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Die Nebelschleier, die so lange und dicht auf den Bergen gelegen hatten, begannen sich zu lichten, das unaufhörliche Rauschen und Rieseln des Regens war verstummt, und hoch oben am Himmel schimmerte zwischen jagenden Wolken das erste Blau.
In der offenen Glasthür, die auf eine breite, steinerne Terrasse führte, stand ein Herr und blickte in das Nebelwogen da draußen. Von der Landschaft war noch nicht viel zu sehen, ein Stück des Sees, der dort unten lag, halb verschleierte Wälder und die undeutlichen Umrisse einzelner Berge, die auftauchten und wieder verschwanden. Das alles dampfte und gärte im Regendunst, aber der Beobachtende wandte sich nach dem Zimmer zurück und sagte mit voller Bestimmtheit: »Der Wind ist umgesprungen! Der Wetterumschlag ist da!«
»Gott sei Dank!« klang die Antwort einer Dame, die in einem hohen Lehnstuhl saß und jetzt die Handarbeit sinken ließ, mit der sie beschäftigt war. »Diese Landschaft mit ihren endlosen Wäldern ist bei Regenwetter unglaublich melancholisch!«
»Mein Restovicz gefällt dir nicht? Ich habe es vorausgesehen,« entgegnete der Herr, indem er an ihrer Seite Platz nahm.
»Es ist weit großartiger, als ich es mir vorgestellt habe. Du hast dich ja in deinen kurzen, flüchtigen Briefen nie auf Einzelheiten eingelassen, du schriebst nur von einem größeren Gute, das du gekauft hättest. Es klang ja auch ganz stattlich ›Ulrich von Berneck auf Restovicz!‹ Daß du aber hier auf einer förmlichen Herrschaft sitzest, in einem alten Slowenenschlosse und ein ganzes Heer von Leuten kommandierst, das erfahre ich erst jetzt. Wenn das alles nur nicht so düster und fremdartig wäre! Es macht mir einen beinahe unheimlichen Eindruck.«
Die Bemerkung war, wenigstens für die nächste Umgebung, durchaus zutreffend. Das hohe Gemach, mit den dunklen Ledertapeten und tiefen Fensternischen, dessen Einrichtung offenbar noch aus alter Zeit stammte, mochte bei hellem Sonnenschein behaglicher sein. Heut, in dem trüben Lichte des Regennachmittags, sah es sehr düster aus, und der Ausblick in die Nebellandschaft da draußen war auch nicht erheiternd. Die Dame, im dunklen Seidenkleide, ein schwarzes Spitzentuch über dem schon ergrauten Haar, war eine vornehme Erscheinung, aber sehr kühl und gemessen in Haltung und Sprache. Dieselbe kühle beobachtende Ruhe lag auch in dem Blick, der langsam durch das Zimmer glitt und dann auf dem Gutsherrn haften blieb.
Ulrich von Berneck, eine hohe, sehnige Gestalt, war bereits über die Jugend hinaus. Er sah vielleicht älter aus, als er in der That war, und das volle dunkelblonde Haar zeigte schon einen leichten grauen Schimmer an den Schläfen. Das Gesicht wäre anziehend gewesen ohne den Ausdruck herber Verschlossenheit, der ihm ein beinahe feindseliges Gepräge gab. Auch in den dunkelgrauen Augen lag etwas Finsteres, Herbes, und das Lächeln schien diesen Zügen überhaupt fremd zu sein. Er trug die hier allgemein übliche Bergtracht, aber der Anzug wie die Haltung verrieten eine gewisse Nachlässigkeit. Der Mann gab offenbar nicht viel auf äußere Formen, und trotzdem sah man es auf den ersten Blick, daß er den höheren Kreisen angehörte.
»Es ist allerdings nichts für eine verwöhnte Großstädterin,« sagte er, an die letzte Bemerkung anknüpfend. »Ich kenne ja den Geschmack meiner Tante Almers und habe es auch deshalb gar nicht gewagt, sie einzuladen.«
»Nein, du ließest es darauf ankommen, daß ich ungeladen kam – und vielleicht unwillkommen!« erwiderte Frau Almers mit einiger Schärfe.
»Aber Tante, ich bitte dich!«
»Nun, ich wollte doch wenigstens sehen, wo und wie du lebst. Aber, offen gestanden, Ulrich, ich begreife nicht, wie du auf die Idee gekommen bist, dich gerade hier anzukaufen, hier an der Grenze der Kultur, wo du gar keinen Verkehr, gar keine geistige Anregung hast. Wie kannst du das nur aushalten?«
Berneck zuckte die Achseln. »Aushalten? Ich habe bisher so viel zu thun gehabt, daß ich noch gar nicht zum Bewußtsein meiner Einsamkeit gekommen bin. Und ich brauchte vor allen Dingen Arbeit!«
»Die hättest du auch bei uns gefunden. Wenn du nun einmal durchaus nicht in Auenfeld bleiben wolltest, so konntest du ein anderes Gut in der Heimat kaufen und es selbst bewirtschaften.«
»Jawohl, eins von unseren Mustergütern!« spottete Ulrich. »Wo es das ganze Jahr nach der Schablone geht und jeder Inspektor den Herrn ersetzen kann, weil es nur darauf ankommt, die Arbeitsmaschine in Gang zu halten. Das ist ja sehr bequem und behaglich, aber es füllt doch nicht das Leben aus!«
»Es hat doch früher das deinige ausgefüllt,« warf Frau Almers ein.
»Auenfeld war meine Heimat, da war ich geboren und aufgewachsen. Das liebt man doch!«
»Und trotzdem hast du es aufgegeben? Ulrich, ich begreife ja, daß jener unselige Vorfall dich schwer getroffen hat. Aber deshalb Haus und Hof verkaufen, mit all den früheren Beziehungen brechen und in die Fremde hinausgehen – das geht wirklich zu weit. Du warst doch schuldlos an der ganzen Sache und konntest –«
»Schweig! Ich bitte dich!« unterbrach Berneck sie jäh und mit so wild auflodernder Heftigkeit, daß sie verstummte. Er war aufgesprungen und trat mit einer stürmischen Bewegung wieder an die offene Thür. Die Tante schüttelte mehr unwillig als erschrocken den Kopf.
»Hast du das noch immer nicht überwunden?« fragte sie halblaut.
»Nein!« klang es dumpf zurück.
»So lassen wir es ruhen! In dem Punkte ist nun einmal nicht mit dir zu rechten, sprechen wir von anderen Dingen! – Ich begreife nicht, daß Paula sich noch nicht gemeldet hat, sie weiß es doch, daß sie zur Theestunde zurück sein muß.«
Frau Almers wechselte den Gegenstand des Gespräches so ruhig, als sei ihr das jähe Auffahren ihres Neffen völlig entgangen. Er wandte sich langsam um und nahm seinen früheren Platz wieder ein, aber es stand eine finstere Falte auf seiner Stirn.
»Fräulein Dietwald scheut weder Wind noch Wetter,« sagte er, sich zu dem gleichen Ton zwingend. »Ich sah sie vor zwei Stunden fortgehen, mitten im Regensturm, und das schien ihr außerordentlichen Spaß zu machen.«
»Ja, sie ist noch ein halbes Kind, eigentlich viel zu jung für die Stellung einer Gesellschafterin. Ich muß da vieles übersehen und habe oft genug zu tadeln, aber hier lagen besondere Verhältnisse vor. Paulas Mutter war meine Jugendfreundin und hat eine Thorheit, die sie mit siebzehn Jahren beging, ihr ganzes Leben lang büßen müssen. Sie hätte eine sehr gute Partie machen können, aber sie schlug das aus und schloß eine sogenannte Liebesheirat, mit einem blutarmen Künstler. Das rächte sich natürlich. Ihre ganze Ehe war nur eine Kette von Sorgen und Enttäuschungen, und als der Mann starb, blieb sie in voller Armut zurück.«
In der kurzen Schilderung lag das ganze tragische Schicksal einer Frau, die ihre Liebe über die Berechnung gestellt und das nun »gebüßt« hatte. Aber Frau Almers erzählte es so gelassen wie jede andere Geschichte, sie schien diesen Ausgang ganz natürlich zu finden. Berneck erwiderte nichts, aber die Falten auf seiner Stirn vertieften sich nur noch mehr, während seine Tante fortfuhr: »Ich habe mich natürlich ihrer angenommen und sie unterstützt, und als Paula nach ihrem Tode ganz verwaist zurückblieb, nahm ich sie in mein Haus. Die Stelle meiner Gesellschafterin war ohnehin frei geworden, aber mir bleibt da, wie gesagt, noch manches zu wünschen übrig. Es stört dich doch nicht, daß ich das junge Mädchen mitgebracht habe? Ich bin so an eine Begleiterin gewöhnt.«
Sie warf die letzten Worte anscheinend ganz absichtslos hin, aber der scharfe, beobachtende Blick wich dabei nicht von dem Gesicht ihres Neffen, der sich jetzt mit einer raschen Bewegung emporrichtete.
»Spielen wir doch keine Komödie miteinander, Tante! Denkst du, ich weiß es nicht längst, weshalb du nach Restovicz gekommen bist, und weshalb du Paula Dietwald mitgebracht hast?«
»Wenn du es weißt – um so besser!« erklärte die Dame, ohne im mindesten aus der Fassung zu geraten. »Dann darf ich wohl auch offen sein und dir sagen, ich habe es längst bemerkt, daß du nicht gleichgültig geblieben bist.«
Berneck widersprach nicht, aber er antwortete auch nicht, sondern verharrte in seinem Schweigen.
»Du hast noch keinen Entschluß gefaßt? Ich finde das begreiflich, in deinen Jahren entscheidet man sich nicht so schnell; jetzt aber wirst du es doch thun müssen, denn unser Aufenthalt naht sich seinem Ende. Wenn du das Mädchen liebst – es liegt ja kein Hindernis vor – warum sprichst du dann nicht?«
»Weil ich nicht eine bloße Figur sein will in deinem Spiel, die von deiner Hand hin und her geschoben wird.«
»Ulrich!« Die Mahnung klang sehr unwillig, aber er fuhr mit voller Gereiztheit fort: »Nun ja, Tante, dir ist das Leben ja immer nur eine Art Schachspiel gewesen, wo man jeden Zug klug berechnet. Hier aber sind deine Figuren Menschen, die doch auch ihren Willen haben. Nimm dich in acht – du könntest diesmal matt gesetzt werden!«
»Von wem?« fragte Frau Almers mit unzerstörbarer Ruhe. »Willst du den Eigensinn so weit treiben, deine Neigung zu bekämpfen, nur weil der Plan in meinem Kopfe entstand? Das sähe dir schon ähnlich!«
»Ich sprach nicht von mir, sondern von deiner jungen Schutzbefohlenen.«
»Von Paula? Nun, da ist doch sicher kein Widerstand zu erwarten. Sie wird deine Werbung als das aufnehmen, was sie in der That ist für eine arme, abhängige Waise: als ein großes, unverhofftes Glück.«
»O gewiß!« sagte Ulrich mit tiefster Bitterkeit. »Sie wird vermutlich Ja sagen, um dieser Abhängigkeit zu entrinnen und eine reiche Frau zu werden. Der Gatte – nun, der wird dann als unvermeidliche Zugabe mit in Kauf genommen. Denkst du, daß ich das ertragen könnte?«
Frau Almers zuckte die Achseln. »Du mußt immer alles gleich auf die Spitze treiben! Unsere jungen Mädchen sind überhaupt nicht mehr romantisch veranlagt, und ich halte das für ein Glück, denn ich habe an Paulas Mutter ein trauriges Beispiel, wohin diese romantische Liebe führt, die nicht mit der Wirklichkeit und den Verhältnissen rechnet. Ich und deine Mutter, wir folgten bei unserer Vermählung in erster Linie den Wünschen unserer Eltern und haben das nie bereut. Paula wird sich dir völlig unterordnen, und das brauchst du, denn ein Mädchen, das Ansprüche machen kann, vergräbt sich nicht mit dir in diese Einsamkeit und hält nicht deine oft so düsteren Launen aus.«
»Das weiß ich, und deshalb ist es besser, ich bleibe allein!« sagte Berneck herb. »Warum willst du mich denn durchaus verheiraten?«
»Weil du auf dem Wege bist, ein ausgemachter Menschenfeind zu werden,« erklärte Frau Almers mit Nachdruck. »Weil du verwilderst, wenn du dich hier völlig einspinnst und nur mit deinen Untergebenen verkehrst. Du bist der einzige Sohn meiner Schwester und, da ich kinderlos bin, nach meinem Tode auch mein Erbe. Da habe ich wohl das Recht, einzugreifen. Wenn du mir einen Vorwurf daraus machen willst – ich werde ihn tragen!«
Die Worte hatten zum erstenmal einen Anflug wirklicher Wärme und Herzlichkeit. Man sah es deutlich: was diese Frau überhaupt an Herz besaß, das gehörte ihrem Neffen, dem einzigen, der ihr wirklich nahe stand. Das verfehlte nicht seinen Eindruck auf Ulrich, seine Stirn hellte sich auf und seine Stimme klang um vieles milder, als er antwortete: »Verzeih, Tante, du meinst es gut, aber was soll ich denn anfangen mit einer Frau, die nur Sonnenschein und Freude vom Leben verlangt? Paula fürchtet mich ja! Ich sehe es deutlich genug, wie scheu und befangen sie in meiner Gegenwart ist. Wenn ich nicht wüßte, wie sie mit dem alten Ullmann und den Schloßleuten verkehrt, ich würde ihr wahres Wesen gar nicht kennen.«
»Das ist deine eigene Schuld, du bist ihr gegenüber ja noch ernster und schweigsamer als sonst. Das Mädchen ahnt nichts von deiner Neigung. Wenn du es wünschest, werde ich mit ihr reden und dir dann –«
»Nein, nein!« fiel Berneck heftig ein. »Denkst du, ich bin nicht Manns genug, mir selbst die Entscheidung zu holen? Deute ihr nichts an! Ich will ihr Ja nicht der Ueberredung verdanken.«
»Wie du willst!« Frau Almers stand auf und legte ihre Handarbeit zusammen. »Dann zögere aber auch nicht länger mit deinem Entschluß. Ich habe noch einen Brief zu schreiben, werde aber zur Theestunde wieder hier sein. Also um fünf Uhr, wie gewöhnlich.«
Damit verließ sie das Zimmer. Die kluge Frau wußte sehr genau, daß jeder weitere Versuch, ihren Neffen zu beeinflussen, nur die entgegengesetzte Wirkung haben würde, aber sie hatte auch genug gesehen, um zu wissen, daß ihre Berechnung über Erwarten geglückt war. –
Als Ulrich von Berneck allein war, begann er langsam, aber unaufhörlich im Zimmer auf und nieder zu schreiten. Er wußte am besten, wie wenig seine düstere, verschlossene Natur für ein häusliches Glück geeignet war. Er hatte ja allein bleiben wollen, hatte seinen ganzen Lebensplan darauf gegründet, und nun kam solch ein junges Wesen mit lachenden Augen, und alle Vorsätze und Pläne zerstoben wie Spreu vor dem Winde. Man sah es, der Mann kämpfte schwer mit sich selber bei dieser stummen, rastlosen Wanderung. Der Unterschied der Jahre, die grenzenlose Verschiedenheit der Charaktere, der immer wiederkehrende Gedanke, daß er das Jawort, an dem er ja auch nicht zweifelte, nur seinem Reichtum, seiner Lebensstellung verdanken werde, das alles wühlte und gärte in ihm, und endlich sagte er halblaut: »Nein! Das wäre eine Thorheit – würde ein Unglück – Nein!«
Da klang draußen vom Garten her ein Lachen, so hell und frisch, wie es nur die Jugend kennt, und Ulrichs Fuß schien plötzlich am Boden zu wurzeln. Langsam wandte er das Haupt nach jener Richtung, und das herbe Nein!, das er eben gesprochen, wollte nicht standhalten vor jenem Laut. Frau Almers irrte doch, wenn sie nur eine Neigung bei ihrem Neffen voraussetzte. Das war mehr, das war eine Leidenschaft, gegen die sich seine Vernunft vergebens aufbäumte, sie war mächtiger als Wille und Kraft und behauptete auch jetzt ihr Recht. Sie flüsterte ihm zu, daß es feig sei, dem Entschluß aus dem Wege zu gehen, nicht einmal die entscheidende Frage zu stellen, und Ulrich wollte nicht feig sein. Mit einem raschen Entschluß richtete er sich empor und verließ das Zimmer.
Am Fuße der Terrasse stand ein alter weißhaariger Mann und sprach in einem halb respektvollen, halb väterlichen Tone zu dem jungen Mädchen, das sich, ganz unbekümmert um die Nässe, auf den Sockel der steinernen Treppe gesetzt hatte.
