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Heimatklang.
Das Meer lag tiefblau im Sonnenglanz, aber es ruhte nicht in träumender Stille. Unaufhörlich hoben sich weiße Schaumkronen empor und sanken wieder zusammen, und das Wogen und Branden der See einte sich mit dem Rauschen des Windes, der durch die Strandwälder hinzog.
Die beiden Boote, die mit vollen Segeln der schleswig-holsteinschen Küste zueilten, hatten eine nicht ganz unbedenkliche Fahrt, denn die Wellen gingen hoch und der Wind blies scharf von Norden, aber das Steuer schien bei beiden Fahrzeugen in sicheren Händen zu liegen, denn sie hielten unentwegt die Richtung fest und wandten sich endlich dem Herrenhause zu, das mit seiner breiten steinernen Terrasse und seinem hohen spitzen Ziegeldache aus den Laubmassen eines jetzt schon herbstlich gelichteten Parkes hervorblickte.
Es war ein altes, mächtiges Gebäude, das noch die Spuren ehemaliger Befestigung zeigte, freilich ohne mittelalterliche Pracht und Romantik. Schlicht und prunklos standen die altersgrauen Mauern da, aber sie schauten so trotzig in das Meer hinaus, als wollten sie ihm und seinen Stürmen zurufen: Kommt nur heran!
An einem der Fenster des ersten Stockwerkes stand ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren, ein schlanker hübscher Junge, und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit in die See hinaus. Jetzt wandte er sich in das Zimmer zurück und rief: »Da kommen die Boote endlich heran! Sie werden sogleich landen.«
Der alte Herr, an den diese Worte gerichtet waren und der an einem mit Büchern und Schreibheften bedeckten Tische saß, schien die Nachricht nur mit geringem Interesse aufzunehmen, denn er entgegnete in halb unwilligem Ton: »Otto, was wird aus unserer lateinischen Stunde, wenn Sie fortwährend am Fenster stehen? Lassen Sie uns doch endlich beginnen.«
Otto kümmerte sich nicht um die Mahnung, er fuhr mit voller Lebhaftigkeit fort: »Sie kommen mit vollen Segeln, die Wellen spritzen und schäumen nur so über Bord, eine prächtige Fahrt!«
»Eine heillose Fahrt!« berichtete der alte Herr kopfschüttelnd. »Welch eine Idee, bei solchem Wetter ein Wettsegeln zu unternehmen und noch dazu in Begleitung von Damen! Aber das ist so recht nach dem Geschmack des Herrn von Mansfeld, und Hauptmann Horst unterstützt ihn redlich darin. Alle Tage haben sie einen neuen Einfall. Doch Sie sehen ja, daß die Boote sicher landen, nun lassen Sie uns zu unseren Büchern zurückkehren.«
»Die langweiligen Bücher! Die sind schuld daran, daß ich heute wieder nicht mitfahren durfte,« schmollte Otto, indem er gleichwohl der Aufforderung nachkam und am Tische Platz nahm. Der Lehrer bemühte sich, seine etwas pedantischen, aber unendlich gutmütigen Züge in strenge Falten zu legen.
»Jawohl, segeln, reiten und jagen – weiter haben Sie nichts im Kopfe, als ob es gar nichts anderes in der Welt zu lernen gäbe.«
»Pah, ich will kein Gelehrter werden! Ich werde Soldat, wie mein Vater!«
»Glauben Sie etwa, daß dazu keine Studien gehören? Ein Knabe wie Sie kann sich überhaupt noch nicht ernstlich für irgend einen Beruf entscheiden. In Ihrem Alter wechselt man zehnmal seine Neigungen.«
»In meinem Alter?« wiederholte Otto beleidigt. »Ich bin fünfzehn Jahre, Herr Doktor, und werde von Ihnen und dem ganzen Hause immer noch als Kind behandelt. Aber lassen Sie nur den Krieg ausbrechen, dann werfe ich den ganzen Bücherkram beiseite und gehe mit!«
»Brav, Junker Otto!« sagte eine Stimme von der Tür her, die in diesem Augenblick geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand ein Mann von etwa dreißig Jahren, eine kraftvoll energische Erscheinung, aber in einer Kleidung, wie sie die reichen Bauern der Umgegend zu tragen pflegten. Er schien sich trotzdem hier im Schlosse als gleichberechtigt zu fühlen, denn er trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, vollends ein und streckte dem Junker die Hand entgegen, der fröhlich aufsprang mit dem Rufe: »Arnulf! Zeigst du dich endlich einmal wieder?«
»Ja, wenn Herr Arnulf Jansen dazwischen kommt, wird es wohl mit der Lehrstunde zu Ende sein,« sagte der Doktor mit gutmütigem Spott. »Es ist gar nicht nötig, daß Sie mir meinen Zögling noch unbändiger machen, als er ohnehin schon ist. Ich habe Mühe und Not genug, ihn bei den Büchern festzuhalten.«
»Das glaube ich,« war die trockene Antwort. »Aber einen Bücherwurm machen Sie doch nicht aus ihm.«
»Sie sind sehr artig!« rief der alte Herr verletzt.
»Nun, schlimm habe ich das nicht gemeint,« lenkte Jansen ein. »Ich meinte nur, es gibt Menschen, die eigens für die Bücher erschaffen sind, wie Sie zum Beispiel, Herr Doktor Lorenz, aber es gibt auch andere, die sind geschaffen, sich mit dem Leben und der Welt da draußen tüchtig herumzuschlagen und zur Not auch einmal dreinzuschlagen, wenn es nicht anders geht, und unser Junker – nun, dem sieht man es doch auf zehn Schritt an, wozu der erschaffen ist.«
»Zum Dreinschlagen!« fiel Otto triumphierend ein. »Ich wollte, es wäre erst so weit!«
»Fangen Sie nur nicht gleich auf der Stelle damit an,« rief Lorenz, indem er mit einer ängstlichen Bewegung die Arme über seine geliebten Bücher ausbreitete. Arnulf Jansen aber nickte dem jungen Ungestüm nur zu und sagte kurz: »Vielleicht kommt es eher dazu, als wir denken. – Ich wollte die Frau Baronin sprechen, das Fräulein ist doch auch daheim?
»Nora war auf der See mit Hellmut und unseren Gästen,« berichtete Otto, der wieder an das Fenster getreten war, »aber sie müssen bereits gelandet sein. Richtig, da kommen sie, jetzt werde ich doch endlich erfahren, wessen Boot das erste am Strandholm gewesen ist.«
Er stürmte hinaus, den Ankommenden entgegen. Der Doktor stieß einen Seufzer aus, schloß aber ergeben das Buch, das er noch geöffnet in der Hand hielt, Jansen dagegen wiederholte in herbem Tone: »Mit Hellmut! Freilich, der neue Majoratsherr ist ja jetzt hier.«
»Allerdings, seit acht Tagen,« bestätigte Lorenz. »Haben Sie ihn schon gesehen?«
»Nein – trage auch kein Verlangen danach!«
»Sie sind ungerecht. Baron Hellmut ist eine sehr liebenswürdige Persönlichkeit.
