sagte Wehlau trocken. »Ich habe ihm Eisumschläge verordnet, es wird zwar nicht viel helfen, die Krankheit ist schon zu weit vorgeschritten, aber es beruhigt doch wenigstens, und das thut not.«
»Wieso? Seid ihr etwa aneinander geraten?«
»Gewiß sind wir das! Ich bin nicht dafür, fixe Ideen zu schonen, wie die meisten meiner Kollegen. Ich habe den Grundsatz, die Kranken aufzurütteln aus ihrem Wahne, und als dieser Udo von Eberstein anfing, mir ganze Chronikbücher herunter zu beten, habe ich ihm in der nachdrücklichsten Weise klar gemacht, was ich von diesem mittelalterlichen Unsinn halte.«
»O weh!« seufzte Hans, »da hast du ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, das verzeiht er dir und mir niemals.«
»Meinetwegen! Was haben ich und du denn mit diesem alten Uhu von der Ebersburg zu thun?«
»Sehr viel – da ich mich mit seiner Tochter verlobt habe!«
Der Professor sah seinen Sohn einen Augenblick lang starr an, dann runzelte er die Stirn und sagte ärgerlich:
»Treibst du schon wieder Narrenspossen? Ich dächte, das wäre nun nachgerade genug!«
»Du irrst, Papa, ich spreche im vollen Ernst. Ich habe mich soeben mit Gerlinde von Eberstein verlobt. Du hast sie ja am Krankenbette der Gräfin kennen gelernt und wirst dich sicher freuen, wenn ich dir ein so liebes, holdes Geschöpf als Tochter zuführe.«
»Junge, bist du toll geworden?« brach Wehlau aus. »Die Tochter eines notorisch Wahnsinnigen? Das kann ja erblich sein in der Familie! Das Mädchen hat so schon etwas Scheues, Seltsames in seinem Wesen, und der Vater ist bereits vollständig übergeschnappt.«
»Bewahre!« sagte Hans. »Er stammt nur aus dem zehnten Jahrhundert, und darauf hin mußt du ihm einige abnorme Gehirnerscheinungen zu gute halten. Sonst ist mein Schwiegervater ganz vernünftig.«
»Schwiegervater?« wiederholte der Professor gereizt. »Da habe ich doch auch noch ein Wort mitzureden, sollt' ich meinen! Wenn du dir wirklich diese unsinnige Idee in den Kopf gesetzt hast, so erkläre ich dir kurz und bündig: daraus wird nichts! Ich verbiete es dir!«
»Das kannst du nicht, Papa. Der Freiherr hat es Gerlinde auch verboten; er bekam sogar Krämpfe, als ich meine Werbung vorbrachte, aber das hilft euch beiden nichts – wir heiraten uns doch.«
Wehlau, der jetzt endlich merkte, daß die Sache ernst war, hob verzweiflungsvoll die Hände empor.
»Aber hast du denn auch schon den Verstand verloren? Der Alte ist verrückt, daran ist gar kein Zweifel, und ich sage dir als Arzt, daß der Wahnsinnskeim erblich ist. Willst du Unheil in unsre Familie bringen? Willst du eine ganze Generation unglücklich machen? So nimm doch Vernunft an!«
Das düstere Zukunftsbild machte leider gar keinen Eindruck auf den jungen Mann, er entgegnete kaltblütig:
»Es ist doch eigentlich merkwürdig, Papa, daß wir uns immer zanken müssen! – Jetzt standen wir gerade so vortrefflich miteinander! Du hast dich mit meiner ›Farbenkleckserei‹ ausgesöhnt und bist auf dem besten Wege, stolz darauf zu werden; nun ist dir wieder meine Verlobung nicht recht, und sie müßte dir doch eigentlich schmeichelhaft sein. Zu dir kommt die alte Aristokratie nur, wenn sie Rheumatismus hat; ich verbinde mich der jungen Aristokratie, indem ich sie eheliche; das ist doch ein offenbarer Fortschritt.«
»Es ist der unsinnigste von all deinen unsinnigen Streichen!« rief der Professor wütend. »Ein für allemal –«
Er wurde unterbrochen, ein Diener erschien, um ihn zu der Gräfin zu rufen, da er befohlen hatte, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn die Kranke aus ihrem Schlaf erwacht sei. Wehlau folgte als gewissenhafter Arzt auch diesem Rufe, befahl aber seinem Sohne zu bleiben, er werde in einer Viertelstunde zurück sein.
Der Professor traf in dem vor dem Schlafgemach der Gräfin liegenden Zimmer ganz unerwartet mit Gerlinde zusammen, die es wie eine Erlösung begrüßt hatte, daß die Gräfin nach ihr verlangte, und schleunigst diesem Wunsche nachgekommen war. Das entzog sie wenigstens vorläufig den Zornausbrüchen ihres Vaters, und Hertha hatte es übernommen, diesen einigermaßen zu beruhigen.
Wehlau erblickte das junge Mädchen kaum, als er wie ein Stoßvogel auf sie zuschoß.
»Fräulein von Eberstein, ich möchte Sie auf eine Minute allein sprechen. Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?«
»Gewiß, Herr Professor,« versetzte Gerlinde, fast bestürzt über diese Anrede. Sie hegte eine unbesiegbare Scheu vor dem Professor, der bisher nie Notiz von ihr genommen hatte, und seine kurze herrische Art, selbst am Krankenbett, war vollends nicht geeignet, ihr Vertrauen einzuflößen. Es überkam sie eine tiefe Bangigkeit bei dem Gedanken, daß gerade dieser Mann der Vater ihres Hans sei, und jetzt rückte er ihr nun vollends dicht auf den Leib und begann allerlei seltsame Fragen an sie zu richten, die sie gar nicht begriff. Dabei fixierte er sie so starr und unaufhörlich, daß sie sich zu fürchten begann. Das arme Kind ahnte ja nicht, daß es auf seinen gesunden Verstand hin geprüft werden sollte, und gab in der Angst und Verwirrung ganz verkehrte Antworten, was Wehlau natürlich nur in seiner vorgefaßten Meinung bestärkte.
Er ging endlich auf die Familientradition der Eberstein über, bei der die fixe Idee des alten Freiherrn zum Vorschein gekommen war. Gerlinde hatte sich während ihres Aufenthaltes in der Stadt und in Berkheim den Chronikstil ziemlich abgewöhnt; die Gräfin und Hertha hatten in dieser Hinsicht einen sehr heilsamen Einfluß ausgeübt: hier aber vergaß sie das vollständig. Jener starre Blick bannte sie förmlich, wie das Auge der Schlange ein zitterndes Vögelchen. Sie war nur bestrebt, den unheimlichen Frager zufrieden zu stellen, und als er sich unglücklicherweise beikommen ließ, zu fragen: »Sie führen ja wohl den Doppelnamen Eberstein-Ortenau?« da faltete sie wieder die Hände und begann:
»Im Jahre des Heils dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil –« und nun war kein Haltens mehr! Sie erzählte die ganze endlose Geschichte von Kunrad und Hildegard, von Burgverließ und Hochzeit von Anfang bis zu Ende, ohne ein einziges Mal zu stocken oder Atem zu schöpfen, und verfiel dabei wieder rettungslos in den Plapperton. Sie bemerkte es nicht einmal, daß die Thür sich öffnete und Hans, von einer unheilvollen Ahnung getrieben, auf der Schwelle erschien. Er kam gerade recht, um noch den Schluß der Geschichte zu hören, die ihm nun allerdings nicht mehr neu war.
»Da haben wir es!« rief der Professor triumphierend. Er stürzte auf seinen Sohn zu, zog ihn in die Ecke des Zimmers und raunte ihm dort leise, aber energisch zu: »Ich sagte es dir ja! Sie ist auch schon angesteckt, der unselige Keim ist vollständig entwickelt und wird sich weiter vererben. Wenn du jetzt noch auf deinem unsinnigen Vorhaben bestehst, so machst du dich und deine Familie und deine ganze Nachkommenschaft unglücklich. Dagegen protestiere ich als Arzt und Vater! Ich lasse dich unter Kuratel stellen und verbiete es dir im Namen der Menschheit, der man eine verrückte Generation nicht aufhalsen darf.«
»Papa, ich glaube, du bist selbst angesteckt!« rief Haus ärgerlich, indem er sich losmachte und zu Gerlinde eilte, um die er schützend den Arm legte. »Ich leide es nicht, daß meine Braut so gequält wird! Ich sehe überhaupt nicht ein, was die Geschichte die Väter eigentlich angeht. Das Heiraten ist lediglich unsre Sache, und wir werden das auch allein besorgen!«
Es war Sommer geworden. Man befand sich bereits in den ersten Tagen des Juli, aber das Familienfest, welches man im Steinrückschen Hause zu feiern gedachte, hatte auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssen. Wenn auch Professor Wehlau bei seiner Anwesenheit im Schlosse der Tochter die trostlose Wahrheit verschwieg und ihr noch wochenlang eine trügerische Hoffnung ließ, so wußten der General und die Seinigen doch, daß der Familie ein Trauerfall bevorstand. Hertha freilich wurde durch den Tod der Mutter nur fester an die Familie geknüpft, und sobald die Trauerzeit vorüber, sollte sofort die Vermählungsfeier stattfinden.
Graf Steinrück ahnte nicht, daß das Schicksal schon längst das stolze Gebäude seiner Hoffnungen zertrümmert hatte. Er wußte nichts von jener verhängnisvollen Sturmnacht, von der Anwesenheit des Hauptmanns Rodenberg in Sankt Michael, und war hinsichtlich der Nachrichten aus Schloß Steinrück auf Herthas Briefe und den Bericht des Arztes angewiesen.
Michael hatte damals die junge Gräfin auf ihren dringenden Wunsch nur bis zu der Stelle geleitet, wo die Bergstraße in das Thal mündete, da auf dem weiteren Wege jede Gefahr ausgeschlossen war. Sie langte mit den Dienern allein im Schlosse an, und dort verbot der bedenkliche Zustand, in dem sie die Mutter fand, jede Erklärung des Geschehenen. Die Aerzte hatten befohlen, der Kranken jede, auch die geringste Aufregung fernzuhalten, und so mußte die Sache denn vorläufig Geheimnis bleiben, bis zur Genesung der Gräfin, wie Hertha noch immer hoffte. Michael kannte durch den Professor Wehlau allerdings die volle Wahrheit; aber er fühlte sich nur um so mehr verpflichtet, die Frau zu schonen, von der er nur Güte und Freundlichkeit empfangen hatte. Wenn der Kampf beginnen mußte, so mochte es nach ihrem Tode sein.
Dieser Fall war nun eingetreten. Der Arzt hatte dem General soeben die Nachricht gesandt, daß die Kranke in der letzten Nacht sanft entschlafen sei. Steinrück war, wie die ganze Familie, darauf vorbereitet. Die letzten Nachrichten hatten schon völlig hoffnungslos gelautet. Dennoch ging ihm der Tod der sanften, liebenswürdigen Frau, die sich stets unbedingt seiner Leitung gefügt hatte, recht nahe, und er konnte ihr nicht einmal den letzten Freundschaftsdienst erweisen und sie zu Grabe geleiten!
Es war eine verhängnisvolle, gewitterschwüle Zeit in diesen Julitagen, und wenn man auch im Publikum noch wenig davon ahnte, so waren die militärischen Kreise um so besser unterrichtet. General Steinrück wußte, daß er sich jetzt nicht entfernen durfte, selbst nicht auf wenige Tage, daß er sich jeden Augenblick zur Verfügung bereit halten mußte. Die Pflichten des Familienhauptes mußten zurückstehen hinter denen des Soldaten. Raoul sollte allerdings sofort abreisen; ihm, dem jungen, leicht entbehrlichen Beamten im Ministerium, konnte man einen kurzen Urlaub nicht versagen, am wenigsten bei dieser Gelegenheit, wo er seinen Großvater zu vertreten hatte.
Steinrück saß mit tiefernster Miene in seinem Arbeitszimmer und las noch einmal das Telegramm, als ihm ein Offizier vom Generalstab gemeldet wurde. Es blieb dem Grafen nicht viel Zeit für seine Familienangelegenheiten; sogar in diesem Augenblick wurde er gestört; die Meldungen, Depeschen und Berichte jagten sich ja jetzt. Er winkte, den Gemeldeten eintreten zu lassen, und gleich darauf stand Hauptmann Rodenberg vor ihm.
Der General war doch peinlich überrascht von dieser Begegnung, obgleich er darauf gefaßt sein mußte. Er hatte Michael seit jener Stunde, wo er zwischen ihn und Raoul getreten war, wohl einigemal bei dienstlichen Veranlassungen gesehen, aber nicht gesprochen; jetzt, zum erstenmal, waren sie gezwungen, wieder miteinander zu verkehren, und der junge Offizier mußte es empfinden, es war ihm nicht verziehen worden, daß er das Entgegenkommen von jener Seite zurückgewiesen hatte. Er fand in der That nur den Vorgesetzten, der kalt, mit völlig unbewegter Miene ihm entgegentrat.
»Sie bringen mir eine Meldung von seiten Ihres Chefs?«
»Nein, Excellenz, ich komme diesmal in eigener Sache und bitte um ein kurzes Gehör.«
Steinrück sah betroffen auf. In eigener Sache? Das mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein. Er winkte mit der Hand und sagte kurz:
»So sprechen Sie!«
»Die Gräfin Marianne Steinrück ist im Laufe dieser Nacht gestorben –«
»Das wissen Sie bereits?« unterbrach ihn der General befremdet. »Woher? Seit wann?«
»Seit zwei Stunden.«
»Wie ist das möglich? Ich habe soeben erst die Depesche erhalten, noch kennt niemand den Inhalt, nicht einmal mein Enkel. Wie können Sie bereits davon unterrichtet sein?«
»Mein alter Lehrer und Freund, der Pfarrer von Sankt Michael, der auf Wunsch der Gräfin an ihr Sterbebett berufen wurde, sandte mir telegraphisch die Nachricht.«
Die Auskunft schien den Grafen noch mehr zu befremden. Er sagte in scharfem Tone:
»Das ist in der That – seltsam! Welchen Grund hatte denn der Herr Pfarrer, Ihnen eine Nachricht, die Sie doch unmöglich interessieren konnte, früher zu senden, als selbst der Familie? Die Sache ist mir so unbegreiflich, daß ich Sie schon um Erklärung ersuchen muß.«
»Ebendeshalb kam ich. Das Telegramm wurde im Auftrag der Gräfin Hertha abgesendet.«
»An Sie?«
»An mich!«
Der General erbleichte. Jetzt endlich schien ihm eine Ahnung der Wahrheit aufzusteigen. Er richtete sich drohend empor.
»Was soll das heißen? Wie kommen Sie zu einer solchen Vertraulichkeit mit der Braut des Grafen Steinrück?«
»Ich habe in ihrem Namen das Wort zurückzufordern, das sie dem Grafen gegeben hat,« erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. »Es wäre dies längst geschehen, wenn die schwere Erkrankung der Mutter es nicht unmöglich gemacht hätte. An ihrem Sterbebette mußte jeder Kampf und jeder persönliche Wunsch schweigen. Ich weiß, daß es herzlos erscheint, solche Dinge zur Sprache zu bringen in einer Stunde, wo Hertha noch an der Leiche ihrer Mutter weint; aber sie selbst fordert es; denn Graf Raoul wird voraussichtlich auf die Todesnachricht hin zu ihr eilen, und sie kann und will ihn nicht mehr als ihren Verlobten empfangen. Das habe ich Euer Excellenz zu melden; alle andern Erklärungen mögen später stattfinden. Jetzt ist es wohl nicht an der Zeit –«
»Was ist nicht an der Zeit?« fiel ihm Steinrück heftig in das Wort. »Ich dächte, Sie hätten das Aeußerste schon gesagt. Reden Sie aus!«
»Nun wohl, Hertha hat mir das Recht gegeben, sie ihrer ganzen Familie gegenüber zu vertreten. Ich spreche im Namen meiner Braut!«
Das war deutlich genug und übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen des Generals. Er hatte an die Möglichkeit einer Gefahr geglaubt und versucht, die beiden zu trennen, und nun hatten sie sich bereits gefunden. Sein stolzer Plan lag in Trümmern – der Preis, den er seinem Erben zugedacht hatte, sollte noch in der letzten Stunde einem andern zufallen! Steinrück hätte doch nun aufflammen müssen in Zorn und Entrüstung über den Verwegenen; statt dessen sah er ihn an, mit einem langen, seltsam düsteren Blicke, und schwieg. Erst als Michael, der sich dies Schweigen nicht zu deuten wußte, ihn befremdet anschaute, schien er sich zu besinnen, und nun allerdings brach er in voller Gereiztheit aus:
»In der That, Sie sagen mir da mit der ruhigsten Miene die unerhörtesten Dinge! Sie scheinen es ganz selbstverständlich zu finden, daß die verlobte Braut meines Enkels die Ihrige wird, nur weil Sie tollkühn genug sind, die Hand nach ihr auszustrecken. Ueber diese Zumutung wird Raoul mit Ihnen rechten; ich möchte Ihnen nur zu bedenken geben, daß ein solcher Preis denn doch zu hoch steht für einen – Rodenberg!«
»Mir steht nichts zu hoch, was sich überhaupt erringen läßt, und Herthas Liebe habe ich errungen,« sagte Michael kalt. »Sie hat sich einem Familienbeschluß gefügt, der über ihre Hand entschied, als sie noch ein Kind war, und kann das übereilte Jawort nicht mit dem Unglück eines ganzen Lebens büßen. Von dem Grafen Raoul ist schwerlich ein Widerstand zu erwarten! In jedem Falle hat er das Recht verloren, um seine einstige Braut zu kämpfen.«
»Was heißt das? Was meinen Sie damit?« fuhr der General auf.
»Danach bitte ich den Grafen selbst zu fragen. Da Euer Excellenz, wie ich sehe, noch keine Ahnung von der Sache haben, so widerstrebt es mir, den Angeber zu machen.«
»Ich will aber keine halben Worte und Andeutungen! Ich will wissen, um was es sich handelt. Wovon sprechen Sie?«
»Von dem Verhältnis des Grafen zu Heloise von Nérac.«
Steinrück zuckte zusammen. Das also war die Gefahr, die er dunkel geahnt hatte, ohne sie zu kennen!
»Heloise von Nérac!« wiederholte er halblaut.
»Die Schwester des Herrn von Clermont! Ich habe diese Kenntnis nicht gesucht. Mein Ehrenwort darauf! Nur der Zufall hat sie mir gegeben. Hertha fordert von dem Grafen nur ein Wort zurück, das er längst schon gebrochen hat, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn ihm die Auflösung seiner Verlobung nicht erwünscht wäre. Es war wohl nur die Furcht vor dem Einspruche des Großvaters, welche ihn abhielt, sie selbst zu lösen.«
Es folgte eine Pause. Der Schlag kam so jäh und unerwartet, daß der General einige Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Man sah es doch, wie schwer ihn diese Enthüllung traf.
»Ich werde Raoul zur Rede stellen,« sagte er endlich. »Gibt er die Thatsache zu, so hat Hertha allerdings das Recht, zurückzutreten; Ihnen aber gibt das keine Hoffnung, denn ich kann und werde es nicht gestatten, daß mein Mündel –«
»Einem Rodenberg folgt!« ergänzte Michael herb. »Ich weiß das, Excellenz, aber ich muß Sie daran erinnern, daß Ihre vormundschaftliche Gewalt in wenig Monaten zu Ende ist.«
Steinrück trat dicht an ihn heran. Jetzt blitzten seine Augen wieder in dem alten Feuer, und seine Stimme klang in dem gewohnten Gebietertone:
»Die Gewalt des Vormundes, ja! Aber dann tritt die Gewalt des Familienhauptes in ihre Rechte, und der wirst du dich beugen.«
»Nein!« klang es eisig zurück.