»Nein, Fräulein Paula, das ist zu arg! Da oben im Dollinawalde sind Sie gewesen? Bei diesem Wetter? Ich war ein einziges Mal da, aber ich probiere die Geschichte nicht zum zweitenmal. Das ist ja ein wahrer Gemsensteig, der von da zum See hinunterführt, Hals und Beine kann man dabei brechen!«
»Ja, ich habe auch so etwas von einer Gemsennatur!« lachte Paula. »Vorläufig habe ich all meine Gliedmaßen noch beisammen, naß bin ich freilich geworden, naß wie eine Wassernixe! Da schauen Sie nur her, Ullmann!«
Sie nahm das Filzhütchen ab und schwenkte es, so daß das in der Krempe angesammelte Wasser nach allen Richtungen sprühte. Ihr Anzug, ein dunkles, hochgeschürztes Lodenkleid und ein Jäckchen von dem gleichen Stoff, war allerdings reichlich getränkt mit Nässe, denn der Schirm, den sie in der Hand trug, hatte offenbar nur als Bergstock gedient, er zeigte noch die Spuren des aufgeweichten Bodens.
Die zierliche, geschmeidige Gestalt des jungen Mädchens hatte in der That etwas von dem schlanken, scheuen Wild des Hochgebirges. Das krause, dunkle Haar war noch feucht vom Regen, zerweht vom Winde, das Antlitz heiß gerötet von der Kletterpartie, und die Augen strahlten in dem ganzen hoffnungsfreudigen Glück der Jugend, der die Zukunft noch alles verheißt. Paula Dietwald war, ohne eigentlich schön zu sein, doch eine ungemein liebreizende Erscheinung, und als jetzt der erste Sonnenstrahl durch das Gewölk brach und einen leuchtenden Blitz über See und Berge hinsandte, da jubelte sie auf wie ein Kind: »Ach, die Sonne! Da ist sie endlich wieder!« »Es ist auch Zeit, sie hat fast eine Woche lang in den Wolken gesteckt,« sagte Ullmann. »Viel haben Sie nicht gehabt hier in Restovicz, Fräulein Paula, das Wetter war ja immer rauh und unfreundlich.«
»Und es war doch so schön!« rief Paula. »Ich bin ja zum erstenmal in den Bergen, ich habe ja immer nur in der großen lärmenden Stadt gelebt. Hier ist alles so frei, so mächtig! Sie wissen gar nicht, wie schön es war heut im Dollinawalde! Das sauste und brauste in den Tannenwipfeln, das wallte und wogte in den Bergen, und tief unten lag der See wie ein großes, weißes Nebelmeer. Das war alles so seltsam, so geheimnisvoll, als müßte irgend etwas auftauchen aus dem Nebel, irgend ein Märchen, das dann leibhaftig vor einem steht!«
»Ja, ja, mit achtzehn Jahren glaubt man noch an solchen Unsinn,« sagte der Alte mit gutmütigem Spott. »Und da klettert man auch noch umher in den Bergen, die der Herrgott nur zur Plage erschaffen hat. Erst geht es hinauf, dann wieder herunter, man wird müde und matt dabei und zerreißt sich die Stiefel. Und es gibt Menschen, die das aus reinen Vergnügen thun – ich kann's nicht begreifen!«
Das junge Mädchen lachte wieder hell auf bei diesem ärgerlichen Ausbruch.
»Ja, Ullmann, das glaube ich! Sie stehen ja förmlich auf dem Kriegsfuß mit den Bergen und leben doch mitten darin.«
»Ja, Gott sei's geklagt!« brummte Ullmann. »Aber ich habe die buckligen Länder mein Lebtag nicht leiden können. Da ist's anders in unserer lieben pommerschen Heimat! Da gibt es keinen Berg weit und breit, nichts als Felder, überall nur das schöne gesegnete Korn! Und mitten darin das Herrenhaus, mit den blitzblanken Fenstern, und ein Wirtschaftshof, an dem jeder Landmann seine Freude hat – aber hier! Wenn Sie nur wüßten, Fräulein, wie das hier aussah, als wir ankamen, die reine Räuberwirtschaft! Der Herr hat ja schon einigermaßen Ordnung geschafft in den fünf Jahren, aber ich glaube, er braucht zehn, um sein Restovicz nur menschlich zu machen.«
»Warum hat Herr von Berneck sein Auenfeld denn nur verkauft und ist hierher gegangen?« fragte Paula unbefangen. »Frau Almers schien auch nicht einverstanden damit zu sein.«
In dem Gesichte des Alten zeigte sich eine gewisse Verlegenheit, und er entgegnete ausweichend: »Das war so eine eigene Sache! Es war ihm verleidet worden, und er wollte fort, aber deshalb brauchte er doch nicht gerade in die Wildnis zu gehen, er konnte unter den Menschen bleiben. Aber das Volk hier, das ist ja eine Bande, bei der man seines Lebens nicht sicher ist! Der Herr und ich, wir werden sicher noch einmal totgeschlagen.«
»Um Gottes willen!« fuhr das junge Mädchen entsetzt auf. »Sind die Leute so schlimm?« »Wie man's nimmt! Gegen einen von ihrer Sorte sind sie es nicht, aber den Fremden hassen sie bis aufs Blut, und nun vollends Herrn Ulrich, der ihnen Zucht und Ordnung beibringt. Das kennen sie freilich nicht hier zu Lande; bei ihren früheren Herren, da konnten sie machen, was sie wollten, kein Mensch kümmerte sich darum, und wenn die ganze Wirtschaft dabei zum Teufel ging. Jetzt heißt es, Ordre parieren, jetzt werden sie regiert, daß es nur so eine Art hat! Zu mucksen wagen sie ja nicht, sie kennen den Herrn, aber wenn sie ihm hinterrücks etwas anthun können, dann geschieht's. Ich sage Ihnen, Fräulein, man wird hier keine Stunde seines Lebens froh!«
»Dann hätten Sie doch wenigstens in der Heimat bleiben sollen,« warf Paula ein, aber da richtete sich der Alte förmlich beleidigt auf.
»Ich werde doch Herrn Ulrich nicht allein lassen! Ich war schon bei seinen Eltern im Dienst und habe ihn auf dem Arm getragen, als er noch nicht laufen konnte. Er hat mir freilich gesagt, als er fortging: ›Ullmann, für dich ist reichlich gesorgt, wenn du hier bleiben willst,‹ aber da sagte ich: ›Das gibt's nicht, Herr Ulrich, ich gehe mit Ihnen bis ans Ende der Welt!‹ Ich war ja auch der einzige, den er mitgenommen hat, und so ziemlich ans Ende der Welt sind wir auch geraten.«
Das junge Mädchen hob nachdenklich den Blick empor zu den grauen Mauern des Schlosses, die wohl schon mehr als ein Jahrhundert überdauert hatten.
»Und nun hausen Sie das ganze Jahr allein hier, mit Ihrem Herrn und all den fremden Dienstleuten? Er könnte sich seine Leute doch aus Deutschland kommen lassen.«
Ullmann zuckte die Achseln. »Er will ja nicht, er sagt, sie passen nicht hierher, aber ich weiß es besser. Er will eben nichts mehr hören und sehen von da oben. Es ist ja auch das erste Mal in den fünf Jahren, daß wir Besuch haben. Die gnädige Frau – nun die ist freilich sehr vornehm, für die ist unsereins kaum vorhanden, aber Sie, Fräulein Paula! Mit Ihnen ist doch der leibhaftige Sonnenschein gekommen; ich meine immer, es ist heller geworden in Restovicz, seit Sie da sind!«
Das Kompliment kam etwas ungeschickt, aber so treuherzig heraus, daß das junge Mädchen ihm lächelnd zunickte.
»Ja, Ullmann, wir beide sind schon recht gute Freunde geworden, aber der ›Sonnenschein‹ ist nur für Sie allein da. Da drinnen im Schlosse bin ich immer äußerst gesetzt und verständig. Frau Almers fordert das von ihrer Umgebung und nun vollends Herr von Berneck – da darf man doch nicht lachen und lustig sein. Ich glaube, wenn ich mich einmal dergleichen unterstände, er verwiese mich auf der Stelle aus seinem Restovicz.«
»Nun, so schlimm ist es nicht,« meinte der Alte. »Ernst ist er freilich, und das Lachen hat er ganz verlernt, aber früher, da konnte er es gerade so gut wie Sie. Haben Sie einmal das Bild angeschaut, das da oben im großen Saale hängt, gleich rechts am Eingang? Den Jägersmann mit dem grünen Spitzhut und der Büchse in der Hand? So hat er ausgesehen, noch vor neun Jahren!«
»Das Jägerbild?« fragte Paula betroffen. »Jawohl, das kenne ich! Aber das soll doch nicht etwa Herr von Berneck sein?«
»Natürlich ist er es, und das Bild war sehr ähnlich damals.«
»Der junge Jäger? Aber wie alt ist er denn eigentlich jetzt?«
»Gerade siebenunddreißig! Das wundert Sie, Fräulein? Ja, er sieht freilich um zehn Jahre älter aus. Damals war er eben ein junger, lustiger Patron, den alle Welt gern hatte, und es fehlte ihm auch nichts im Leben. Die Eltern waren ja früh gestorben, aber sie hatten ihm das schöne Auenfeld hinterlassen, und die reiche Tante in Berlin war kinderlos, deren Erbe wurde er auch einmal. Sie hätten ihn nur sehen sollen, unseren Jungherrn, wenn er durch die Felder ritt oder in den Wald zog mit seiner Büchse. Er konnte ja nicht leben ohne seine geliebte Jagd, und er war der beste Schütze weit und breit. Was ihm vor den Lauf kam, das traf er – ja, das waren andere Zeiten!«
Paula hörte halb gefesselt, halb ungläubig zu und war eben im Begriff, eine Frage zu thun, als auf den Steinfliesen der Terrasse ein lauter Schritt hörbar wurde und Berneck selbst die Freitreppe herunterkam. Er verneigte sich flüchtig gegen das junge Mädchen und wandte sich dann an Ullmann.
»Bist du schon drüben in den Ställen gewesen? Du solltest ja nachsehen, wie es meinem Rappen geht nach dem Fehltritt, den er gestern gethan hat. Du weißt doch, daß auf das Stallpersonal kein Verlaß ist.«
Ullmann wußte das allerdings und ging nun schleunigst nach den Ställen hinüber. Paula hatte sich erhoben; aber als der Schloßherr jetzt rasch auf sie zutreten wollte, wich sie mit sichtbarer Scheu zurück. Er hielt sofort inne.
»Sie haben dem Sturm und Regen getrotzt?« fragte er mit verhaltener Stimme. »Waren Sie weit hinaus?«
»Ich war im Dollinawalde.«
»Und da haben Sie vermutlich den Abstieg nach dem See genommen, sonst könnten Sie noch nicht zurück sein. Das ist aber kein Weg für zarte Mädchenfüße.«
»Ich bin nicht so zart und verweichlicht, wie Sie glauben, Herr von Berneck,« sagte Paula mit einem Anfluge von Trotz.
»Ich habe nicht von Verweichlichung gesprochen. Der Dollinawald bei solchem Wetter, und der Steig da an der Felswand herunter, das ist eine Leistung selbst für mich, und Sie sind zum erstenmal in den Bergen, soviel ich weiß.«
»Jawohl!«
Ulrich biß sich auf die Lippen. Seine Tante hatte ja recht, er durfte nicht immer so schweigsam sein, wo er doch werben wollte; aber bei jedem Versuch einer Annäherung traf er immer nur auf dies scheue Ausweichen, und das nahm ihm den Mut.
Paula stand stumm und befangen vor ihm. Sie war sonst nichts weniger als furchtsam, allein dies dunkle, rätselhafte Gefühl, das sich ihr in der Nähe dieses Mannes immer so seltsam und beklemmend auf die Brust legte, mußte doch wohl Furcht sein. Und wenn vollends seine düsteren, grauen Augen so unverwandt auf ihr ruhten wie eben jetzt, dann war sie wie unter einem Bann, dem sich nicht entfliehen ließ.
Nach einem sekundenlangen Schweigen hob Ulrich wieder an: »Im Sommer sind unsere Bergwälder sehr schön. Im Winter freilich, wenn alles ringsum verschneit ist, sind sie pfadlos. Ich bin trotzdem täglich draußen.«
»Sie jagen vermutlich täglich?« fragte das junge Mädchen, mit einem Versuch, der beklommenen Stimmung Herr zu werden. »Ich habe ja das Bild gesehen, das Sie in voller Weidmannstracht darstellt. Es stammt wohl noch aus Auenfeld?«
»Ja!« versetzte Berneck kurz.
»Mich wundert nur, daß es da oben in dem großen Saale hängt, der, wie Ullmann sagt, fast das ganze Jahr nicht betreten wird. Es gehörte doch in Ihre Zimmer!«
»Ich mag das Bild nicht! Es ist längst nicht mehr ähnlich, und es stammt überhaupt aus einer Zeit, die weit hinter mir liegt.« Das klang seltsam abweisend, beinahe rauh, als hätte die einfache Bemerkung ihn verletzt, und dann schwieg er wieder. Paula kannte bereits die langen Pausen im Gespräch mit dem Schloßherrn, die er gar nicht zu empfinden schien, und um nur etwas zu sagen, fuhr sie fort: »Ich begreife es, daß Restovicz gerade für Sie einen eigenen Reiz hat. Ullmann erzählte mir vorhin, welch ein leidenschaftlicher Jäger Sie sind. In diesen weiten, tiefen Forsten muß es sich ja prächtig jagen lassen.«
Berneck wandte sich ab und blickte nach den Ställen hinüber, »Gewiß – aber ich jage nicht mehr!«
»Sie jagen nicht mehr? Und Ullmann sagte mir doch –«
»Er sprach von früheren Zeiten. Ich habe die Jagd völlig aufgegeben, schon seit Jahren, sie reizt mich nicht mehr!«
Paula sah ihn betroffen und fragend an. Es war wieder der herbe Ton von vorhin und der harte, feindselige Ausdruck in seinen Zügen. Sie hatte eine dunkle Empfindung, als dürfte sie diesen Punkt nicht weiter berühren. Es war freilich nicht das erste Mal, daß Ulrich Berneck ihr rätselhaft und unverständlich erschien. Sie hatte diese plötzlich hervortretende Schroffheit schon öfter bemerkt, mitten im Gespräch, ohne daß sich irgend ein Grund erraten ließ, aber es vermehrte nur das unheimliche Gefühl, das sie stets in seiner Nähe hatte.
Da ließ sich eine fremde Stimme hinter ihnen vernehmen, die in slowenischer Sprache einige Worte sagte. Berneck wandte sich rasch um und runzelte die Stirn, als er den Mann gewahrte, der eben aus den Gebüschen hervorgetreten war.
»Was wollt Ihr, Zarzo?« fragte er.
Zarzo verbeugte sich tief und unterwürfig und kam näher. Er sprach von neuem, aber der Schloßherr unterbrach ihn kurz und befehlend: »Sprecht deutsch! Ihr wißt doch, daß ich nicht anders rede mit den Leuten, die es verstehen, und Ihr versteht es sehr gut. Also, was gibt es?«
Der Mann, ein stattlicher Bursche, in dessen Gesicht sich die charakteristischen Züge seines Volkes scharf ausprägten, war in der Landestracht, die hier in den Bergwäldern auch für Jäger unvermeidlich war; aber er trug die Abzeichen der herrschaftlichen Förster und hatte eine Büchse über die Schulter gehängt. Das schwarze Haar fiel schlicht und straff zu beiden Seiten nieder, doch der Ausdruck der schwarzen, brennenden Augen stimmte nicht zu dem unterwürfigen, ja kriechenden Wesen, mit dem er sich dem Gutsherrn nahte. Er sprach übrigens das Deutsche ganz geläufig, das zeigte sich jetzt, wo er sich dazu bequemte.
»Ich wollte den gnädigen Herrn noch einmal bitten – ich soll ja doch fort aus Restovicz.«
»In acht Tagen – jawohl!«
»Ich weiß, gnädiger Herr, ich weiß. Aber ich habe immer gemeint, Sie nehmen es noch zurück.«
»Nein!« sagte Berneck hart und bestimmt. Aus den Augen des Slowenen schoß ein seltsamer Blick, aber er bewahrte seine demütige Haltung.
»Es geschieht nimmer wieder, bei meiner Seele! Wenn der Herr es mir nur noch diesmal verzeiht.«
»Ungehorsam und Widersetzlichkeit verzeihe ich nie, und am wenigsten das Wort, das da gefallen ist. Ihr wißt es doch wohl noch, Zarzo?«
Die Augen des Försters suchten scheu den Boden, aber er legte beteuernd die Hand auf die Brust.