»Und ein Däne dazu! Er macht ja gar kein Hehl daraus, und man spürt es auch schon, das neue Regiment auf den Mansfeldschen Gütern.«
Das Gesicht des Doktors wurde plötzlich ernst und bekümmert, er zuckte die Achseln.
»Was hätte er denn auch anders werden sollen bei dieser Erziehung? Er war ja noch ein Knabe, als seine Mutter sich zum zweitenmal vermählte und dem Baron Odensborg die Hand reichte. Man konnte ihr den einzigen Sohn doch nicht streitig machen, und der Stiefvater hat ihn gänzlich in seinen Anschauungen erzogen. Er ist der Heimat und der Familie systematisch entfremdet worden, das war ein Unglück für ihn, seine Schuld war es nicht.«
»Aber seine Schuld war es, daß er in all den langen Jahren nicht einmal nach der Heimat gefragt hat,« fiel Jansen heftig ein, »daß er niemals Zeit fand, hierher zu kommen, wo er geboren, wo sein Vater begraben liegt, wo seine alten Großeltern lebten. Seine Schuld ist's, daß er nicht einmal kam, um dem alten Majoratsherrn die Augen zuzudrücken. Er hat sich sein Leben lang nicht um Vaterland und Familie gekümmert, da wird er es wohl auch ertragen, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Hoffentlich geht er bald wieder – dahin, wo er hergekommen ist.«
»Das glaube ich kaum,« warf Lorenz ein. »Schon die Übernahme der Güter wird es notwendig machen, daß er vorläufig hier bleibt und dann – Sie kennen ja die Testamentsbestimmung.«
Arnulf zog finster die Brauen zusammen, und seine Stimme klang dumpf und grollend, als er erwiderte: »Ja, ich kenne sie! Das kann der alte Herr auch im Grabe nicht verantworten, was er da getan hat.«
»Arnulf!«
»Jawohl, Herr Doktor, ich sage es und ich bleibe dabei! Er ist immer so gerecht gewesen, sein Leben lang, und die Enkelin war von jeher sein Liebling – und nun verkauft er sie noch mit dem letzten Atemzuge an einen Menschen, der zum Feinde seines Vaterlandes geworden ist.«
»Sie haben eine entsetzlich rücksichtslose Art, sich auszudrücken,« sagte Lorenz unwillig. »Verkaufen! Wenn es sich um eine Verbindung zwischen nahen Verwandten handelt, um den letzten Wunsch eines Sterbenden! Es ist möglich, daß dem alten Baron der Gedanke nahe gelegen hat, durch diese Heirat die Zukunft Eleonores und ihres Bruders zu sichern, die Hauptsache aber war, daß er hoffte, es würde einer jungen, schönen Frau gelingen, was ihm leider nie gelang, Hellmut den Seinigen zurück zu gewinnen. Aber Sie müssen gleich alles auf die Spitze stellen mit Ihrer Schroffheit. Man sieht es, daß Ihnen der weibliche Umgang fehlt, daß Sie ganz allein auf ihrem großen Hofe leben. Noch immer fehlt Ihrem Hause die Frau.«
»Mein Haus ist in Ordnung, auch ohne Frau!« erklärte Jansen kurz, indem er sich abwandte und zum Fenster hinausschaute.
»Aber seinem Herrn könnte es nicht schaden, wenn da eine andere Ordnung einkehrte. Sie sind dreißig Jahre, Arnulf, sind einer der Reichsten in der ganzen Umgegend, und wo Sie auch anklopfen, Ihnen gibt man sicher keinen Korb. Wann werden Sie endlich –«
»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Doktor,« unterbrach ihn Jansen mit der eben so gerügten Schroffheit. »Ich will nun einmal nicht! So ist's und damit ist's gut.«
Der alte Herr schüttelte den Kopf bei dieser rücksichtslosen Abweisung und sagte ärgerlich: »Nun, das weiß der Himmel, viel verlieren unsere Frauen nicht, wenn Sie ihnen als Ehemann verloren gehen.«
»Das glaube ich auch,« stimmte Jansen bei, »also ist uns beiden geholfen.«
Er brach ab, denn draußen vernahm man Stimmen, und die Heimkehrenden traten ein, der junge Majoratsherr in Begleitung einer Dame und Ottos, der im Tone der Enttäuschung sagte: »Also beide seid ihr angekommen? Ich glaubte, Fritz Horst würde der erste sein!«
»Es wäre dir wohl eine rechte Genugtuung gewesen, wenn er mich um einige Bootslängen geschlagen hätte?« fragte Hellmut lachend. »Nein, mein kleiner Vetter, für diesmal habe ich dem Herrn Hauptmann doch den Rang streitig gemacht. Die Wette blieb unentschieden, denn die Boote langten gleichzeitig am Strandholm an.«
Die junge Dame hatte sich inzwischen zu den beiden Herren gewandt. Man sah es, daß sie und Otto Geschwister waren, die Ähnlichkeit verriet sich auf den ersten Blick.
Es waren dieselben Züge, dieselben dunklen, sprechenden Augen, das weiche, braune Haar, das sich bei dem Knaben in üppigen Locken kräuselte und bei dem jungen Mädchen in reichen Flechten um den Kopf legte. Aber während bei Otto alles sprühende Jugendlust war, lag auf dem schönen Antlitz seiner Schwester ein Ernst und eine Kälte, die nicht recht zu ihren neunzehn Jahren passen wollten, vielleicht hingen sie mit der Trauerkleidung zusammen, die sie trug. Sie nickte dem Doktor freundlich zu und bot Jansen mit vollster Vertraulichkeit die Hand.
»Wir haben Sie ja so lange nicht gesehen, Arnulf,« sagte sie vorwurfsvoll. »Hatten Sie irgend eine Abhaltung?«
»Nein, Fräulein Eleonore, aber ich fürchtete zu stören, weil die dänischen Herren hier sind,« versetzte der Gefragte, mit einem feindseligen Blick auf den jungen Majoratsherrn, der jetzt aufmerksam wurde und herantrat.
»Herr Arnulf Jansen, unser Gutsnachbar,« stellte Eleonore vor. »Mein Vetter, Baron Mansfeld.«
»Jansen – Jansen?« wiederholte Hellmut langsam. »Bei dem Namen steigt mir eine Erinnerung aus der Jugendzeit auf. Sind wir nicht als Knaben Spielgefährten gewesen?
»Möglich, Herr Baron!« war die kalte Antwort. »Aber das haben wir beide wohl längst vergessen.«
»Ich nicht,« sagte Hellmut, mehr belustigt als ärgerlich über diese Zurückweisung. »Mein Gedächtnis ist treu in solchen Dingen, es sagt mir zum Beispiel, daß Arnulf Jansen schon damals ebenso schroff und unzugänglich war, wie heute. Sie sind der alte geblieben!«
Man konnte nicht leicht etwas Verschiedeneres sehen als diese beiden Männer, wie sie so nebeneinander standen, und doch waren sie Söhne eines Landes, Kinder derselben nordischen Heimat und beide blond und blauäugig wie echte Nordlandskinder.