»Michael!«
»Nein, Graf Steinrück! Ich gehöre nicht zu Ihrer Familie, davon haben Sie mir soeben wieder den Beweis gegeben. Raoul mag sich seiner Braut unwürdig zeigen, mag sie verraten; er bleibt Ihnen doch der Träger der Grafenkrone, wie ich Ihnen der Sohn des Abenteurers bleibe, der seine Augen nicht zu einem Glied Ihrer Familie erheben darf, selbst wenn er geliebt wird. Hertha denkt glücklicherweise anders. Sie weiß alles und ist dennoch freudig bereit, meinen Namen zu tragen.«
»Und ich sage dir, du wirst diesen Namen noch bei ihr büßen müssen! Du kennst das stolze Mädchen nicht, steh ab von ihr!«
»So feig bin ich nicht,« sagte Michael mit einem halb verächtlichen Lächeln. »Ich kenne meine Hertha besser. Wir haben ja mondenlang miteinander gekämpft wie die bittersten Feinde und wußten es doch beide, daß wir nicht voneinander lassen konnten. Ich habe es mir schwer genug erobern müssen, mein schönes stolzes Glück, aber nun ist es auch unwiderruflich mein. Im Sturmestoben, aus den Klüften der Adlerwand habe ich mir meine Braut geholt – versucht es, sie mir wieder zu entreißen!«
Der kalte, ernste Mann war wie verwandelt; das volle leidenschaftliche Glück leuchtete aus seinen Augen, klang aus seinen Worten, und die letzte Herausforderung schleuderte er fast triumphierend dem Grafen entgegen, der ihn wieder ansah mit jenem seltsamen Blick, in welchem mehr Schmerz als Zorn lag.
»Genug!« sagte er, sich zusammenraffend. »Ich habe zunächst mit Raoul zu rechten. Du wirst noch weiteres von mir hören – jetzt geh!«
Michael verneigte sich und ging; der General blickte ihm lange und düster nach. Es war doch seltsam, daß sie nie den fremden Ton festhalten konnten, der doch von beiden Seiten so sehr erstrebt wurde. Im Anfange stand immer der Vorgesetzte dem Untergebenen gegenüber, so fremd, als hätten sie sich nie gesehen, und schließlich sprach doch immer der Großvater zu seinem Enkel, wenn sie sich auch im vollsten Kampfe befanden. Auch heute schieden sie mit einer gegenseitigen Kriegserklärung, und doch murmelte der Graf, als er allein war:
»Was gäbe ich darum, wenn du Raoul Steinrück hießest!«
Der junge Graf kehrte eine halbe Stunde später von seinem Morgenritt zurück. Bei seinem Eintritt wurde ihm gemeldet, daß der General nach ihm gesandt habe und ihn unverzüglich zu sprechen verlange, und wenige Minuten später trat er in das Arbeitszimmer.
»Du ließest mich rufen, Großpapa?« fragte er. »Hast du Nachrichten aus Steinrück erhalten?«
Der Großvater reichte ihm statt aller Antwort die Depesche.
»Lies selbst!«
Raoul durchflog das Telegramm und legte es dann wieder auf den Tisch.
»Eine traurige, aber leider nicht unerwartete Nachricht. Nach dem letzten Briefe mußten wir stündlich darauf gefaßt sein. Du äußertest gestern, daß du selbst in diesem Falle die Stadt nicht verlassen könntest; so werde ich also allein abreisen, mit der Mama?«
»Wenn du kannst, ja!«
»Mein Urlaub macht keine Schwierigkeit,« sagte Raoul unbefangen. »Der Minister hat ihn mir selbst angeboten, als er hörte, wie es in Steinrück stand. Ich kann ihn jede Stunde in Anspruch nehmen, um –«
»Deine Braut zu trösten!« ergänzte der General.
»Gewiß, ich habe doch wohl das erste Recht dazu.«
»Hast du es wirklich noch? Das wird sich zeigen!«
Der junge Graf stutzte bei dem Tone; aber der Großvater ließ ihm nicht Zeit, zu erraten, um was es sich handle, sondern fragte kurz und scharf:
»In welchem Verhältnis stehst du zu Heloise von Nérac!«
Die Frage kam so unerwartet, daß Raoul auf einen Augenblick die Fassung verlor. Im nächsten aber hatte er sie zurückgewonnen und entgegnete:
»Sie ist die Schwester meines Freundes Clermont.«
»Das weiß ich! Es scheint aber, daß sie dir noch mehr ist. Keine Ausflüchte! Ich verlange volle, rückhaltlose Wahrheit! Kannst du dies Verhältnis vor deiner Braut verantworten? Ja oder nein!«
Raoul schwieg. Ein Lügner war er trotz alledem nicht, und er konnte auch nicht lügen diesen drohenden Augen gegenüber, die ihm bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen und die Wahrheit zu erzwingen wußten, wie sehr man sie auch verschleierte.
»Also doch!« sagte Steinrück dumpf. »Ich konnte und wollte es nicht glauben!«
»Großvater –«
»Genug, ich bedarf keiner Antwort mehr! Dein Verstummen sprach zu deutlich. Ist es denn möglich? Eine Braut wie Hertha zu opfern und wem zu opfern! Hast du die Augen oder den Verstand verloren? Die Sache ist ebenso unbegreiflich wie sie schmachvoll ist.«
Raoul stand finster mit fest zusammengepreßten Lippen da. Er ertrug es nicht, in solcher Weise ausgescholten zu werden, und der herrische Ton reizte ihn nun vollends; seine Antwort klang mehr trotzig als beschämt.
»Du häufst alle Vorwürfe auf mich, Großvater, und doch trägt Hertha mit ihrer verletzenden Kälte, ihrer eisigen Zurückhaltung die erste Schuld an unsrer Entfremdung. Sie hat mich nie geliebt; sie kann überhaupt nicht lieben.«
»Da irrst du sehr!« sagte der General mit tiefer Bitterkeit. »Du hast es allerdings nicht vermocht, ihre Liebe zu gewinnen, aber ein andrer verstand das besser als du. Dem gegenüber kennt sie keinen Stolz und keine Kälte, dem opfert sie willig ihre Grafenkrone, der darf es wagen, ihr einen bürgerlichen, einen einst befleckten Namen zu bieten – Michael Rodenberg!«
Der junge Graf stand da, als sei der Blitz vor ihm niedergefahren, und blickte wie betäubt seinen Großvater an. Dann aber schien sich sein ganzes Wesen aufzubäumen. Er hatte sie trotz alledem einst geliebt, die schöne, eisige Braut, und erst ihre unbesiegbare Kälte hatte ihn hineingetrieben in die Leidenschaft für eine andre. Der Gedanke, daß sie einem andern, daß sie dem tiefgehaßten Michael gehören sollte, raubte ihm fast die Besinnung, und mit der wildesten Heftigkeit brach er aus:
»Rodenberg? Er wagt es, um eine Gräfin Steinrück zu werben, sie heimlich zu bethören, während sie mir noch anverlobt ist? Der ehrlose Bube –«
»Schweig!« herrschte ihn der General an. »Du hast ehrlos gehandelt, nicht Michael. Er war soeben bei mir, um in Herthas Namen ihr Wort von dir zurückzufordern und mir alles zu enthüllen. Du schwiegst – und verrietest deine Braut!«
»Durfte ich denn reden? Du hättest mich zermalmt mit deinem Zorn, wenn ich dir meine Liebe zu Heloise gestanden hätte.«
Die Lippen Steinrücks zuckten verächtlich.
»Also aus Furcht vor mir! Glaubst du, daß ich einen Gehorsam will, der sich auf Lüge und Verrat gründet? Ich fürchte freilich, auch ohne diesen Treubruch war Hertha dir verloren, sobald Michael mit dir in die Schranken trat.«
»Großvater, das geht zu weit!« Die Stimme Raouls erstickte fast vor Grimm. »Willst du mich, deinen Erben, den letzten Sprossen deines Hauses, einem Menschen nachsetzen, der noch an der Schande seines Vaters zu tragen hat?«
»Und der trotzdem emporsteigen wird zu einer Höhe, die du nie erreichst. Der schreitet zum Ziele, und wenn sich eine Welt von Hindernissen vor ihm auftürmt, während du, mit all dem Glanze deines Namens und deiner Abkunft, mit all deiner reichen Begabung, nur einer von den Tausenden sein wirst, die sich in der Menge verlieren. Beide seid ihr von meinem Stamme, aber nur einer hat mein Blut geerbt. Du bist das Ebenbild deiner Mutter; vom Vater hast du nur die Charakterschwäche. Michael ist mein Sproß, und wenn er zehnmal Rodenberg heißt – ich erkenne ihn als einen Steinrück an!«
Da war sie endlich, die Anerkennung, die der Stolz des alten Grafen so lange seinem Enkel verweigert hatte, die er ihm Auge in Auge nie zugestanden. Jetzt brach sie fast wider seinen Willen hervor.
Raoul war bei den letzten Worten leichenblaß geworden; er wagte keinen Widerspruch, aber wenn irgend etwas seinen Haß gegen Michael noch steigern konnte, so war es diese Erklärung. Steinrück ging einigemal im Zimmer auf und nieder, als wolle er sich zur Ruhe zwingen, und trat endlich vor den jungen Grafen hin.
»Deine Verlobung ist gelöst! Nach dem, was du mir selbst zugestanden hast, kann ich es Hertha nicht wehren, zurückzutreten. Deine Mutter wird dir klar machen, was du auch äußerlich dadurch verlierst. Wir sind in diesem Falle ausnahmsweise einer Meinung, und sie scheint eine Ahnung der Gefahr gehabt zu haben, die dir von jener Seite drohte; denn sie erklärte mir noch kürzlich mit aller Bestimmtheit, daß du auf ihr Drängen den Verkehr mit den Clermonts aufgegeben hättest. Du hast also auch sie getäuscht, wie du mich täuschtest, und das um eines Weibes willen –«
»Das ich liebe!« rief Raoul aufflammend. »Bis zum Wahnsinn liebe! Beleidige Heloise nicht, Großvater! Ich ertrüge es nicht, wenn ich auch weiß, daß du sie und Henri hassest, weil sie dem Lande meiner Mutter angehören.«
Steinrück zuckte die Achseln.
»Ich dächte, dein Oheim Montigny gehörte diesem Lande auch an, und du weißt, daß er meine volle Achtung und Sympathie besitzt. An diesen Geschwistern aber haftet etwas Abenteuerliches, trotz ihrer Abkunft, die ja hinreichend beglaubigt zu sein scheint. Sie verkehren ohne Zweck und Ziel in der hiesigen Gesellschaft und werden vermutlich eines Tages ebenso spurlos verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Dann wird auch dein unsinniger Roman zu Ende sein, aber er wird dich eine glänzende Zukunft gekostet haben.«
»Wer sagt, daß er zu Ende sein wird? Wenn Hertha es wagen darf, deinem Willen Hohn zu sprechen und alle Pläne unsrer Familie mit Füßen zu treten, so werde ich wohl auch das Recht haben, eine Frau mein zu nennen, deren Name unserm Hause mehr zur Ehre gereicht, als der eines Rodenberg.«
»Du denkst Frau von Nérac zu heiraten!« sagte der General mit vernichtender Kälte. »Willst du vielleicht auf deinen Posten im Ministerium ein Hauswesen gründen? Meine Stellung zu der Sache brauche ich dir wohl nicht erst zu erklären. Einmal habe ich es zugelassen, daß dies fremde Element sich mit dem unsrigen einte; zum zweitenmal geschieht es nicht wieder – es hat Unheil genug gestiftet!«
»Großvater – du sprichst von meiner Mutter!« brauste Raoul auf.
»Ja, von deiner Mutter, der ich es danke, daß du mir und deinem Vaterlande entfremdet bist, daß du dich mit Gleichgültigkeit, ja mit Widerwillen abwendest von dem, was dir das Heiligste auf Erden sein sollte. Was habe ich nicht versucht, dich diesem Bannkreise zu entreißen! Ob mit Güte oder mit Gewalt, es ist alles umsonst gewesen! Der ärmste Bauer hängt mit größerer Liebe an seiner Scholle, als du an deiner Heimat, und an der Seite einer Heloise von Nérac wäre dein Schicksal vollends besiegelt. Wenn dich die Furcht vor mir nicht mehr in Schranken hält, wenn ich dereinst die Augen geschlossen habe, so könnte es geschehen, daß der letzte Steinrück seinem Vaterlande verächtlich den Rücken kehrt und dort drüben ein Franzmann wird an Leib und Seele!«
Es lag bei allem Zorne doch ein so bitterer, qualvoller Schmerz in den Worten, daß die trotzige Erwiderung erstarb, die der junge Graf auf den Lippen hatte. Er sollte der Antwort überhoben werden, denn soeben öffnete sich die Thür, und seine Mutter trat ein.
Sie ahnte noch nichts von dem Vorgefallenen. Der General war nach der Entfernung Michaels nur auf einige Minuten bei ihr gewesen, um ihr die Trauernachricht zu bringen. Sein Gerechtigkeitsgefühl verbot ihm, eine Anklage gegen Raoul auszusprechen, ehe er ihn selbst gehört hatte.
»Da bist du ja, Raoul,« sagte sie. »Ich hörte, daß der Großvater dich rufen ließ, um dir die Depesche aus Steinrück mitzuteilen, und komme, um zu erfahren, ob wir zusammen abreisen können oder ob du mir erst morgen folgen wirst. Ich denke heute abend den Kurierzug zu benutzen, um möglichst bald bei Hertha zu sein.«
Der General wandte sich anscheinend ruhig zu seiner Schwiegertochter.
»Raoul wird überhaupt nicht nach Steinrück gehen,« entgegnete er. »Es sind Verhältnisse eingetreten, die ihn zwingen hier zu bleiben.«
Die Gräfin erschrak, aber sie war weit entfernt, den wahren Zusammenhang zu ahnen; ihre Befürchtungen nahmen eine ganz andre Richtung.
»Versagt man ihm etwa den Urlaub bei solcher Gelegenheit?« fragte sie hastig. »Und auch du, Papa, kannst nicht fort, wie du sagtest? Es ist also wahr, was mir Leon schon gestern andeutete? Der Krieg ist unvermeidlich geworden?«
»Darüber kann ich dir keine Gewißheit geben,« erklärte Steinrück, nur die letzte Frage beantwortend. »Daß die Dinge ernst und kriegerisch aussehen, weiß ja alle Welt, und auch Raoul muß sich wie jeder bereit halten, zu den Fahnen einberufen zu werden.«
»Einberufen?« wiederholte die Gräfin erstaunt. »Er ist ja nie Soldat gewesen. Seine Zartheit und Kränklichkeit haben ihn stets von der militärischen Laufbahn ausgeschlossen, und auch das übliche Dienstjahr mußte ihm erlassen werden, weil sein Brustleiden noch nicht überwunden war.«
»So hieß es wenigstens! Die Aerzte haben damals eine sehr weitgehende Schonung geübt, mit der ich keineswegs einverstanden war, denn ich hielt Raoul schon damals für gesund; daß er es jetzt ist, wirst auch du nicht mehr leugnen. Wer seinen Stolz darein setzt, der wildeste, tollkühnste Reiter zu sein; wer alle Strapazen der Hochlandsjagd erträgt, wenn es gilt, den Gemsen nachzusteigen, und keine Ermüdung kennt in einem Treiben, von dem ich mehr weiß, als mir lieb ist, der wird auch wohl die Waffen im Kriege führen können.«
»Und du könntest die Grausamkeit so weit treiben, von ihm zu fordern –«
»Was?« fragte der General eisig. »Ah so, du fürchtest, daß er vorläufig noch als Gemeiner eintreten muß? Das ist allerdings nicht zu ändern; aber er wird es nicht lange bleiben, und übrigens werde ich dafür sorgen, daß er in meiner unmittelbaren Nähe bleibt. Da gilt er der ganzen Umgebung für meinen Enkel und hat nur seine Soldatenpflicht zu erfüllen, wie jeder andre.«
»Aber gegen die Meinen!« rief Hortense leidenschaftlich. »Wenn es wirklich dazu käme – das überlebte ich nicht!«
»Man überlebt vieles, Hortense, was noch schwerer zu tragen ist. Ich begreife, daß es dir Thränen kosten wird, und mute dir nicht zu, hier in der Hauptstadt zu bleiben, wenn wirklich der Sturm gegen Frankreich losbricht. Du kannst eben unser Empfinden nicht teilen. Raoul aber ist der Sohn eines Deutschen und wird als solcher seine Schuldigkeit thun. Er war damals dienstunfähig; ich zweifle nicht, daß er jetzt vollkommen kriegstüchtig befunden wird.«
Die Worte klangen sehr ruhig und sehr eisern. Aber Hortense lernte es nun einmal nicht, ihren Schwiegervater zu verstehen. Sie stürmte immer wieder von neuem an gegen diesen Felsen, obgleich sie wußte, daß er nicht zu bewegen war.
»Es liegt aber in deiner Macht, ihn davon zu befreien,« sagte sie noch heftiger. »Es kostet dich nur ein einziges Wort an die betreffenden Aerzte, daß du das Leiden deines Enkels noch nicht für überwunden hältst. Wenn der General Steinrück das erklärt, so wird es sicher niemand wagen –«
»Ihn der Lüge zu zeihen? Gewiß nicht, aber man wagt es doch, ihm eine Lüge zuzumuten, wie ich sehe. Ich will der Erregung, in der du dich befindest, Rechnung tragen, Hortense, sonst –« Er vollendete nicht, aber sein Blick ergänzte die Worte.
Raoul hatte bisher seitwärts gestanden, ohne sich an dem Gespräche zu beteiligen, und doch sah man, welchen leidenschaftlichen Anteil er daran nahm; jetzt aber trat er vor.
»Großvater, du weißt, daß ich kein Feigling bin,« sagte er gepreßt. »Du hast mich oft tollkühn genannt und mich gezügelt, wo ich vorwärts wollte; aber du wirst und mußt es begreifen, daß ich in diesen Kampf nicht gehen kann. Die Hand erheben gegen das Volk und das Land meiner Mutter – mein ganzes Innere empört sich dagegen.«
»Ich kann es dir aber nicht ersparen,« sagte Steinrück unbewegt. »In solchem Falle heißt es, Selbstüberwindung üben und unentwegt seine Pflicht thun. Wozu all die Worte! Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, der ihr euch beide zu beugen habt genug davon!«
»Ich will und kann mich aber hier nicht beugen!« rief der junge Graf in steigender Erregung. »Ich habe niemals den Waffendienst geleistet, und auch jetzt wird man mich nicht rufen, wenn du nicht darauf bestehst. Aber du willst mich hineinzwingen in diesen Kampf gegen mein zweites Vaterland. Ich sehe es nur zu deutlich –«
Er brach ab, denn der General richtete sich so hoch und drohend empor, daß er mitten in der Rede verstummte.
»Ich dächte, du hättest nur ein Vaterland! Kommt dir das nicht einmal jetzt zum Bewußtsein? Nun denn ja, du sollst hinein in den Kampf, sollst ihn ausfechten von Anfang bis zu Ende, damit du dich wieder auf dich selbst besinnst. Im Sturm des Krieges, in der Erhebung deines ganzen Volkes lernst du vielleicht begreifen, wo jetzt allein dein Platz ist; vielleicht bringt dir das die verlorene Liebe zur Heimat zurück. Es ist noch meine einzige, meine letzte Hoffnung! – Sobald die Entscheidung da ist, wirst du dich melden, freiwillig melden.«
Es war wieder einer jener energischen Befehle, denen sich Raoul sonst stets beugte; diesmal aber erhob er sich dagegen mit wildaufflammendem Trotz.
»Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Du hast es mir stets vorgeworfen, daß ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, und ich fürchte, daß du recht hast. Was ich jemals an Glück, an Freiheit genossen in meiner schönen sonnigen Jugendzeit, das liegt drüben in Frankreich, und nur dort erscheint mir das Leben wirklich lebenswert. Hier in dem kalten nüchternen Deutschland bin ich nie heimisch geworden; hier wird mir jeder Tropfen der Freude karg zugemessen; hier wird mir immer und ewig das Gespenst der Pflicht entgegengehalten. Stelle mich nicht so eisern und unerbittlich vor die Wahl! Sie könnte anders ausfallen, als du glaubst! Ich liebe dein Deutschland nun einmal nicht, habe es nie geliebt und, komme was da will – ich kämpfe nicht gegen mein Frankreich!«
»Mein Raoul – ich wußte es ja!« rief Hortense triumphierend, indem sie ihm die Arme entgegenstreckte.
Steinrück stand regungslos da und sah auf die beiden. Das hatte er doch nicht erwartet! Die Furcht vor ihm hatte Raoul bisher immer noch in Schranken gehalten. Er wagte es nie, seinen innersten Empfindungen Worte zu leihen. Jetzt brach diese Schranke, und was sie entfesselte, das erschütterte selbst die eiserne Natur des alten Grafen. Seine Stimme hatte einen fremden Klang, als er endlich wieder sprach.