»Bei meiner Seligkeit, nein! Ich weiß gar nicht mehr, was ich an dem Tage geredet und gethan habe. Ich war ja ganz –«
»Betrunken waret Ihr,« ergänzte Berneck kalt. »Das sah ich, sonst hätte ich es nicht bei der bloßen Entlassung bewenden lassen. Aber bewußt oder nicht! Ihr verlaßt Restovicz und laßt Euch nicht wieder hier blicken!«
Paula war seitwärts getreten, ungewiß, ob sie gehen oder bleiben sollte. Es war das erste Mal, daß sie den Gutsherrn im Verkehr mit den Leuten sah, die nicht unmittelbar zu der Schloßdienerschaft gehörten, und der Eindruck war kein wohlthuender. Er stand vor dem Slowenen, in jedem Zoll der strenge Gebieter, der keine Nachsicht und kein Verzeihen kennt. Zarzo ließ sich trotzdem nicht abschrecken. Er warf sich seinem Herrn zu Füßen, er bat und flehte, bald deutsch, bald slowenisch, und schwor hoch und teuer, er werde nie wieder ungehorsam sein. Er winselte in allen Tonarten, aber die wilde, versteckte Tücke, die dabei in seinen Augen lauerte, entging dem jungen Mädchen, das auf den Stufen der Terrasse stand. Berneck blieb völlig ungerührt dabei, er hatte nur ein verächtliches Schweigen für all die Bitten und Beteuerungen, endlich hob er gebieterisch die Hand und zeigte auf den Weg.
»Hinaus! Ich will nichts weiter hören. Es bleibt bei meinem Befehl!«
Zarzo erhob sich, er mochte endlich einsehen, daß jeder weitere Versuch nutzlos sei, aber als er sich jetzt zum Gehen wandte, schoß er einen Blick auf seinen Herrn, in dem sich wild aufflammender Haß und dämonische Tücke mischten – in der nächsten Minute verschwand er im Gebüsch.
Ulrich wandte sich zu dem jungen Mädchen, so gelassen wie vorhin, die Scene schien ihn nicht im mindesten erregt zu haben.
»Ich bedaure, daß Sie das mit anhören mußten –«, er hielt plötzlich inne, und mit einem forschenden Blick auf ihr Gesicht setzte er langsam hinzu: »Sie halten mich wohl für sehr hart und unbarmherzig?«
»Ja!« sagte Paula mit herber Aufrichtigkeit.
Ulrich stutzte, er hörte diesen Ton zum erstenmal von den Lippen des jungen Mädchens, das er meist nur in Gegenwart seiner Tante sah. Es schien ihn zu überraschen, und seine Antwort klang wie eine halbe Entschuldigung.
»Sie kennen das Volk hier nicht. Lasse ich ein einziges Mal eine offene Widersetzlichkeit hingehen, wie Zarzo sie versuchte, so ist meine Autorität rettungslos verloren bei den anderen, und keiner gehorcht mir mehr. Sie wollen eben mit eiserner Hand regiert sein, das ist nicht zu ändern.«
»Aber der Mann lag Ihnen zu Füßen,« es klang ein unverhüllter Vorwurf aus den Worten, »er bat und flehte wie ein Verzweifelter!«
»Jawohl, er winselte beweglich genug, aber das würde ihn nicht abhalten, mich in der nächsten Stunde niederzuschießen, wenn es straflos geschehen kann. Ob ich da gewähre oder versage, das gilt gleich. Ihm bin ich ja nicht der Herr, der ihm Brot gibt, sondern der Fremde, der hier eingedrungen ist, und den er und seinesgleichen hassen bis aufs Blut. Wissen Sie, wie das Wort lautete, das er mir damals zurief, als ich mir gewaltsam Gehorsam verschaffte? ›Das werde ich dir gedenken, du deutscher Hund!‹ Würden Sie das verzeihen?«
»Nein!« sagte Paula gepreßt. »Aber der Mann war betrunken, Sie sagten es ja selbst.«
»Gewiß, er wußte nicht mehr, was er sprach, sonst hätte er es auch nicht gewagt. Der Bursche ist feig, das sind sie freilich alle, aber sie nennen mich überhaupt nicht anders, wenn sie unter sich sind. Ich weiß das sehr genau.«
»Und unter diesen Menschen leben Sie – freiwillig?« fragte das junge Mädchen mit unverhehlter Entrüstung.
Er zuckte die Achseln. »Daran gewöhnt man sich! Das scheint Ihnen unbegreiflich! Oder vielmehr, Sie meinen, man muß schon zum Tyrannen angelegt sein, um sich daran zu gewöhnen? Geben Sie sich keine Mühe, das zu leugnen, ich lese es deutlich genug auf Ihrem Gesichte.«
Paula verneigte sich kühl und gemessen. »Entschuldigen Sie mich, Herr von Berneck, ich muß in das Schloß. Frau Almers liebt es nicht, wenn ich unpünktlich bin, und ich muß mich noch umkleiden zur Theestunde. Also verzeihen Sie!«
Damit eilte sie die Stufen hinauf und verschwand im Terrassenzimmer. Ulrich stützte sich auf den steinernen Pfeiler, an dem sie vorhin gesessen hatte, und sah ihr nach.
»Daß sie auch dabei sein mußte!« murmelte er halblaut. »Jetzt habe ich vollends verspielt bei ihr!«
Es lag ein unendlich bitterer Ausdruck auf dem Gesichte des Mannes, der es nur zu tief fühlte, daß er und seine Persönlichkeit nicht gemacht waren, einer Frau zu gefallen. Dies Bewußtsein war es ja, was ihm bisher die Lippen geschlossen hatte dem Mädchen gegenüber, das er liebte mit der ganzen Glut einer spät erwachten Leidenschaft. Er täuschte sich durchaus nicht über den Eindruck, den jene Scene auf sie machte, er hatte ihr die Empfindungen vom Gesicht abgelesen. Wenn sie bisher den düsteren, unzugänglichen Mann gefürchtet hatte, so verabscheute sie jetzt in ihm den Tyrannen, der nur die Zuchtrute über seine Untergebenen schwang, und so sollte er mit einer Werbung vor sie hintreten?
Er würde trotz alledem wohl ein Jawort erhalten, die kluge Tante würde schon dafür sorgen, daß ihr Schützling in diesem Falle auch »vernünftig« war, und gerade dies Jawort fürchtete er. Der Traum von Glück, der wie ein leuchtender Schein in seiner Seele lag, sollte ihm beim Erwachen nur kalte, nüchterne Berechnung zeigen. Er wußte es ja, der Argwohn würde ihm keine ruhige Stunde lassen. In jedem Liebeswort, in jedem Lächeln würde er die Heuchelei sehen und ein Marterleben führen an der Seite eines jungen Weibes, dessen Hand er nur seinem Reichtum verdankte. Mit einer jähen Bewegung richtete er sich empor, als wollte er die Gedanken abschütteln, die ihm sein »Glück« in diesem Lichte zeigten.
»Vielleicht war es am besten so!« sagte er finster. »Dann ist es ein für allemal zu Ende mit der Thorheit – und mit dem Träumen!«
Das Wetter hatte sich in der That aufgehellt. In den Thälern und auf dem See lagerten noch die Nebel, aber die Berge waren klar geworden, und die Sonne hatte sich Bahn gebrochen durch das Gewölk. Sie neigte sich jetzt schon dem Untergange zu und erfüllte das vorhin so düstere Terrassenzimmer mit ihren rötlichen Strahlen.
Die Unterhaltung am Theetisch war nicht besonders lebhaft gewesen. Frau Almers beherrschte sie fast allein, denn Ulrich zeigte die gewohnte Schweigsamkeit und Paula, die den Thee bereitete, mischte sich fast gar nicht in das Gespräch. Sie war freilich hier im Schlosse eine völlig andere als draußen in dem unbefangenen Verkehr mit dem alten Diener. Das zerwehte Haar war sorgfältig geordnet, der nasse Anzug durch ein leichtes, helles Sommerkleid ersetzt und der kleine rosige Mund, der vorhin so lustig gelacht und geplaudert hatte, schwieg hier äußerst »gesetzt und verständig«. Frau Almers verstand es schon, ihrer Umgebung die weitestgehenden Rücksichten aufzuerlegen. Paula war ihr Schützling, die Tochter ihrer Jugendfreundin, aber sie mußte es doch oft genug empfinden, daß die Beschützerin im Grunde eine Herrin war.
Erst hier in Restovicz hatte sich das einigermaßen geändert. Sonst wäre es dem jungen Mädchen nicht gestattet worden, stundenlange Spaziergänge allein zu machen oder mit Ullmann zu plaudern, wenn Berneck seiner Tante Gesellschaft leistete – jetzt wurde ihr das zugestanden. Sie hatte freilich keine Ahnung davon, daß die Dame bereits in ihr die künftige Braut ihres Neffen sah und dem Rechnung trug. Mit dem frohen, leichten Sinne der Jugend nahm sie die ungewohnte Güte und Nachsicht hin wie ein Geschenk, ohne viel zu fragen, woher es stammte. Man war schließlich auf Restovicz und die hiesigen Verhältnisse gekommen, das einzige Thema, bei dem Ulrich mitteilsamer wurde. Er hatte sein Notizbuch hervorgezogen und darin geblättert, um irgend eine Frage seiner Tante zu beantworten, und sagte jetzt, im Anschluß daran: »Ja, es ist ein wahrer Spottpreis, den ich für die Herrschaft gezahlt habe, bei uns daheim kauft man höchstens ein mäßiges Gut dafür. Aber mein Vorgänger hatte es gemacht wie die meisten seiner hiesigen Standesgenossen. Der Besitz war schon tief verschuldet, als er ihn erbte, allein das störte ihn nicht in seinem Vergnügen. Es wurde in der alten Art fortgewirtschaftet, gejagt, gespielt, getrunken und mit einem Heer von Gästen auf großem Fuße gelebt. Die Beamten und das Dienstvolk thaten, was ihnen gerade beliebte, und stahlen dabei, wo sie nur wußten und konnten, bis es dann eines Tages nicht weiter ging. Da wurde der Besitz einfach verschleudert. Es war die höchste Zeit, daß er in feste Hand kam! Ich werde noch einmal fünf Jahre brauchen, ehe Restovicz das wird, was es werden kann und soll.«
»Aber hoffentlich kettest du dich nicht wieder so lange an deine Scholle,« fiel Frau Almers ein. »Jetzt im Sommer kommst du freilich kaum zu Atem. Ich sehe es ja, wie du den ganzen Tag lang reitest und fährst und kommandierst, aber im Winter rechne ich bestimmt auf einen Besuch, Ulrich. Da hast du doch hinreichend Zeit.«
»Schwerlich, Tante,« erwiderte er achselzuckend. »Restovicz will nicht nur bewirtschaftet, sondern auch regiert sein, und da darf ich die Zügel nicht locker lassen. Vorläufig bin ich noch immer im Kampf mit meinen Leuten, die sich nicht an Zucht und Ordnung gewöhnen können. Fräulein Dietwald wurde vorhin erst Zeuge einer unerquicklichen Scene, die ich mit einem meiner Förster hatte. Mir ist das freilich nichts Neues.«
Er blickte zu dem jungen Mädchen hinüber, als erwartete er irgend eine Aeußerung, doch Paula beschäftigte sich angelegentlich mit der Theemaschine und erwiderte keine Silbe. Frau Almers bemerkte das mit Mißfallen, sie hielt es natürlich für Schüchternheit, aber diese seltenen Annäherungen durften doch nicht so aufgenommen werden, es war Zeit, daß man da mit einer Aufklärung zu Hilfe kam.
Ulrich wußte sich dies Schweigen besser zu deuten. Er sah, daß ihm seine »Unbarmherzigkeit« gegen Zarzo noch nicht verziehen war, machte aber keinen Versuch, wieder einzulenken, sondern stand auf und erklärte, er müßte noch ausreiten, um einen Forstbestand zu besichtigen. Er verabschiedete sich kurz von den Damen und ging. –
Der Gutsherr war bereits fertig zu dem Ausritt und hatte eben Befehl gegeben, sein Pferd vorzuführen, als er das Notizbuch vermißte, das im Salon liegen geblieben war. Er ging also noch einmal hinüber, um es zu holen; aber als er die Thür des Vorzimmers öffnete, klang ihm Paulas Stimme entgegen, in so erregtem Laute, daß er betroffen stehen blieb: »Sie sind im Irrtum, gnädige Frau! Herr von Berneck hat mir das nie mit einem Worte oder auch nur mit einem Blick verraten. Sie müssen im Irrtum sein!« Ulrich begriff sofort: seine Tante hatte die Sache, die, ihrer Meinung nach, nicht von der Stelle kam, selbst in die Hand genommen und nach seiner Entfernung zur Sprache gebracht. Daß sie dabei seinem Wunsch und Willen direkt entgegen handelte, kam für sie nicht in Betracht, sie war es gewohnt, eigenmächtig zu handeln. Sie wollte ihrem Neffen den Weg ebnen, den er sich eigensinnig selbst verschloß, und griff nun mit voller Energie ein. Ihre kühle, gelassene Stimme bildete den vollsten Gegensatz zu der Erregung des jungen Mädchens.
»Ich weiß es, daß du keine Ahnung davon hattest, mein Kind, dennoch ist ein Irrtum hier ausgeschlossen. Ich habe die Sache mit meinem Neffen bereits erörtert und halte es jetzt doch für nötig, dich vorzubereiten, damit du nicht so fassungslos, so förmlich bestürzt bist wie in diesem Augenblick, wenn er mit seiner Werbung vor dich hintritt.«
Es erfolgte keine Antwort, das junge Mädchen schien in der That fassungslos zu sein. Ulrich Berneck hätte sich sonst nie mit dem Lauschen abgegeben, sondern sich sofort bemerklich gemacht, aber was war aus ihm geworden in den letzten Wochen! Wie oft hatte er nicht da draußen auf der Terrasse gestanden, unter dem hängenden Weinlaub verborgen, und zugehört, wenn Paula mit dem alten Ullmann lachte und plauderte. Da allein sah und hörte er sie ja, ohne den Zwang, den seine und der Tante Gegenwart ihr auferlegten, da hatte auch er den »Sonnenschein« kennen gelernt, und auch für ihn war es hell geworden in Restovicz. Nun konnte er es ja erfahren, wie seine Werbung aufgenommen wurde, noch ehe Ueberredung und Beeinflussung sich geltend machten, und das entschied. Er trat leise einen Schritt seitwärts, wo die geöffnete Thür ihm einen Einblick in den Salon gestattete.
Frau Almers saß noch am Theetische, der Thür den Rücken zuwendend, und Paula stand vor ihr, ganz umflimmert vom Lichte der Abendsonne, aber trotzdem eigentümlich bleich, mit großen, erschrockenen Augen.
»Ich begreife deine Ueberraschung vollkommen,« hob die Dame wieder an, die dies völlige Verstummen vor dem »großen, unverhofften Glück« ganz natürlich fand. »Ulrich hat dir allerdings bisher seine Gefühle nicht verraten, er ist eben kein Jüngling mehr, der da schwärmt und schmeichelt, doch dem Ernste seiner Neigung darfst du trauen. Das hättest du dir wohl nicht träumen lassen, daß dein künftiges Geschick sich hier in Restovicz entscheiden würde?«
»Nein, gnädige Frau!« kam es gepreßt von den Lippen des jungen Mädchens. Paula hatte ihre Beschützerin nie anders genannt und war auch nie aufgefordert worden, es zu thun. Jetzt wurde es ihr gnädig zugestanden: »Du wirst mich fortan ›Tante‹ nennen, mein Kind. Die Braut meines Neffen hat ein Recht darauf, und ich billige seine Wahl vollkommen. Ulrich braucht eine Frau, eine Gefährtin in seiner Einsamkeit, damit er sich der Welt und den Menschen nicht ganz entfremdet. Du bist mein Schützling und ich habe es deiner Mutter versprochen, für deine Zukunft zu sorgen. Daß sie sich so glänzend gestalten würde, hast du wohl nicht gehofft, aber ich bin überzeugt, du wirst dankbar dafür sein und dem Manne, der dir mit seiner Hand so viel bietet, nun auch mit voller Hingebung und Aufopferung lohnen.«
Das klang trotz des gütigen Tones doch sehr gönnerhaft. Es fiel der Dame gar nicht ein, nach der Einwilligung des jungen Mädchens zu fragen. Für sie war diese Verbindung bereits eine vollendete Thatsache, die selbstverständlich in Demut und Dankbarkeit hingenommen wurde. Paula stand noch immer vor ihr, blaß und bestürzt; endlich sagte sie leise, mit hörbar bebender Stimme: »Ich hatte in der That keine Ahnung davon, daß Herr von Berneck mir seine Neigung zuwendet. Sie sind sehr gütig, daß Sie mich bereits als Verwandte begrüßen, aber ich – ich kann das nicht annehmen.«
»Was kannst du nicht?« fragte Frau Almers ruhig, denn sie verstand die Antwort gar nicht.
»Das Ja aussprechen, das Sie und Ihr Neffe erwarten – ich kann nicht, gnädige Frau!«
Jetzt fuhr die Dame vom Stuhle auf. »Was soll das heißen? Willst du ihn etwa zurückweisen?«
»Ich liebe Herrn von Beineck nicht,« die Stimme des jungen Mädchens gewann zusehends an Festigkeit. »Wenn er wirklich beabsichtigt, mir seine Hand zu bieten, so bitte ich, ersparen Sie ihm und mir eine peinliche Stunde. Ich müßte Nein sagen.«
Frau Almers sah die Sprechende an, als zweifelte sie an deren Verstände, auf einmal aber kam ihr ein Gedanke, dem sie sofort Worte lieh.