Hellmut von Mansfeld, eine schlanke vornehme Erscheinung, verriet schon in seinem Äußern den vollendeten Weltmann. Die Züge waren vielleicht etwas zu weich, und den zarten weißen Händen glaubte man es kaum, daß sie im stande seien, bei diesem Wind und Wellengang ein Boot zu führen. Trotzdem hatte die Persönlichkeit des jungen Majoratsherrn etwas ungemein Gewinnendes, und was ihm an Männlichkeit abging, ersetzte er durch vollendete Liebenswürdigkeit. Freilich schien er es mit dem Leben nicht sehr ernst zu nehmen, sein ganzes Wesen atmete übermütige, ausgelassene Heiterkeit, und so ließ er sich denn auch durch die Unfreundlichkeit des einstigen Spielgefährten keineswegs die Laune verderben, sie amüsierte ihn offenbar.
Arnulf Jansen mochte etwa vier Jahre älter sein, Haar und Augen waren dunkler als bei dem jungen Baron, das Antlitz gebräunt von Sonne und Luft und den harten braunen Fäusten sah man es an, daß sie gewohnt waren, bei der Arbeit selbst mit anzugreifen. Die kraftvolle gedrungene Gestalt, die energischen, etwas finsteren Züge konnten allerdings nicht für schön gelten, aber sie erzwangen sich Beachtung. Haltung und Auftreten waren ebenso schroff wie die Worte des Mannes, dem die gesellschaftlichen Formen entweder unbekannt oder unbequem waren. Er setzte augenscheinlich einen Stolz darein, nichts anderes als ein Bauer zu sein und sich nur als solcher zu geben, obgleich seine Redeweise entschieden eine höhere Bildung verriet.
»Ich bin nicht so weit in der Welt herumgekommen wie Sie, Herr Baron,« sagte er, die letzte Bemerkung beantwortend. »Da draußen in Kopenhagen und Paris und Italien lernt man ja so manches, wovon unsereins keine Ahnung hat.«
Der Ton hatte etwas Herausforderndes, aber Hellmut schien nicht geneigt, darauf einzugehen. Er zuckte nur die Achseln.
»Wenigstens lernt man mehr da draußen, als wenn man jahraus jahrein an seiner Scholle kleben bleibt.«
War es das halbverächtliche Achselzucken oder der überlegene Spott in diesen Worten, Arnulf schien sie als eine Beleidigung zu nehmen, er richtete sich drohend auf.
»Die Scholle, an der wir kleben, ist unsere Heimat! Darauf sind wir geboren, daran halten wir fest, die verteidigen wir mit Gut und Blut und wer uns die nehmen will –«
»Arnulf!« sagte Eleonore, die hinter ihn getreten war, halblaut und warnend.
Das einzige leise Wort hatte eine seltsame Wirkung auf den trotzigen Mann. Er brach plötzlich mitten in der Rede ab und schien sich gewaltsam zu bezwingen, denn er fuhr in bedeutend gemildertem Tone fort: »Das ist nun einmal hierzulande unsere Meinung, Herr von Mansfeld. So denkt einer und so denken alle – und nun Gott befohlen, ich muß zur Frau Baronin.«
Er wandte sich um, mit einem Gruß, dem man das Widerwillige ansah, und schritt zur Tür hinaus. Hellmut blickte ihm halb lachend, halb ärgerlich nach.
»Ein rechter Bär, dieser Jansen. Aber freilich, so ist er immer gewesen, grob und unverschämt, wie ein echter Bauer! Und dabei war er bärenstark, wer mit ihm anzubinden wagte, lag in der nächsten Minute am Boden.«
»Arnulf Jansen hat Friesenblut in den Adern,« sagte Eleonore ruhig. »Er hat die Fehler wie die Tugenden seines Stammes. Solche Naturen erscheinen oft hart und rauh, sind es auch vielleicht, aber dafür halten sie aus in Sturm und Unwetter, und kein Sturm bringt sie auch nur einen Schritt von dem Platze weg, den sie nun einmal behaupten wollen.«
»Und dieser rauhe Held imponiert meiner schönen Base außerordentlich, wie ich sehe,« spottete Hellmut. »Er scheint überhaupt hier im Schlosse eine ganz eigentümliche Stellung einzunehmen und sich als vollkommen gleichberechtigt zu betrachten.«
»Er ist ein Freund unseres Hauses.«
»Der – Bauer?«
Die Frage klang ebenso erstaunt wie verächtlich. Eleonores Augen flammten plötzlich auf und mit vollem Nachdruck antwortete sie: »Ja – der Bauer!«
»Der uns den Vater gerettet hat, als er schwer verwundet fiel, in der unglückseligen Schlacht, die über das Schicksal unseres Landes entschied,« fiel Otto stürmisch ein. »Damals hat Arnulf, selbst erst ein Bursche von sechzehn Jahren, seinen Oberst mit dem eigenen Leibe gedeckt, hat ihn im ärgsten Kugelregen aus dem Gefechte getragen und ihn dann später mitten durch die Verfolger, durch all die Schrecken und das Elend der Niederlage geflüchtet, bis er in Sicherheit bei den Seinigen war. Weißt du das wirklich noch nicht, Hellmut?«
»Ja so – er ist der Lebensretter des Onkel Waldow gewesen,« sagte der junge Baron leichthin. »Richtig, jetzt erinnere ich mich der Sache, aber ich hatte sie längst vergessen. Wer kann auch all diese alten Familiengeschichten im Kopfe haben! Also daher stammt Eleonores Bewunderung für diesen Friesenhelden, der mich in ihren Augen vollständig zu verdunkeln scheint. Wenn er nicht ein Bauer wäre – wer weiß, die Sache könnte gefährlich werden!«
Er lachte laut auf über seinen komischen Einfall und blickte neckend zu seiner Base hinüber. Aber er begegnete einem eisigen Blick, und ebenso eisig zurechtweisend klang die Antwort.
»Wir sprachen von unserem toten Vater, Hellmut – und von einer schweren Unglückszeit unseres Landes!«
»Mein Gott ja, aber man kann doch nicht immer ernst sein!« rief Hellmut ungeduldig und wandte sich rasch nach der Tür um, wo in diesem Augenblick die beiden anderen Teilnehmer der Bootspartie eintraten.
»Da kommen die Nachzügler!« rief Otto. Aber der Ton klang ganz anders, viel herzlicher als jener, mit dem er vorhin seinen Vetter Hellmut begrüßt hatte.
Hauptmann Horst, eine hohe, markige Gestalt, die auch in der Zivilkleidung den Soldaten nicht verleugnete, war kein Jüngling mehr, er mochte in der Mitte der Dreißig stehen. Der dunkle Vollbart umrahmte ein Gesicht, das mehr intelligent als schön war, und Haltung und Sprache zeigten eine Ruhe, die man für Phlegma hätte halten können, wären die dunklen Augen nicht gewesen. Sie blickten für gewöhnlich zwar auch ruhig und ernst, aber sie konnten in einzelnen Augenblicken doch aufblitzen mit vollem Feuer.