»Raoul – komm zu mir!«
Der junge Graf rührte sich nicht. Er blieb an der Seite seiner Mutter, die den Arm um ihn gelegt hatte, als wolle sie ihn zurückhalten. So standen sie da, beide trotzig und feindselig. Aber der General war nicht der Mann, der in seinem Hause einen solchen Widerstand duldete.
»Hast du meinen Befehl nicht gehört?« fragte er. »So muß ich ihn wohl wiederholen. Du sollst zu mir kommen!«
Sein Blick und Ton übten wieder die alte Gewalt auf Raoul aus, der fast mechanisch, als weiche er einer unwiderstehlichen Macht, sich von der Mutter losmachte und dem Befehle Folge leistete.
»Du willst nicht kämpfen?« fragte Steinrück, indem er die Hand des jungen Mannes mit so eisernem Druck umschloß, daß jener kaum einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte, »das wird sich zeigen! Ich werde in deinem Namen die Meldung erstatten, und bist du erst einberufen, so wird man dich lehren, was Disziplin heißt. Du weißt doch wohl, was dem Soldaten geschieht, der den Gehorsam verweigert, oder – dem Deserteur!«
»Großvater!« schrie Raoul auf, der zusammengezuckt war bei dem schmachvollen Worte.
»Ich stelle dich vor die Wahl, trotz deiner Drohung! Und damit du deinen Sohn nicht zu sehr bewunderst wegen seines Mutes, Hortense, so magst du erfahren, was dir doch kein Geheimnis bleiben kann: Raouls Verlobung mit Hertha ist gelöst, durch seine Schuld. Er hat bei Frau von Nérac Wort und Pflicht vergessen, die er seiner Braut schuldet.«
»Raoul!« rief die Gräfin entsetzt. Es klang anders als ihr Ruf vorhin. Der General ließ langsam die Hand seines Enkels los und trat zurück.
»Darüber magst du mit ihm rechten! Das zweite, Schlimmere, werde ich zu verhüten wissen. Ich will doch sehen, ob der letzte Steinrück es wagt, seinem Namen solche Schmach anzuthun und seinem Vaterlande die Treue zu brechen, wie er sie seiner Braut gebrochen hat!«
Damit wandte er den beiden den Rücken und verließ das Gemach.
Das Zerwürfnis in der Steinrückschen Familie lastete schwer genug auf allen Mitgliedern derselben. Hortense war allerdings abgereist, denn der General bestand darauf, daß wenigstens ein Mitglied seines Hauses die Verwandte zu Grabe geleite. Er selbst konnte in der That nicht fort, und für Raouls Nichterscheinen konnte man die politischen Ereignisse wenigstens zum Vorwand nehmen; die Abwesenheit Hortenses aber hätte das Zerwürfnis sofort der Welt offenbar gemacht, und diese fügte sich um so bereitwilliger dem Verlangen ihres Schwiegervaters, als sie ihre letzte Hoffnung noch auf ein persönliches Eingreifen setzte. In der stürmischen Scene, die vor der Abreise zwischen ihr und Raoul stattgefunden hatte, war der Name Michaels nicht genannt worden; sie wußte nichts von seinen Beziehungen zu Hertha und zu ihrer Familie überhaupt. Heloise von Nérac galt ihr als der alleinige Grund des Bruches, und deshalb hoffte sie noch immer, daß es ihr gelingen werde, die beleidigte Braut zu versöhnen und ihrem Sohn trotz alledem das zu sichern, was er in grenzenlosem Leichtsinne mit Herthas Hand aufgegeben hatte.
Der General und sein Enkel hatten sich seit gestern nur auf Minuten gesehen; aber schon diese Minuten waren peinlich genug. Augenblicklich befand sich der junge Graf im Hause seines Freundes Clermont, wohin er in vollem Trotze gegangen war, um der Mutter und dem Großvater zu beweisen, daß er kein Knabe mehr sei, der sich in solchen Dingen befehlen oder verbieten lasse. Er war allein mit Heloise und hatte ihr soeben mitgeteilt, was gestern geschehen war, aber in einer so leidenschaftlichen Art, daß man deutlich sah, wie tief es ihn erregte.
»Der Würfel ist gefallen!« schloß er endlich. »Meine Verlobung mit Hertha ist gelöst. Ich bin frei, wie du es bist, und zu verbergen gibt es jetzt nichts mehr. Jetzt sage es mir endlich in deutlichen, klaren Worten, Heloise, daß du die Meine werden, daß du meinen Namen tragen willst. Noch hast du das nie gethan.«
Die junge Frau hatte schweigend zugehört, aber zwischen ihren Brauen lag eine Falte. Es schien fast, als ob ihr dieser Ausgang nicht erwünscht sei.
»Nicht so stürmisch, Raoul!« wehrte sie ab. »Du hast es mir selbst bekannt, daß dein Großvater diese Verbindung niemals zugibt, und du hängst gänzlich von ihm ab.«
»Für den Augenblick! Für die Zukunft bin ich der Majoratserbe, und das kann mir kein Testament rauben. Es ist Familiengesetz in unserm Hause. Du weißt es ja!«
Heloise wußte das allerdings sehr genau, aber sie wußte auch, wie gering, ihren Ansprüchen nach, die Einkünfte dieses Majorats waren. Die Sache war ja schon vor Monaten Gegenstand einer eingehenden Erörterung zwischen ihr und dem Bruder gewesen, und das Zukunftsbild, das Henri ihr damals so schonungslos ausmalte, das Leben auf einem einsamen Gute in der Provinz, hatte wenig Verlockendes für eine Frau, die nur atmen konnte in dem glänzenden Treiben der Gesellschaft und für die Glanz und Luxus Lebensbedürfnisse waren.
»So laß uns auf die Zukunft hoffen!« sagte sie rasch ablenkend. »Die Gegenwart ist uns feindlich genug. Nicht allein der Streit in deiner Familie, auch die politischen Ereignisse drohen, uns zu trennen.«
»Trennen?« fuhr Raoul auf. »Weshalb?«
»Nun, es versteht sich doch von selbst, daß wir nicht hier bleiben, wenn der Krieg wirklich ausbrechen sollte, den auch mein Bruder für unvermeidlich hält. Sobald unsre Gesandtschaft die Stadt verläßt, ist auch unsers Bleibens nicht länger. Henri hat mir bereits mitgeteilt, daß ich mich auf eine schnelle und unerwartete Abreise gefaßt halten muß.«
»So laß Henri gehen, aber du bleibst! Dich lasse ich nicht fort! Ich weiß, daß ich ein Opfer von dir fordere, aber bedenke, was ich dir geopfert habe! Dich jetzt zu verlieren, ertrage ich nicht! Du mußt bleiben!«
»Wozu?« fragte die junge Frau herb. »Vielleicht, um mit anzusehen, wie der General seinen Willen durchsetzt, wie du in voller Uniform abmarschierst gegen Frankreich?«
Raoul ballte die Hand.
»Heloise, treibe nicht auch du mich zur Verzweiflung! Wenn du wüßtest, was ich alles habe ertragen müssen, was ich noch ertragen muß! Mein Großvater – er hat seit gestern keine zehn Worte mit mir gesprochen. Aber er hat einen Blick, einen Ton, die mein Blut zum Sieden bringen. Es liegt die vollste Verachtung darin. Meine Mutter, von der ich nie etwas andres empfangen habe, als Liebe und Zärtlichkeit, überschüttet mich mit Vorwürfen. Henri will fort. Jetzt sprichst auch du von Trennung, und ich soll allein bleiben, während es von allen Seiten auf mich einstürmt – das ertrage ich nicht.«
Er warf sich in der That wie ein Verzweifelter in einen Sessel.
Heloise blickte mit einem Gemisch von Mitleid und Unwillen auf den jungen Mann, der mit all seiner Ritterlichkeit und Tollkühnheit, mit seiner Verachtung jeder äußeren Gefahr, doch wie ein Rohr im Winde schwankte, sobald es sich um den moralischen Mut handelte.
»Müssen wir uns denn trennen?« fragte sie leise. »Das steht ja bei dir, Raoul!«
Er blickte befremdet, fragend auf. »Bei mir?«
»Gewiß. Ich kann nicht bleiben, so wenig wie Henri. Wir wissen es ja aber, daß du im Herzen unser bist, daß nur der Zwang dich auf der deutschen Seite festhält. Nun wohl, entreiße dich diesem Zwange – folge uns nach Frankreich!«
»Bist du von Sinnen?« rief Raoul aufspringend. »Jetzt am Vorabend des Krieges? Das wäre ja Verrat!«
»Es wäre nur ein tapferer, mutiger Entschluß, ein kühnes Bekenntnis der Wahrheit. Wenn du hier bleibst, belügst du dich selbst und alle andern. Was gibst du denn auf? Ein Land, in dem du fremd geblieben bist und ewig fremd sein wirst, Verhältnisse, die dir unerträglich geworden sind, einen Großvater, mit dem du dich im offenen Kampfe befindest. Die einzige, nach der du fragst, deine Mutter, mag dir jetzt grollen über das Scheitern ihrer Pläne; bei diesem Schritt grollt sie dir sicher nicht.«
»Ich heiße Steinrück!« sagte Raoul finster. »Das hast du wohl vergessen, Heloise?«
»Ja, so heißest du, aber du bist ein Montigny, vom Scheitel bis zur Sohle. Du hast dich dessen oft vor uns gerühmt, wozu es denn jetzt verleugnen? Soll der Name des Vaters allein dir dein Denken und Fühlen vorschreiben? Hat das Blut der Mutter nicht das gleiche Recht? Zu ihrem Lande, zu ihrem Volke zieht es dich mit ganzer Seele, und man will dir als ein Verbrechen anrechnen, was doch nur die heiligste Macht der Natur ist; man will dich zwingen, gegen uns zu kämpfen. Das ist Verrat, und dazu wirst du dich nicht brauchen lassen!«
Raoul hatte sich abgewandt, als wolle er die Worte nicht hören, und doch sog er sie begierig ein. Das waren ja seine eigenen Gedanken, die ihn Tag für Tag umschlichen, die er von sich wies und die doch immer wieder kamen. Das einzige, was ihn hätte davor schützen können, ein Pflichtbewußtsein, besaß der junge Graf nun einmal nicht. Die Pflicht war ihm stets als ein Gespenst, als ein eiserner Zwang erschienen. So stand sie auch jetzt vor ihm, aber sie schreckte ihn wenigstens noch.
»Hör auf, Heloise!« sagte er gepreßt. »Ich kann, ich darf das nicht hören, und« – er richtete sich plötzlich mit einer energischen Bewegung empor – »ich will es auch nicht hören – laß mich fort!«
Er wandte sich in der That zum Gehen, aber jetzt trat die junge Frau zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihre Stimme klang bittend, überredend, und wieder traf ihn der weiche, verschleierte Blick, den er nur zu gut kannte.
»Komm mit uns, Raoul! Du verzehrst dich ja in diesem unseligen Kampfe mit dir selbst. Du gehst zu Grunde daran, und ich – glaubst du, daß ich die Trennung von dir leicht ertrage? Daß ich weniger leide als deine Mutter, wenn ich dich in den Reihen unsrer Feinde weiß? Folge uns nach Frankreich!«
»Heloise – laß mich!« Der junge Graf machte einen verzweiflungsvollen, aber ohnmächtigen Versuch, zu entrinnen; es war vergebens. Immer bestrickender klangen die Worte, denen er nicht entfliehen konnte; immer enger und dämonischer umwand ihn die schillernde Schlange.
»Er wird dich zu zwingen wissen, der eiserne, unerbittliche Greis! Er hat dich ja stets gezwungen. Entreiße dich seiner Gewalt, ehe er seine Drohung wahr macht! Noch ist der Krieg nicht erklärt, noch darfst du frei handeln. Verschaffe dir einen Urlaub im Ministerium, gleichviel, auf welche Art und unter welchem Vorwande. Wenn du fern bist, wenn dich die Ordre nicht erreichen kann –«
»Nimmermehr!« rief Raoul. Er fühlte, daß er im Begriff war, zu erliegen. Aber da bäumte sich noch der letzte Rest von Ehrgefühl in ihm empor. Das Bild seines Großvaters tauchte vor ihm auf, des »eisernen, unerbittlichen Greises« mit der tödlichen Verachtung im Blick; das trug den Sieg davon, selbst über den drohenden Verlust der Geliebten, und entriß ihn noch einmal der Gefahr.
»Nimmermehr!« wiederholte er, sich losreißend. »Ich könnte nicht leben mit dem Bewußtsein, auch nicht an deiner Seite – leb wohl, Heloise!«
Er eilte nach der Thür und traf dort mit Henri Clermont zusammen, der soeben von einem Ausgange zurückkehrte und ihn aufhalten wollte.
»Wohin denn so stürmisch, Raoul? Hast du keine Minute für mich übrig?«
»Nein!« stieß der junge Graf hervor. »Ich muß fort augenblicklich – leb wohl!«
Er stürmte hinaus. Clermont sah ihm verwundert nach und wandte sich dann zu seiner Schwester.
»Was hat Raoul? Was bedeutet dies Fortstürmen?«
»Es ist seine Antwort auf meine Zumutung, uns nach Frankreich zu folgen,« entgegnete die junge Frau in tiefgereiztem Ton. »Du hörst es! Er sagt mir lebewohl.«
Henri zuckte nur die Achseln.
»Für heute! Morgen wird er wiederkommen. Ich dächte, du kenntest doch jetzt deine Macht über ihn hinreichend. Er hat eine Hertha Steinrück aufgegeben um deinetwillen und mit ihr ein fürstliches Vermögen; dich gibt er niemals auf!«
Das drohende Wetter war losgebrochen; die Kriegserklärung war erfolgt, und jetzt überstürzten sich die Ereignisse in so wilder Hast, daß jede persönliche Angelegenheit und jedes persönliche Interesse von ihnen überflutet wurde.
In der Wohnung des Marquis von Montigny stand alles gepackt und reisefertig. Er war zurückgeblieben, um in Vertretung des Gesandten das Letzte zu ordnen, wollte nun aber auch in einigen Stunden abreisen. Vorher schien er jedoch noch jemand zu erwarten, denn er trat von Zeit zu Zeit an das Fenster und spähte ungeduldig hinaus. Endlich meldete der Diener den jungen Grafen Steinrück, und dieser trat ein.
Raoul sah ungewöhnlich bleich aus, und in seinem ganzen Wesen lag etwas seltsam Verstörtes, das seinem Oheim jedoch nicht besonders auffiel; in jetziger Zeit war ja alles in fieberhafter Erregung. Er reichte ihm flüchtig die Hand.
»Hast du mein Billet erhalten? Ich stehe im Begriff, abzureisen, aber ich mußte dich unter allen Umständen vorher noch einmal sprechen.«
»Ich hätte dir jedenfalls lebewohl gesagt,« entgegnete Raoul. »Die Mama wird freilich trostlos darüber sein, daß du nicht einmal Abschied von ihr hast nehmen können.«
»Ich muß sofort nach Paris zurück,« erklärte Montigny achselzuckend. »Deine Mutter hat mir aber bereits von Steinrück aus geschrieben; und eben dieser Brief zwingt mich, mit dir zu sprechen.«
Der junge Graf richtete sich mit vollem Trotze auf, denn er wußte, was jetzt folgen würde. Hortense hatte dem Bruder, den sie bei ihrer schnellen Abreise nicht mehr gesehen hatte, brieflich ihr Herz ausgeschüttet, und es galt nun, einen Sturm auch von dieser Seite zu bestehen. In der That hielt sich der Marquis nicht mit einer Einleitung auf, sondern ging sofort zu der Hauptsache über.
»Deine Verlobung mit Hertha ist gelöst, wie ich höre! Auch mir ist es unbegreiflich, wie du sie aufgeben konntest, und ich fürchte, du wirst es nur zu bald einsehen, was du damit aufgegeben hast. Doch das ist schließlich deine Sache. Meine Schwester schreibt mir aber, daß du beabsichtigst, die Dame, um derentwillen der Bruch stattfand, Frau von Nérac, zu deiner Gemahlin zu machen, und ist außer sich darüber. Ich habe ihr freilich zugleich mit meinen Abschiedszeilen die Beruhigung gesandt, daß es nicht so weit kommen wird.«
»Weshalb nicht?« fuhr Raoul auf. »Bin ich ein Kind, das sich noch gängeln und bevormunden läßt? Ich bin mündig, auch vor dem Gesetz; das scheint ihr alle zu vergessen, und wenn sich alles dagegen setzt, Heloise wird mein; ich lasse sie mir nicht rauben!«
Es sprach nicht bloß Trotz aus diesen Worten; eine wilde Leidenschaftlichkeit lag in ihnen, und das fieberhaft Erregte und Verstörte des jungen Mannes trat dabei so deutlich hervor, daß auch Montigny es jetzt bemerkte. Er milderte unwillkürlich den Ton, und die Hand seines Neffen ergreifend, zog er ihn neben sich nieder.
»Vor allen Dingen, Raoul, versprich mir, ruhiger zu werden. Wenn du eine bloße Andeutung schon mit solcher Heftigkeit aufnimmst, wie willst du dann die volle Wahrheit ertragen? Hätte ich geahnt, wie tief du verstrickt bist, ich hätte längst gesprochen. Mit der Kriegserklärung fällt allerdings ein Teil jener Rücksichten, die mir Schweigen auferlegen; dennoch fordere ich dein Ehrenwort, daß das, was ich dir jetzt mitteile, kein dritter erfährt, auch deine Mutter nicht.«
Die ernsten, ruhigen Worte, durch die ein Ton von Mitleid hindurchklang, verfehlten ihre Wirkung nicht; aber Raoul gab keine Antwort, und der Marquis fuhr fort:
»Ich habe Clermont schon vor Monaten gedroht, dir die Augen zu öffnen, wenn er dich nicht aus den Händen ließe, und er war vorsichtig genug, dich zu bestimmen, eure Beziehungen fortan geheim zu halten. Ich und Hortense, wir ließen uns beide täuschen; aber ich kann und werde es nicht zulassen, daß der einzige Sohn meiner Schwester solchen Schlingen zum Opfer fällt. Du weißt nicht, wer und was dieser Clermont ist –«
»Onkel Leon,« unterbrach ihn Raoul heftig, aber mit qualvoll gepreßter Stimme, »sprich nicht weiter, ich bitte dich. Ich will nichts hören, nichts wissen – verschone mich!«
Montigny sah ihn befremdet und bestürzt an.
»Du willst nicht wissen? Du weißt also doch etwas, wie es scheint? Und hast dennoch –«
»Nein, nein, ich ahne nur, und auch das erst seit gestern. Ein Zufall – frage mich nicht!«
»Kannst du es nicht ertragen, wenn man dir die Binde von den Augen reißt?« fragte Montigny ernst. »Gleichviel, es muß dennoch geschehen. Du kennst Clermont und seine Schwester nur als Privatpersonen, die ein Reiseleben führen, weil ihnen ihr Vermögen nicht erlaubt, ein Haus in Paris zu machen. Der Zweck ihres Aufenthaltes ist weniger harmlos. Sie sind hier in einer jener Missionen, die jede Regierung braucht und brauchen muß, zu denen sich aber kein Ehrenmann hergibt. Man überläßt sie jenen dunkeln Existenzen, denen jedes Mittel recht ist, um sich äußerlich wenigstens in der Gesellschaft zu behaupten. Daß es hier wirklich die Abkömmlinge eines alten edlen Geschlechtes sind, die so tief sanken, ändert nichts an dem ›Geschäfte‹ selbst; es wird höchstens noch schmachvoller dadurch. Ich denke, du hast mich jetzt verstanden.«
Raoul schien in der That verstanden zu haben, aber er machte eine stürmisch abwehrende Bewegung.