»Du liebst einen anderen?« fragte sie scharf. »Du hast irgend eine heimliche Neigung? Ich wüßte zwar nicht, wie das möglich wäre, denn du hast seit zwei Jahren ausschließlich an meiner Seite gelebt, allein es ist die einzige Erklärung. Gestehe!«
»Ich habe nichts zu gestehen,« entgegnete Paula mit aufsteigendem Trotz. »Wenn ich eine Neigung hätte, so würde ich es offen bekennen, aber mir ist noch niemand so nahe getreten, daß ich ihn hätte lieben können.«
Die Worte trugen so sehr das Gepräge der Aufrichtigkeit, daß die Dame ihren Argwohn fahren ließ, aber sie erhob sich jetzt vollends, in zürnender Majestät: »Nun, dann weiß ich in der That nicht, was ich sagen und denken soll! Dir wird ein Glück geboten, wie es unter hundert Mädchen kaum einem zu teil wird, und du willst es von dir stoßen? Was hast du gegen Ulrich?«
»Ich habe nichts gegen Herrn von Berneck, aber ich kann auch kein Herz zu ihm fassen. Er hat mir immer wie ein Fremder gegenübergestanden.«
»Das ist kein Grund!« fiel Frau Almers entrüstet ein.
»Für Sie vielleicht nicht, gnädige Frau, aber für mich!«
Es war ein eigentümlich herber Ton, den die Dame gar nicht kannte an ihrer jungen Gesellschafterin. Sie ließ jenen Grund allerdings nicht gelten, denn ihr wie ihrer Schwester war der Gatte von den Eltern zugeführt worden. Man hatte für die ältere Tochter den reichen Gutsherrn Berneck bestimmt und für die jüngere den noch reicheren Industriellen Almers. Das Leben beider Frauen war in all dem Glänze und der Behaglichkeit verlaufen, den Vermögen und Lebensstellung nur geben können. Sie hatten das ganz natürlich gefunden und nichts vermißt. Und nun wagte es solch ein blutjunges und blutarmes Ding, die Hand eines Ulrich von Berneck zurückzuweisen, weil es ihn nicht liebte! Vielleicht war es der unbewußte Vorwurf in jener Antwort, der Frau Almers verletzte, ihre Stimme konnte eine eisige Schärfe annehmen, wenn sie gereizt war.
»Das Blut deiner Mutter scheint sich in dir zu regen, es ist, als ob ich Lena hörte! Gerade so sprach sie, als man ihr Vernunft predigen wollte, da sie einen reichen, angesehenen Mann zurückwies, um deinen Vater zu heiraten. Aber sie hatte wenigstens die Entschuldigung einer Jugendliebe, der sie dies Opfer brachte. Dein Herz ist noch frei! Bei dir ist es also nur romantische Ueberspanntheit, Phantasterei eines Mädchenkopfes! Denkst du, ich werde das so ohne weiteres hinnehmen? Du hast dir wohl noch gar nicht klar gemacht, daß dein Nein eine direkte Beleidigung für meinen Neffen ist?«
»Herr von Berneck wird mein Nein sehr ruhig hinnehmen,« sagte Paula mit einer tiefen, ihr sonst ganz fremden Bitterkeit. »Er hat sich ja nicht einmal die Mühe gegeben, mir seine Neigung zu zeigen, und er hält es auch nicht der Mühe wert, mich selbst zu fragen, sondern läßt mir einfach ankündigen, daß er mir seine Hand zugedacht hat. Nein, gnädige Frau, für eine solche Werbung habe ich kein Ja und für ihn am wenigsten!«
»Für ihn am wenigsten?« wiederholte Frau Almers entrüstet. »Was hast du dir denn eigentlich gedacht von der Werbung eines Mannes, der, wie Ulrich, sich seines Wertes und seiner Stellung bewußt ist? Sollte er vielleicht eine Romanscene mit dir spielen, vor dir auf die Kniee sinken und um deine Liebe flehen? Dergleichen kommt ja vor bei Männern, die eben nichts weiter zu geben haben als solche wohlfeile Tändeleien. Deine Mutter hat sie kennen gelernt in ihrer Brautzeit, leider lernte sie dann auch die Kehrseite der Medaille kennen – das ist immer das Ende solcher Romanspielereien!«
Dem jungen Mädchen schossen die heißen Thränen in die Augen bei dieser schonungslosen Hindeutung.
»Meine Eltern sind tot!« sagte sie leise. »Sie wissen es ja, daß mein armer Vater mitten in seinem Schaffen und Streben gelähmt wurde durch die schwere, jahrelange Krankheit, die ihm endlich den Tod brachte. Das war ein Unglück – und ich habe es doch so oft von Ihnen hören müssen, daß es ein verdientes Schicksal war. Er und meine Mutter waren ja arm, und sie wollten sich doch angehören. Das war ihre ganze Schuld!«
Es lag ein so bitteres Weh in den Worten, daß selbst die kalte, stolze Frau nicht unempfindlich dagegen blieb. Ihre Stimme milderte sich, als sie antwortete: »Ich habe dir nicht wehe thun wollen, Paula, ich wollte dich nur bewahren vor einem gleichen Schicksal. Du bist noch so jung und hast es doch schon erfahren, wie bitter das Leben sein kann. Du hast schon als Kind Kummer und Sorgen kennen gelernt in deinem Elternhause. Hast du vergessen, wer es war, der dich und deine Mutter vor dem Schlimmsten bewahrte, als die nackte, bittere Not vor euch stand?«
Paula senkte den Kopf, ihre Thränen versiegten, und kaum hörbar erwiderte sie: »Nein, gnädige Frau, ich habe es nicht vergessen. Ich weiß, was wir Ihnen danken!«
»Du zeigst mir aber nichts von dieser Dankbarkeit. Du weißt es, daß diese Verbindung mein Wunsch ist, daß ich damit auch dein Glück begründen will, und sträubst dich dagegen mit kindischem Eigensinn. Du kannst Ulrich nicht lieben? Was weißt du denn überhaupt von Liebe? Die findet sich bald genug in einer glücklichen Ehe, das habe ich an mir selbst erfahren. Du bist eine Waise, bist arm, und wenn ich meine Hand von dir abziehe, mußt du unter Fremden dein Brot suchen. Jetzt sollst du eine reiche, vornehme Frau werden, die Herrin von Restovicz, die Gattin eines Mannes, auf dessen Werbung du stolz sein kannst. Gibt es denn da überhaupt noch eine Wahl?«
Das wurde mit der ganzen kühlen Gelassenheit gesprochen, die der Dame eigen war, aber Paula kannte diesen Ton und wußte, daß sich die vollste Ungnade dahinter barg. Sie verstand auch die versteckte Drohung in den Worten: wenn ich meine Hand von dir abziehe! Die Scheu vor der Frau, die ihr im Grunde doch nur eine Gebieterin war, der langgewohnte Gehorsam, die Erinnerung an die empfangenen Wohlthaten – das alles schloß dem jungen Mädchen die Lippen und ließ Frau Almers glauben, daß der Widerstand bereits gebrochen sei.
»Wir sprechen morgen weiter darüber,« sagte sie, indem sie ihren Stuhl zurückschob. »Jetzt bist du ja noch ganz fassungslos, und ich verlange nicht, daß du dich augenblicklich entscheidest. Auf morgen also! Da wirst du mir eine andere Antwort geben!«
»Nein! Nein!« brach Paula plötzlich mit vollster Leidenschaftlichkeit aus. »Soll ich denn nicht einmal glauben dürfen an das Leben und an das Glück wie all die anderen, nur weil ich arm bin? Soll ich das alles begraben an der Seite eines Mannes, dessen ganzes Wesen mir fremd und unheimlich ist, der mir noch nicht ein warmes, herzliches Wort gesagt hat, der mir seine Hand bietet wie ein Gnadengeschenk. Es liegt etwas in ihm oder um ihn, irgend etwas Dunkles, das mich ängstigt. Ich werde nie Vertrauen zu ihm haben, ich fürchte schon seine bloße Nähe. Und dieses Mannes Frau soll ich werden? Das kann ich nicht, und wenn ich könnte, ich will nicht! Es suchen und finden ja so viele arme Mädchen ihr Brot in der Welt, ich werde es auch finden. Dann darf ich doch wenigstens noch träumen und hoffen auf ein Glück, das vielleicht nie kommt, aber es ist doch mein, solange ich darauf hoffe. Das gebe ich nicht hin für all den Reichtum Ihres Neffen – ich verkaufe mich nicht!« Es war, als habe dieser stürmische Ausbruch etwas in dem Mädchen befreit und erlöst, das sich nun gewaltsam Bahn schaffte. Sie stand da, wie zum Kampfe bereit, das vorhin so blasse Gesicht heiß gerötet, die Augen flammend in dem ganzen hoffnungsreichen Trotz der Jugend, die sich um ihr Glück und ihre Zukunft wehrt. Jener Trotz, den sie oft so hart büßen muß im Leben, und der doch ihr schönstes, heiligstes Vorrecht ist, weil er noch alles wagt und alles hofft.
Frau Almers hörte zu, als redete man zu ihr in einer fremden Sprache, dergleichen verstand sie einfach nicht, aber es wäre das erste Mal in ihrem Leben gewesen, daß sie einen wohlüberlegten und lange vorbereiteten Plan aufgegeben hätte, sie dachte nicht daran.
»Paula, du vergißt dich!« sagte sie schneidend, und der Ton legte sich wie ein Eishauch auf das heiße Aufflammen des jungen Mädchens. »Man sieht es, unter was für Einflüssen du aufgewachsen bist. Wenn ich dem nicht Rechnung tragen wollte, so würde ich dich jetzt dem Schicksal überlassen, das du dir selbst bereiten willst, dem harten Kampf mit dem Leben, an dem deine Eltern zu Grunde gegangen sind. Doch aus dir spricht mehr die Erziehung als die eigene Verblendung. – Wir bleiben noch vierzehn Tage in Restovicz, so lange hast du Bedenkzeit. Ich werde dich natürlich nicht zwingen, aber ich bin auch nicht gesonnen, Undankbarkeit und offene Auflehnung zu unterstützen. Bleibst du bei deinem Nein, dann müssen wir uns selbstverständlich trennen, weder ich, noch Ulrich werden eine solche Beleidigung hinnehmen. Ich stelle dir noch einmal die Wahl – hoffentlich kommst du zur Besinnung!«
Damit verließ sie das Zimmer. Paula blieb allein oder glaubte wenigstens allein zu sein, als sie jetzt beide Hände auf die Brust preßte und tief aufatmete. Sie ahnte nicht, daß da draußen im Vorzimmer der Blick eines Mannes wie gebannt an ihr hing, als sie so dastand, in der roten Abendsonne, die dunklen Augen halb verschleiert von Thränen, aber mit dem Ausdruck trotziger Energie in den sonst so weichen Zügen. Ulrich Berneck fühlte es in diesem Augenblick, wie sehr er das Mädchen unterschätzt hatte, und fühlte auch, was er verlor, ohne es je besessen zu haben.
Am Ufer des Sees, unterhalb des Schlosses von Restovicz, lag die Marienkapelle, ein altes Kirchlein, schmucklos und einfach, wie man es oft in den Bergen findet. Nur an einigen Wallfahrtstagen wurde dort Messe gelesen, und dann kamen auch wohl die Bewohner der nächsten Ortschaften, sonst lag das kleine Gotteshaus meist in stiller Einsamkeit. Eine Steintreppe mit tief eingesunkenen, moosbewachsenen Stufen führte vom See herauf, und dicht hinter den grauen Mauern begann der Wald, der den ganzen Schloßberg bedeckte.
Das Kirchlein war uralt. Vor ein paar hundert Jahren, bei einem Einfall der Türken, war es zerstört worden, bis auf die nackten Mauern, und die Glocke hatten die heidnischen Eroberer in den See gestürzt. Später, als wieder Friede im Lande war, hatte man die Marienkapelle wieder aufgebaut, aber die Glocke ruht noch heute da unten im See und an stillen Abenden klingt sie leise und geheimnisvoll, als flehe sie um Erlösung. Es war die alte Sage, die sich so oft wiederholt, sei es am Meeresstrande oder an den Ufern der einsamen Bergseen. Die feuchte Tiefe hat eben ihre seltsamen, rätselhaften Stimmen, und der Volksglaube schafft sich dann die Märchen dazu.
Auf einer schmalen, kunstlos gezimmerten Bank, die an der Kirchenmauer stand, saß Paula Dietwald und blickte träumend hinaus auf den See. Es war einer ihrer Lieblingsorte, sie kannte ja die ganze nähere und fernere Umgebung des Schlosses und hatte sie oft durchstreift, meist in den frühen Morgenstunden, die ihr allein gehörten, denn Frau Almers pflegte sehr lange zu schlafen. Sie waren so schön gewesen, diese sechs Wochen in Restovicz, hier war es dem jungen Mädchen zum erstenmal aufgegangen, wie eine Ahnung von Freiheit und Glück, und nun endete das mit einem solchen Mißklange!
Ueber den heutigen Tag hatte ja die Abwesenheit des Schloßherrn hinweggeholfen. Er hatte sich schon am Morgen bei seiner Tante entschuldigen lassen, er müßte in Geschäften nach der Stadt, die volle drei Stunden entfernt war, und würde erst gegen Abend zurückkommen. Paula hatte aufgeatmet bei der Ankündigung, aber das war doch nur für heute. Morgen ließ sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden, und das sollte so noch volle vierzehn Tage währen! Der eine Tag hatte dem jungen Mädchen bereits hinreichend gezeigt, was sie von der Ungnade ihrer Dame zu erwarten hatte.
Ein Ja aus ihrem Munde konnte freilich alles ändern. Dann war sie die Braut des Schloßherrn, die künftige Herrin von Restovicz und – das Eigentum jenes harten, finsteren Mannes, vor dem sie nur Furcht empfand. Nein, nein, nur das nicht! Lieber wollte sie hinausgehen unter Fremde, lieber alles ertragen, als sich selbst eine Kette schmieden, die sie dann unlösbar gefesselt hielt, das ganze Leben lang. Paula Dietwald war eben die Tochter ihrer Mutter, und die verkaufte sich nicht.
Der frische Ostwind, der gestern abend mitten in das Regengewölk hineingefahren war, hatte einen völligen Umschlag der Witterung gebracht. Ein leuchtender Sonnentag war gefolgt, und gerade jetzt, wo die Sonne schon hinter die Berge tauchte, kam die ernste Schönheit der Landschaft zur vollen Geltung. Droben standen die Berggipfel noch in voller Abendglut, und ein Purpurschein lag über den Wäldern, welche den See wie mit einem dichten, dunkelgrünen Kranze umgaben. Aber auf der vorhin so hell glitzernden Flut ruhte schon kühler Schatten, und zarte, bläuliche Nebel schwebten darüber hin.
Da ließen sich Schritte vernehmen auf dem Fußwege, der sich vom Schlosse durch den Wald hinabzog. Paula achtete nicht viel darauf, vielleicht war es Ullmann, der wußte, wohin sie gegangen war, vielleicht einer von den Schloßleuten, die oft diesen Weg benutzten. Der Schritt kam näher und jetzt – das junge Mädchen zuckte zusammen – jetzt trat Ulrich von Berneck selbst aus dem Walde hervor und blieb eine Minute lang stehen, während sein Blick suchend die Kirche und deren Umgebung überflog.
Ein seltsames Zusammentreffen! Er konnte ja kaum zurückgekehrt sein, und Paula fühlte es auch, daß diese Begegnung keine zufällige war, er kam ja sonst niemals hierher. Hatte Frau Almers noch geschwiegen gegen ihren Neffen oder ihm die gestrige Unterredung in einer Form mitgeteilt, die ihn nicht an eine ernstliche Abweisung glauben ließ – jedenfalls war es ihr Werk, daß er sich nun doch herabließ, selbst zu dem Mädchen zu sprechen, das er mit seiner Hand beglücken wollte. Also eine zweite peinvolle Erörterung! Der ganze Trotz Paulas flammte wieder auf bei dem Gedanken. Wollte man sie denn durchaus zwingen? Er kam, sich die Antwort zu holen auf eine Frage, die er nicht einmal persönlich gestellt hatte – nun denn, er sollte sie haben!
»Ich störe Sie wohl in Ihrer Einsamkeit, Fräulein Dietwald?« fragte Ulrich, indem er grüßte und näher trat. »Ich hörte bei meiner Rückkehr von Ullmann, daß Sie hier seien, und mir lag daran, Sie einmal allein zu sprechen. Da müssen Sie mich schon entschuldigen. Wollen Sie mich anhören?«
Das hieß allerdings geradeswegs auf das Ziel losgehen, er hielt sich nicht lange auf mit einer Einleitung. Paula neigte nur bejahend das Haupt, sie kämpfte schon wieder mit jener seltsamen Angst, gegen die kein Mut und kein Trotz half. Sobald sie die Stimme dieses Mannes hörte und im Bann seiner Augen war, fühlte sie sich wehrlos ihm gegenüber.