Seine Begleiterin, eine zarte, kleine und anmutige Erscheinung, mochte ungefähr so alt sein, wie Eleonore Waldow, sah aber bedeutend jünger aus, und die beiden Grübchen in den rosigen Wangen verrieten, daß sie sich mit dem Ernste nicht allzuviel abgab. In diesem Augenblick freilich lag ein bitterböser Ausdruck auf dem reizenden Gesichtchen, und die Bewegung, mit der sie den Hut von dem blonden Köpfchen nahm und auf den nächsten Stuhl warf, hatte etwas von der Unart eines verzogenen Kindes.
»So spät, meine Herrschaften?« empfing sie Hellmut. »Weshalb legte denn Ihr Boot unten beim Dorf an, statt an der Terrasse zu landen? Sie mußten ja dort den Umweg durch den ganzen Park machen.«
Der Hauptmann zuckte die Achseln.
»Auf höchsten Befehl! Fräulein von Bernsholm wünschte es so.«
»Ich wollte keine Minute länger auf der See bleiben,« erklärte die junge Dame in sehr bestimmtem Tone. »Ich hatte genug von der Fahrt bei diesem abscheulichen Wetter.«
»Das Wetter ist wunderschön,« sagte Horst ruhig. »Ein wenig hohe See und ein Wind, wie man ihn nicht prächtiger zum Segeln haben kann.«
»Und Spritzwellen, die uns bis auf die Haut durchnäßten! Dabei schoß unser Boot durch die Wogen, daß mir Hören und Sehen verging, und Sie saßen am Steuer und lachten über meine Angst. Ich begreife nicht, wie Sie mir eine solche Fahrt zumuten konnten.«
»Ich? Aber mein gnädiges Fräulein, ich warnte Sie ja ausdrücklich, mitzufahren. Sie waren es, die darauf bestand.«
»Ich konnte nicht wissen, daß die See so hoch ging,« war die ungeduldige Antwort.
»Das war vom Strande aus sehr leicht zu bemerken.«
»Sie sind in Ungnade, Herr Hauptmann,« sagte Hellmut lachend. »Da hilft Ihnen keine Verteidigung, bitten Sie Fräulein von Bernsholm schleunigst um Verzeihung.«
Der Hauptmann schien nicht geneigt, diesen Rat zu befolgen, und die Verzeihung wäre ihm auch schwerlich erteilt worden, denn die junge Dame warf sich mit allen Anzeichen übler Laune in einen Lehnstuhl und machte ein Gesicht, als sei sie entschlossen, mit aller Welt zu schmollen.
»Wir wollten ja den neuen Flügel probieren, den ich habe kommen lassen,« fuhr Hellmut fort. »Er ist jetzt im Saale aufgestellt und ich hoffe meiner gestrengen Base zu beweisen, daß ich ihr auf diesem Felde wenigstens einigermaßen gewachsen bin.«
»An deinen gesellschaftlichen Talenten habe ich nie gezweifelt,« sagte Eleonore kühl. »Kommst du nicht mit uns, Eva?«
Eva lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.
»Nein, ich habe Kopfschmerzen von der entsetzlichen Fahrt und brauche ungestörte Ruhe.«
»Herr Hauptmann Horst, wir müssen allesamt Ihre Sünden büßen,« scherzte Baron Mansfeld. »Aber Otto begleitet uns, ich bitte ihn los von der lateinischen Stunde. Nicht wahr, Herr Doktor, Sie geben ihn frei?«
Doktor Lorenz hatte keinen sehr aufmerksamen oder vielmehr gar keinen Zuhörer bei dem Gespräche abgegeben. Er hatte irgend eine interessante Stelle in seinen Büchern gefunden und sich so darin vertieft, daß er jetzt gar nicht wußte, wovon die Rede war.
»Sie wünschen, Herr Baron?« fragte er aufblickend.
»Ich wünsche meinen kleinen Vetter loszubitten. Gönnen Sie ihm immerhin einen freien Nachmittag, man muß die Kinder nicht überanstrengen.«
Lorenz schüttelte den Kopf, widersprach aber wenigstens nicht. Otto dagegen nahm die Fürsprache mit voller Entrüstung auf.
»Hellmut, ich verbitte mir diesen Ton! Du suchst förmlich etwas darin, mich als Kind zu behandeln. Wenn du damit nicht aufhörst –«
»So forderst du mich wohl auf Pistolen?« spottete Hellmut. »Nun, das wollen wir später ausmachen. In deinem Alter schlägt man sich noch nicht, da läßt man sich noch von dem Herrn Präzeptor an den Schultisch schrauben. O, nicht dieses bitterböse Gesicht, mein kleiner Vetter! Komm nur, komm!«
Damit ergriff er ihn beim Arm und zog ihn fort.
Es lag trotz allen Übermuts doch eine so bestrickende Liebenswürdigkeit in seiner ganzen Art und Weise, daß selbst Otto sein Sträuben aufgab und sich halb grollend, halb versöhnt fortführen ließ, während Eleonore und Doktor Lorenz ihnen folgten.
Hauptmann Horst schien die gleiche Absicht zu haben, sich aber plötzlich eines anderen zu besinnen, denn vor der Tür kehrte er wieder um und trat hinter den Lehnstuhl, in dem Eva noch immer lag. Einige Sekunden lang blickte er schweigend nieder auf das blonde Köpfchen, das mit geschlossenen Augen in den Polstern ruhte; dann sagte er halblaut: »Also ich bin in Ungnaden?«
Sie richtete sich überrascht und ärgerlich auf.
»Sie sind noch hier? Ich denke, Sie wollten mit den anderen den Flügel probieren?«
»Nein, ich ziehe es vor, Ihnen Gesellschaft zu leisten.«
»Mir? Sie hören ja, daß ich Kopfschmerz habe und der Ruhe bedarf.«
»Sie haben üble Laune, mein gnädiges Fräulein,« sagte Horst mit ruhiger Bestimmtheit.
»Nun und wenn das wäre, so würde Ihre Gegenwart sie sicher nicht verbessern!
»Das weiß ich. Da wir uns aber doch wahrscheinlich zum letztenmal sehen –«
Eva wandte sich rasch und wie erschrocken um.
»Zum letztenmal?«
»Gewiß, Sie beabsichtigen ja morgen schon zu Ihrem Vormunde zurückzukehren, und ich verlasse Mansfeld in einigen Tagen. Überdies bin ich Soldat und wir stehen zweifellos am Vorabende eines Krieges – da wollte ich zum Abschied noch eine Bitte an Sie richten.«
Die angeführten Gründe wirkten offenbar mildernd auf die Stimmung der jungen Dame, die schmollende Miene verschwand und sie erwiderte in ziemlich gnädigem Ton: »Nun, so sprechen Sie!«
»Ich liebe Sie, Eva, und ich bitte um Ihre Hand!« sagte der Hauptmann kurz und bündig.
Eva fuhr empor und blickte ihn an, als habe sie nicht recht gehört.
»Sie bitten –?«
»Um Ihre Hand! Es kann Ihnen ja kein Geheimnis mehr sein, daß ich längst –«
»Herr Hauptmann, Sie wagen es wirklich?« unterbrach ihn Eva in voller Entrüstung.