»Du sprichst von Henri – du magst recht haben; aber Heloise ist schuldlos; sie hat keinen Anteil an dem, was der Bruder that; sie wußte nichts davon. Sprich keine Verleumdung gegen sie aus – ich werde dir niemals glauben!«
»So wirst du den Thatsachen glauben müssen. Ich sage dir und bürge dir mit meinem Worte dafür, daß bei diesen ›Aufträgen‹ Frau von Nérac die Hauptrolle hatte, weil sie sich als Dame freier und unverdächtiger bewegen konnte. Ich kann dir die Beweise liefern, die Summen nennen, die gezahlt worden sind –«
»Nein – nein!« schrie Raoul auf. »Schweig um Gottes willen! Das könnte mich zum Wahnsinn bringen!«
»Sie scheint dich in der That halb wahnsinnig gemacht zu haben; sonst hättest du ihr nicht eine Hertha geopfert,« sagte Montigny bitter. »Und doch warst du den beiden nichts weiter als ein Werkzeug, ein Schlüssel, der ihnen verschlossene Thüren öffnen sollte. Durch dich wollten sie sich bei dem General Eingang verschaffen, vielleicht auch Beziehungen im Ministerium anknüpfen. Darum drängte dir Clermont seine Freundschaft auf; darum spielte seine Schwester einen Roman mit dir, den du leider ernst genommen hast, und du gingst blind in die Falle. Nun, hoffentlich bist du jetzt geheilt und denkst nicht mehr daran, sie zu deiner Gemahlin zu machen – die bezahlte Spionin!«
Raoul zuckte zusammen bei dem Worte, dann aber sprang er plötzlich auf und eilte nach der Thür. Montigny vertrat ihm den Weg.
»Wo willst du hin?«
»Ihnen nach!«
»Thorheit!« sagte der Marquis, ihn festhaltend »Soll es vielleicht noch in letzter Stunde ein Unglück geben? Solche Dinge straft man mit Verachtung.«
Raoul gab keine Antwort, aber das leichenblasse Antlitz, das er jetzt zu seinem Oheim emporhob, trug einen Ausdruck, daß jener erschreckt zurücktrat.
»Was hast du? Das ist nicht bloß der Schmerz verratener Liebe; das ist ja eine förmliche Todesangst, so erkläre mir doch –«
»Ich kann nicht! Halte mich nicht auf!« rief der junge Graf, sich gewaltsam losringend, und ohne irgend eine Erklärung, ohne ein Lebewohl an den Verwandten, den er doch zum letztenmal sah, stürzte er davon. Montigny blickte ihm mit tiefgefurchter Stirne nach.
»Unbegreiflich! Dahinter verbirgt sich noch irgend etwas andres – ich wollte, ich hätte früher gesprochen!«
Im Steinrückschen Hause traf man gleichfalls die Vorbereitungen zu der Abreise. Der General wollte noch am heutigen Abende zu seinem Corps abgehen, während der junge Graf einstweilen zurückblieb. Er hatte gestern in der That die Ordre erhalten, sich in wenigen Tagen bei der militärischen Behörde zu melden. Der Großvater hatte jetzt wie immer seinen Willen durchgesetzt.
Steinrück war in den letzten Tagen so unaufhörlich in Anspruch genommen, daß er seinen Enkel kaum gesehen hatte. Gestern abend hatte er noch einer Beratung beigewohnt, die noch einmal vor dem Aufbruch die Führer der Armee versammelte und sich bis tief in die Nacht hinein ausdehnte. Er war erst gegen Morgen nach Hause gekommen, und als er nach wenigen Stunden des Schlafes sein Arbeitszimmer wieder betrat, erwarteten ihn dort schon Ordonnanzen und Depeschen, die abgefertigt und erledigt sein wollten, und so ging es den ganzen Vormittag hindurch. Eines löste das andre ab; dazwischen mußten noch die Anordnungen für die Abreise getroffen werden; es gehörte in der That die eiserne Natur des alten Grafen dazu, um das auszuhalten.
So war es Mittag geworden, als Hauptmann Rodenberg erschien. Er war schon gestern in einer dienstlichen Angelegenheit hier gewesen, die aber nur wenige Minuten in Anspruch nahm und überdies in Gegenwart eines andern hohen Offiziers erledigt wurde.
Da war die Begegnung selbstverständlich eine durchaus fremde gewesen. Auch heute stand Michael in streng dienstlicher Haltung vor dem General, aber statt der Meldung, welche dieser erwartete, sagte er:
»Ich komme diesmal ohne jeden Auftrag, aber die Sache, die mich herführt, ist von so großer Wichtigkeit, daß ich Sie um sofortiges Gehör ersuchen muß, Excellenz. Darf ich die Thür abschließen, um uns vor Störung zu sichern?«
Steinrück sah ihn bei dieser seltsamen Einleitung befremdet an, aber er fragte kurz:
»Betrifft die Sache den Dienst?«
»Ja.«
»So schließen Sie die Thür!«
Michael kam der Weisung nach und kehrte dann zurück. Auch in seinem Wesen lag heute etwas Unruhiges, Erregtes, das freilich durch die gewohnte Selbstbeherrschung niedergehalten wurde; aber es verriet sich doch in seiner Stimme, als er jetzt weiter sprach:
»Ich überbrachte gestern morgen ein Schriftstück, das von der höchsten Wichtigkeit war. Ich hatte strengen Befehl, es nur persönlich zu übergeben, und nur in die eigenen Hände Eurer Excellenz zu legen.«
»Gewiß, ich empfing es von Ihnen. Kannten Sie den Inhalt?«
»Ja, ich habe ihn selbst niedergeschrieben, da ich bei der Abfassung als Sekretär diente. Er betrifft den Vormarsch des Steinrückschen Corps: ebendeshalb wurde mir bei der Uebergabe die größte Sorgfalt anbefohlen.«
»Nun, ich bestätige Ihnen ja den Empfang; das Papier liegt in meinem Schreibtisch.«
»Liegt es wirklich noch dort?«
»Wo will das hinaus?« fragte der General scharf. »Ich sage Ihnen doch, daß ich es mit eigener Hand hineingelegt habe.«
»Und ich bitte Sie, sich zu überzeugen, ob es noch an Ort und Stelle ist. Die ungeheuere Tragweite der Sache mag meine Kühnheit entschuldigen. Ich will gern den Vorwurf der Voreiligkeit tragen, wenn ich nur über den Verbleib jener Papiere beruhigt werde.«
Steinrück zuckte ungeduldig die Achseln, aber er zog den Schlüssel hervor, den er stets bei sich trug, und ging an den Schreibtisch. Das sehr feste und künstliche Schloß ließ sich selbst von dem damit Vertrauten nur langsam öffnen; heute gab es seltsamerweise dem ersten Druck nach; der Schlüssel drehte sich kaum, als die Thür auch schon aufsprang. Der General erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Der Schreibtisch ist erbrochen worden,« sagte Michael leise, indem er auf das Schloß wies, das allerdings deutlich die Spuren eines gewaltsamen Oeffnens zeigte. »Ich dachte es mir!«
Steinrück erwiderte keine Silbe und hielt sich auch nicht mit einer Prüfung der Papiere auf, die dort lagen und nichts besonders Wichtiges zu enthalten schienen. Er drückte hastig an eine Stelle der Holzwand, die äußerlich nicht die mindeste Vorrichtung zeigte.
Das Getäfel wich zur Seite und ließ ein meisterhaft verborgenes, geheimes Fach sichtbar werden, aber es zeigte sich völlig leer; auch nicht das kleinste Blättchen war darin zu entdecken.
»Das ist Verrat!« rief der Graf heftig. »Niemand außer mir kannte dies Geheimfach. Niemand wußte es zu öffnen. Hauptmann Rodenberg, was wissen Sie von der Sache? Sie haben einen Verdacht, eine Spur – reden Sie!«
Michael war es gewohnt, sich seinen Vorgesetzten gegenüber kurz und knapp zu fassen und mit wenigen Worten nur die Thatsachen hervorzuheben. Heute that er dies nicht, sondern berichtete so ausführlich, als wolle er seinen Zuhörer irgend etwas ahnen, erraten lassen, noch bevor es ausgesprochen wurde.
»Ich hatte gestern abend noch in später Stunde der Konferenz, der auch Sie beiwohnten, eine soeben eingetroffene Depesche zu überbringen. Auf dem Rückwege mußte ich an Ihrem Hause vorüber, und zwar an der Gartenseite. Ich bog gerade um die Straßenecke – es mochte gegen Mitternacht sein – als ich in der kleinen Mauerpforte, die sich neben dem Gitterthor befindet, eine männliche Gestalt verschwinden sah. Das wäre mir vielleicht nicht besonders aufgefallen; die Dienerschaft konnte ja das Recht haben, diesen Weg zu benutzen; aber beim Schein der Straßenlaterne glaubte ich die Gestalt zu erkennen, die ich freilich nur einen Moment lang sah.«
»Und wen glaubten Sie zu erkennen?« fragte der General, der mit der höchsten Spannung zuhörte.
»Den Bruder der Frau von Nérac – Henri Clermont.«
»Clermont? Ich habe ihn stets für einen Abenteurer gehalten und ihm deshalb mein Haus verschlossen. Sie haben recht; sein Erscheinen zu dieser Stunde in meinem Park ist mehr als verdächtig. Sind Sie denn der Spur nicht gefolgt?«
»Das that ich, aber sie endigte an einer Stelle, die über jedem Verdacht stand, oder wenigstens – zu stehen schien.«
Er legte einen schweren, bedeutungsvollen Nachdruck auf die letzten Worte; aber Steinrück achtete nicht darauf, sondern drängte in heftiger Ungeduld:
»Weiter! Weiter!«
»Ich wollte mir anfangs einreden, daß es eine Täuschung gewesen sei, und ging weiter, aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Ich kehrte nach einer Weile wieder um und umging noch einmal das Haus von allen Seiten. Da bemerkte ich in dem Arbeitszimmer einen Lichtschein, der nicht von einer Lampe herrühren konnte; es schien fast, als brenne eine einzelne Kerze in der Tiefe des Gemaches. Das konnte ein Zufall sein; aber mein Verdacht war durch das Erscheinen Clermonts nun einmal geweckt; ich beschloß, mir um jeden Preis Aufklärung zu verschaffen. Ich trat ein, ließ den Diener herbeirufen und teilte ihm mit: ich hätte beim Vorübergehen im Arbeitszimmer einen seltsamen Schein bemerkt, der möglicherweise von einem entstehenden Brande herrühre: er solle schleunigst nachsehen, um ein Unglück zu verhüten. Der Mann erschrak und eilte sogleich fort, aber schon nach wenigen Minuten kam er zurück mit der Nachricht: es sei ein Irrtum; er habe um Entschuldigung bitten müssen, denn im Zimmer brenne nur eine Kerze, und es sei niemand dort als –«
»Nun? Weshalb sprechen Sie denn nicht aus? Wer war dort?«
»Graf Raoul Steinrück!«
Aus dem Gesichte des Generals wich jeder Blutstropfen, und mit stockendem Atem wiederholte er:
»Mein Enkel – war hier?«
»Ja.«
»Um Mitternacht?«
»Um Mitternacht!«
Es folgte eine lange, schwere Pause, keiner der beiden Männer sprach. Die Augen des alten Grafen hatten einen seltsam starren Ausdruck angenommen; jenes dunkle, unheilvolle Etwas, das schon einmal vor ihm aufgetaucht war, hob sich wieder drohend empor aus der Nacht, und jetzt schien es Form und Gestalt gewonnen zu haben. Aber das starre Hinbrüten dauerte nur Minuten; dann raffte er sich zusammen und warf den entsetzlichen Gedanken weit von sich.
»So wird Raoul uns am besten Auskunft geben können,« sagte er mit wiedergewonnener Fassung. »Ich werde ihn rufen lassen.«
»Der Graf ist nicht zu Hause,« warf Michael ein.
»Dann ist er im Ministerium. Ich sende sofort zu ihm; die Sache muß aufgeklärt werden; es ist keine Minute zu verlieren.«
Er wollte nach der Klingel greifen, hielt aber plötzlich inne; denn er begegnete den Augen Rodenbergs, und es mußte wohl etwas Furchtbares zu lesen sein in diesem tiefernsten Blick. Langsam ließ der General die ausgestreckte Hand wieder sinken, und mit halb versagender Stimme fragte er:
»Nun, was ist's? Heraus damit!«
Michael trat dicht an ihn heran.
»Ich habe Ihnen Schweres zu melden, Graf Steinrück, sehr Schweres – machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt!«
Der General fuhr mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war; aber dabei hingen seine Augen wie gebannt an denen des Sprechenden.
»Das Schlimmste? Wo ist Raoul?«
»Abgereist – nach Frankreich!«
Steinrück fuhr nicht empor, schrie nicht auf. Er griff nur krampfhaft nach dem Herzen und brach dann lautlos zusammen. Er wäre zu Boden gestürzt, wenn Michael ihn nicht aufgefangen hätte.
So vergingen Minuten. Der junge Offizier hatte den halb Besinnungslosen in den Lehnstuhl niedergleiten lassen und stand schweigend an seiner Seite. Er fühlte, daß hier jedes Wort, jede Hilfeleistung umsonst war. Endlich aber beugte er sich über ihn.
»Excellenz!«
Es erfolgte keine Antwort; Steinrück schien nichts von dem zu wissen, was um ihn her vorging.
»Graf Steinrück!«
Wieder dies beängstigende Schweigen. Der General lag regungslos da; seine Augen starrten ausdruckslos ins Leere; nur die schwer atmende Brust verriet, daß noch Leben in ihm sei.
»Großvater!«
Das Wort kam leise, zögernd von den Lippen, die es nie hatten aussprechen wollen; jetzt konnten sie es sprechen, und dies Wort löste auch endlich die unheimliche Erstarrung. Steinrück zuckte zusammen und schlug plötzlich beide Hände vor das Antlitz.
»Großvater, sieh mich an!« brach Michael jetzt angstvoll aus. »Nicht dieses furchtbare Schweigen – sprich wenigstens ein Wort zu mir!«
Der General ließ, wie mechanisch folgend, die Hände wieder sinken und sah zu ihm auf.
»Das mir!« stöhnte er. »Michael – du bist gerächt!«
Es war in der That eine Rache des Schicksals. Hier an derselben Stelle hatte der Sohn, den man mit dem Andenken seines Vaters bis aufs Blut gepeinigt, dem harten, erbarmungslosen Großvater zugerufen: »Ihr Wappenschild steht auch nicht so hoch und unerreichbar wie die Sonne am Himmel; es kann ein Tag kommen, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können, und dann werden Sie fühlen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie gewesen sind!« Der Tag war gekommen, und er hatte die alte mächtige Eiche, die allen Stürmen Trotz bot, mit einem einzigen Schlage gefällt.
»Ermanne dich!« drängte Michael. »Du darfst jetzt nicht erliegen. Bedenke, was der Unselige in Händen hat, was damit auf dem Spiele steht. Wir müssen einen Entschluß fassen!«
Er hatte das rechte Mittel ergriffen. Der Gedanke an die drohende Gefahr riß den General empor aus seiner dumpfen Verzweiflung. Er erhob sich, noch mühsam und schwankend; aber er stand doch wieder aufrecht, und die Besinnung schien ihm zurückzukehren.
»Könnte ich ihn erreichen, den Buben! Ich wollte ihn zwingen, ich wollte ihn mit diesen meinen Händen – aber mir bleibt keine Zeit mehr. Mein Eintreffen im Hauptquartier ist auf die Stunde bestimmt.«
»So schicke mich!« fiel Michael entschlossen ein. »Eine Ordre meines Generals, die auf eine geheime wichtige Mission lautet, enthebt mich jeder andern Verpflichtung. Der Bahnverkehr ist jetzt überall gehemmt und unterbrochen wegen der Truppendurchzüge; man braucht die doppelte Zeit, um vorwärts zu kommen. Meine Uniform und dein Befehl stellt mir jeden Militärzug zur Verfügung; ich hole Raoul ein und erreiche ihn noch diesseit der Grenze.«
»So weißt du also den Weg, den er genommen hat?«
»Ja, und ich habe mir auch die Spur der Clermonts gesichert, für alle Fälle. Ich konnte und durfte dem schrecklichen Verdacht nicht Worte geben, der sich auf bloße Möglichkeiten gründete, solange mir jeder Beweis fehlte, und der Dienst stellt jetzt auch an uns die weitestgehenden Anforderungen. Erst vor einer Stunde gelang es mir, mich frei zu machen und nach der Wohnung Clermonts zu eilen. Er war abgereist mit seiner Schwester, und zwar hatten sie die süddeutsche Bahnlinie genommen, auf der sie wohl schneller fortzukommen dachten. Ich fuhr direkt nach dem Bahnhof, der auch stark von der Truppenbeförderung in Anspruch genommen ist. Der Morgenzug war noch planmäßig abgegangen, und auch der Mittagszug stand auf den Schienen, eben zur Abfahrt bereit. Wie weit sie freilich kommen und was für Stockungen unterwegs eintreten würden, ließ sich nicht vorhersehen. Ich sprach noch mit dem Beamten; da auf einmal erblickte ich Raoul auf der andern Seite. Er war allein, in höchster Eile, und stürmte den Zug entlang, in dem er etwas zu suchen schien. Da wurde das letzte Zeichen gegeben; er riß die erste beste Thür auf, sprang hinein, und der Zug brauste davon. Ich konnte ihn nicht erreichen, da die ganze Breite des Bahnhofes zwischen uns lag, aber ich eilte an den Schalter, um zu erfahren, wohin das Billet lautete, das sich der letzte einzelne Passagier gelöst hatte. Man nannte mir Straßburg!«
Der General stützte sich schwer auf den Armstuhl bei diesem in fliegender Eile gegebenen Bericht; aber er verlor kein Wort davon, und bei dem Schluß, der ihn hätte niederschmettern sollen, richtete er sich empor, mit einem Aufflammen seiner alten Kraft.
»Du hast recht. Es ist noch eine Möglichkeit, ihn zu erreichen.« Er nannte Raouls Namen nicht mehr. »Wenn noch etwas zu retten ist, so wirst du es retten, Michael! Ich weiß es. Schaffe mir die Papiere zurück, von dem Lebenden – oder von dem Toten!«
»Großvater!« rief der junge Offizier entsetzt zurückweichend.
»Auf mein Haupt die Folgen! Du hast sie nicht zu tragen. Ich verlangte einst von euch, mein Blut zu schonen, das in euch beiden fließt; jetzt sage ich dir, du hast nichts mehr zu schonen an dem Hochverräter! Entreiße ihm seinen Raub! Du weißt, was daran hängt – entreiße ihn dem Lebenden oder dem Toten!«
Sie klangen furchtbar, diese Worte, und furchtbar war auch der Ausdruck in dem Antlitz des Greises, jede menschliche Empfindung schien daraus geschwunden; es zeigte nur noch die starre, eiserne Unerbittlichkeit des Richters. Man sah es: er hätte den Enkel, den Erben seines Namens, der seinem Herzen einst so nahe gestanden, geopfert, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich werde meine Pflicht thun,« sagte Michael halblaut, aber auch seine Stimme hatte etwas von jenem schrecklichen Klang.
Der General ging zum Schreibtisch und ergriff die Feder; seine Hand bebte und drohte den Dienst zu versagen, aber er bezwang die Schwäche und schrieb einige Zeilen nieder, die er dem Hauptmann reichte.
»Ich lege alles in deine Hand, Michael. Geh! Vielleicht gelingt es dir, mir das Letzte zu ersparen. Habe ich in vierundzwanzig Stunden keine Nachricht von dir, so muß ich sprechen und muß bekennen, daß der letzte Steinrück –«
Er konnte nicht vollenden; seine Stimme brach, aber seine Hand umschloß mit wildem, verzweiflungsvollem Druck die Hand Michaels. Der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter sollte jetzt der Retter der Familienehre sein; er war die einzige, letzte Hoffnung des verzweifelnden Greises, und er erwiderte den Händedruck.
»Vertraue mir, Großvater! Du hast es selbst gesagt, wenn noch irgend etwas zu retten ist, so werde ich es retten. Ich sende dir die Nachrichten nach deinem Hauptquartier. Leb wohl!«
Auf der süddeutschen Eisenbahnstation E. herrschte jetzt ein unglaublich gesteigerter Verkehr; denn das an sich ziemlich unbedeutende Städtchen war Knotenpunkt dreier Bahnlinien und lag auf dem direkten Weg zum Rhein. Tag und Nacht rollten die Militärzüge, welche die Armee nach den Westgrenzen beförderten, und die Stadt selbst war überfüllt mit Truppen.
Einige hundert Schritt vom Bahnhof entfernt lag ein Gasthaus niederen Ranges, das sonst nur von der Landbevölkerung besucht wurde und jedenfalls nicht für die Fremden paßte, die vor einer Stunde hier angelangt waren: eine junge, anscheinend sehr vornehme Dame, in Begleitung eines alten Geistlichen und eines Dieners. Das kleine niedrige Gemach, welches man ihnen eingeräumt hatte, war sehr dürftig und unsauber, und doch war es das einzige Unterkommen, das sie hatten finden können.