»Vor allen Dingen eine Erklärung!« fuhr er fort. »Ich bin nicht gekommen, um die Frage und Bitte an Sie zu richten, die Sie so sehr fürchten. Sie können unbesorgt sein.«
Das junge Mädchen senkte die Augen in peinlicher Verlegenheit.
»Herr von Berneck, ich weiß in der That nicht –«
»Sie wissen, was ich meine!« unterbrach er sie ruhig. »Sie ahnen wohl selbst nicht, wie deutlich das ›Nein!‹ aus Ihrer ganzen Haltung spricht. Sie haben es ja bereits gestern ausgesprochen, das genügt.«
Paula stand betroffen vor ihm. Das klang ganz anders, als sie erwartet hatte, aber sie sah, daß sie dieser Unterredung standhalten mußte, hier gab es kein Ausweichen.
»Frau Almers hat Ihnen das bereits mitgeteilt?« fragte sie, ohne aufzublicken.
»Nein, meine Tante hat mir nichts mitgeteilt. Sie wird mir überhaupt die gestrige Unterredung verschweigen, denn sie hat gegen meinen Willen gesprochen. Ich bat sie ausdrücklich, das mir zu überlassen, sie hat trotzdem eingegriffen in eine Sache, die ihren Eingriff am wenigsten vertrug. – Ich kehrte gestern zurück, um mein vergessenes Notizbuch zu holen, und da wurde ich im Vorzimmer Zeuge des ganzen Gespräches.«
»Sie haben es gehört?« fuhr das junge Mädchen auf, dessen Antlitz sich plötzlich mit einer tiefen Glut bedeckte. »Wenn ich das geahnt hätte –«
»So wären Sie weniger aufrichtig gewesen!« ergänzte Ulrich. »Ich habe Sie unterschätzt, Paula! Ich glaubte, mein Restovicz und mein Vermögen fiele bei Ihnen so schwer ins Gewicht, daß Sie mich dafür – hinnehmen würden. Das war es ja, was mir bisher immer noch die Lippen schloß Ihnen gegenüber. Nicht Ihre Weigerung, Ihr Jawort habe ich gefürchtet! Ich that Ihnen unrecht. Sie haben sich und Ihre Freiheit mutig genug verteidigt gegen den ungeliebten Mann, der Ihnen aufgedrungen werden sollte. Es war ja eine bittere Stunde für mich, aber – ich danke Ihnen für diese Wahrheit!«
Paula hörte in steigender Betroffenheit zu. Der Argwohn hatte ihm die Lippen geschlossen? Daher stammte seine Zurückhaltung, sein Schweigen, das sie so tief verletzt hatte? Langsam und scheu hob sie die Augen zu ihm empor. Er war bleicher als sonst, aber der herbe Ausdruck in seinen Zügen war gewichen, es lag nur eine ernste Ruhe darauf.
»Sie sollen nichts mehr von meiner Werbung hören, mein Wort darauf!« fuhr er fort. »Aber ich konnte es doch nicht ertragen, in dem Lichte vor Ihnen zu stehen, in dem Sie mich gestern sahen. Sie können kein Herz zu mir fassen – ich begreife das. Aber fürchten sollen Sie mich nicht mehr! Wollen Sie mir das versprechen?«
»Ja!« sagte das junge Mädchen mit einem tiefen Atemzuge, sie empfand in der That keine Furcht mehr, aber ein Gefühl, das fast der Beschämung glich.
Ueber Bernecks Antlitz zuckte ein flüchtiges Lächeln bei diesem Ton, der unbewußt ein erwachendes Vertrauen verriet, aber es ging schnell unter in dem gewohnten Ernst.
»So lassen Sie uns Frieden schließen, jetzt dürfen wir es ja wohl! Ich habe Sie gestört, aber der Abend ist so schön, und ich habe so selten eine Stunde des Ausruhens – wollen wir nicht den Sonnenuntergang hier abwarten?«
Er deutete auf die Bank an der Kirche. Paula hatte nicht den Mut, sich zu weigern. Halb willenlos folgte sie, und sie nahmen beide dort Platz. Ein seltsames Beisammensein! Da saß der Mann, den ihre gestrigen Worte doch tödlich gekränkt haben mußten, ganz ruhig an ihrer Seite. Er schien ihr in der That nicht zu zürnen, und doch war es ihr, als hätte er ein Recht dazu.
Langsam zerfloß das Abendrot droben am Himmel, und mit ihm erlosch der verklärende Schein, der Berge und Wälder so seltsam erglühen ließ, sie standen ernst und dunkel da, und auf dem See stiegen die Nebel dichter empor. Die Dämmerung begann ihre träumerischen Schleier zu weben.
Nach einem sekundenlangen Schweigen hob Ulrich wieder an: »Sie wollen also meine Tante verlassen?«
»Sobald wir wieder in Berlin sind. Sie hat mir ja selbst die Trennung angekündigt, und ich –«
»Sie werden aufatmen, wenn endlich die Kette bricht, die Sie so schwer gedrückt hat!« unterbrach sie Berneck mit voller Bestimmtheit. »Scheuen Sie sich, mir das einzugestehen? Ich habe es längst gewußt, ich kenne ja meine Tante! Sie ist eine sehr kluge Frau und meint es auch gut in ihrer Weise, besonders mit mir. Aber sie vergißt immer, daß andere Menschen so etwas wie ein Herz in der Brust haben. Mit dem armen Dinge rechnet sie nie, und da scheitert bisweilen der klügste Plan.«
Es lag ein bitterer Spott in den Worten, und doch sprachen sie nur aus, was das junge Mädchen Tag für Tag erfahren und sich selbst kaum eingestanden hatte.
»Sie werden mich für sehr undankbar halten, Herr von Berneck,« sagte sie, noch kämpfend mit der alten Scheu vor ihm und doch zugleich mit schüchterner Vertraulichkeit. »Frau Almers ist meine Wohlthäterin, ich habe ihr alles zu danken und fühle das tief genug, aber sie kann zu Boden drücken mit ihren Wohlthaten. Ich war an so viel Liebe gewöhnt in meinem Elternhause, und ich bin so grenzenlos einsam und unglücklich gewesen in all dem Glanz des fremden, reichen Hauses. Erst hier in Restovicz habe ich es gefühlt, daß ich noch froh sein kann, denn da durfte ich stundenlang frei und allein sein. Ich bin so glücklich hier gewesen –« Sie brach plötzlich ab, denn es kam ihr erst in diesem Augenblick zum Bewußtsein, zu wem sie sprach. Bernecks Stirn war wieder finster zusammengezogen, aber die drohende Falte, die dort stand, galt nicht ihr.
»Armes Kind!« sagte er halblaut. »Ja, es ist nicht leicht, mit meiner Tante auszukommen. Man muß ihr frei und unabhängig gegenüberstehen, ihr keinen Schritt weichen, wie ich – oder man muß eine Sklavennatur sein, die sich willenlos beugt. Sie haben ihr den eigenen Willen gezeigt, das verzeiht sie Ihnen nie! Wohin werden Sie denn zunächst gehen?«
»Ich will einstweilen zu meinem Vormunde, bis sich eine andere Stellung findet. Hoffentlich brauche ich seine Güte nicht lange in Anspruch zu nehmen.« Das kam unsicher und stockend heraus, denn Paula wußte, was sie von dieser »Güte« zu erwarten hatte. Ihr Vormund würde außer sich sein über diesen Bruch mit der reichen, vornehmen Gönnerin, über dies Aufgeben der gesicherten Stellung, und ihr die bittersten Vorwürfe machen. Und doch blieb ihr keine Wahl, sie hatte sonst keine Zuflucht auf der ganzen Welt.
Ulrich mochte das auf ihrem Gesichte lesen, aber er berührte es mit keiner Silbe.
»Sie sind auch nicht geschaffen für eine Stellung, wie meine Tante sie ihrer Umgebung anweist,« sagte er. »Solch ein kleiner Vogel, der nur fliegen und singen möchte im Sonnenschein, der schlägt sich ja die Flügel wund an dem goldenen Gitter seines Käfigs! Was schauen Sie mich so verwundert an? Trauen Sie mir denn gar kein Herz zu? Es mag sein, daß ich hart und kalt geworden bin, aber. – Sie wissen nicht, was hinter mir liegt!«
Paula hörte in der That mit einem halb ungläubigen Staunen zu. Es war das erste Mal, daß Berneck sie einen Blick thun ließ in die sonst streng verschlossene Tiefe seines Innern. Sie hatte wirklich nicht geglaubt, daß er irgend eine Empfindung habe für das Wohl und Wehe anderer, und nun sprach er, als lese er ihr die geheimsten Gedanken aus der Seele. Jawohl, ihr war zu Mute wie einem armen gefangenen Vögelchen, das die kleinen Schwingen vergebens zu regen versucht in dem Käfig, dem es nicht entfliehen kann – aber wer lehrte ihn denn das verstehen, sie gestand es sich ja kaum selbst ein!
»Ich bin doch auch einmal jung und glücklich gewesen,« fuhr er fort, »sehr glücklich sogar! Sie kennen ja das Bild, das da oben im Saale hängt. Damals, vor neun Jahren, war es sprechend ähnlich, da war ich noch der junge, kecke Jägersmann, der da meinte, die ganze Welt gehörte ihm. Wir sprachen ja gestern davon.«
»Aber Sie brachen so schnell davon ab,« warf das junge Mädchen schüchtern ein. »Es schien Ihnen irgend eine peinliche Erinnerung zu erwecken.«
»Es ist für mich die letzte Erinnerung an die Jugend und das Glück! Dann kam jene Schicksalsstunde, die mein Leben vernichtete, und mich zu dem gemacht hat, was ich bin. – Ich kann das Bild nicht mehr vor Augen sehen!«
Es klang aus den Worten wie dumpfer Groll, wie ein Aufbäumen gegen jene »Schicksalsstunde«. Man sah es, der Mann hatte immer noch nicht gelernt, geduldig zu leiden, und seine Züge hatten in diesem Augenblick einen Ausdruck, daß Paula unwillkürlich eine Bewegung machte, als wolle sie aus seiner Nähe flüchten. Er bemerkte es, und ein bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen.
»Nun scheuen Sie sich schon wieder vor mir, vor dem ›Dunklen, das in mir und um mich ist‹! Sie haben ganz recht gesehen, und es ist noch dunkler, als Sie glauben. Aber Sie scheinen mich für eine Art von Verbrecher zu halten, der irgend eine finstere Unthat mit sich herumträgt. Etwas dergleichen ist es ja auch, aber Schuld ist nicht dabei. Wollen Sie hören, was damals geschehen ist?«
»Wenn Sie es mir sagen können und wollen – aber ich fürchte, es wird Ihnen wehe thun.«
Es verriet sich eine unbewußte Angst in der Antwort. Ulrich streifte seine junge Gefährtin mit einem langen, düsteren Blick.
»Kümmern Sie sich denn überhaupt darum, ob mir etwas wehe thut?« fragte er. »Ich habe es ja erlebt, da werde ich auch wohl davon reden können! Versucht habe ich es freilich nie, aber Sie sollen nicht so vor mir zusammenbeben, Paula, wie eben jetzt wieder, das ertrage ich nicht! Sie sollen die Wahrheit hören.«
Er fuhr mit der Hand über die Stirn, aber es vergingen noch Minuten, ehe er es über sich gewann, zu sprechen. In der tiefen Abendstille ringsum war kein Laut vernehmbar, und die Landschaft spann sich immer mehr ein in den blauen Nebelduft der Dämmerung. Der See lag regungslos, aber aus seiner Tiefe quoll es jetzt empor, weiß und gespenstisch, zog über die dunkle Flut hin und löste sich dann in wallenden Dunst. Ein unheimliches Spiel, in dem allerlei schemenhafte Gestalten auftauchten und wieder zerflossen, als seien es die Geister der Vergangenheit, die diese Stunde heraufbeschwor.
Berneck blickte unverwandt in dieses Nebelwogen und schien es fast zu vergessen, daß er nicht allein war, endlich aber richtete er sich empor und fragte: »Ullmann hat Ihnen wohl viel erzählt von alten Zeiten? Ich meine von der Zeit, als er noch mit mir in Auenfeld war?«
Das junge Mädchen schüttelte verneinend das Haupt. »Er sprach nur sehr selten davon, so vertraut wir auch sonst waren. Ich weiß nur, daß Sie Ihre Eltern früh verloren haben.«
»Ja, meine Mutter starb, als ich noch ein Knabe war, und auch der Vater verschied in vollster Lebenskraft. Mit zwanzig Jahren stand ich allein, aber in dem Alter überwindet man solchen Verlust. Ich hatte mein schönes Auenfeld, das mir ans Herz gewachsen war, hatte Jugend und Gesundheit und noch eins, was nur wenigen gegönnt wird – einen Freund, der mir das Liebste war auf der ganzen weiten Welt! Hans Dahlen war der Sohn unseres nächsten Gutsnachbarn, ein paar Jahre jünger als ich, eine jener sonnigen, glücklichen Naturen, die nur zur Freude geschaffen scheinen für sich und andere.«
Er hielt einen Augenblick inne und schaute wieder in jenen wallenden Dunst, der jetzt die ganze Fläche des Sees erfüllte. Ohne den Blick davon abzuwenden, fuhr er fort: »Wir waren zusammen aufgewachsen, wir hatten die Knabenspiele und die Studienjahre geteilt, und später, als wir heimkehrten, verging kaum ein Tag, wo wir uns nicht sahen. Ich war ja schon damals ernst, etwas düster angelegt, aber bei Hans war alles nur Lachen, alles froher, überschäumender Lebensmut, und gerade das kettete uns so unlöslich zusammen. Der alte Dahlen drang oft genug in seinen Sohn, doch endlich Anstalt zum Heiraten zu machen, und auch mir las er den Text deswegen, aber Hans lachte dann immer nur in seiner übermütigen Weise und rief: ›Ich habe ja den Ulrich, Papa, und er hat mich! Was sollen wir denn da mit einer Frau anfangen? Die käme bei uns doch erst in zweiter Linie, und das ließe sie sich schwerlich gefallen!‹ Er hatte recht, wir waren Freunde auf Leben und Tod – und sind es ja auch geblieben, bis ans Ende!«
Er sprach halblaut, anscheinend ruhig, aber es lag ein seltsam fremder Klang in seiner Stimme, der verriet, was er sich auferlegte mit dieser Erzählung. Paula hörte mit ängstlicher Spannung zu, und als er plötzlich abbrach, fragte sie leise und mitleidig: »Sie haben Ihren Freund verloren? Er ist Ihnen gestorben?«
»Nein – gefallen!« sagte Ulrich plötzlich laut und schneidend: »Ich habe ihn erschossen!«
Mit einem halb unterdrückten Aufschrei des Schreckens fuhr das junge Mädchen auf.
»Um Gottes willen – Herr von Berneck!«
»Auf der Jagd!« vollendete er dumpf. »Es war Verhängnis! Das trifft wie ein Blitzstrahl, und man bricht zusammen darunter!« »Aber wie war denn das möglich? Wie konnte das geschehen?« brach Paula aus, noch unter dem vollen Eindruck des Entsetzens.
»Fragen Sie mich nicht – ich weiß es nicht! Es war ein einziger, unseliger Augenblick. Mein Schuß krachte – und es war geschehen!«
Paula wagte in der That nicht, weiter zu fragen, sie sah es ja, daß er totenbleich war und daß seine Lippen zuckten, wie im Krampfe.
Erst nach einer langen, qualvollen Pause begann er wieder: »Da heißt es immer, es gebe Ahnungen, Warnungsstimmen im Innern des Menschen, wenn er vor einem Unheil steht! Uns warnte nichts, keine Ahnung, kein Zeichen, wir waren vielleicht nie so glücklich, so jugendfroh gewesen, wie an jenem Tage, wo wir hinauszogen in den frischen Herbstmorgen – die letzte, glückliche Stunde meines Lebens! Es war die alljährliche große Jagd in Auenfeld, zu der stets die ganze Nachbarschaft geladen wurde, Hans und sein Vater selbstverständlich auch, und diesmal sollte auf Hochwild gepirscht werden, das bei uns ja selten ist. Ich hatte ein paar prächtige Stück in meinem Revier, die geschont worden waren für den großen Jagdtag. Hans und ich waren allen voran. Ich sehe ihn noch vor mir, den schönen, lebensvollen Jungen, mit seinem sprühenden Übermut. ›Heut geben wir uns nicht ab mit dem niederen Zeug, Ulrich!‹ rief er mir jubelnd zu. ›Heut jagen wir Edelwild! Und das bringen wir heim!‹ Dabei lachte ihm die helle Weidmannslust aus den Augen, und ich lachte mit, wir ahnten ja nicht, wie furchtbar das Wort zur Wahrheit werden sollte! So zogen wir hinein in den herbstlichen Wald, wo der Reif noch auf dem Boden glitzerte und die ersten Sonnenstrahlen mit den Frühnebeln kämpften. Und da drinnen lauerte der Tod auf ihn und auf mich – noch Schlimmeres!