Er blickte sie erstaunt an.
»Weshalb soll ich denn keine Liebeserklärung wagen?«
»Liebeserklärung! Nennen Sie diesen nüchternen Antrag in zehn Worten wirklich so?«
»Lassen Sie mich denn überhaupt zu Worte kommen? Die Romantik ist freilich mein Fall nicht, ich bin gewohnt, alles kurz, knapp und klar auszusprechen.«
Die junge Dame hatte sich erhoben, sie kam sich offenbar sehr großartig und vernichtend vor, als sie mit vollem Nachdruck erwiderte: »Nun denn, Herr Hauptmann, so werde ich Ihnen die Antwort in Ihrem Stile geben nein!«
»Eva!«
»Wie Sie es gewohnt sind, kurz, knapp und klar – nein!«
Sie warf sich wieder in den Sessel und erwartete nun natürlich die Entfernung des abgewiesenen Freiers, aber sie hatte dessen Beharrlichkeit unterschätzt. Er zog in aller Gemütlichkeit einen anderen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.
»Warum wollen Sie mich eigentlich nicht heiraten?« fragte er im freundschaftlichsten Tone.
Die Frage schien Fräulein Eva in Verlegenheit zu setzen, vielleicht wußte sie es selbst nicht recht, deshalb nahm sie ihre Zuflucht wieder zur Entrüstung.
»Ich werde doch wohl das Recht haben, einen Antrag abzulehnen!«
»Und ich habe das Recht, zu erfahren, warum ich abgewiesen werde.«
Eva besann sich einige Minuten, endlich hatte sie einen triftigen Grund gefunden, den sie nun triumphierend dem hartnäckigen Bewerber entgegenschleuderte.
»Sie sind ein Preuße! und ich hasse die Preußen!«
»Das gibt sich ganz von selbst, sobald Sie einen Preußen zum Manne nehmen,« versicherte Horst.
»Ich hasse aber Sie noch ganz besonders.«
»O, das tut gar nichts, das werden Sie sich schon abgewöhnen, wenn wir erst verheiratet sind,« sagte der unverwüstliche Hauptmann in vollster Seelenruhe.
»Ich beabsichtige aber gar nicht, Sie zu heiraten!« rief Eva empört.
»Aber ich beabsichtige das,« erklärte Horst.
Das war der jungen Dame zu viel, sie sprang von neuem auf.
»Mein Herr, Sie scheinen an dem Ernste meines Entschlusses zu zweifeln, ich versichere Sie aber, daß er unabänderlich ist. Geben Sie sich keine Mühe, mich umzustimmen, es ist vergebens. Ich bleibe unwiderruflich bei meinem Nein!«
»Das war das dritte Mal!« sagte Horst trocken. »Nun habe ich es begriffen.«
»Und nun verzichten Sie hoffentlich?«
»Durchaus nicht! Ganz im Gegenteil –«
»Herr Hauptmann!« fiel ihm Eva ganz außer sich in die Rede, aber diesmal ließ sich der Herr Hauptmann nicht unterbrechen, er sprach ungestört weiter.
»Denn ich weiß, daß es nicht Ihre Abneigung ist, die mir entgegensteht, sondern Vorurteile, äußere Hindernisse, vor allem der Einfluß Ihres Vormundes, der in mir den Preußen haßt und das möglichste tut, mich bei Ihnen zu verleumden. Aber das hilft ihm gar nichts, die Vorurteile werde ich überwinden, die Hindernisse werde ich zu Boden werfen, Ihrem Vormunde werde ich Sie abkämpfen und gegen Sie selbst werde ich so lange Sturm laufen, bis Sie dies dreifache Nein in ein Ja verwandeln. Es nützt Ihnen nichts, Eva, Sie werden doch meine Frau!«
Die Behauptung wurde mit einer solchen Bestimmtheit ausgesprochen, daß die junge Dame anfangs ganz sprachlos war vor Zorn, dann aber brach sie mit vollster Heftigkeit aus: »Ist so etwas je erhört! Sie behandeln mich ja wie ein ganz willenloses Geschöpf, das sich einfach zu fügen hat, da Sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt haben, mich zu heiraten. Aber Sie täuschen sich, ich habe einen Willen, einen sehr energischen Willen, das werde ich Ihnen beweisen. Leben Sie wohl, mein Herr!«
Sie wandte ihm den Rücken und verließ stürmisch das Zimmer, aber Hauptmann Horst schien nun einmal entschlossen, dem schönen eigensinnigen Kinde nichts übel zu nehmen. Er sah weder gekränkt noch entrüstet aus, sondern sah der Flüchtenden nach und sagte mit seiner gewohnten Ruhe: »Und ich heirate sie doch!«
Die Güter der Herren von Mansfeld, ein reicher und ausgedehnter Besitz an der schleswigschen Küste, waren seit fast zwei Jahrhunderten in den Händen dieser Familie gewesen, aber das einst weit verbreitete und verzweigte Geschlecht ruhte gegenwärtig nur noch auf zwei Augen.
Der kürzlich verstorbene Majoratsherr hatte nur einen einzigen Sohn besessen, der bei seinem frühen Tode eine junge Witwe und einen Knaben im zartesten Alter hinterließ, den nunmehrigen Erben der Familiengüter. Der kleine Hellmut lebte anfangs mit seiner Mutter im Hause der Großeltern, aber schon nach wenigen Jahren vermählte sich die junge und noch immer sehr schöne Frau zum zweitenmal und schloß eine Verbindung, die ihrem Schwiegervater allerdings nicht willkommen war. Er hatte von jeher zu der deutschen Partei in den Herzogtümern gestanden, hatte dort eine führende Stellung eingenommen und mußte es nun erleben, daß die Witwe seines Sohnes einem Manne die Hand reichte, der, Däne von Geburt und Abstammung, auch mit aller Entschiedenheit den dänischen Standpunkt vertrat.
Baron Mansfeld hatte allerdings kein Recht, die junge Frau, die durch den Tod ihres Gatten vollkommen frei geworden war, an dieser zweiten Ehe zu hindern, und machte auch keinen Versuch dazu, um so nachdrücklicher versuchte er, sich den Besitz und die Erziehung seines Enkels zu sichern, aber vergebens. Die Mutter wollte sich um keinen Preis von ihrem einzigen Kinde trennen, und der künftige Gemahl unterstützte sie darin energisch. Einen gesetzlichen Grund, ihnen das Kind streitig zu machen, hatte der Großvater nicht, und so mußte er es denn geschehen lassen, daß es den Eltern nach Kopenhagen folgte. Allerdings empfing er das Versprechen, daß Hellmut alljährlich auf einige Zeit zurückkehren sollte, aber dies Versprechen wurde nie gehalten. Anfangs gab es Vorwände, dann Entschuldigungen, endlich entschiedenes Ausweichen, und in dem Maße, wie die nunmehrige Gräfin Odensborg sich der Familie ihres ersten Gatten entfremdete, wußte sie auch ihren Sohn dieser Familie fernzuhalten.