Die Dame, die, das Haupt in die Hand gestützt, am Tisch saß, trug Trauerkleidung und sah bleich und ernst aus, aber das vermochte nicht die Schönheit des Gesichtes zu beeinträchtigen, welches sich aus dem schwarzen Kreppschleier hob. Ihr gegenüber hatte der Geistliche Platz genommen, der soeben sagte:
»Ich fürchte, wir werden einstweilen hier bleiben müssen. Der Diener ist vergebens durch die ganze Stadt gelaufen, die Hotels sind überfüllt und auch sämtliche Privatzimmer besetzt. Für die Nacht mag das noch angehen; aber länger können Sie doch unmöglich in solchen Umgebungen verweilen, Gräfin Hertha.«
»Weshalb nicht?« fragte Hertha gelassen. »Wir werden auch morgen keine Wahl haben, und in einer Zeit wie der jetzigen muß man sich der Notwendigkeit fügen.«
Der Begleiter, es war der Pfarrer von Sankt Michael, blickte mit einiger Verwunderung auf die verwöhnte junge Gräfin, die unter andern Umständen sehr ungeduldig und empört gewesen wäre, wenn man ihr auch nur für eine Nacht derartige Umgebungen zugemutet hätte, die sie jetzt ohne ein Wort der Unzufriedenheit hinnahm.
»Es wäre aber gar nicht notwendig gewesen,« wandte er ein. »Michael schrieb Ihnen ja ausdrücklich, daß er erst übermorgen mit seinem Regiment die Stadt passieren und Ihnen jedenfalls vorher noch ein Telegramm senden würde. Bis dahin hätten wir ruhig in Berkheim bleiben können.«
Hertha schüttelte verneinend das Haupt.
»Berkheim ist volle vier Stunden entfernt; jene Bestimmung kann geändert werden, das Telegramm sich verzögern und ich könnte zu spät kommen. Nur hier erfahre ich mit voller Gewißheit, wann das Regiment wirklich eintrifft. Schelten Sie nicht, Hochwürden! Ich muß Michael lebewohl sagen, mit dem Gedanken, daß er vielleicht in den Tod geht – da ist selbst die bloße Möglichkeit des Verfehlens schrecklich.«
Valentin sah nicht aus, als ob er schelten wolle; aber im stillen bewunderte er doch die Macht, die Michael über das stolze, eigenwillige Mädchen gewonnen hatte.
»Ich danke dem Himmel, daß es mir wenigstens vergönnt war, Sie zu geleiten,« sagte er. »Der Pfarrer von Tannheim war auf meine Bitte sofort bereit, mir seinen Kaplan zu senden, der mich einstweilen vertritt. Ich bringe Sie jedenfalls noch nach Berkheim zurück.«
Die junge Gräfin reichte ihm mit inniger Dankbarkeit die Hand.
»Ich habe ja auch niemand als Sie allein! Mein Vormund zürnt mir, wie ich es freilich voraussah. Er hat meinen Brief nicht einmal beantwortet, und Tante Hortense war so außer sich, als sie die ganze Wahrheit und meine Verlobung mit Michael erfuhr, daß ich nach dieser Scene um keinen Preis länger in Steinrück geblieben wäre, wie wehe es mir auch that, so schnell von der Gruft meiner Mutter zu scheiden. – Ich bedauere nur, daß ich auch Ihnen so viel Anstrengungen und Unannehmlichkeiten zumuten muß, Hochwürden. Ich fürchte, man hat Sie noch weit schlechter einquartiert als mich.«
»Für den Augenblick habe ich ein Kämmerchen im Erdgeschoß, das allerdings nicht sehr einladend ist,« sagte Valentin lächelnd. »Der Wirt hat mir aber das Giebelzimmer im oberen Stock für die Nacht zugesagt, da die Fremden, welche es augenblicklich inne haben, schon mit dem Abendzug abreisen. Die Zeit dürfte nun wohl herangekommen sein, und ich werde jetzt bei ihm anfragen.«
Er erhob sich und ging hinaus; auch Hertha stand auf und trat an das Fenster, das sie öffnete. Der Tag war glühend heiß gewesen, und auch der Abend brachte keine Kühlung. Es lagerte dumpf und gewitterschwül über der Erde. Kein Stern funkelte an dem dichtbewölkten Himmel, aber am Horizont blitzte von Zeit zu Zeit ein Wetterleuchten auf, das ferne, dunkle Bergzüge entschleierte. Von drüben her blinkten die Lichter des Bahnhofes, und dicht am Hause vorüber zog der Fluß, der aus dem Dunkel zu kommen und sich wieder in die Nacht zu verlieren schien. Nur das Rauschen und Strudeln der Wellen gab Kunde von seinem Dasein.
Die junge Gräfin lehnte die heiße Stirn an die Mauer; sie wollte standhaft sein. Michael sollte keine Verzweiflung sehen, die ihm den Abschied noch schwerer machte; aber jetzt war sie ja allein und durfte weinen. Der Tod der Mutter, der Kampf mit ihrer Familie: das alles ging unter in der bebenden Angst um den Geliebten, den sie vielleicht nur gewonnen hatte, um ihn wieder zu verlieren.
Da ertönten Stimmen dicht unter dem Fenster. Vor der Hausthür stand der Wirt mit einem Fremden, und Hertha vernahm, daß von dem versprochenen Zimmer die Rede war. Der Wirt erkundigte sich höflich, wann die Herrschaften abzureisen gedächten; es warte schon jemand auf ihr Zimmer, und der Fremde entgegnete, er habe soeben auf dem Bahnhof erfahren, daß der Abendzug zwei Stunden später abgehe; so lange werde er noch mit seiner Dame bleiben. Die Stimme machte die junge Gräfin aufmerksam. Sie kannte dies ziemlich geläufige, aber mit einer fremdartigen Betonung gesprochene Deutsch, und jetzt erkannte sie auch, beim Schein der vor dem Eingange brennenden Laterne, den Sprechenden, Henri Clermont, der jedenfalls mit seiner Schwester auf dem Rückweg nach Frankreich war, da er von seiner Dame sprach.
Mit einer peinlichen Empfindung trat Hertha vom Fenster zurück. Bis vor kurzem waren ihr die beiden nur oberflächliche Bekannte gewesen, mit denen sie hie und da flüchtig zusammentraf.
Erst in der letzten Zeit hatte sie von den Beziehungen der Frau von Nérac zu ihrem früheren Verlobten erfahren. Wenigstens ließ sich jetzt eine zufällige Begegnung vermeiden, und die junge Gräfin beschloß, in den nächsten zwei Stunden ihr Zimmer nicht zu verlassen.
Drüben auf dem Bahnhof herrschte inzwischen noch Lärm und Leben, trotz der späten Stunde. Züge kamen und gingen; Signale wurden gegeben, und der Bahnsteig war dicht gefüllt mit Reisenden und Nichtreisenden, die da fragten, warteten oder zu einem unfreiwilligen Aufenthalt verurteilt waren.
Dies letzte Schicksal hatte auch die Insassen des Personenzuges betroffen, der vor einer halben Stunde angelangt war, allerdings auch schon mit mehrstündiger Verspätung. Man hatte ihnen eröffnet, daß es vorläufig nicht weiter ginge, da außer dem Militärzug, der soeben heranbrauste, noch andre Truppen erwartet würden, und daß sie warten müßten, bis die Bahn wieder frei sei. Sie hatten sich denn auch geduldig in die Notwendigkeit gefunden, bis auf einen einzigen Passagier, der die Verzögerung sehr schwer zu empfinden und große Eile zu haben schien. Er hatte eine einsame, halbdunkle Stelle des Bahnhofes aufgesucht und ging nun hier mit allen Zeichen einer brennenden Ungeduld auf und ab, während er alle fünf Minuten die Uhr hervorzog. Plötzlich jedoch blieb er stehen und trat noch weiter in den Schatten zurück; denn ein Offizier, der mit jenem Militärzug gekommen war, schritt im Gespräch mit dem Inspektor des Bahnhofes gerade nach jener Stelle.
»Also der Morgenzug ist ohne besonderen Aufenthalt passiert?« fragte er. »Aber der Personenzug, der heute mittag abging, mußte liegen bleiben? Sind die Reisenden noch sämtlich hier?«
»Gewiß, Herr Hauptmann,« versetzte der Beamte. »Sie warten auf die Weiterbeförderung, aber damit hat es noch gute Wege.«
Der einzelne Reisende schien die Stimme zu kennen und eine Begegnung vermeiden zu wollen, denn er wandte sich hastig nach einer andern Richtung. Aber gerade diese Bewegung verriet ihn dem Offizier, dessen scharfe Augen das Halbdunkel durchdrangen.
Er rief dem Beamten einen flüchtigen Dank zu und holte mit wenigen Schritten den Fremden ein, dem er geradezu den Weg vertrat.
»Graf Raoul Steinrück!«
Dem jungen Grafen war das Zusammentreffen sehr unerwünscht; das sah man, aber er hielt es für ein rein zufälliges – der Offizier war mit seinem Regiment jedenfalls auf dem Wege nach dem Kriegsschauplatz. So blieb er denn stehen und fragte schroff: »Sie wünschen, Hauptmann Rodenberg?«
»Ich wünsche zunächst, Sie unter vier Augen zu sprechen.« »Ich bedaure, ich habe Eile.«
»Ich auch! Aber ich hoffe, wir können die betreffende Sache in der Kürze abmachen.«
Raoul zögerte noch einen Augenblick, dann rief er dem Beamten, der noch in der Nähe stand, zu:
»Wie lange wird der Aufenthalt des Personenzuges dauern?«
»Mindestens noch eine Stunde,« versetzte der Inspektor achselzuckend, indem er weiterging. Raoul wandte sich zu Rodenberg:
»Gut, ich bin bereit, aber hier auf dem Bahnhof, wo jedes Wort gehört wird, können wir doch nicht –«
»Nein, aber dort drüben liegt ein kleines Gasthaus, das wir aufsuchen können; es ist in unmittelbarer Nähe.«
»Wenn die Sache sich nicht aufschieben läßt – meinetwegen! Ich bitte aber kurz zu sein, da ich, wie Sie sehen, weiter will,« sagte der junge Graf hochmütig, indem er sich nach der bezeichneten Richtung wandte. Michael folgte ihm auf dem Fuße, ohne ihn einen Moment aus den Augen zu lassen; er schien jedoch etwas überrascht durch diese Fügsamkeit.
Sie traten in das Haus und in die öde, halbdunkle Gaststube, wo sich niemand mehr befand. Der Wirt führte sie in das anstoßende kleine Gemach, das für vornehmere Gäste bestimmt zu sein schien. Er brachte ein Licht, erkundigte sich nach dem Begehr der Herren und verschwand dann. Die beiden waren allein.
Raoul stand in der Mitte des Zimmers. Er war totenbleich; seine Augen brannten wie im Fieber und so sehr er sich auch Mühe gab, die furchtbare Aufregung seines ganzen Wesens zu beherrschen – sie verriet sich nur zu sehr.
»Ich glaube, Zeit und Ort sind schlecht gewählt zu einer Aussprache,« sagte er. »Aber sei es darum! Wir haben allerdings noch abzurechnen wegen der Eröffnungen, die Sie im Namen der Gräfin Hertha meinem Großvater machten. Ich hätte Sie jedenfalls später deswegen zur Rede gestellt.«
»Darum handelt es sich jetzt nicht,« unterbrach ihn Michael kalt. »Ich habe eine andre Frage an Sie zu richten. Sie sind auf dem Wege nach Straßburg – was wollten Sie dort?«
»Was soll der Ton?« rief Raoul empört. »Sie vergessen, daß Sie mit dem Grafen Steinrück sprechen.«
»Ich spreche im Namen des Generals Steinrück, der mich gesandt hat, um die Papiere zurückzufordern, welche Sie bei sich tragen, und deren Wert Sie ebensogut kennen wie ich.«
Der junge Graf zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen.
»Die Papiere? Mein Großvater glaubt –?«
»Er und ich! Und ich denke, wir haben ein Recht dazu. Bitte, keine Weitläufigkeiten! Ich habe nicht viel Zeit zu verlieren und bin entschlossen, nötigenfalls Gewalt anzuwenden. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«
Raoul starrte ihn noch immer wie geistesabwesend an; plötzlich aber schlug er die Hände vor das Gesicht und stöhnte auf:
»Ah – das ist furchtbar!«
»Sparen Sie die Komödie!« sagte Rodenberg herb. »Mich täuschen Sie nicht damit. Der Schreibtisch des Generals ist erbrochen, das Schriftstück gestohlen, und der Diener, der unvermutet das Arbeitszimmer betrat, fand den Dieb –«
Ein wilder Aufschrei Raouls unterbrach ihn; und dieser machte eine Bewegung, als wolle er sich auf ihn stürzen. Michael trat zurück und legte die Hand an seinen Degen.
»Mäßigen Sie sich, Graf Steinrück! Sie haben das Recht auf schonendere Behandlung verwirkt.«
»Es ist aber eine Lüge!« brach Raoul jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus. »Nicht ich – Henri Clermont war es!«
»Ich habe niemals daran gezweifelt, daß Clermont der Anstifter war, sah ich ihn doch selbst zu jener Stunde in den Park schleichen. Die Hand zu dem schmachvollen Werk lieh ein andrer; der Fremde, der Franzose hatte schwerlich Zutritt zu den Zimmern des Generals.«
»Aber zu den meinigen! Er hatte den Schlüssel zur Gartenpforte und zu meinem Schlafzimmer. Mein Großvater war stets gegen ihn eingenommen; meine Mutter war es zuletzt auch; wir wollten uns der ewigen Kontrolle, den ewigen Vorwürfen bei Henris Besuchen entziehen. Ich ahnte ja nicht, zu welchem Zweck er den Schlüssel von mir forderte!«
Michael lehnte mit gekreuzten Armen am Tisch und verwandte kein Auge von dem Sprechenden; aber man sah es, daß er der Erzählung nicht glaubte.
»Also der Sohn des Hauses öffnete dem Spion die Thüren? Und wie gelangte dieser zu dem Geheimfach, das jedem Fremden verborgen war? Wie fand er die Feder, deren Druck es allein zu öffnen vermochte?«
»Er kannte meinen Schreibtisch, der die gleiche Vorrichtung enthält; es ist ein Geschenk meines Großvaters, nach dem Muster des seinigen angefertigt.«
»Ah so – nun weiter!«
Raoul ballte krampfhaft die Hände.
»Rodenberg, treiben Sie mich nicht zum Schlimmsten. Sie haben einen Verzweifelnden vor sich, der nichts mehr schont. Sie müssen mir glauben, müssen meinem Großvater den furchtbaren Verdacht nehmen; sonst würde ich diesem Ton und dieser Miene nicht Rede stehen. – Ich kam gestern spät nach Hause und fand die stets verschlossene Thür offen, die meine Zimmer mit denen des Generals verbindet und zu der nur wir beide den Schlüssel haben. Das weckte meinen Verdacht; ich trat in das Arbeitszimmer und fand den Mann, den ich bisher Freund genannt hatte –«
»Bei seinem Geschäft!« ergänzte Michael. »Sie scheinen ihn nicht darin gestört zu haben, da er Zeit fand, den Raub zu vollbringen.«
»Er hatte ihn bereits vollbracht! Während ich noch fassungslos dastand, niedergeschmettert von der schrecklichen Entdeckung, hörten wir die Thür des Vorzimmers öffnen, hörten nahende Schritte. Henri faßte in Todesangst meinen Arm und beschwor mich, ihn zu retten. Er war verloren bei der Entdeckung; das wußte ich, und da stürzte ich nach der Thür und verhinderte den Diener einzutreten mit der Erklärung, daß ich hier sei. Als der Mann sich zurückgezogen hatte und ich mich umwandte, war Clermont – entflohen.«
»Und Sie eilten ihm nicht nach, jagten ihm seinen Raub nicht ab? Sie teilten dem General nicht mit, was geschehen war?«
Raouls Auge sank scheu zu Boden, und kaum hörbar entgegnete er:
»Es war mein nächster, bester Freund, der Bruder einer Frau, die ich bis zum Wahnsinn liebte und die ich damals noch für schuldlos hielt. Am nächsten Morgen eilte ich zu ihnen; sie waren abgereist, und eine Stunde später wurde mir eine andre furchtbare Enthüllung – da setzte ich jede Rücksicht beiseite und jagte ihnen nach.«
Er schwieg wie erschöpft und lehnte sich auf den Stuhl. Michael hatte anscheinend ruhig zugehört, aber es zuckte verächtlich um seine Lippen, und jetzt richtete er sich empor.
»Sind Sie zu Ende? Meine Geduld ist es auch; ich kam nicht hierher, um Märchen zu hören. Her die Papiere, oder Sie zwingen mich, Gewalt zu brauchen!«
»Sie glauben mir nicht?« fuhr Raoul auf. »Noch immer nicht?«
»Nein, ich glaube kein Wort von dem ganzen Lügengewebe! Zum letztenmal, liefern Sie mir die Papiere aus, oder, beim ewigen Gott, ich mache das Wort wahr, das mein Großvater mir beim Abschied zurief: entreiße sie dem Lebenden oder – dem Toten!«
Ein Schauer flog durch den Körper des jungen Grafen – da war sie wieder, die seltsame Aehnlichkeit! Er kannte diese flammenden Augen, diese Stimme mit ihrem ehernen Klang; war es ihm doch, als stehe sein Großvater selbst vor ihm und spreche ihm das Todesurteil.
»So vollziehen Sie Ihren Auftrag!« sagte er dumpf. »Und dann überzeugen Sie sich, daß der – Tote nicht gelogen hat.«
Es lag etwas in dieser dumpfen Ergebung, was mächtiger wirkte als die leidenschaftlichsten Beteuerungen. Auch Michael verschloß sich diesem Eindruck nicht. Er wußte, daß Raoul genug persönlichen Mut besaß, um etwas, das er sich nicht entreißen lassen wollte, auf Leben und Tod zu verteidigen, und zu ihm tretend legte er die Hand schwer auf seinen Arm.
»Graf Raoul Steinrück, im Namen des Mannes, von dem wir beide stammen, fordere ich die Wahrheit. Sie haben die Papiere nicht, an denen die Sicherheit unsrer Armee hängt?«
»Nein!« sagte Raoul tonlos, aber fest, und zum erstenmal begegnete sein scheues Auge wieder dem des Fragenden.
»Dann hat sie also Clermont?«
»Zweifellos – sie müssen in seinen Händen sein.«
»So verliere ich hier nutzlos die Zeit; dann heißt es ihm nachjagen und ihn einholen! Der Zug, der mich gebracht hat, geht in einer halben Stunde weiter – ich muß nach dem Bahnhof!«
Er wandte sich zum Gehen, aber der junge Graf hielt ihn zurück.
»Nehmen Sie mich mit! Verschaffen Sie mir einen Platz in dem Militärzug! Wir haben den gleichen Weg –
»Nein, den haben wir nicht!« unterbrach ihn Michael eisig. »Bleiben Sie zurück, Graf Steinrück! Ich werde wahrscheinlich in den Fall kommen, Herrn von Clermont mit der Pistole in der Hand die Papiere abzuzwingen, und Sie könnten sich im entscheidenden Augenblick doch wieder erinnern, daß es Ihr ›nächster, bester Freund‹ ist und daß Sie seine Schwester ›bis zum Wahnsinn lieben‹.«
»Rodenberg, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –«
» Ihr Ehrenwort?«
Es war nur eine kurze Frage, aber sie klang so vernichtend, daß Raoul verstummte. Der Hauptmann fuhr in demselben mitleidslosen Tone fort:
»Wenn Sie das Schlimmste nicht thaten, so haben Sie das Schlimmste doch zugelassen und mit Ihrer Person gedeckt. Hochverrat ist eins wie das andre; der Hehler ist so schlimm wie der Dieb – das ist meine Meinung von der Sache.«
Er ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Als er den Hausflur durchschritt, wurde eine der Thüren geöffnet, und Valentin erschien auf der Schwelle. Er stand einen Augenblick wie erstarrt vor Ueberraschung und trat dann rasch vor.
»Michael! du bist es?«
»Hochwürden!« klang es in der gleichen Ueberraschung zurück.