Das Treiben begann, Hans und ich hatten unseren Stand dicht bei einander, die anderen Jäger hatten sich im Walde verteilt und schossen, sobald sich nur ein Wild blicken ließ. Ich rührte mich nicht, ich wartete auf einen Hirsch, der kommen mußte, und er kam auch. Aber Hans war schneller als ich, er schoß zuerst und ich sah das Tier zusammenbrechen. Was dann geschehen ist, das weiß Gott allein! Hans scheint in der Freude über sein Jagdglück alle Vorsicht vergessen und die sichere Deckung verlassen zu haben. Er wollte wohl zu seiner Beute. Ich hätte das ja vielleicht sehen können, sehen müssen, aber der Jagdeifer machte mich taub und blind gegen alles andere. Ich sah nur, daß eben der zweite Hirsch durchbrach, und legte an. – Das Wild entkam, aber ein anderes, ein Edelwild fiel unter meiner Kugel – Hans lag blutend am Boden!«
»Er war – tot?« fragte das junge Mädchen kaum hörbar.
»Tödlich verwundet! Die Hilfe war ja augenblicklich da, denn unser Arzt befand sich unter den Jagdgästen, aber er konnte auch keine Rettung bringen! Es war ein Sterbender, den wir aufhoben und in das Forsthaus trugen. Eine Stunde hat es noch gedauert, aber solche Stunde schließt eine Ewigkeit von Qual in sich! Wenn man das Liebste auf der Welt rettungslos verbluten sieht und weiß, daß die eigene Hand dies Blut vergossen hat, wenn man diese Augen brechen sieht im Todeskampfe, das letzte Röcheln hört –«
Die Stimme versagte ihm, er sprang plötzlich auf und wandte sich ab, die geballte Faust gegen die Stirn gedrückt, als erliege er der Erinnerung.
Paula saß stumm und bleich da, sie fühlte, daß jedes Wort, jeder Trost machtlos war, diesem furchtbaren Verhängnis gegenüber. –
Es dauerte lange, dies Schweigen, endlich wandte sich Berneck um.
Er beherrschte jetzt wieder seine Stimme, aber man sah es, wie gewaltsam er sich zur Ruhe zwang.
»Was dann geschah, davon weiß ich nicht viel mehr,« sagte er in dem früheren gedämpften Tone. »Ich weiß nur, daß Dahlen, der Vater selbst, mir die Büchse aus der Hand riß, als ich seinem Sohne – folgen wollte, und daß sie mich dann Tag und Nacht bewachten. Über die ersten Wochen und Monate half mir eine schwere Krankheit hinweg, und als ich wieder zur Besinnung und zum Leben erwachte, da jagte es mich fort aus Auenfeld. Ich ging auf Reisen, um da draußen, in der Ferne zu vergessen oder doch wenigstens das Dasein zu ertragen. Ich habe das jahrelang versucht und die halbe Welt durchstreift, aber die Erinnerung ging mit mir, es wurde nur schlimmer mit der Zeit. Ich habe es auch versucht, nach Auenfeld zurückzukehren, aber da litt es mich vollends nicht. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden an dem Orte, wo Hans begraben lag!
Da griff ich zum letzten Mittel. Ich verkaufte mein Erbe, riß mich gänzlich los von der Heimat und ging hierher, in die ›Selbstverbannung‹, wie meine Tante es nennt. Sie hat ja recht, aber ich fand hier, was mir not that – Arbeit, die mich gar nicht zur Besinnung kommen läßt. Es ist keine leichte Aufgabe, dieses Restovicz der Kultur zuzuführen. Es ist ein ewiger Kampf mit der Natur selbst und mit dem Boden. Sie, die bei uns daheim dankbar jede Mühe lohnen, muß ich hier immer erst unterwerfen, ehe ich sie mir dienstbar machen kann. Und denselben Kampf führe ich Tag für Tag mit meinen Leuten, die in mir den Fremden hassen und auf die ich doch angewiesen bin. Sie müssen auch immer wieder von neuem zum Gehorsam gezwungen werden. Das spannt Geist und Körper bis aufs äußerste an, das läßt mir keine Zeit zum Denken und Grübeln, und abends bin ich dann so todmüde, daß der Schlaf ungerufen kommt. Solche Arbeit habe ich noch auf Jahre hinaus, und das genügt einstweilen.« –
Sie hatten es beide nicht bemerkt, daß die Dämmerung immer mehr wuchs. Am Himmel blinkten schon matt die ersten Sterne, und Berge und Wälder verschwammen im Zwielicht. Ueber dem See lag noch das weiße, wallende Dunstmeer, das langsam immer höher stieg, als wolle es alles überfluten.
»Nun wissen Sie es!« schloß Berneck mit einem tiefen Atemzuge. »Fürchten Sie mich immer noch?«
Paula antwortete nicht, sie hatte sich auch erhoben und streckte ihm jetzt plötzlich beide Hände hin, eine wortlose, aber fast leidenschaftliche Abbitte. Ulrich verstand sie, seine Hände schlossen sich fest um die ihrigen.
»Und nun vergessen Sie die Thorheit, die ich ja bereits gebüßt habe, als ich gestern zuhörte,« sagte er ernst und ruhig. »Ich habe an keine Ehe gedacht, denn ich wußte, daß ich nicht mehr für Glück und Liebe taugte. Da kam meine Tante – mit Ihnen – und da habe ich trotz alledem einen Traum von Glück geträumt. Er war kurz genug, dann kam das Erwachen! Das soll kein Vorwurf für Sie sein, Paula. Sie mit Ihrer sonnigen Jugend und Heiterkeit konnten ja einen Mann wie ich nicht lieben, aber ich will wenigstens einen Platz in Ihrer Erinnerung haben. Deshalb sagte ich Ihnen, was ich noch keinem gesagt habe, und ließ Sie einen Blick thun in die eine Stunde, die über mein Leben entschied. – Und nun lassen Sie uns gehen! Es dunkelt bereits, wir müssen nach Haus.«
Sie wandten sich zum Gehen und betraten den Waldweg, der schon völlig dunkel war, aber es wurde kein Wort weiter gesprochen. Ulrich ging voran und bog von Zeit zu Zeit die Zweige zurück, die den Pfad beengten. Aber er bot die Führung nicht an, und seine junge Gefährtin bedurfte in der That keiner Stütze. Sie stieg leicht und sicher aufwärts, und doch war ihr das Herz so schwer, als liege eine Last darauf. Sie hatte ja soeben einen Blick gethan in die Seele des Mannes, den sie so lange für kalt und hart und hochmütig gehalten hatte. Jetzt wußte sie, daß er eine Wunde mit sich herumtrug, die noch immer blutete und die sie hätte heilen können. Er liebte sie ja, wie tief und leidenschaftlich, das hatten sein Blick und sein Ton verraten, als er von dem »Traum von Glück« sprach. Paula bebte leise zusammen bei der Erinnerung an diesen Ton. Ihr war zu Mute, als habe sie die Glocke aufklingen hören, die der alten Sage nach da unten in der schweigenden Tiefe ruhte. Voll und mächtig klingen, als flehte sie um Erlösung – sie hatte vergebens gefleht.
Die nächsten Tage vergingen in Restovicz in gewohnter Weise. Frau Almers hütete sich, ihrem Neffen zu verraten, was sie gegen seinen Willen zur Sprache gebracht hatte, denn Ulrich war vielleicht der einzige Mensch auf Erden, den sie scheute. Aber auch Paula gegenüber berührte sie jenen Punkt mit keiner Silbe. Sie wollte ihr Zeit lassen, »zur Vernunft zu kommen«, und das so auffallend schweigsame und gedrückte Wesen des jungen Mädchens bestärkte sie in ihrer Voraussetzung, daß dies bereits geschehen wäre. Sie ahnte weder, daß Ulrich Zeuge jenes Gespräches gewesen war, noch daß er selbst mit Paula gesprochen hatte.
Unter anderen Verhältnissen würde die stolze Frau diese Verbindung ihres Neffen mit einer armen Waise, der Gesellschafterin seiner Tante, für höchst unpassend erachtet und scharf bekämpft haben. Sie hatte in früheren Zeiten ganz andere und sehr hochfliegende Pläne für ihn gehegt. Aber wie die Dinge nun einmal lagen, hielt sie es für ein Glück, wenn er sich überhaupt noch zu einer Heirat entschloß. Den jungen Damen ihrer Kreise, die »Ansprüche machen konnten«, wäre der Reichtum des Freiers allerdings sehr willkommen gewesen, aber keine einzige hätte sich mit ihm in die Einsamkeit von Restovicz vergraben und seine finsteren Eigentümlichkeiten hingenommen.
Also wurde Paula Dietwald ausersehen, die für das ihr gebotene Glück dankbar sein mußte. Daß sie es nicht war und sich sogar zu einer energischen Weigerung aufraffte, zog ihr die volle Ungnade ihrer Beschützerin zu. Berneck hatte recht, seine Tante verzieh es nicht, wenn man ihr gegenüber einen eigenen Willen zeigte, das durfte er allein sich erlauben. Er selbst hatte sein Benehmen gegen Paula nicht im geringsten geändert, er war ernst und schweigsam wie sonst, aber kein Wort, kein Blick erinnerte sie an jene Stunde, wo er ihr sein Innerstes erschlossen hatte, das schien versunken und vergessen. Sie sollte ja auch seine »Thorheit« vergessen, und er ging ihr mit dem Beispiel dazu voran.
Aber die peinliche Spannung, die über dem ganzen kleinen Kreise lag, wurde doch von jedem empfunden, und jeder atmete auf, als sich eine unerwartete Ablenkung fand in Gestalt eines Besuches, der den Schloßherrn überraschte.
Der ehemalige Hauslehrer Ulrichs, der vier Jahre lang in dieser Eigenschaft in Auenfeld gelebt hatte, jetzt ein Mann in Amt und Würden, tauchte urplötzlich in Restovicz auf. Er hatte jahrelang nicht einmal brieflich mit seinem einstigen Zöglinge verkehrt, der alle Beziehungen mit der Heimat abgebrochen hatte, jetzt aber, wo eine Ferienreise ihn zufällig in die Gegend führte, wo Bernecks Besitzungen lagen, suchte er diesen wieder auf, und Ulrich schien sich wirklich über den Besuch zu freuen, denn er lud ihn zum Bleiben ein.
Professor Rosner, der gegenwärtig ein Gymnasium in Dresden leitete, war einer jener jovialen, warmherzigen Menschen, die sich und aller Welt das Beste gönnen und von aller Welt das Beste glauben. Von der gnädigen Frau, die er noch von Auenfeld her kannte, und die auch heute noch etwas herablassend gegen ihn war, hielt er sich einigermaßen fern und beschränkte sich auf die nötige Artigkeit, dagegen schloß er sich gleich im Anfange mit vollster Vertraulichkeit an Paula an. Er plauderte mit ihr, ging mit ihr spazieren und war ungemein offenherzig in seinen Mitteilungen. Er lebte in angenehmen Verhältnissen, führte eine äußerst glückliche Ehe und besaß ein ganzes Häuflein Kinder, die er zärtlich zu lieben schien. Es wurde dem jungen Mädchen manchmal wehe um das Herz bei diesen Erzählungen. Sie that da Blicke in ein Haus und eine Familie, wo Glück und Sonnenschein, Liebe und Freude heimisch waren – das alles kannte sie längst nicht mehr.
Es war auf einem dieser Spaziergänge, als der Professor, anscheinend ganz harmlos, fragte, ob sie sich denn auch glücklich fühlte in ihrer Stellung bei der alten, sehr anspruchsvollen Dame, die so gar kein Verständnis für die Jugend habe. Paula schwankte einen Augenblick lang, dann aber gestand sie, daß sie im Begriff wäre, Frau Almers zu verlassen, und knüpfte daran die schüchterne Frage, ob der Herr Professor in seinem großen Bekanntenkreise vielleicht irgend jemand wüßte, der eine ähnliche Stellung zu vergeben hätte. Er ließ sie kaum ausreden, »Aber liebes Fräulein, das trifft sich ja prächtig!« rief er, »Wir suchen ja gerade eine junge Dame zur Stütze für meine Frau und zur Aufsicht für unsere Kleinsten, die noch nicht schulpflichtig sind! Kommen Sie zu uns, wir nehmen Sie mit tausend Freuden auf!«
Das junge Mädchen verstummte vor freudiger Ueberraschung. Das Anerbieten bedeutete ja für sie ein ganz unverhofftes Glück. Es nahm die bange Sorge um die nächste Zukunft von ihrem Herzen und befreite sie von der bitteren Notwendigkeit, im Hause ihres Vormundes ein lästiger Gast sein zu müssen und herbe Vorwürfe anzuhören. Professor Rosner aber schien ihr Schweigen für Bedenken zu halten und drang förmlich in sie, seinen Vorschlag anzunehmen. »So vornehm und glänzend wie bei Ihrer Gnädigen ist es ja freilich nicht bei uns,« sagte er in einem halb entschuldigenden Tone. »Wir sind nur einfache Professorleute und haben nicht eine Million zur Verfügung. Aber dafür scheint bei uns auch die Sonne, und bei der gnädigen Frau ist ewige Nordpolstimmung, Ich kenne das noch von Auenfeld her, sie brachte immer so eine gewisse Eistemperatur mit, ich glaube, das Thermometer sank um einige Grade, wenn sie anrückte. Kommen Sie zu uns, Fräulein Paula, Sie werden es nicht bereuen. In dem Hause, wo meine Frau regiert, da ist gut sein, und ich bin schließlich auch ein Mensch, mit dem sich leben läßt. Unsere kleine Bande wird Ihnen ja manchmal zu schaffen machen mit ihrer Wildheit, aber schlimm ist sie nicht. Wie die Kletten werden sich die kleinen Rangen an Sie hängen mit ihrer Zärtlichkeit. Machen wir die Sache gleich auf der Stelle ab – schlagen Sie ein!«
Er streckte ihr fröhlich die Hand hin, und Paula schlug ein – wie gern! Sie machte kein Hehl aus ihrer freudigen Dankbarkeit. Zwar stutzte sie ein wenig, als der Professor von den Bedingungen sprach, die er nur so obenhin berührte, denn sie waren glänzend, aber das junge Mädchen war viel zu glücklich, um darüber nachzudenken, sie wäre ja mit dem geringsten Gehalt zufrieden gewesen. Der Professor dagegen schien seelenvergnügt über ihre Zusage, meinte aber, die Gnädige brauchte vorläufig noch nichts davon zu wissen, es wäre Zeit genug, wenn sie es bei der Trennung erfahre. Paula stimmte auch diesem Vorschlage sofort zu.
Nach acht Tagen reiste Professor Rosner wieder ab, und Berneck brachte ihn selbst nach der Bahnstation. Er schien überhaupt die alte Vertraulichkeit mit seinem einstigen Lehrer wieder aufgenommen zu haben, zur Verwunderung von Frau Almers, welche sich diese ungewohnte Liebenswürdigkeit ihres sonst so schroffen und unzugänglichen Neffen nicht erklären konnte. Sie fand, daß der Besuch ungemein günstig auf ihn gewirkt hätte.
Es war am Tage nach der Abfahrt Rosners, gegen Abend, als die beiden Damen von einem Spaziergange zurückkehrten, den sie in der näheren Umgebung des Schlosses unternommen hatten. Diese Spaziergänge waren jetzt nichts weniger als angenehm für Paula. Frau Almers hatte einen verletzend eisigen Ton, wenn sie ungnädig war, und den bekam das junge Mädchen jetzt immer zu hören, sobald Berneck nicht zugegen war. Heute nun hatte man ihr, als von der bevorstehenden Abreise die Rede war, einen sehr deutlichen Wink gegeben, daß die ihr gewährte Bedenkzeit nunmehr abgelaufen wäre. Paula hatte das schweigend hingenommen, ohne Widerspruch, zur großen Genugthuung der alten Dame, die in dem Schweigen den Beweis dafür erblickte, daß der »Trotzkopf« seine Thorheit eingesehen hätte und bereute. Das stimmte sie so gnädig, daß sie abwehrte, als das junge Mädchen sie wie gewöhnlich begleiten wollte, um ihr vorzulesen, und es klang zum erstenmal wieder etwas wie Güte in ihrer Stimme, als sie sagte: »Ich brauche dich heute nicht, mein Kind. Bleibe noch eine Stunde auf der Terrasse, du siehst recht blaß aus und klagst ja auch über Kopfschmerz. Die kühle Abendluft wird dir gut thun.«
Damit ging sie, und Paula atmete auf bei der ihr gewährten Erlaubnis. Sie empfand es trotz alledem als eine Art Unrecht, daß sie ohne Wissen und Willen ihrer bisherigen Beschützerin über ihre Zukunft verfügt hatte, aber Frau Almers hatte ihr ja bereits mit der Trennung gedroht und würde zweifellos Ernst machen, wenn sie bei ihrem Nein blieb. Gott sei Dank, daß sie nun nicht ziellos hinauszugehen brauchte unter Fremde! Kurz vor der Abreise Rosners war noch ein Brief seiner Frau gekommen, die er benachrichtigt hatte. Sie erklärte sich ganz einverstanden mit seiner Wahl und hieß die künftige Hausgenossin in den herzlichsten Worten willkommen. Ebenso herzlich war der Abschied des Professors selbst gewesen. Paula wußte gar nicht, womit sie all diese Güte und Freundlichkeit verdient hatte, man schien ihr ja fast die Stellung einer älteren Tochter anzuweisen.