Trotzdem war der Lebensabend des greisen Majoratsherrn und seiner Frau nicht einsam gewesen, denn ihre beiden jüngsten Enkel lebten schon seit Jahren bei ihnen. Die Tochter des Hauses hatte aus vollster Herzensneigung und mit vollster Zustimmung der Eltern dem Oberst Waldow die Hand gereicht, einem tüchtigen Offizier, der freilich weder ein Adelswappen noch Vermögen besaß. Jetzt ruhte auch er schon im Grabe, ebenso wie seine Gattin, und die verwaisten Kinder hatten eine Zuflucht bei den Großeltern gefunden, bis jetzt, wo der gesamte Familienbesitz ausschließlich an Hellmut überging, den Majoratserben, den die Nachricht von der schweren Erkrankung und dem Tode seines Großvaters erst in Italien suchen mußte. Sie erreichte ihn angeblich zu spät, jedenfalls zeigte er keine große Eile, den neuen Besitz anzutreten; es vergingen Monate, ehe er sich zu einem persönlichen Besuche auf seinen Gütern entschloß, und auch jetzt kam er in Begleitung seines Stiefvaters.
Es war am Morgen nach jener Bootsfahrt, der junge Majoratsherr und Hauptmann Horst befanden sich in dem Balkonzimmer, wo sich die Familie gewöhnlich versammelte, während Graf Odensborg, am Fenster sitzend, die Zeitung las. Das hohe, weite Gemach mit seiner altertümlichen Einrichtung war prunklos wie das Schloß selbst, zeigte aber, wie dieses, die ganze Gediegenheit eines reichen festgegründeten Besitzes. Die schweren dunklen Vorhänge, die alten Familienbilder an den Wänden und das lodernde Feuer im Kamin gaben dem großen Raum etwas ungemein Trauliches, und die Fenster boten den vollen Ausblick auf die See, die heute noch stürmischer bewegt war als gestern.
Die beiden jüngeren Herren waren im lebhaften Gespräch begriffen, es handelte sich um die Frage, ob man die Wettfahrt, die gestern unentschieden geblieben war, heute zum Austrag bringen sollte. Hellmut trat entschieden dafür ein, während Horst Bedenken erhob und wenigstens die Damen von der Fahrt ausgeschlossen wissen wollte.
»Mir scheint, Sie sind bei Fräulein von Bernsholm noch nicht wieder zu Gnaden angenommen und wollen ihre Gunst nicht völlig verscherzen,« rief Hellmut lachend. »Gut denn, Fräulein Eva bleibt zurück, aber Eleonore wird sich schwerlich dazu bestimmen lassen. Sie scheut weder Sturm noch Wogen, und ich bin überzeugt, sie wagt es auch heute mit uns.«
»Das glaube ich auch,« stimmte der Hauptmann bei.
»Die Frage ist nur, ob wir es wagen dürfen, sie mitzunehmen.«
»Haben Sie etwa Furcht vor der See?« spottete der junge Baron.
»Wenn es die Sicherheit anderer gilt – allerdings,« war die ruhige Antwort.
»Nun, das wird sich ja finden! Jedenfalls machen wir beide die Sache heute aus, unser Ziel ist, wie gestern, der Strandholm, und um zwölf Uhr segeln wir ab. Ist es Ihnen recht?«
»Gewiß, ich werde pünktlich sein. Guten Morgen, Herr Graf!«
Die letzten an den Grafen Odensborg gerichteten Worte wurden mit auffallender Förmlichkeit gesprochen und mit einem artigen, aber ebenso förmlichen Gruße erwidert. Odensborg hatte sich mit keiner Silbe an dem Gespräche beteiligt und war anscheinend ganz in seine Zeitung vertieft gewesen, kaum aber schloß sich die Tür hinter dem Hauptmann, so legte er das Blatt nieder und stand auf.
Der Graf war ein Mann von einigen fünfzig Jahren, eine vornehme Erscheinung, die mit den verbindlichsten Formen die kühle Zurückhaltung des Diplomaten vereinigte. Die scharfen, klaren Augen schienen an das Beobachten gewöhnt zu sein, und die ganze Persönlichkeit machte unbedingt den Eindruck geistiger Überlegenheit. Es lag aber zugleich eine Kälte darin, die nichts weniger als wohltuend wirkte, und die nur auf Augenblicke einem wärmeren Hauch wich, wenn der Graf sich zu seinem Stiefsohn wandte, jetzt freilich klang seine Stimme ziemlich scharf, als er fragte: »Hellmut, ist es notwendig, daß du diesen preußischen Spion mit solcher Liebenswürdigkeit behandelst?«
Hellmut stutzte und sah ihn erstaunt an.
»Spion? Er ist der Gast meiner Großmutter.«
»Um so schlimmer, denn das zwingt uns, ihn im Schlosse zu dulden.«
»Aber Papa, du weißt ja, daß Horst ein Vetter meines Onkels Waldow war, daß er stets hier im Hause verkehrt hat. Sein Besuch ist ein rein zufälliger, dafür will ich mich verbürgen.«
»Möglich, ich glaube nicht recht an dergleichen Zufälle,« sagte Odensborg kalt. »Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß dein intimer Verkehr mit einem preußischen Offizier in unseren Kreisen sehr befremden wird; du hast Rücksichten auf deine und meine Stellung zu nehmen.«
Der junge Majoratsherr machte ein sehr ärgerliches Gesicht, die Zurechtweisung war augenscheinlich nicht nach seinem Geschmack.
»Hier in Mansfeld kann ich keinen Schritt tun, ohne auf ›Rücksichten‹ zu stoßen,« versetzte er ungeduldig. »Überall wird mir Zwang und Zurückhaltung auferlegt, fortwährend soll ich an meine Stellung denken. Wozu sind wir denn überhaupt hergekommen und wann reisen wir ab? Ich halte es nicht vierzehn Tage hier aus!«
»Wie die Dinge hier liegen, wirst du dich wohl auf einen längeren Aufenthalt gefaßt machen müssen,« war die ruhige Antwort des Grafen. Der junge Mann wurde aufmerksam.
»Wie? Gehen wir denn nicht in der nächsten Woche nach Kopenhagen zurück, wie es ursprünglich bestimmt war?«
»Nein, mein Sohn, wir werden voraussichtlich monatelang, vielleicht sogar den ganzen Winter hier bleiben.«
»Unmöglich, Papa, das kannst du mir nicht zumuten!« fuhr Hellmut auf. »Den ganzen Winter hier in dieser öden Einsamkeit? Das halte ich nicht aus, da tötet mich die Langeweile!«
»Du scheinst dich doch nicht immer hier zu langweilen,« sagte Odensborg mit leisem Spott. »Gestern zum Beispiel, als ich dich vom Flügel abrief, amüsiertest du dich offenbar ganz vortrefflich.«
»Soll ich nicht einmal Eleonore den Hof machen?« schmollte Hellmut. »Das ist ja hier mein einziges Vergnügen.«
»Das ich dir sicher nicht verkümmern würde, wenn es nicht zu Mißdeutungen Anlaß geben könnte. Hast du die letzte Verfügung deines Großvaters vergessen? Deine Verwandte wird sich ihrer um so besser erinnern, denn sie eröffnet ihr die Aussicht, Herrin auf Mansfeld zu werden.«
Der junge Majoratsherr antwortete nur mit einem Seufzer, er schien diesen Punkt vermeiden zu wollen, aber Odensborg trat zu ihm und legte die Hand auf seinen Arm.