»Sie hier?«
»Die Frage gebe ich dir zurück. Du bestimmtest uns ja erst übermorgen, und hätte Hertha nicht, wie von einer Ahnung getrieben, die Abreise beschleunigt –«
»Hertha ist hier? Mit Ihnen? Wo ist sie?« fiel Michael stürmisch ein, und als der Pfarrer auf die Thür im oberen Stock deutete, die auf die Treppe mündete, hörte er nichts weiter, sondern war in drei Sprüngen die Treppe hinauf, riß die Thür auf, und in der nächsten Minute lag Hertha in seinen Armen.
So leidenschaftlich und zärtlich dies Wiedersehen war, so kurz war es auch. Rodenberg hielt seine Braut noch umfaßt; aber das erste Wort, das er zu ihr sprach, war ein Abschiedswort.
»Ich kann nicht bleiben! Nur sehen wollte ich dich, nur im Flug einen Augenblick des Glückes erhaschen – ich muß fort!«
»Fort?« wiederholte Hertha, die sich noch halb betäubt von Schreck und Freude an ihn schmiegte. »Jetzt, in der Minute des Wiedersehens? Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Ich muß,« beharrte er. »Vielleicht ist uns übermorgen noch ein Wiedersehen gegönnt.«
»Vielleicht nur! Und wenn es nun nicht geschieht? Hast du zum Lebewohl nicht einmal eine Viertelstunde für mich übrig?«
»Meine Hertha, du ahnst nicht, was es mich kostet, dich jetzt zu verlassen; aber die Pflicht ruft – ich muß gehorchen!«
Die Pflicht! Hertha hatte dies eiserne Wort oft genug von dem General gehört und kannte seine Bedeutung. Ein paar heiße Thränen rollten aus ihren Augen, aber sie machte keinen Versuch mehr, den Geliebten zu halten. Er preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen.
»Lebe wohl! Und noch eins – Raoul ist hier. Er könnte trotz alledem einen Versuch machen, sich dir zu nahen, wenn er dein Hiersein erfährt. Versprich mir, ihn nicht zu sehen oder zu sprechen.«
Ein verächtlicher Ausdruck flog über die Züge der jungen Gräfin.
»Er wird es nicht wagen, das verbietet ihm schon ihre Nähe.«
»Wessen Nähe? Wen meinst du?« fragte Michael, der in höchster Spannung aufhorchte.
»Heloise von Nérac!«
»Sie ist hier? Und Clermont –?«
»Auch er.«
»Gott sei gelobt! Wo – wo sind sie?«
»Hier im Hause, in dem Giebelzimmer – aber so erkläre mir doch –«
»Ich darf nicht! Frage mich nicht, folge mir nicht! Es hängt alles davon ab, daß ich sie finde, und dann – dann darf ich auch bei dir bleiben.«
Er stürmte hinaus, an dem Pfarrer vorüber, der ihm gefolgt war und nun erstaunt und bestürzt dastand; auch Hertha begriff diese Scene nicht, aber sie klammerte sich an das letzte Wort des Forteilenden: »Dann darf ich bei dir bleiben!«
Das Giebelzimmer, wo ein einsames Licht brannte, war noch dürftiger ausgestattet als die andern Räume; aber die Fremden, die heute mittag angelangt waren, hatten ohne viel Wahl und Besinnen genommen, was man ihnen anbot, da sie nur bis zum Abend zu bleiben dachten. Sie waren beide in Reisekleidung und augenscheinlich jede Minute zur Abfahrt bereit. Henri Clermont ging unruhig im Zimmer auf und nieder, während Heloise in dem alten Lehnstuhl saß, der hier die Stelle eines Sofas vertrat.
»Wieder ein Aufschub von zwei Stunden!« sagte sie in einem Tone, der fast verzweifelt klang. »Es scheint, als sollten wir niemals vorwärts kommen. Wir hofften morgen früh schon die Grenze zu erreichen, aber daran ist jetzt nicht mehr zu denken.«
»Und das ist einzig und allein deine Schuld!« fiel Henri gereizt ein. »Welche grenzenlose Unvorsichtigkeit, französisch zu sprechen, als wir nach dem Wagenwechsel wieder einsteigen wollten! Du mußtest doch wissen, daß die aufgeregte Menge auf dem Bahnhofe das für eine Herausforderung nehmen und uns insultieren würde.«
»Konnte ich denn wissen, daß der deutsche Pöbel so empfindlich ist? Uebrigens waren es nur einzelne Schreier; das Publikum legte sich selbst ins Mittel und nahm uns in Schutz; das spätere Einschreiten der Beamten war gar nicht mehr notwendig.«
»Ganz recht, aber über diesem Einschreiten und Beschwichtigen ging der Zug ab, während wir, von allen Seiten umdrängt, nicht an den Wagen gelangen konnten. Wir haben einen halben Tag verloren, jetzt, wo an jeder Minute unsre Sicherheit hängt! Ueberdies haben wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gezogen und müssen froh sein, daß wir in diesem elenden Gasthofe unbemerkt verschwinden konnten. Wir dürfen uns erst kurz vor der Abfahrt wieder auf dem Bahnhof zeigen; man könnte trotz alledem auf unsrer Spur sein.«
»Unmöglich! Selbst wenn die Sache schon entdeckt sein sollte; Raoul wird jedenfalls schweigen.«
»Raoul hat sich wie ein Unsinniger benommen!« sagte Clermont heftig. »Es fehlte nicht viel, daß er Lärm machte und mich verriet. Hätte ich ihm nicht zugeraunt: ›Denke an Heloise! Sie ist mit mir verloren!‹ er hätte mich preisgegeben.«
»Und jetzt wird der ganze Sturm auf ihn hereinbrechen – wenn wir in Sicherheit sind!«
Heloisens Stimme bebte doch etwas bei den Worten, aber Clermont zuckte ungeduldig die Achseln.
»Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Ich oder Raoul! Es gab keine andre Wahl, nachdem die Sache so weit gekommen war.«
Die Unterredung war selbstverständlich französisch, aber in so leisem Tone geführt worden, daß man außerhalb des Zimmers kein Wort vernehmen konnte. Jetzt aber sank die Stimme Henris vollends zum Flüstern herab, als er zu seiner Schwester trat:
»Du hast ihn nicht leicht aufgegeben, ich weiß es; aber der Preis ist das Opfer wert. Was ich hier bei mir trage, sichert unsre Zukunft. Daraufhin können wir jede Bedingung stellen, man wird sie uns –«
Er brach plötzlich ab und wandte sich nach der Thür, die geöffnet wurde, und Heloise fuhr mit einem Ausruf des Schreckens empor. In dem Augenblick, wo sie den Mann erblickte, der dort auf der Schwelle stand, wußte sie auch, daß es aus war mit allen Plänen und Berechnungen. Sie hatte diese »kalten, stahlharten Augen« nicht umsonst gefürchtet; sie brachten ihr und dem Bruder jetzt das Verderben.
Rodenberg schloß die Thür und näherte sich den beiden.
»Herr von Clermont, ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, weshalb ich hier bin. Ich hoffe, Sie ersparen mir alle Umstände; dann können wir in fünf Minuten miteinander fertig sein.«
Clermont war leichenblaß geworden, aber er machte doch einen Versuch, seine Fassung zu behaupten.
»Wovon sprechen Sie, Herr Hauptmann? Ich verstehe Sie nicht.«
»So muß ich wohl deutlicher reden. Ich wünsche die Papiere, die aus dem Schreibtische des Generals Steinrück gestohlen sind. Bitte, lassen Sie die Finger von Ihrer Brusttasche, Sie sehen, ich habe auch eine Pistole zur Hand, und ich schieße vermutlich besser als Sie. Uebrigens dürfte es für Sie sehr unangenehm sein, wenn hier Schüsse gewechselt werden; der Bahnhof ist in unmittelbarer Nähe und von Truppen überfüllt, da dürfte eine Flucht unmöglich sein. Also fügen Sie sich!«
Clermont hatte in der That die Hand sinken lassen, die sich vorhin an der Brusttasche zu schaffen machte.
»Und wenn ich mich weigere?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»So haben Sie die Folgen zu tragen! Der Krieg ist erklärt, und das Standrecht kennt ein sehr abgekürztes Verfahren für Spione. Ich lasse Ihnen die Wahl; ein Wort von mir, und Sie sind verloren.«
»Sie werden aber dies Wort nicht sprechen,« sagte Clermont höhnisch. »Denn alsdann würde auch ich reden, und was ich zu sagen habe, dürfte einem der kommandierenden Generale Ihrer Armee mehr als unangenehm sein.«
Die Drohung traf einen wunden Punkt, aber Michael brach ihr mit schneller Geistesgegenwart die Spitze ab.
»Sie irren,« entgegnete er kühl. »Graf Raoul Steinrück ist hier, mit mir auf Ihrer Spur, und um dieser Entdeckung willen wird man ihm wohl die Bestürzung und Kopflosigkeit eines Augenblicks verzeihen. Jetzt aber genug der unnützen Worte! Soll ich Gewalt brauchen? Mein Schuß ruft das ganze Haus herbei.«
Er stand da, die Pistole in der erhobenen Rechten, ohne einen Blick von dem Gegner zu verwenden, der nun wohl einsah, daß sein Spiel verloren sei. Clermont war kein Feigling im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber er wußte, daß er den Kampf mit diesem Manne nicht aufnehmen konnte, und seine letzte Waffe, die Beteiligung Raouls an dem Verrate, wurde ihm aus der Hand gewunden. Er glaubte in der That, Raoul selbst habe die Entdeckung herbeigeführt. Nach einem Augenblick des Zögerns zog er langsam die Papiere hervor, die er auf der Brust verborgen hatte, und reichte sie dem Hauptmanne, der sie in Empfang nahm, ohne seine drohende Stellung aufzugeben.
»Ziehen Sie sich an das Fenster zurück,« befahl er. »Ich werde prüfen, ob das Paket unversehrt ist.«
Clermont gehorchte und trat an das Fenster, wohin sich Heloise längst geflüchtet hatte. Michael riß den Umschlag ab, der die Adresse des Generals trug und augenscheinlich geöffnet worden war. Die Aufschrift der Papiere verriet deren Inhalt; aber die Siegel selbst waren unverletzt, und nach einer kurzen, aber scharfen Prüfung steckte er sie zu sich.
Henri hatte inzwischen seiner Schwester etwas zugeflüstert, die sich jetzt scheu und zögernd dem jungen Offizier näherte.
»Herr Hauptmann – wir sind in Ihren Händen.«
Die Worte klangen flehend, angstvoll, aber als sie vor dem Hauptmann stand und das Auge zu ihm emporhob, da traf auch ihn jenes seltsame, blitzartige Aufsprühen, das den Männern so gefährlich war und das Raoul ins Verderben gezogen hatte, aber hier traf es auf einen Eisesblick.
»Der Weg zum Bahnhofe steht Ihnen und Ihrem Bruder frei,« sagte Michael kalt. »Ich lege Ihrer Abreise kein Hindernis mehr in den Weg, aber ich hoffe, Sie werden in Zukunft ein andres Land als das deutsche mit Ihrer Thätigkeit beglücken, gnädige Frau.«
Heloise zuckte zusammen; eine Drohung hätte sie nicht so verletzt wie dieser grenzenlos verächtliche Ton.
Als Rodenberg die Treppe wieder herunterkam, trat ihm sein alter Lehrer entgegen, der ihn hier erwartet hatte.
»Michael, um Gottes willen, was geht droben vor? Gräfin Hertha ist in Todesangst, und ich bin es mit ihr; aber wir wagten nicht, dir zu folgen.«
»Beruhigen Sie Hertha, sagen Sie ihr, ich käme sogleich! Ich habe nur noch eins zu erledigen und bin in fünf Minuten bei ihr.«
Er warf dem Pfarrer die Worte nur im Vorbeieilen zu und schritt dann durch das Gastzimmer nach dem kleinen Gemach, wo er Raoul noch fand.
Der junge Graf saß am Tische, den Kopf auf die Arme gelegt, in der Stellung eines völlig Gebrochenen. Er sah wohl auf, als der Hauptmann eintrat; aber es lag eine seltsame Starrheit und Leblosigkeit in seinen Zügen.
»Die drohende Gefahr ist beseitigt!« sagte Michael. »Clermont und seine Schwester waren, durch irgend einen Zufall zurückgehalten, noch hier im Hause. Ich habe die Herausgabe des Raubes von ihnen erzwungen und glaube für ihr Schweigen bürgen zu können. Man gibt der Welt nicht gescheiterte Pläne preis, bei denen man eine so schmachvolle Rolle spielt, und von unsrer Seite werden sie unbehelligt bleiben. Wir haben leider Grund, sie zu schonen, um der Ehre des Namens Steinrück willen. Der Name ist jetzt gerettet und Ihrer Rückkehr nach Hause steht nichts im Wege, Graf Raoul; man wird überhaupt nie erfahren, daß die Papiere in andern Händen gewesen sind. Ich gebe noch in dieser Stunde meinem Großvater telegraphisch Nachricht, und morgen früh reise ich ab, um ihm selbst das Vermißte zu bringen – das war es, was ich Ihnen mitteilen wollte.«
Raoul hörte wie betäubt den Worten zu, die eine so furchtbare Last von seiner Seele nahmen; doch die unheimliche Starrheit wich nicht aus seinen Zügen. Er schien reden, vielleicht einen Dank aussprechen zu wollen; aber die eisige, tödliche Verachtung in dem Blick und der Haltung seines Vetters schloß ihm die Lippen. »Mein Großvater!« das klang so selbstverständlich, so siegesgewiß. Freilich, Graf Michael hatte ja jetzt den Enkel gefunden, der Blut von seinem Blute war. Die beiden gehörten zusammen und nach dieser That würde er ihm vollends die Arme öffnen.
Als Rodenberg gegangen war, erhob sich auch der junge Graf und verließ langsam mit wankenden Schritten das Gemach. Draußen vor der Thür legte er, wie sich besinnend, die Hand an die Stirn, trat aber scheu zurück in den Schatten der Mauer, als Leute aus dem Hause kamen. Er erkannte die beiden Gestalten, die an ihm vorüberhuschten und den Weg nach dem Bahnhof einschlugen; aber er gab durch keinen Laut, keine Bewegung seine Anwesenheit kund. Die Nähe der Frau, die noch vor kurzem sein ganzes Wesen in Flammen zu setzen vermochte, machte jetzt kaum noch einen Eindruck auf ihn. Er wußte, daß sie ihm auf immer entschwand, und fühlte nicht einmal Schmerz dabei. In ihm war alles so leer und tot, als sei jede Empfindung erstorben.
Da klang aus dem geöffneten Fenster über ihm eine Stimme nieder, die er erst vor wenigen Minuten gehört hatte; jetzt freilich klang sie in glühender Zärtlichkeit:
»Meine Hertha, vergib, daß ich dich so stürmisch verließ, ich mußte mir die Abschiedsstunde ja erst erkämpfen. Jetzt darf ich bei dir bleiben, ohne eine Pflicht zu verletzen, aber keine Abschiedsthränen – noch sind wir ja beisammen!«
Und nun tönte eine andre Stimme, die der Lauschende gleichfalls kannte, und die ihm doch fremd erschien in dem weichen süßen Klange der hingebendsten Liebe, den er freilich nie vernommen hatte:
»Nein, Michael, du sollst keine Thräne sehen! Ich will jetzt nur daran denken, daß du da bist – das ist ja schon ein Glück!«
War das wirklich noch die frühere Hertha? Freilich, sie hatte ja lieben gelernt, und der Mann, der einst ihr Verlobter hieß, fühlte jetzt doch, was er hingeopfert hatte. Es zog ihn gewaltsam fort aus der Nähe der Glücklichen; er ging vorwärts, planlos und ziellos, immer weiter hinein in die Dunkelheit, immer an dem brausenden Flusse entlang, bis eine Mauer seinen Weg hemmte. Es waren die Pfeiler der Brücke, auf deren Bogen die Eisenbahn dahinging hoch über dem Flusse; hier unten rauschten die Wellen, und eine alte Weide tauchte ihre Zweige tief hinein.
Die Luft lastete noch immer schwer und schwül, aber das Wetter war näher gekommen; es leuchtete immer häufiger auf und immer greller zuckten die Blitze. Raoul lehnte sich an den Stamm der Weide und starrte unverwandt in das dunkle, strudelnde Wasser; er hatte Mühe, sich zum klaren Denken zu zwingen.
Was nun? Nach Hause zurückkehren? Er konnte morgen wieder dort sein, und es fand sich auch wohl ein Vorwand für seine kurze Abwesenheit. Niemand wußte, was geschehen war, außer zweien, und die schwiegen um der Ehre des Namens Steinrück willen; aber der letzte Steinrück fühlte es doch, daß er seinem Großvater nun und nimmermehr unter die Augen treten könne. Dem Landesverräter hatte der eiserne Greis das Urteil bereits gesprochen; der Schwächling, der den Verrat zuließ, der ihn verschwieg und deckte um eines Weibes willen, durfte ihm nicht wieder nahen. Raoul hatte ihn ja schon heute gesehen, diesen Blick voll eisiger, tödlicher Verachtung, und den würde er wiedersehen in dem Antlitz seines Großvaters Tag für Tag – lieber den Tod, als das ertragen!
Vom Bahnhof herüber scholl Hurrarufen, dem lauter Jubel antwortete. Die Menge grüßte die Truppen, die sich jetzt wohl zur Abfahrt rüsteten, und dort, hinter den matt erhellten Fenstern, nahm auch ein junger Krieger Abschied von seiner Braut, vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Aber hier unten stand einer, der alles verloren hatte, Braut und Ehre und sogar – das Vaterland!
Der Militärzug brauste heran, und gerade als er die Brücke erreichte, flammte es wieder auf am Himmel. Einen Augenblick lang stand alles im zuckenden, blendenden Lichte, die schweren drohenden Wolkenmassen, die fernen, dunkeln Berge und der schäumende Fluß; aber der Platz unter der alten Weide war leer und die Wellen spritzten hoch auf. Es war nur ein Moment, dann versank alles wieder in Nacht, der Zug donnerte über die Brücke und im Westen blitzte es noch einmal auf mit leuchtendem Strahle – das Flammenschwert Sankt Michaels!
Es war zwei Tage später, im Hauptquartier des Generals Steinrück. Im Vorzimmer waren die Offiziere versammelt, um die Befehle ihres Chefs für den Vormarsch zu empfangen, aber die Gesichter aller waren ernst, und sie sprachen nur halblaut miteinander. Sie wußten ja schon, welcher schwere Schlag den Führer getroffen hatte. Sein Enkel, der schöne, ritterliche, lebensvolle Graf Raoul, war verunglückt, war bei einem Fehltritt in der Dunkelheit in den Fluß gestürzt und ertrunken.
Es war ein furchtbares Schicksal für den Greis, noch am Abend seines Lebens den letzten seines Stammes und Namens in der Jugendblüte dahinsinken zu sehen, und er konnte nicht einmal an seinem Sarge stehen, ihn nicht zur Gruft seiner Väter geleiten. Die Pflicht hielt ihn an der Spitze seines Corps fest; er hatte in der That seit vorgestern, wo die Nachricht eintraf, keine einzige dieser Pflichten vernachlässigt; empfing er doch eben wieder den Hauptmann Rodenberg, der mit wichtigen Depeschen eingetroffen war. Es ahnte keiner von den Offizieren, welches Familiendrama dort hinter der geschlossenen Thür seinen letzten Abschluß fand. Neben dem General stand Michael, der soeben seinen Bericht schloß:
»Beim ersten Tagesgrauen hat man ihn gefunden, ganz in der Nähe des Hauses, wo wir weilten. Ich fand noch Zeit, die ersten und notwendigsten Anordnungen zu treffen, dann mußte ich fort. Alles übrige habe ich in die Hände meines alten Lehrers gelegt, der auch die schwere Pflicht übernommen hat, der Mutter die Todesnachricht zu bringen und die Leiche nach Steinrück zu geleiten.«
Der General hatte schweigend zugehört, jetzt fragte er tonlos: »Und es weiß niemand –?«
»Niemand, außer uns beiden! Clermont und seine Schwester werden schweigen, müssen es, um ihrer selbst willen. Sobald auch nur ein Wort von dem Geschehenen verlautet, sind sie unmöglich, wohin sie sich auch wenden mögen. Hier sind die Papiere. Ich lege sie in die Hände meines Generals zurück, und die Ehre des Namens Steinrück ist gerettet.«
Steinrück nahm die Papiere an sich; dann reichte er seinem Enkel die Hand.
»Ich danke dir, Michael.«
Der junge Offizier blickte ihn besorgt an; ihn täuschte diese starre, finstere Ruhe nicht; er wußte, was sich dahinter barg.