Sie hätte doch nun sehr glücklich und dankbar sein müssen bei dieser unverhofften Wendung, und war es auch, wenigstens sagte sie sich das immer wieder von neuem, aber mitten in diesem Glück und dieser Dankbarkeit quoll oft ein heißes Weh, das sie nie vorher gekannt hatte, in ihrem Inneren auf. Vielleicht war es das Bangen vor der letzten, unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Frau Almers, in der sie doch nur zu wiederholen brauchte, was sie bereits so energisch ausgesprochen hatte. Aber wohin war der Mut gekommen, mit dem sie sich damals gewehrt hatte gegen den fremden, den ungeliebten Mann, den man ihr aufdrängen wollte! Eine einzige Stunde hatte ihn vernichtet. Es war eine so düstere Stunde gewesen, dort an der Marienkapelle, in dem Weben der Dämmerung, an dem nebelatmenden See, wo das weiße Dunstmeer wogte und wallte. Was sie enthüllte, war noch düsterer gewesen und doch war aus all diesen finsteren Schatten etwas so Süßes emporgetaucht, das Paula auch noch nicht gekannt hatte – das Bewußtsein, geliebt zu werden!
Sie hatte ja die Hand des Mannes zurückgewiesen, der ihr das nun endlich verriet. Freilich, da kannte sie ihn noch nicht, aber er hatte doch jene herbe Abweisung gehört und verzichtet, wie ernst es ihm damit war, das zeigte er ihr täglich. Es war vorbei – und dem jungen Mädchen war zu Mute, als hätte das Glück, von dem sie so oft geträumt, das sie sich retten wollte mit jenem Nein, so lange neben ihr gestanden, unerkannt, ungeahnt – und sei nun entflohen!
Da fiel ein matter Lichtschein auf die Terrasse. Ullmann hatte drinnen im Salon, wo es schon dunkelte, die große Hängelampe angezündet und trat nun heraus zu dem jungen Mädchen, das still und träumerisch an der Brüstung lehnte.
»Eben ist Herr Ulrich zurückgekommen,« sagte er. »Ich bin immer froh, wenn er da ist, solange es noch tageshell ist. Er reitet ja oft genug allein und im Dunkeln durch die Wälder, da helfen weder Bitten noch Vorstellungen.«
»Ist denn das gefährlich?« fragte Paula. »Ich dachte, die Umgegend von Restovicz wäre sicher.«
»Das kommt darauf an,« versetzte der Alte. »Sie können ganz ruhig im Walde spazieren gehen, Fräulein Paula, Ihnen geschieht nichts, aber der Herr – das ist eine andere Sache. Und nun ist auch noch der rabiate Bursche, der Zarzo, wieder da und treibt sich hier herum. Was hat er denn noch zu suchen in Restovicz?«
»Der Förster Zarzo? Ich denke, er ist bereits entlassen.«
»Jawohl, schon in der vorigen Woche, und es hieß ja auch, er wäre auf und davon gegangen. Ich dankte Gott, daß wir den tückischen Kerl endlich los waren, aber weit kann er nicht gewesen sein. Heut morgen hat ihn der Janko gesehen und das in seiner Dummheit verraten. Dahinter steckt etwas, da heißt es, die Augen offen halten!«
»Haben Sie das denn Herrn von Berneck nicht gesagt?« fragte das junge Mädchen mit erwachender Unruhe.
»Natürlich habe ich es gethan, aber er zuckte die Achseln und sagte: ›Er soll sich nur hüten, mir vor Augen zu kommen!‹ Das war alles! Er kennt eben keine Furcht und keine Vorsicht, aber ich habe es Ihnen ja schon gesagt, Fräulein Paula, man ist seines Lebens nicht sicher unter dieser Bande. Sie taugen alle nichts, aber Zarzo ist einer von den Schlimmsten. Der führt, nichts Gutes im Schilde, darauf will ich meinen Kopf verwetten!«
Paula schwieg, sie hatte es so »unbarmherzig« gefunden, daß Berneck damals den Bitten und Beteuerungen des Försters ein hartes, unbeugsames Nein entgegensetzte, es schien doch jetzt, als wäre er im Rechte gewesen mit seiner Strenge.
»Und nun ist Herr Professor Rosner auch wieder fort,« hob Ullmann von neuem, in einem wehmütigen Tone an. »Es war ein so freundlicher Herr, immer lustig und vergnügt, und man dankt ja überhaupt Gott, wenn man einmal wieder irgend etwas aus Deutschland zu sehen und zu hören bekommt. Aber eine merkwürdige Geschichte ist das doch mit dem Besuche!«
»Ich finde das gar nicht merkwürdig,« sagte Paula unbefangen. »Daß der Professor seinen einstigen Schüler besucht, wenn er auf seiner Ferienreise gerade in die Nahe von Restovicz kommt, das ist doch nur natürlich.«
Der Alte nahm eine geheimnisvolle Miene an und schüttelte den Kopf. »Er ist aber gar nicht auf der Reise gewesen. Er saß noch ruhig in Dresden, als das Telegramm von Herrn Ulrich abging, und darauf ist er spornstreichs nach Restovicz gekommen.«
Das junge Mädchen sah den Sprechenden verwundert und völlig verständnislos an. »Da müssen Sie sich irren, Ullmann, die beiden Herren sprachen ja immer nur von einem zufälligen Besuche, und welchen Grund hätten sie denn auch gehabt, eine etwaige Verabredung zu verschweigen?«
»Das weiß ich nicht,« sagte Ullmann. »Das erfährt man überhaupt bei Herrn Ulrich nicht. Was der thun will, das thut er auf eigene Hand, warum und weshalb, das weiß kein Mensch, Nicht einmal mir hat er das Telegramm anvertraut, der Janko mußte es nach der Station tragen, und ein Heidengeld hat er dafür bezahlt, denn es war zwei Seiten lang, ein förmlicher Brief. Er hat es mir gezeigt, aber ich konnte nur die Adresse lesen: Herrn Professor Rosner in Dresden. Das andere war französisch, damit es niemand verstehen konnte. Morgens ging die Depesche ab und abends war die Antwort da, und zwei Tage darauf war der Herr Professor da. Er muß die Kurierzüge genommen haben.«
Paula hörte mit steigendem Befremden zu, noch begriff sie nichts, aber es begann sich doch eine dunkle Ahnung in ihr zu regen. »Dann muß es sich doch um etwas Wichtiges gehandelt haben,« warf sie ein.
»Natürlich!« bestätigte der alte Diener, der beleidigt war, daß man ihn nicht ins Vertrauen gezogen hatte und in seinem Aerger darüber Dinge ausplauderte, über die er sonst wohl geschwiegen hätte, »Um nichts und wieder nichts fährt man doch nicht hundert Meilen von Dresden nach Restovicz und fährt nach kaum acht Tagen wieder ab. Die beiden Herren steckten ja auch immer zusammen, und Herr Ulrich, der sonst Besuche nicht ausstehen kann – unter uns gesagt, Fräulein Paula, er war gar nicht entzückt, als seine Frau Tante sich anmeldete, und hätte am liebsten abgeschrieben, wenn's nur gegangen wäre – der war diesmal förmlich liebenswürdig und hat den Professor geradezu auf Händen getragen, und was ich bei der Abreise hörte –«
»Was haben Sie gehört? Bitte, Ullmann, sagen Sie es mir!« fiel das junge Mädchen mit einer beinahe angstvollen Spannung ein. Er zuckte die Achseln.
»Ja, verstanden habe ich es nicht, aber merkwürdig war es auch. Ich wollte melden, daß der Wagen vorgefahren wäre, und da hörte ich im Vorzimmer, wie Herr Ulrich drinnen sagte: ›Und nun lassen Sie mich noch einmal, nein, tausendmal danken für Ihre Einwilligung! Sie waren der einzige, an den ich mich wenden konnte! Auf Ihr Schweigen verlasse ich mich unbedingt, ich habe ja Ihr Wort, und was Ihre Frau betrifft –‹ ›Die plaudert nichts aus, dafür bürge ich Ihnen, Ulrich!‹ sagte der Professor. Darauf schüttelten sie sich die Hände, und dann mußte ich hinein und den Wagen melden. Die Frau Professor da in Dresden ist also auch mit dabei! – Nun frage ich Sie, Fräulein Paula, ob das nicht eine merkwürdige Geschichte ist?«
Ullmann erhielt keine Antwort auf seine Frage und wunderte sich darüber, es war bereits zu dunkel, als daß er hätte sehen können, wie totenbleich das junge Mädchen auf einmal geworden war. Da ertönte die Klingel in Bernecks Zimmer, der alte Diener wandte sich um.
»Ja so, ich muß zu dem Herrn! Kommen Sie lieber mit hinein, Fräulein Paula, es ist recht kühl heut abend, und vom See steigen schon die Nebel herauf. Sie werden sich erkälten in dem leichten Sommerkleide, kommen Sie!«
Paula folgte, noch halb betäubt von dem, was sie soeben gehört hatte, und während Ullmann zu seinem Herrn ging, blieb sie allein im Salon. Das große Gemach mit den dunklen Ledertapeten wurde von der Hängelampe nur teilweise erleuchtet, die Tiefe blieb im Schatten, und in eine dieser dunklen Ecken flüchtete Paula und warf sich auf das kleine Sofa, das dort stand.
Sie wußte jetzt alles! Die letzten Worte jener Erzählung hatten ihr verraten, von wem das Anerbieten kam, das sie für einen glücklichen Zufall, für eine gütige Fügung des Schicksals gehalten hatte. Jetzt auf einmal tauchten all die Dinge vor ihr auf, die ihrer Unerfahrenheit bisher völlig entgangen waren. Der Professor hatte ja gar nicht gefragt, weshalb sie Frau Almers überhaupt verlasse, er hatte sich nicht einmal erkundigt, ob sie auch befähigt sei für die Stellung in seinem Hause, sondern ihr die Zusage förmlich abgedrungen, und ein Gymnasialprofessor, der ein ganzes Häuflein Kinder besaß, konnte unmöglich Bedingungen gewahren, wie er sie angeboten hatte. Hinter dem allen stand ein anderer, stand der Mann, dem sie so namenlos wehe gethan hatte, und der nun ihr Geschick in die Hand nahm und es eigenmächtig lenkte.
In dem Sturm von widerstreitenden Empfindungen, der durch die Seele des jungen Mädchens wogte, stand nur eins klar vor ihr. Sie durfte das um keinen Preis annehmen, sie mußte es sofort mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Da gab es kein Zögern und Bedenken, und als sich jetzt die Thür öffnete und Berneck selbst eintrat, war sie entschlossen, das auf der Stelle zu thun. »Meine Tante ist wohl in ihren Zimmern?« fragte er, im Begriff, mit einem flüchtigen Gruß vorüberzugehen. »Ich wollte noch auf eine halbe Stunde zu ihr.«
Paula hatte sich erhoben, aber sie blieb im Schutze des Halbdunkels, denn sie fühlte, daß die stürmische Erregung sich in ihren Zügen verriet. Es gelang ihr wenigstens, das Beben ihrer Stimme zu beherrschen, als sie sagte: »Herr von Berneck – darf ich Sie um einige Minuten bitten?«
Er blieb sofort stehen. »Bitte, mein Fräulein!«
Es schien, als versagten dem jungen Mädchen die Worte, und sie mußten doch gesprochen werden. Es galt, volle Gewißheit zu haben.
»Sie wissen vielleicht, daß Herr Professor Rosner mir eine Stellung in seinem Hause angeboten hat?« hob sie an.
»Jawohl, er hat es mir erzählt, und Sie haben angenommen, wie ich höre,« war die ruhige Antwort. »Ich glaube, Sie werden es nicht bereuen. Rosner war kurz nach der Hochzeit mit seiner jungen Frau zum Besuch in Auenfeld, und da habe ich sie gleichfalls kennengelernt. Es sind liebenswürdige Menschen, und es scheint auch ein glückliches Familienleben im Hause zu sein.«
Er sprach mit voller Gelassenheit, wie man von fernliegenden, gleichgültigen Dingen spricht, die ein paar höfliche Redensarten erfordern. Aber Paula ließ sich dadurch nicht beirren.
»Ich muß nun leider meine Zusage zurücknehmen,« fuhr sie fort. »Ich werde das dem Herrn Professor morgen mitteilen.«
Ulrich trat einen Schritt zurück und streifte sie mit einem raschen, fragenden Blick, aber er bewahrte seine Ruhe.
»Haben Sie so plötzlich Ihren Sinn geändert? Das ist ja merkwürdig und, offen gestanden, ich finde es geradezu beleidigend für den Professor.«
»Ich habe geglaubt, das Anerbieten käme von ihm persönlich,« erklärte Paula fest. »Jetzt weiß ich, daß das nicht der Fall ist, und deshalb kann ich es nicht annehmen.«
»Was wissen Sie?« fragte Berneck kühl. Aber seine Augen richteten sich dabei mit durchbohrender Schärfe auf das junge Mädchen, das ihn zur Rede stellen wollte und jetzt doch wie schuldbewußt das Haupt senkte, mit der leisen Erwiderung: »Das brauche ich Ihnen doch nicht erst zu sagen,«
»Warum nicht mir? Ich verstehe Sie wirklich nicht, mein Fräulein.« »Weil ich den Entschluß des Professors Ihnen allein verdanke.«
»Wenn Sie damit eine einfache Empfehlung meinen –« Ulrich zuckte gleichgültig die Achseln. »Rosner erwähnte zufällig, daß seine Frau eine Stütze im Hause und bei den Kindern wünschte, und da habe ich ihn darauf aufmerksam gemacht, daß Sie demnächst frei würden. Das ist mein ganzer Anteil an der Sache, und das werden Sie mir hoffentlich erlauben, denn im Grunde trage ich doch allein die Schuld an Ihrem Zerwürfnis mit meiner Tante.«
Einen Augenblick wurde Paula schwankend dieser bestimmten Ableugnung gegenüber, dann aber richtete sie sich entschlossen auf.
»Herr von Berneck, versuchen Sie nicht, mich jetzt noch zu täuschen. Ich weiß, daß Professor Rosner auf Ihren Ruf kam, daß er nur Ihren Auftrag vollzog mit seinem Anerbieten, weiß, daß ich unter dem Namen einer Erzieherin nur ein Gast in seinem Hause sein soll – durch Ihre Großmut!«
»Was soll das heißen!« fuhr Ulrich in voller Gereiztheit auf. »Wie kommen Sie auf solche Ideen? Hat Rosner etwa –«
»Nein, er hat sein Wort nicht gebrochen!« fiel das junge Mädchen rasch ein. »Er that im Gegenteil alles, um mich an einen Zufall glauben zu lassen, und ich ließ mich ja auch täuschen. Aber vorhin erzählte mir Ullmann ahnungslos von dem Telegramm, das Sie nach Dresden sandten, um den Professor herzurufen, solange ich noch in Restovicz war – und das übrige habe ich erraten!«
Berneck stand da mit tiefverfinstertem Gesicht und fest zusammengepreßten Lippen, der alte feindselige Ausdruck erschien wieder in seinen Zügen, als er antwortete: »Ich werde dem alten Schwätzer, dem Ullmann, nachdrücklichst den Text lesen. Er scheint da auf eigene Hand den Spion gespielt und Ihnen allerlei Unsinn vorgeredet zu haben. Wenn ich meinen einstigen Lehrer bat, nach Restovicz zu kommen, was in aller Welt geht denn das Sie an, mein Fräulein, und wie kommen Sie zu solchen Voraussetzungen? Ich bedaure, Ihnen nicht mitteilen zu können, was wir verhandelten, aber auf Sie hatte es jedenfalls keinen Bezug. Ich muß den Verdacht, in dem Sie mich haben, ganz entschieden ablehnen. Bitte, verschonen Sie mich damit!«
Er sprach mit einer fast beleidigenden Schroffheit, offenbar in der Absicht, jede weitere Erörterung unmöglich zu machen, aber er erreichte seinen Zweck nicht. Paula wußte ja, was sich hinter dieser Schroffheit barg, und jetzt hatte sie keine Furcht mehr davor. Langsam hob sie die Augen zu ihm empor.