»Wir sind ja darüber einig, Hellmut, daß diese lästige Bestimmung unter keiner Bedingung erfüllt wird. Solche Familienbeschlüsse sind überhaupt nicht bindend und dich verpflichten sie zu nichts.«
»Es war nur ein Wunsch, den der Großvater in seinem Testamente aussprach –«
»Um seiner Enkelin eine glänzende Zukunft zu sichern! Das war ganz logisch von seinem Standpunkt aus, aber für dich wäre die Partie doch zu ungleich. Eine arme Verwandte, bürgerlich noch dazu und ohne jedes Vermögen! Ihre Mutter folgte einer romantischen Neigung bei ihrer Heirat, aber für eine Tochter des Mansfeldschen Hauses war es doch eine recht schlechte Partie.«
»Oberst Waldow hat sich damals im Kriege sehr ausgezeichnet,« warf Hellmut ein. »Er war einer der tapfersten Offiziere.«
»Nun ja, ja,« sagte der Graf ungeduldig. »Ich zweifle nicht an seiner Tapferkeit, aber seine Kinder tragen nun einmal den bürgerlichen Namen und er hat sie gänzlich mittellos zurückgelassen. Armut und Abhängigkeit sind unbequeme Dinge, da wird man lieber Herrin auf den Mansfeldschen Gütern, wenn man für den Herrn derselben auch nicht die geringste Neigung hat.«
»Nein, nicht die geringste!« wiederholte der junge Baron mit ausbrechender Bitterkeit. »Das zeigt sie mir deutlich genug!«
»Und das reizt dich?« fragte Odensborg, die Augen forschend auf seinen Sohn richtend, aber dieser zuckte nur spöttisch die Achseln.
»Mich? Ganz und gar nicht!«
»Es klang doch so etwas aus deinen Worten. Du bist verwöhnt, Hellmut! Du hast dich in den Ruf der Unwiderstehlichkeit gebracht und fühlst dich beleidigt, weil deine schöne Base dir gegenüber so gleichgültig bleibt, denn schön ist sie, das muß man zugestehen! Du bist auch nicht unempfindlich dagegen und vielleicht denkst du über diese Heirat jetzt ganz anders als früher, wo sie dir als eine lästige Fessel erschien.«
»Nein, Papa, ich liebe nicht solche Eisnaturen, aus denen nie ein Strahl von Wärme hervorbricht!« rief Hellmut heftig. »Ich werde nie mein Schicksal an eine Frau ketten, die mit kalter Berechnung nur meinen Besitz, meinen Reichtum im Auge hat, und sich dabei nicht einmal Mühe gibt, ihre grenzenlose Gleichgültigkeit gegen mich zu verbergen.«
Der Graf nickte befriedigt.
»Nun, dann sind wir ja vollkommen einig! Aber eben deshalb darf dein Benehmen nicht Hoffnungen erwecken, die du später zerstören mußt. Es ist überhaupt notwendig, daß du dich so bald als möglich deinen Verwandten gegenüber erklärst, damit allen etwaigen Plänen und Wünschen ein Ende gemacht wird.«
»Das hat ja Zeit,« sagte Hellmut ausweichend, »ich wollte später –«
»Sobald als möglich, am besten noch heute!« wiederholte Odensborg mit voller Bestimmtheit. »Je länger du die Sache hinausschiebst, desto peinlicher wird sie.«
»Ich dächte, sie wäre schon peinlich genug. Wie soll ich Eleonore eine solche Mitteilung machen, ohne sie zu beleidigen?«
Der Graf lächelte mit der Überlegenheit des erfahrenen Weltmannes.
»Scheint dir das so schwer? Du erfindest irgend ein Märchen, erklärst, daß dein Herz nicht mehr frei ist, daß du dich bereits gebunden hast und deshalb auf ein Glück verzichten mußt, das unter anderen Umständen – und so weiter! Das nimmt deiner Erklärung alles Verletzende und macht jeden Einwand unmöglich. Versprich mir, die Sache noch heute zu erledigen.«
»Wenn du meinst,« sagte Hellmut unmutig, aber offenbar gewohnt, sich der Autorität seines Vaters zu fügen. »Es ist eine rechte Plage, der Erbe von Mansfeld zu sein!«
»Eine Plage, um die dich wahrscheinlich Tausende beneiden! Entschließe dich, Hellmut, die Angelegenheit muß jetzt endlich zur Sprache kommen. Mache dich rasch und entschieden frei, ich baue auf dein Versprechen.«
Er reichte ihm die Hand und verließ das Zimmer, während sich der junge Mann in der übelsten Laune in einen Sessel warf. Er sah ein, daß der Graf recht hatte, es war notwendig, die Sache endlich zu erledigen, aber Hellmut war es nicht gewohnt, sich mit peinlichen und unbequemen Dingen abzugeben, das pflegte sein Vater für ihn zu tun, und er ließ sich nur zu gern eine Bevormundung gefallen, die ihn jeder Mühe und jeder Unannehmlichkeit überhob.
Auch jetzt wurde ihm sein Handeln genau vorgeschrieben. Er sollte sich für anderweitig verliebt und verlobt erklären, allerdings der beste und schonendste Ausweg, aber Hellmut verstand sich nicht auf das Lügen, und der Gedanke, daß er mit einer Unwahrheit auf den Lippen den Augen seiner Base standhalten müsse, verursachte ihm eine höchst unbehagliche Empfindung.
Er hegte eine gewisse Scheu vor diesen Augen, mit ihrem kalten, strengen Ernst, in denen immer etwas wie ein wortloser Vorwurf stand, während andererseits die eisige Zurückhaltung Eleonores seine Eitelkeit auf das tiefste verletzte. So behandelte man doch wahrlich nicht den künftigen Gemahl, aus dessen Händen man Glanz und Reichtum empfangen sollte. Sie schien ihrer Sache sehr sicher zu sein und jene Testamentsbestimmung für unabänderlich zu halten. In dieser Hinsicht aber hätte es kaum eines Antriebes von seiten Odensborgs bedurft, Hellmut war längst entschlossen, die lästige Fessel zu brechen, und wenn die Schönheit seiner Base ihn auch in einzelnen Momenten anzog, so stieß ihn ihre »Eisnatur« um so entschiedener und nachteiliger zurück.
Der Zufall schien seinen Entschluß zu begünstigen, denn soeben trat Eleonore ein. Er sprang rasch auf, aber er konnte es nicht hindern, daß sich in die gewohnte ritterliche Liebenswürdigkeit, mit der er sie begrüßte, eine gewisse Verlegenheit mischte. Sie wechselten einen Morgengruß und sprachen dann über gleichgültige Dinge, aber das Gespräch geriet bald ins Stocken und keiner von beiden zeigte besonderen Eifer, es fortzusetzen.