»Großvater,« sagte er leise. »Jetzt könntest du doch um ihn weinen!«
Der General schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe jetzt keine Zeit zum Weinen, und Thränen hat man nur für einen geliebten Toten. Daß er mir das anthat, anthun konnte – genug davon, laß ihn ruhen!«
Er schritt voran nach dem Vorgemach, wo sich die Offiziere befanden, und wo er mit jener schweigenden Ehrfurcht empfangen wurde, die jeder dem Unglücke zollt. Einer aus dem Kreise trat vor und sprach im Namen aller dem greisen Führer die Teilnahme aus an dem schweren Verluste, der ihn getroffen hatte. Steinrück hörte das starr und scheinbar unbewegt an; er neigte nur zum Danke das Haupt gegen alle.
»Ich danke Ihnen, meine Herren! Der Schlag, der in der nächsten Zeit Tausende treffen wird, er hat mich zuerst getroffen; aber der Himmel hat mir bereits einen Trost dafür gesandt, denn hier,« – jetzt brach es durch seine unheimliche Ruhe wie ein Aufflammen der alten Kraft, und die mächtige Greisengestalt richtete sich hoch empor – »hier an meiner Seite steht der Sohn meiner früh verstorbenen Tochter, mein Enkel, Michael Rodenberg!«
Ein Jahr war vergangen, ein Jahr voll schwerer Kämpfe und mächtiger Erfolge, voll Siegesjubel und Totenklage, und als der Sommer wieder die Erde grüßte, grüßte er dort ein neu erstandenes Reich.
Auf der Bergstraße, die von Tannberg nach Schloß Steinrück führte, rollte ein offener Wagen dahin, in dem sich zwei Offiziere befanden. In dem Hauptmann, der zur Rechten saß, hätte man auch ohne die Uniform den Soldaten erkannt; sein Gefährte dagegen, der die Abzeichen eines Reservelieutenants trug, hatte ein mehr künstlerisches als kriegerisches Aussehen, trotzdem auch er von Luft und Sonne tief gebräunt war.
»Du kannst von Glück sagen, Michael!« sagte er mit dem alten Uebermute. »Du kehrst als gefeierter Kriegsheld zurück, in die Arme deiner Braut. Mir wird es nicht so gut, ich habe noch eine heiße Schlacht zu schlagen. Mein kleines Dornröschen freilich hat sich tapfer und mutig gezeigt, aber die Dornenhecke starrt mir noch immer entgegen mit der ganzen Energie des zehnten Jahrhunderts. Eigentlich ist mir die Uniform hier auf der Reise sehr unbequem, aber ich hoffe, ihm damit zu imponieren, meinem Schwiegervater nämlich. Vielleicht macht es doch Eindruck auf ihn, wenn das neunzehnte Jahrhundert in seiner ganzen kriegerischen Pracht vor ihm erscheint.«
»Du nimmst die Sache wie gewöhnlich von der komischen Seite,« entgegnete Michael. »Du solltest aber bedenken, daß nicht allein der alte Freiherr, sondern auch dein Vater seine Einwilligung verweigert.«
»Ja, man hat seine Not mit den Vätern; sie sind gar nicht mehr zu regieren!« stimmte Hans bei. »Ich habe meinen Papa nun endlich durch Gerlindens Briefe, die ich ihm zu lesen gab, überzeugt, daß sie ganz vernünftig ist; aber er bleibt hartnäckig dabei, daß die Anlage zur Verrücktheit in der Ebersteinschen Familie erblich sei, und verlangt durchaus, daß ich auf künftige Generationen Rücksicht nehmen soll. Der Freiherr dagegen behauptet wieder, daß die Gottlosigkeit erblich ist. Uebrigens muß er eine Ahnung davon haben, daß ich jetzt, wo die Truppen entlassen werden, schleunigst auf der Bildfläche erscheine; denn er hat Gerlinde sogar verboten nach Steinrück zu fahren. Als ob das uns hinderte! Ich berenne die Ebersburg als Ritter vom Forschungstein in aller Form, und vorläufig klettere ich noch einmal über die Burgmauer und finde auf der Terrasse mein Dornröschen, das schon ganz genau unterrichtet ist.«
Michael hörte etwas zerstreut zu, seine Aufmerksamkeit wandte sich Schloß Steinrück zu, das schon eine ganze Weile sichtbar gewesen war und jetzt dicht vor ihnen lag; er sagte nur flüchtig:
»Ihr scheint ja in sehr lebhaftem Verkehr zu stehen. Der Briefwechsel wurde euch ja wohl verboten?«
»Natürlich, von beiden Vätern. Deshalb schrieben wir uns so oft während des Krieges. Wir müssen in unserm künftigen Hause zunächst ein Archiv anlegen für all die Feldpostbriefe, in denen unsre Liebes- und Leidensgeschichte ruht. Aber nun hat sie lange genug gedauert, und wenn der Alte gar keine Vernunft annehmen will, so setzen wir ihn in das Burgverließ, wie den seligen Balduin von Ortenau vor sechshundert Jahren, der auch so lange darin sitzen mußte, bis er in die Heirat Kunrads von Eberstein und Hildegards von Ortenau willigte. O, ich bin schon sehr bewandert in der Geschichte meiner Verwandtschaft. Ich verwechsele nicht einmal die Namen mehr.«
Michael gab keine Antwort; jetzt, wo der Wagen den Schloßberg hinauffuhr, spähte er nur ungeduldig nach den Fenstern der Burg; Hans folgte der Richtung seines Blickes.
»Also dein Großvater ist auch dort?«
»Seit acht Tagen. Er hat einen längeren Urlaub nehmen müssen, denn die Strapazen des Feldzugs haben ihn doch sehr angegriffen. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die stärkende Bergluft.«
Der junge Künstler schüttelte den Kopf und sagte, plötzlich ernst werdend:
»Der General ist sehr verändert. Ich erschrak förmlich, als ich ihn wiedersah. Freilich, ein schwerer Feldzug in solchem Alter und dann noch der jähe schreckliche Tod seines Enkels – es läßt sich begreifen! Aber ich glaube, du stehst seinem Herzen trotz alledem näher, als Graf Raoul je gestanden hat.«
»Vielleicht! Aber in solchem Alter überwinden sich Schicksalsschläge schwer,« sagte Michael ausweichend. Er wußte, was sein Großvater nicht überwinden konnte, aber das blieb ein Geheimnis zwischen ihnen beiden.
Hans plauderte weiter, erhielt aber immer kürzere und zerstreutere Antworten; sein Freund schien gar nicht mehr auf ihn zu hören; er schaute immer nur nach dem Schlosse, und plötzlich fuhr er auf und zog sein Taschentuch hervor, das er hoch in der Luft flattern ließ.
»Was hast du denn?« fragte Hans. »Ah so, da oben flattert ein andres Tuch, und wahrhaftig, da steht auch Gräfin Hertha auf dem Altan! Ja, schön ist sie freilich, deine goldhaarige Märchenfee da oben in der leuchtenden Mittagssonne! Mit ihr kann sich mein Dornröschen nicht messen, und meine Braut hat auch nicht verschiedene Millionen, nur einen obstinaten Papa. Aber dafür ist ihr Geschlecht volle zweihundert Jahre älter als das der Steinrück. Vergiß das nicht, Michael! Im Mittelalter hat meine künftige Frau ganz entschieden den Vortritt vor der deinigen.«
Der Wagen fuhr endlich in den Schloßhof, viel zu langsam für die Ungeduld des jungen Offiziers, der jetzt den Schlag aufriß, hinaussprang und die Außentreppe hinaufstürmte. Hertha erschien oben auf den Stufen, und in Gegenwart der Diener küßte Michael seine Braut. Es war das erste Mal, daß er sie öffentlich so begrüßte.
»Und das muß man nun mit ansehen und kann es nicht nachmachen, nur weil man einen unvernünftigen Papa und dito Schwiegerpapa hat!« grollte Hans, indem er langsamer ausstieg. »Aber wartet, meine Herren Väter! Ich spiele euch einen Streich, daß ihr euch auf Gnade und Ungnade ergeben sollt.«
In dem getäfelten Gemach mit dem breiten Erkerfenster, wo die Ahnenbilder von den Wänden blickten und das Wappen der Steinrück über dem Kamin prangte, befand sich Graf Michael mit seinem Enkel, den er hier an dieser Stelle zum erstenmal gesehen und dem er auch hier die furchtbare Beschuldigung des Diebstahls zugeschleudert hatte. Das Schicksal hatte die Vergeltung dafür übernommen, man sah es, wie schwer der General daran trug.
Er hatte sich in der That sehr verändert und schien in den zwölf Monden um ebensoviele Jahre gealtert zu sein. Solange der Feldzug währte, hielt ihn die Pflicht des Soldaten, des Führers, dem eine so schwerwiegende Verantwortung zufiel, noch aufrecht, und er zwang Geist und Körper mit der alten Willenskraft. Aber mit der Pflicht ging auch seine Kraft zu Ende. Die Züge des einst so schönen Greisenantlitzes waren hohl und tief geworden; aus den Augen war das Feuer geschwunden, selbst die Haltung erschien müde und gebeugt. In diesem Augenblick freilich ruhte sein Auge mit dem Ausdruck der tiefsten innersten Genugthuung auf seinem Enkel, dessen Hand er noch in der seinigen hielt.
»Ich denke, du kannst zufrieden sein mit deinen Erfolgen,« sagte er. »Es ist selten, daß man einen so jungen Offizier mit solchen Auszeichnungen überschüttet, wie sie dir zu teil geworden sind, aber ich gebe dir das Zeugnis, daß sie verdient sind. Was du im Feld geleistet hast, das übertraf selbst meine Erwartungen, und ich habe viel erwartet von meinem Michael!«
»Vielleicht wäre die Anerkennung nicht so überschwenglich gewesen, wenn sie nicht gerade dem Enkel des kommandierenden Generals gegolten hätte,« entgegnete Michael mit einem flüchtigen Lächeln. »Von dem Augenblick an, wo du mich als deinen Blutsverwandten einführtest, umgab man mich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit; ich habe es nur zu gut gefühlt.«
»Gleichviel, die Anerkennung ist errungen, nicht bloß gegeben, und Hertha hat allen Grund, auf ihren Kriegshelden stolz zu sein. Seid ihr über den Zeitpunkt der Vermählung schon einig geworden?«
»Noch nicht! Hertha läßt sich da von Rücksichten bestimmen, denen ich mich vielleicht auch beugen muß, so schwer es mir wird. Vor der Welt ist ihre Verlobung mit Raoul ja nie gelöst worden, und das Trauerjahr ist soeben erst zu Ende gegangen. Wir wollten dir die Entscheidung überlassen, Großvater. Wenn du meinst, daß wir noch einige Monate warten sollen –«
»Nein!« erklärte Steinrück mit Bestimmtheit. »Es ist ja bereits beschlossen, daß die Trauung in aller Stille stattfinden soll, und ich möchte gern selbst eure Hände ineinander legen. In einigen Monaten – dürfte es zu spät sein.«
»Großvater!« sagte Michael halb bittend, halb vorwurfsvoll.
»Soll ich nicht einmal zu dir davon sprechen? Du bist ja doch ein Mann und mußt dem Unvermeidlichen ins Auge sehen.«
»Es ist aber nicht unvermeidlich. Wenn du dich nur aus dieser Schwermut emporraffen wolltest, die an deinem Leben zehrt. Hat denn Raoul alle Lebensfreude mit in das Grab genommen? Ich bin dir doch zur Seite mit meiner Hertha, und wir helfen dir, die Vergangenheit zu überwinden.«
Der General schüttelte langsam verneinend den Kopf.
»Du weißt am besten, was du mir bist, Michael; aber meine Kraft ist nun einmal gebrochen, und du kennst auch die Stunde, in der sie brach. Der Axthieb ging dem alten Baum an die Lebenswurzel; er kann nicht mehr gesunden!«
Michael schwieg; er mochte die Wahrheit dieser Worte fühlen.
Wenn die schließliche Aufklärung auch das Furchtbarste gemildert hatte: es blieb noch genug bestehen, um den Stolz und die Ehre des Grafen von Steinrück, der von jeher mit ganzer Seele seinem Vaterland angehört hatte, bis auf den Tod zu verwunden. Und er war ein Greis; ihm stand keine Jugendkraft mehr zur Seite, die solchen Schlägen standhält.
»Also Gräfin Hortense ist wieder bei ihrem Bruder – mit deiner Einwilligung?« fragte Rodenberg, nach einer kurzen Pause ablenkend.
»Ja. Solange der Krieg währte, konnte und durfte ich nicht zugeben, daß die Witwe meines Sohnes in Frankreich weilte. Jetzt fällt diese Rücksicht für uns beide fort; sie kehrt zu Montigny zurück. Hier ist sie ja doch stets eine Fremde gewesen, und mit dem Tode Raouls ist das einzige Band, das uns noch verknüpfte, zerrissen. Ich habe ihr die Unabhängigkeit gesichert, soweit das in meinen Kräften stand. Du kennst ja die Bestimmungen meines jetzt geänderten Testaments. Das Majorat geht nach meinem Tod in andre Hände über, es haftet an der männlichen Linie unsres Hauses. Schloß Steinrück fällt dir als meinem einzigen Erben zu, und mit Herthas Hand wird auch der ganze große Familienbesitz dein, den ich um jeden Preis meinem Enkel sichern wollte. Das ist geschehen, wenn auch auf andre Weise, als ich dachte, und es ist besser so! Du wirst ihn wahren und schirmen und wirst auch Hertha schirmen mit deinem starken Arm, ich weiß es – Gott segne euch beide!«
Es war kein bloßer Zufall gewesen, daß Hans Wehlau seinen Freund begleitete. Er verband mit diesem Besuch den etwas egoistischen Zweck, die Braut Michaels als Bundesgenossin für den letzten entscheidenden Sturm auf Vater und Schwiegervater zu gewinnen. Dieser Sturm konnte nur in Steinrück versucht werden; denn es war der einzige Ort, wo Gerlindens Vater, der alte menschenscheue Sonderling, noch bisweilen verkehrte, und wo die Möglichkeit gegeben war, ihn mit dem Professor Wehlau zusammenzubringen, der sich augenblicklich wieder zum Besuch bei den Verwandten in Tannberg befand.
Hertha hatte allerdings von Anfang an auf seiten der Jugendfreundin gestanden und alles mögliche gethan, um den alten Freiherrn umzustimmen; aber es war vergebens gewesen, ebenso wie die erneute Werbung, die Hans wenige Tage nach seiner Ankunft unternahm. Er hatte umsonst die Uniform angezogen, die kriegerische Pracht des neunzehnten Jahrhunderts machte gar keinen Eindruck auf das zehnte. Udo von Eberstein war nun einmal entschlossen, den ganz reinen Stammbaum seines Geschlechts zu wahren, und drohte, seine Tochter eher in ein Kloster zu schicken, als zuzugeben, daß sie einen Menschen ohne Namen und Familie heirate. Er blieb unerschütterlich und trotz der Beharrlichkeit des Freiers und der Thränen Gerlindens endigte auch diese zweite Werbung mit einem entschiedenen Nein.
Es war nicht besonders schwierig, den Professor Wehlau nach Steinrück zu bringen. Er folgte bereitwillig einer Einladung Michaels; »zufälligerweise« hatte Hertha an demselben Tage die Bewohner der Ebersburg eingeladen, aber das glückte nur zur Hälfte. Der Freiherr kam allerdings, um den General nach dem Kriege wiederzusehen, aber er ließ weislich seine Tochter zu Hause. Die Möglichkeit, in Steinrück dem Menschen zu begegnen, der durchaus sein Schwiegersohn werden wollte und von Gerlinde leider in dieser frevelhaften Absicht unterstützt wurde, veranlaßte ihn zu dieser Vorsichtsmaßregel. Indessen schien der Besuch ohne Störung vorüberzugehen: der Feind, der das Geschlecht derer von Eberstein mit einem bürgerlichen Namen bedrohte, ließ sich nirgends blicken, und der Freiherr, der mit dem General viel von alten Zeiten geplaudert hatte, wo sie beide noch Waffengefährten waren, befand sich in der vortrefflichsten Stimmung.
Er war augenblicklich allein in dem Erkerzimmer und wandte sich beim Oeffnen der Thür um, in der Meinung, Graf Steinrück, den man für einige Minuten abgerufen hatte, kehre zurück, fuhr aber plötzlich in die Höhe, denn vor ihm stand in Lebensgröße – Professor Wehlau.
Auch dieser stutzte; er wußte offenbar nichts von dem Hiersein seines Gegners und schien in Zweifel, ob er ihn ebenso grob behandeln sollte wie bei der letzten Zusammenkunft vor einem Jahr.
Für diesmal aber behielt eine menschliche Regung die Oberhand, und er brummte:
»Guten Tag, Herr von Eberstein!«
»Herr Professor Wehlau, Sie hier?« fragte Eberstein, den Gruß mit einem sehr steifen Kopfnicken erwidernd. »Ich hoffe, Sie haben Ihren Sohn nicht mitgebracht.«
»Nein, der ist drüben in Tannberg.«
»Das freut mich! Meine Tochter ist in der Ebersburg.«
Wehlau zuckte nur die Achseln bei dieser Ankündigung.
»Darüber brauchen Sie sich gar nicht zu freuen. Ich wette darauf, die beiden stecken doch wieder zusammen, sobald wir den Rücken gewandt haben.«
»Das würde ich mir verbitten,« sagte Eberstein mit Nachdruck. »Ich habe Gerlinde streng verboten, Herrn Wehlau zu sehen oder zu sprechen.«
»Jawohl, Sie haben ihr auch verboten, an ihn zu schreiben, und mein Hans hat eine ganze Wagenladung von Briefen aus dem Feldzug mitgebracht. Fräulein Gerlinde wird wohl die gleiche Anzahl besitzen.«
»Das ist ja empörend!« rief der alte Herr, der zum erstenmal von diesem Ungehorsam Kunde erhielt. »Warum brauchen Sie da nicht Ihre väterliche Autorität? Warum haben Sie Ihrem Sohn überhaupt gestattet, hierherzukommen?«
»Weil er sechsundzwanzig Jahre alt und somit kein Kind mehr ist,« entgegnete Wehlau trocken. »Da geht es nicht mehr mit dem Einsperren. Sie halten Ihre Tochter freilich unter Schloß und Riegel; ich wollte, ich könnte es mit meinem widerspenstigen Buben ebenso machen. Aber freilich, bei dem würde das nichts helfen; der klettert zum Fenster heraus und ist plötzlich mitten in der Ebersburg, und wenn er zum Schornstein hinein kommen sollte. So geht die Geschichte nicht länger, wir müssen ernstliche Maßregeln ergreifen.«
»Ja, das müssen wir!« stimmte Eberstein bei, indem er mit seinem Stock energisch auf den Boden stampfte. »Ich werde Gerlinde in ein Kloster schicken, vorläufig als Pensionärin. Da wollen wir doch sehen, ob es dem jungen Herrn gelingt, durch den Schornstein hineinzukommen!«
»Das ist ein sehr vernünftiger Gedanke!« rief der Professor, der beinahe in Versuchung kam, seinem Gegner freundschaftlich die Hand zu schütteln. »Bleiben Sie fest, Herr von Eberstein! Ich freue mich wirklich, daß Sie bei Ihrem Zustande noch solche Energie besitzen.«
Der alte Herr, der keine Ahnung von der beleidigenden Voraussetzung des Professors hatte, und glaubte, dieser meine sein Gichtleiden, seufzte tief.
»Ja, mein Zustand! Der wird leider alle Tage schlimmer!«
»Sehen Sie das selbst ein?« fragte Wehlau, indem er einen Stuhl heranzog und sich ganz friedlich niederließ. »An welcher Krankheit ist denn eigentlich Ihr Vater gestorben, Herr Baron?«
»Mein Vater, Oberst Kuno von Eberstein-Ortenau, fiel in der Schlacht bei Leipzig, an der Spitze seines Regiments,« lautete die mit feierlicher Würde gegebene Antwort.