»Das glaube ich Ihnen nicht, Herr von Berneck. Nein, und wenn Sie mich noch so zornig anblicken! Oder – können Sie mir Ihr Wort darauf geben?«
Er versuchte es, ihrem Blick zu begegnen, nur eine Sekunde lang, dann wandte er sich ab und stampfte in wilder Ungeduld mit dem Fuße, aber er schwieg.
»Ich wußte es!« sagte das junge Mädchen leise.
»Nun, dann hätten Sie uns beiden diese Stunde ersparen sollen!« brach Ulrich jetzt mit vollster Heftigkeit aus, »Haben Sie denn wirklich geglaubt, ich würde Sie allein und schutzlos hinausgehen lassen in eine ungewisse Zukunft, zu fremden, herzlosen Menschen, die in Ihnen nur eine Dienende sehen und Ihnen nur Bitterkeit und Demütigungen zu kosten geben? Ich habe Sie ja doch geliebt, Paula! Soll ich da nicht einmal das Recht haben, Sie zu schützen? Versuchen Sie nicht, mir das zu verweigern, ich lasse es mir nicht nehmen. Ich erzwinge es mir nötigenfalls von Ihnen!«
Das klang alles so herb und drohend, wie mühsam zurückgehaltener Groll, und doch redeten die Augen des Mannes eine ganz andere Sprache, eine Sprache, die Paula verstehen gelernt hatte in jener Stunde am See.
»Ich kann aber nicht!« rief sie außer sich. »Beschämen Sie mich doch nicht so tief! Sie müssen es doch fühlen, daß ich das nicht aus Ihrer Hand nehmen kann und darf.«
»Wenn ich Sie nun aber bitte!« Es klang zum erstenmal etwas wie Weichheit auf in seiner Stimme. »Oder fürchten Sie vielleicht mein Kommen? Ich werde das Rosnersche Haus nie betreten, ich komme überhaupt nicht wieder nach Deutschland, mein Wort darauf! Denken Sie, ich werde betteln um eine Liebe, die mir einmal versagt worden ist? Da kennen Sie mich nicht!«
Er stand in der Mitte des Zimmers, gerade unter der Hängelampe, die jede Linie seiner Gestalt, jeden Zug seines Gesichtes scharf und voll beleuchtete. Paula stand seitwärts im Schatten, sie kämpfte längst schon mit sich selber. Ein Wort, ein Geständnis konnte alles ändern, aber es wollte nicht über ihre Lippen, und seine letzten Worte nahmen ihr vollends den Mut dazu. Er würde ihr nicht glauben, sie kannte ja jetzt sein finsteres Mißtrauen, und das Nein, das sie einmal gesprochen hatte, stand wie eine drohende Schranke zwischen ihnen.
Draußen war es längst dunkel geworden. Eine finstere Nacht brach herein mit schwer bewölktem Himmel, der mit Regen drohte. Man sah kaum einige Schritte weit, und jetzt erhob sich auch der Wind, und ein kalter Luftzug wehte herein durch die offene Thür, welche nach der Terrasse führte. Unwillkürlich blickte Paula dorthin und zuckte plötzlich zusammen.
Die Lampe warf einen breiten Lichtstreif auf die Terrasse, der weiterhin in ungewisse Dämmerung verschwamm, und dort hinten regte sich etwas, schattenhaft und undeutlich, die Umrisse einer menschlichen Gestalt, die eben wieder zurücktauchte in die Dunkelheit. Aber jetzt erhob sich langsam etwas anderes aus diesem Dunkel, matt aufblinkend, als es in jenen Lichtkreis kam, und richtete sich auf den Schloßherrn, der der Thür den Rücken kehrte – der Lauf einer Büchse!
Ein Augenblick und das junge Mädchen hatte alles begriffen. Es war zu spät zu einem Ruf, einer Warnung, der todbringende Lauf lag schußbereit, der nächste Atemzug entschied. Hier konnte nur eins retten! Das fuhr mit der Schnelligkeit des Blitzes durch Paulas Seele, und in der nächsten Sekunde hatte sie dies eine bereits gethan. Sie stürzte auf Ulrich Berneck zu, warf sich an seine Brust und, beide Arme um seinen Hals schlingend, riß sie ihn mit der Kraft der Todesangst seitwärts.
Fast in demselben Augenblick krachte der Schuß! Pfeifend flog die Kugel durch das Gemach, dicht an den Häuptern der beiden vorüber, und schlug, da sie freie Bahn fand, in die gegenüberliegende Wand. Draußen klang es wie ein halbunterdrückter Fluch, dann ein schwerer Fall oder Sprung von der Terrasse, das Krachen und Brechen der Gesträuche, durch die ein Fliehender sich den Weg bahnte – dann tiefe Stille.
Ulrich und Paula sahen und hörten freilich nichts mehr nach dem Schusse. Sie lag noch bleich und bebend an seiner Brust und flüsterte jetzt erst mit versagender Stimme: »Zarzo! Er war es – ich habe ihn gesehen!«
Berneck achtete kaum darauf. Was kümmerte ihn Zarzo und sein Mordplan in diesem Augenblick, es war etwas anderes, was ihm den Atem stocken ließ, als er halblaut sagte: »Paula – allmächtiger Gott! Das hätte Sie treffen können!« »Was that das – Sie waren doch gerettet!« brach das junge Mädchen aus. Es lag ein stürmisch aufwogendes Glück in diesem Ausruf, der alles verriet, selbst wenn die That noch nicht gesprochen hätte.
»Paula, hast du dich geängstigt um mich?« fragte er leidenschaftlich. Sie antwortete nicht, sie hob nur die Augen zu ihm empor, aus denen jetzt ein heißer Thränenstrom stürzte, und barg das Köpfchen dann wieder an seiner Brust, und er brauchte auch keine andere Antwort.
Da wurde die Thür aufgerissen, und Ullmann, der den Schuß gehört hatte, stürzte herein. »Herr Ulrich – barmherziger Gott!« schrie er, verstummte aber jäh beim Anblick der Gruppe und stand da, als sei er in eine Salzsäule verwandelt.
»Ja, Alter, das galt mir!« sagte Berneck, indem er sich emporrichtete, ohne Paula aus den Armen zu lassen. »Gib dich zufrieden, es ist ja nichts geschehen. Wir sind beide unversehrt!«
Der alte Diener war fast ebenso erschrocken über das, was er vor Augen sah, als über den Mordanfall, den er bei dem Schuß sofort geahnt hatte. Als ihm die Besinnung zurückkam, eilte er zunächst nach der Terrasse und schloß die Außenthür, die feste Laden hatte, aber er zitterte noch an allen Gliedern.
»Ich habe es ja gewußt!« rief er. »Das war der Zarzo und kein anderer!«
»Jawohl, da sitzt seine Kugel!« sagte Ulrich, indem er nach der Wand blickte, wo die Tapete durchgeschlagen und der Kalk abgebröckelt war. »Er schießt gut, und ich war verloren ohne den Schutzengel, der neben mir stand. Schau ihn dir nur an, Ullmann, der hat mich gerettet!«
Er ließ jetzt erst das junge Mädchen aus den Armen, und nun erschien auch Frau Almers, die allerdings nicht ahnte, was geschehen war, aber sie kam doch in voller Unruhe.
»Was ist denn vorgefallen?« fragte sie. »Das war ja ein Schuß, in unmittelbarer Nähe des Schlosses! Hast du es auch gehört, Ulrich? Es hat doch kein Unglück gegeben?«
»Nein, aber es sollte eins geben,« versetzte Ulrich. »Erschrick nicht, Tante, erfahren mußt du es ja doch! Es war ein Racheakt, der mir galt. Ich habe kürzlich einen meiner Förster fortgejagt, und dafür wollte er mich nun niederschießen. Man macht hier zu Lande nicht viel Umstände, wenn man eine Büchse führt.« »Um Gottes willen!« rief die alte Dame in vollstem Entsetzen und sank mehr in einen Sessel, als sie sich niederließ, aber schon in der nächsten Minute gewann ihre energische Natur wieder die Oberhand.
»Und da stehst du so gelassen da und läßt den Mordbuben entkommen? So laß ihm doch nachsetzen, rufe die Leute zusammen! Er kann ja nicht weit sein.«
»Der ist längst in Sicherheit,« erklärte Berneck mit einer Ruhe, die seiner Tante unbegreiflich erschien. »Er kennt hier alle Schleichwege, und meine Leute holen ihn gewiß nicht ein, sie helfen ihm höchstens bei der Flucht. Denen wäre es schon recht gewesen, wenn er getroffen hätte.«
»Das sind ja furchtbare Zustände in deinem Restovicz!« rief Frau Ulmers halb angstvoll und halb empört. »Ulrich, wie kannst du das nur ertragen! Wie kannst du nur daran denken, allein zu bleiben unter solchen Menschen!«
Ulrich lächelte, und der herbe Zug in seinem Antlitz verschwand unter diesem Lächeln.
»Ich bleibe ja nicht mehr allein!« sagte er. »Ich habe ja jetzt mein Glück zur Seite. Das stand vorhin neben mir, als die Kugel uns beinahe streifte, und dem will ich auch ferner vertrauen. Paula, du weißt es ja nun, welche Gefahren Restovicz birgt. Es war nicht die erste, die mir drohte, und wird auch nicht die letzte sein. Hast du trotz alledem den Mut, hier mit mir zu leben, oder hast du Furcht davor?«
Es lag doch noch eine verhaltene Angst in der Frage, aber die Antwort klang wie in ausbrechendem Jubel.
»Ich fürchte nichts, gar nichts, Ulrich, wenn ich bei dir bin! Ich bleibe bei dir im Leben und Tod!«
Da ging ein Aufleuchten über die Züge des Mannes, das sie lange, lange nicht gekannt hatten. Er nahm »sein Glück« in die Arme und schloß es so fest an die Brust, als wolle er es nie wieder von sich lassen.
Die alte Dame bot jetzt einen ähnlichen Anblick wie Ullmann vorhin, sie saß wie erstarrt da. Was sie vor sich sah und hörte, das war ja ihr Wunsch und Wille, und sie begriff es auch, daß Ulrich nun endlich selbst gesprochen hatte, aber was er und Paula, von der sie doch höchstens Gehorsam erwartete, da verrieten, das hatte sie nicht geahnt, als sie ihren klugen Plan entwarf, das ging weit über ihr Programm hinaus. Berneck führte seine junge Braut zu ihr, und jetzt wurde seine Stimme wieder tiefernst.
»Du weißt es ja noch gar nicht, Tante, was eigentlich geschehen ist. Ihr allein dankst du mein Leben, ohne sie läge ich jetzt sterbend dort am Boden. Zarzo fehlte nie, und er hätte auch mich getroffen, aber Paula sah ihn, in dem Augenblick, wo er anlegte. Warnen konnte sie mich nicht mehr, da warf sie sich an meine Brust und riß mich aus der Gefahr. Nur einen Schritt weniger, und die Kugel hätte sie getroffen, sie deckte mich ja mit ihrem eigenen Leibe!«
Die sonst so kalte, stolze Frau war bleich geworden bei diesem Bericht. Das brach endlich das Eis. Ihr Neffe war das einzige, was sie überhaupt liebte in der Welt, das einzige, dessen Verlust sie nie verwunden hätte. Sie streckte dem jungen Mädchen beide Arme entgegen.
»Paula, mein Kind – du hast mir meinen Ulrich erhalten? Komm zu mir! Ich muß dir doch danken dafür!«
Paula wußte nicht, wie ihr geschah, sie fühlte ein paar Thränen auf ihrer Stirn, einen warmen Kuß, und es war die Umarmung einer Mutter, die ihr jetzt zu teil wurde.
»Nun, Ullmann, jetzt darfst du auch kommen und uns Glück wünschen,« sagte Berneck, indem er sich zu seinem alten Getreuen wandte, der noch immer an der Thür stand und sich mühte, das Unerhörte zu begreifen. »Deine allerhöchste Sanktion zu unserer Verlobung werden wir wohl erhalten, du hast ja von jeher geschwärmt für deine künftige Herrin, und wirst dich geduldig unter ihrem Scepter beugen. Ich gedenke dir darin mit gutem Beispiel voranzugehen.«
Ullmann kam heran und faßte mit beiden Händen die dargebotene Rechte, aber er blickte fast erschrocken zu seinem Herrn auf, aus dessen Munde zum erstenmal seit Jahren wieder ein Scherz kam.
»Herr Ulrich!« rief er endlich mit ausbrechender Freude. »Ich gratuliere ja tausendmal! Herr Ulrich, ich glaube, die alten Zeiten kommen wieder zurück bei uns!«
Berneck lächelte. »Ich glaube es auch, Alter! Du hattest ganz recht mit dem ›Sonnenschein‹ Ich habe ihn auch gespürt, und den behalten wir ja jetzt in Restovicz. Und nun sollst du auch wieder deutsche Gesichter sehen im Hause, hast dich ja oft genug danach gesehnt!« »Das weiß der Himmel!« sagte Ullmann mit einem Stoßseufzer. »Wir sind ja selbst fast wie die Wilden geworden hier unter dem Volk! Herr Ulrich, Sie wollten wirklich –«
»Natürlich will ich! Denkst du, ich werde die junge gnädige Frau nur mit Slowenen umgeben, die uns eben erst eine solche Probe ihrer Liebenswürdigkeit gegeben haben? Die ganze Schloßdienerschaft wird deutsch, und das andere wird sich später finden. Du kannst einstweilen den Majordomus von Restovicz spielen und die Gesellschaft in Ordnung halten.«
»Gott sei Dank!« Der alte Diener faltete förmlich andächtig die Hände bei dieser Ankündigung. Die künftige »junge gnädige Frau« wirkte ja schon Wunder, noch ehe sie das Regiment hier angetreten hatte! Aber auch Frau Almers blickte mit unverhehltem Erstaunen auf ihren Neffen, der Ton und Blick erinnerten so ganz an den Ulrich Berneck von einst, und auch in ihrem Innern klang ein unausgesprochenes: Gott sei Dank! –
Es war am Morgen des nächsten Tages. In der Nacht war ein schwerer Regenschauer niedergegangen, aber jetzt lagen Restovicz und seine Umgebung im hellen Frühlichte. In dem Terrassenzimmer stand der Schloßherr mit seiner jungen Braut, er hatte den Arm um sie gelegt, und sie schmiegte sich, noch halb scheu ob der ungewohnten Vertraulichkeit, an ihn, die rosige Jugend mit ihrer sonnigen Heiterkeit an den ernsten, düsteren Mann, von dem freilich jetzt die Düsterheit gewichen war. Eine Kugel hatte ihm damals vor Jahren die ganze hoffnungsreiche Zukunft vernichtet – und eine Kugel hatte ihm jetzt sein Glück in die Arme geworfen. Nun hielt er es fest!
»Du meinst, Zarzo wäre nicht mehr zu erreichen?« fragte Paula, während sie noch mit einem leisen Schauer nach der Stelle blickte, wo der Tod gestern an ihnen vorübergeflogen war, so nahe, daß sein Hauch sie fast berührte. »Wenn er sich nur nicht irgendwo in der Nähe verborgen hält und es noch einmal –«
»Der kommt nicht mehr zurück!« unterbrach sie Ulrich mit voller Bestimmtheit. »Ich kenne den feigen Burschen. Er wagt so etwas nur einmal, und auch nur dann, wenn er sich sicher glaubt vor der Entdeckung. Er weiß, daß er erkannt worden ist und verloren ist, wenn er in der Nähe bleibt, da sucht er sein Heil nur in schleuniger Flucht. Der geht so weit als möglich, Restovicz ist sicher vor ihm!« »Und ich nahm damals noch seine Partei,« sagte das junge Mädchen gepreßt, »Du freilich kanntest ihn besser.«
»Jawohl, ich ahnte so etwas, als ich ihn entließ, aber ich werde den Buben doch nicht behalten, aus Furcht vor seiner Rache? Er hat auch einmal ›Edelwild‹ gejagt, aber er war glücklicher als ich. Er fehlte – ich traf!«
Paula blickte bittend zu ihm auf.
»Ulrich, wirst du das denn nun endlich überwinden?«
»Wenn du bei mir bleibst, ja!« sagte er mit einem tiefen Atemzuge. »Ich bin immer so allein gewesen mit der furchtbaren Erinnerung und mein armer Hans würde mir nicht zürnen, wenn ich sie nun endlich begrabe. Ich will es ja lernen, wieder Mut zum Leben zu haben und Freude am Leben – ich habe ja dich!«
Aus der Tiefe, wo der blaue Morgenduft noch alles dicht umschleierte, stieg jetzt ein Ton herauf, leise und geheimnisvoll, wie ein Gruß aus weiter Ferne. Die Glocke der Marienkapelle klang über den See hin, und der Klang, halb verweht im Morgenwinde, fand doch den Weg empor zu den alten grauen Mauern von Restovicz, die jetzt im goldenen Frühlicht standen. Es war so düster gewesen da drinnen, jahrelang, jetzt war es hell geworden!