Wehlau sah etwas erstaunt aus; er schien eine andre Auskunft erwartet zu haben und begann nunmehr ein förmliches Kreuzverhör anzustellen. Er erkundigte sich nach Großvater und Urgroßvater, nach der ersten und zweiten Gemahlin, nach allen Basen und Vettern, sogar nach den Seitenverwandten. Ein andrer wäre dabei wahrscheinlich ungeduldig geworden, aber Eberstein fand, daß der Professor sich sehr zu seinem Vorteil verändert habe; es that ihm wohl, daß dieser mit so rührender Teilnahme nach all den Udos und Kunos und Kunrads fragte, die er ihm einst mit so rücksichtsloser Grobheit an den Kopf geworfen hatte. Er ließ seinen Stammbaum nach allen Richtungen hin glänzen und gab bereitwillig Rede und Antwort.
»Merkwürdig!« sagte Wehlau endlich kopfschüttelnd. »Also in Ihrer ganzen Familie ist kein einziger Fall von Gehirnkrankheit vorgekommen?«
»Gehirnkrankheit?« wiederholte Eberstein beleidigt. »Was fällt Ihnen denn ein? Das ist wohl Ihr spezielles Fach, daß Sie fortwährend danach suchen? Nein, die Eberstein sind an allen möglichen Krankheiten gestorben, aber mit Gehirnleiden haben sie nie etwas zu thun gehabt.«
»Das scheint wirklich so – sollte ich mich doch am Ende geirrt haben?« murmelte der Professor. Er brachte jetzt das Gespräch auf die Familienchronik, auf die Abstammung der Eberstein aus dem zehnten Jahrhundert, aber vergebens; der Freiherr antwortete vollkommen klar und vernünftig, und zuletzt faltete er die Hände und sagte in schmerzvoll bewegtem Tone:
»Jawohl, mein altes, edles Geschlecht, das neun Jahrhunderte lang in der Geschichte genannt worden ist, und mit Ehren genannt es geht mit mir zu Grabe! Ob Gerlinde nun unvermählt bleiben oder einem Gatten folgen mag: mit mir stirbt der Name, und er wird bald sterben, wie meine alte Ebersburg auch bald in Trümmer fällt. Das heutige Geschlecht weiß ja nichts mehr, will ja nichts mehr wissen von dem Ruhm und Glanz der alten Zeiten, und ich habe keinen Sohn, der die Erinnerung daran wahren könnte. Ueber meinem Sarge wird man das Wappen meines Hauses zerbrechen und mir in die Gruft nachwerfen mit dem letzten düsteren Rufe: Freiherr von Eberstein-Ortenau – heute noch und nimmermehr!«
Es sprach ein so tiefer, bitterer Schmerz aus diesen Worten, daß Wehlau plötzlich ernst wurde und mit einer Bewegung, deren er nicht Herr werden konnte, auf den Greis blickte, dem ein paar Thränen über die eingefallenen Wangen rollten. Der Mann der Wissenschaft, der Gegenwart hatte den Stolz des Adligen auf seine Vorfahren nie verstanden und nie gelten lassen; aber er verstand den Schmerz des alten Mannes, der um den Untergang seines Geschlechts klagte, der trotz all seines Sträubens doch den ehernen Schritt der Neuzeit fühlte, welche hundertjährige Spuren zertrat und verwischte für immer. In diesem Augenblick fiel alles Lächerliche ab von Udo von Eberstein; es wurde ausgelöscht von dem tragischen Ernst einer untergehenden Welt- und Lebensanschauung, der das Urteil gesprochen war mit diesem: »Heute noch – und nimmermehr!«
Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen; dann bot der Professor plötzlich seinem bisherigen Gegner die Hand.
»Herr von Eberstein, ich habe Ihnen unrecht gethan! Unsereins kann ja auch einmal irren, und es lag wirklich sehr viel Sonderbares in Ihrer – genug, ich leiste Abbitte!«
Der alte Herr war weit entfernt, zu ahnen, worauf sich diese Abbitte eigentlich bezog; er glaubte, sie gelte der bisher an den Tag gelegten Mißachtung des Ebersteinschen Geschlechts, und es that seinem Herzen wohl, daß der eigensinnige rücksichtslose Gelehrte sich jetzt so rückhaltlos bekehrt zu haben schien. Er ergriff daher die dargebotene Hand und drückte sie herzlich.
Da erschien Michael in größter Eile und Bestürzung. Man hatte jetzt erst in Erfahrung gebracht, daß die beiden alten Herren, die man mit der größten Vorsicht einander nähern wollte, sich allein im Zimmer des Generals befanden. Wahrscheinlich gerieten sie wieder aneinander, und Hauptmann Rodenberg kam nun schleunigst, um einem Unheil vorzubeugen. Zu seinem größten Erstaunen fand er die beiden ganz friedlich und freundschaftlich bei einander; der Professor hielt sogar die Hand des Freiherrn in der seinigen, und dieser schien den Händedruck zu erwidern.
»Ich bedauere sehr, zu stören,« sagte Michael, der seinen Augen nicht traute. »Hertha läßt die Herren um ihre Gegenwart bitten, aber wenn wir Sie in einem ernsten Gespräch unterbrechen –«
»Nein, wir sind zu Ende,« erklärte Wehlau, indem er den alten Baron, der sich mühsam erhob und nach seinem Stocke griff, kräftig unterstützte. So traten sie in das Empfangszimmer, wo ihnen Hertha entgegenkam; aber an ihrer Seite befand sich noch ein andrer, bei dessen Anblick die elegische Stimmung Ebersteins sofort in eine gereizte umschlug.
»Herr Hans Wehlau – ich denke, Sie sind in Tannberg!« rief er ärgerlich.
»Ja, als ich abfuhr, war er noch dort,« fiel der Professor ein.
»Wo kommst du her, Junge? Bist du durch die Luft geflogen?«
»Nein, Papa, ich bin dir nur schleunigst nachgefahren,« erklärte Hans. »Ich mußte den Herrn von Eberstein notwendig sprechen und ihn in einer dringenden Angelegenheit um Gehör ersuchen –«
»Ich will nichts hören!« rief der alte Herr. »Ich weiß schon, worauf die Geschichte wieder hinausläuft; aber ich bin soeben mit Ihrem Vater übereingekommen, daß wir ernstliche Maßregeln gegen Ihre Heiratspläne ergreifen, höchst energische Maßregeln!«
»Jawohl, höchst energische Maßregeln!« bestätigte der Professor. »Das haben wir allerdings abgemacht, aber – warum wollen Sie eigentlich Ihre Tochter meinem Sohne nicht zur Frau geben?«
Eberstein schaute ihn ganz verblüfft an. Die Frage war doch höchst sonderbar, nachdem man soeben erst ein Bündnis gegen diese geplante Heirat geschlossen hatte; aber die Antwort wurde ihm erspart, denn in diesem Augenblick nahm ihn Hertha in Beschlag, und Wehlau benutzte das, um seinen Sohn beiseite zu ziehen.
»Ich habe mich geirrt,« sagte er kurz und bündig. »Du hattest diesmal recht. Der alte Freiherr ist ganz vernünftig bis auf einige abnorme Gehirnerscheinungen, und die muß man dem zehnten Jahrhundert zu gute halten, solch ein Stammbaum ist überhaupt nicht normal! Gefährlich und erblich aber sind diese Marotten nicht, also – wenn es durchaus nicht anders geht, so heirate deine Gerlinde!«
»Gott sei Dank, daß du zur Einsicht gekommen bist, Papa!« sagte Hans mit einem Seufzer der Erleichterung. »Du hast mir Not genug gemacht mit deiner Sorge für die Generationen, die vorläufig noch gar nicht da sind.«
»Das war meine Pflicht. Aber wie gesagt, ich bin jetzt über das Schicksal deiner Nachkommenschaft beruhigt. Nun sieh zu, wie du mit dem Alten und seinem Stammbaum fertig wirst.«
»Ich nehm' sie alle beide im Sturme!« rief der junge Künstler triumphierend. »Ich erobere mir trotz alledem mein Dornröschen!«
Hertha hatte inzwischen diesen Sturm vorbereitet; sie hatte das Gespräch auf ihre eigene Verlobung gebracht und dem Freiherrn zu Gemüte geführt, daß sie ja auch der letzte Sproß eines alten Geschlechtes sei, wie Gerlinde, und daß auch ihr Name in einem andern erlöschen werde, der kein Adelswappen trage; aber Eberstein widersprach mit Heftigkeit.
»Das ist etwas ganz andres. Ihr Verlobter ist immer der Enkel des Grafen, der Sohn einer Steinrück; er gehört wenigstens mütterlicherseits Ihrem Geschlecht an. Ueberdies,« – hier wandte er sich verbindlich zu Michael, dessen männlich kriegerische Erscheinung ganz nach seinem Geschmack war – »überdies hat sich Hauptmann Rodenberg im Kriege ausgezeichnet. Schon zu Zeiten unsrer glorreichen Vorfahren galten tapfere Kriegsthaten als ein Adelsbrief und errangen den Ritterschlag. Aber ein Schwiegersohn, dessen Waffe der Pinsel und dessen Schild die Palette ist – nimmermehr!«
»Nun, er kann mit Pinsel und Palette wenigstens den Kriegsruhm verewigen,« sagte Michael lächelnd. »Sie wissen vielleicht noch nicht, daß mein Freund soeben in einer Preisbewerbung den Sieg davongetragen hat. Sein Name geht jetzt durch die ganze Presse und wird einstimmig –«
»Bleiben Sie mir mit der Presse vom Leibe!« rief Eberstein erbost. »Das ist auch so eine Erfindung der Neuzeit, und das ist die schlimmste von allen! Diese voreilige, indiskrete, verleumderische Presse, die alles in den Staub zieht, der nichts heilig ist, ist ein rechtes Satanswerk!«
»Sie haben ganz recht, Herr Baron, die Presse ist sehr schlimm!« bestätigte Hans, der soeben herantrat und die letzten Worte hörte. »Aber nun erlauben Sie mir wohl, mein Gesuch auszusprechen – bitte, halten Sie sich nicht die Ohren zu; es betrifft diesmal wirklich nicht Gerlinde und mich, sondern einzig die Preisbewerbung, von der Michael soeben sprach. Ich habe mich schon vor dem Kriege daran beteiligt und erhielt noch während des Feldzuges die Nachricht, daß meine Skizze mit dem Preise gekrönt und zur Ausführung bestimmt ist. Dazu bedarf ich aber Ihrer Erlaubnis.«
»Meiner Erlaubnis?« fragte Eberstein befremdet. »Was habe ich denn mit Ihren Bildern zu thun?«
»Das wird Ihnen klar werden, sobald Sie sich herbeilassen, einen Blick darauf zu werfen. Es ist ein historisches Gemälde, für den Hauptsaal des neuen Rathauses in B. bestimmt, und an diesem hervorragenden Platze wird es natürlich viel gesehen werden. Ebendeshalb muß ich Ihre Erlaubnis erbitten; wird sie versagt, so muß ich eben den Entwurf ändern. Entscheiden Sie darüber – hier ist er.«
Er öffnete die Thür des Nebenzimmers. Der alte Freiherr zeigte sich glücklicherweise nicht so hartnäckig wie Professor Wehlau, als es sich um die Betrachtung Sankt Michaels handelte; halb neugierig, halb mißtrauisch trat er ein, und die andern folgten ihm.
Dort an der Wand war in der That das besprochene Bild aufgestellt, vorläufig nur ein Karton, in Kreide ausgeführt, aber doch ein getreues Abbild des künftigen Gemäldes. Der junge Maler hatte es verstanden, den gegebenen historischen Stoff, eine Scene aus den Kämpfen des Mittelalters unter den Hohenstaufen, lebendig und wirkungsvoll zu gestalten. Zur Rechten des Bildes erblickte man den Kaiser, eine machtvolle, ernste Erscheinung, von Fürsten und Prälaten umgeben; zur Linken zeigte sich das herandrängende Volk, während die siegreich heimkehrenden Krieger, die ihrem Fürsten die eroberten Trophäen zu Füßen legten, die Mitte einnahmen. Es war eine charakteristische, reich bewegte Gruppe, aus der vor allem eine Gestalt aufragte, offenbar der Held und Führer des ganzen Siegeszuges. Eine prächtige Erscheinung, mit dunkeln Haaren und Augen und edeln, regelmäßigen Zügen, in voller Rüstung und voller Manneskraft. Hochaufgerichtet, mit der Rechten auf die Trophäen deutend, schien er dem Kaiser den Siegesbericht zu erstatten. Der einzelne Ritter war die Hauptgestalt des Gemäldes, auf die sich der ganze Vorgang und auch das Interesse des Beschauers konzentrierte; aber Helm und Rüstung trugen die Abzeichen derer von Eberstein, und der Schild trug das Wappen, das verwittert und halb zerfallen über dem Thor der Ebersburg stand – es feierte hier seine Auferstehung.
Der alte Freiherr war an das Gemälde herangetreten, um es genau zu betrachten; plötzlich aber zuckte er zusammen, die trüben Augen gewannen Leben; die gebeugte Gestalt richtete sich auf, und mit einer fast stürmischen Bewegung wandte er sich zu dem jungen Künstler, der hinter ihm stand.
»Was haben Sie gethan? Das ist ja –«
»Die Wiedergabe eines Porträts, das ich bei meinem ersten Besuch in der Ebersburg entdeckte,« ergänzte Hans. »Sie erinnern sich wohl noch unsres Gespräches darüber und begreifen nun, weshalb ich Ihre Erlaubnis erbitte.«
Eberstein gab keine Antwort; er blickte starr und unverwandt auf das Bild, auf sein Bild, aus der Zeit, wo er noch jung und gesund und glücklich war, wo auch er noch die Waffen zu führen wußte, und ihm wurden die Augen feucht bei der Erinnerung.
»Was soll das denn eigentlich heißen?« fragte der Professor, der zwar das Gemälde kannte, den man aber über die geheime Bedeutung desselben noch in Unkenntnis gelassen hatte. Der alte Freiherr wandte sich zu ihm und sagte in einem Tone, der halb wehmütig, halb selbstbewußt klang:
»Das sind meine Züge. So hat einst Udo von Eberstein ausgesehen – vor mehr als dreißig Jahren!«
»Da haben Sie sich aber sehr verändert!« brach Wehlau in seiner derben Weise los; doch Hans fiel rasch ein:
»Nicht doch, Papa! Sieh den Freiherrn nur genau an! Du findest die Züge wieder. Das Bild soll in Freskomalerei ausgeführt werden, Herr Baron; es wird voraussichtlich so lange bestehen wie das Rathaus selbst – mindestens einige hundert Jahre.«
»Einige hundert Jahre!« lispelte Eberstein wie verklärt. »Freilich, das Wappen wird niemand kennen.«
Hans trat dicht an seine Seite.
»Man kennt es leider bereits. Die schlimme Presse – Sie wissen ja, ich teile Ihre Abneigung dagegen – hat sich schon der Sache bemächtigt und bringt den vollen Namen. Ein Artikel in dem ersten Blatte unsrer neuen Reichshauptstadt – Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen den Schluß vorlese.«
Er zog eine Zeitung hervor, dieselbe, welche damals die Kritik über Sankt Michael gebracht hatte, und las:
»›Nach dieser ausführlichen Besprechung wollen wir unsern Lesern auch die Mitteilung nicht vorenthalten, daß die Hauptgestalt des Bildes, der Ritter mit dem prächtigen, vielbewunderten Charakterkopfe‹ – hier steht es schwarz auf weiß, Herr Baron, mit dem prächtigen, vielbewunderten Charakterkopfe –, ›ein nur wenig idealisiertes Porträt ist und zwar das Porträt des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg, des letzten Sprossen eines einst weitberühmten Geschlechtes, das seinen Stammbaum bis in das zehnte Jahrhundert zurückführt; auch das Wappen der Eberstein ist auf dem Bilde verewigt.‹ – Ich kann wahrhaftig nicht dafür – ein paar harmlose Aeußerungen, die ich zu Bekannten that – wünschen Sie, daß der Artikel dementiert wird? Sonst macht er die Runde durch alle Zeitungen Deutschlands.«
»Nein, mein junger Freund,« sagte Eberstein würdevoll. »Ich erlasse Ihnen das Dementi; ich finde überhaupt, daß die Presse in diesem Fall weder indiskret noch voreilig gehandelt hat. Sie erfüllt nur eine Ehrenpflicht, wenn sie Thatsachen, die dem Gedächtnis der Mitlebenden leider entschwunden sind, wieder zur Geltung bringt; sie hat sich wirklich höchst verständig benommen. Lassen Sie den Artikel die Runde machen durch alle Zeitungen Deutschlands!«
»Der Junge hat ja ein wahrhaft haarsträubendes Talent zur Intrigue!« murmelte Professor Wehlau. »Jetzt hat er den Alten an der Angel.«
Hans drehte mit gutgespielter Verlegenheit die Zeitung in der Hand.
»Ja, Herr Baron – es ist aber noch ein Schlußsatz da, und den müssen Sie doch auch hören – darf ich ihn lesen!«
»Lesen Sie!« sagte Eberstein feierlich und wohlwollend, und Hans las:
»›Und nun zum Schluß noch eine Mitteilung, die besonders unsre Leserinnen interessieren wird. Es ist dem jungen Künstler wohl Herzenssache gewesen, als er dem Ritter mit dem Eberwappen gerade diese Züge lieh, da er im Begriff steht, sich mit der einzigen Tochter des genannten Freiherrn zu verehelichen –‹«
»Halt – das lassen Sie nicht abdrucken – das dementieren Sie!« rief der alte Herr erschrocken; aber Hans drückte ihm ohne Umstände die Zeitung in die Hand und zog hinter dem Bilde etwas hervor, das sich bei näherer Betrachtung als Fräulein Gerlinde von Eberstein erwies. Da stand es, das kleine Dornröschen, nicht mehr so ganz kindlich wie vor zwei Jahren, aber in seiner ganzen Lieblichkeit, und hob bittend Augen und Hände zu dem Vater empor.
»O Papa, sei doch nicht so grausam – ich habe meinen Hans so lieb!«
»Habe ich es nicht gesagt, da stecken sie wieder beisammen!« rief der Professor vortretend. »Herr von Eberstein, es wird uns wohl nichts andres übrigbleiben, als ›ja‹ zu sagen. Mein Hans setzt doch seinen Willen durch, das sehen Sie nun wohl, und das zarte kleine Ding, Ihre Tochter, ist im stande, sich über die Trennung zu Tode zu grämen. Dann ist sie hin, und Sie sitzen allein da mit Ihrem ganz reinen Stammbaum.«
»Das wäre schrecklich!« sagte Eberstein mit einem entsetzten Blick auf sein einziges Kind.
»Also – machen wir die Geschichte ab!« Damit umfaßte Wehlau die junge Dame und gab ihr einen väterlichen Kuß; für ihn war die Sache damit wirklich abgemacht.
Der alte Freiherr wußte nicht, wie ihm geschah; er wurde im vollsten Sinne des Wortes überrumpelt. Urplötzlich hatte er Tochter und Schwiegersohn in den Armen; Gerlinde schluchzte an seiner Brust, und Hans umarmte herzhaft seinen »lieben Schwiegervater«.
Ein Widerstand war gar nicht möglich; es blieb wirklich nichts weiter übrig, als die beiden an sich zu drücken, und das geschah denn auch.
Udo von Eberstein willigte ein. Der künftige Sohn wahrte trotz alledem die Erinnerung an das alte Geschlecht, wenn auch mit Pinsel und Palette. –
In den letzten Tagen des Juli fand in der Wallfahrtskirche zu Sankt Michael eine Trauung statt, eine äußerlich stille und ernste Feier: die Vermählung des Hauptmanns Michael Rodenberg mit der Gräfin Hertha Steinrück. Da Michael protestantisch war, wie sein Großvater und seine Mutter, so hatte die evangelische Trauung bereits auf Schloß Steinrück stattgefunden. Jetzt solle in Gegenwart eines kleinen Familienkreises, unter welchem sich auch das junge Brautpaar Hans und Gerlinde befand, der greise Pfarrer des kleinen Alpendorfes auch vor dem Altar seiner Kirche die Hände der beiden ineinander legen, nach ihrem ausdrücklichen Wunsch. –
Die Adlerwand stand noch umschleiert vom Morgenduft, der sich jetzt zu lichten begann und sich als weißer Wolkenschleier zu ihren Füßen legte: da hallte der Glockenklang des alten Gotteshauses weit hinaus in die Berge, und auf Michael und sein junges Weib, die jetzt vereint waren für das Leben, blickte das Altarbild nieder, der mächtige, kriegerische Erzengel mit den Adlerflügeln und den Flammenaugen, der siegreiche Heerführer des Himmels – Sankt Michael!
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