Eleonore war an das Fenster getreten, und Hellmut stand an ihrer Seite. Einige Minuten lang blickten sie schweigend auf die See hinaus, die heute in der Tat die Bedenken des Hauptmann Horst zu rechtfertigen schien. Sie ging bedeutend höher als gestern, die Wellen überstürzten sich schäumend in wilder Hast, und die Bäume des Parkes bogen sich sausend unter dem Winde, der ihnen die letzten welken Blätter entriß, um sie im wirbelnden Spiel hinauszuführen in die Wogen.
»Das sind schon die Vorboten unserer Winterstürme,« sagte Eleonore endlich, hinausdeutend. »Der Spätherbst pflegt recht rauh zu sein an unserer Küste, du weißt das vielleicht noch von deiner Knabenzeit her.«
»Ja, es ist ein Klima, um das uns ein Eskimo beneiden könnte,« stimmte Hellmut bei. »Ich vermisse schmerzlich genug mein schönes Italien, aber trotz alledem hat es etwas mächtig Fesselndes, dies wilde, stürmende Leben der See, dies drohende Spiel der Wogen, das jeden Augenblick zum tödlichen Ernst werden kann.«
Die junge Dame wandte sich um und sah ihn überrascht an, in ihrem erstaunten Blick stand die Frage, die ihre Lippen allerdings nicht aussprachen.
»Hast du wirklich auch Empfindung dafür?«
Der Blick reizte Hellmut, der ihn nur zu deutlich verstand und rasch, als gelte es eine Übereilung wieder gut zu machen, setzte er hinzu: »Auf die Dauer allerdings muß das sehr einförmig und ermüdend wirken. Das ist ja der Charakter der hiesigen Landschaft überhaupt.«
»Findest du das?« fragte Eleonore kalt.
»Gewiß, ich zum Beispiel würde es nicht lange hier aushalten. Ich habe vorhin bereits sehr energisch protestiert, als mein Vater von einem längeren Aufenthalt sprach.«
»Du beabsichtigst also deinen künftigen Aufenthalt nicht in Mansfeld zu nehmen?«
»Nein, wahrhaftig nicht! Ich habe zu viel von der Welt gesehen, um mich hier zu vergraben zwischen öden Sanddünen und einsamen Marschen und Wäldern.«
Der Ton der Worte hatte etwas ungemein Verächtliches und Wegwerfendes, Eleonore gab keine Antwort, sie wandte ihm nur den Rücken und setzte sich nieder, aber es lag etwas in dieser Bewegung, was den jungen Majoratsherrn noch mehr reizte als vorhin ihr Blick.
»Mißfällt dir meine Bemerkung?« fragte er.
»Ja.«
»Ich bedauere, aber wie gesagt, ich bleibe auf keinen Fall länger in Mansfeld.«
Es trat eine kurze Pause ein, dann nahm Eleonore wieder das Wort, ihre Stimme klang vollkommen ruhig und beherrscht, wie gewöhnlich.
»So wird es wohl notwendig sein, daß wir uns noch während deiner Anwesenheit über einen Punkt aussprechen, den bisher noch keiner von uns berührt hat.«
Hellmut stutzte. Wollte sie etwa selbst diesen Punkt zur Sprache bringen? Unmöglich!
»Was meinst du?« fragte er ungewiß.
»Ich meine die testamentarische Bestimmung, die uns beide betrifft.«
»Uns beide – ja so!« wiederholte er langsam. Deutlicher konnte man in der Tat nicht sein, aber so sehr diese Wendung des Gespräches seiner Absicht entgegenkam, so peinlich berührte sie ihn. Das hieß ja allem Zartgefühl Hohn sprechen! Eleonore schien das freilich nicht zu fühlen, denn sie fuhr mit der gleichen Ruhe fort: »Ich kenne die Beweggründe des Großvaters, er wollte mich als dereinstige Herrin des Hauses sehen, dem meine Mutter entstammte, und dich hoffte er durch diese Verbindung wieder fester an die Heimat zu ketten.«
Um Hellmuts Lippen spielte ein halb verächtliches Lächeln, aber er entgegnete mit voller Artigkeit: »Und diese Verbindung würde das höchste Glück meines Lebens sein, wenn –«
»So bedaure ich, dir dies Glück nicht geben zu können,« unterbrach ihn die junge Dame in jenem eisigen Tone, den er oft genug von ihren Lippen gehört hatte, er trat unwillkürlich einen Schritt zurück und starrte sie in sprachloser Überraschung an.
»Wie?«
»Es ist mir unmöglich, die Bestimmung des Testaments zu erfüllen,« wiederholte sie mit vollster Bestimmtheit.
Hellmut biß sich auf die Lippen.
»So? In der Tat? – Darauf war ich allerdings nicht gefaßt.«
Er wandte sich ab und trat an das Fenster. In seinem Innern stritten der Ärger über die Zurückweisung, die Empörung der verletzten Eitelkeit mit einem Gefühl tiefer Beschämung über seinen Irrtum. Da hatten er und Graf Odensborg sich Mühe gegeben, ein Band zu lösen, das in Wirklichkeit gar nicht bestand, man war von Anfang an entschlossen gewesen – ihn zu verwerfen!
Es vergingen einige Sekunden in peinlichem Schweigen, dann fragte Eleonore halblaut: »Du bist verletzt, Hellmut?«
»Wenigstens glaubte ich nicht an einen so unangenehmen Eindruck meiner Persönlichkeit,« erwiderte er herb, ohne sich umzuwenden.
»Oder vielmehr, du glaubtest nicht, daß die Hand des Majoratsherrn von Mansfeld überhaupt zurückgewiesen werden könnte.«
»Du irrst, Eleonore, ich –«
»Erspare dir die Unwahrheit,« fiel sie ihm in das Wort. »Ich habe es nur zu gut herausgefühlt aus deiner übermütigen Galanterie und aus der Herablassung des Grafen Odensborg, welch ein Glück diese Verbindung für die arme Waise sein sollte. Ihr habt es wohl beide nicht für möglich gehalten, daß sie freiwillig auf dies Glück verzichten könnte. Es tut mir weh, dem letzten Willen des Großvaters widerstreben zu müssen, einen Zwang aber hat er mit jener Verfügung nicht beabsichtigt, dazu liebte er mich zu sehr.«
Hellmut wandte sich bei den letzten Worten rasch um, und es blitzte etwas wie Hohn in seinen Augen, als er sagte: »Das heißt also, du hast eine entschiedene Abneigung gegen mich?«
»Das heißt nur, daß wir zu verschieden geartet sind, um ein gemeinsames Glück zu finden.«
»Hast du das bereits in den acht Tagen herausgefunden? So lange kennen wir uns ja überhaupt erst.«
»Sie waren hinreichend, um mir zu zeigen, wie unendlich weit unser Denken und Empfinden auseinandergeht. Du verachtest unsere Marschen und Wälder, und doch ist es deine Heimat, die dich geboren hat, der dein Vater entstammte, wo dein Geschlecht seit Jahrhunderten wurzelt. In unseren Marschen lebt ein Volk, das ihr nicht gezwungen habt mit eurer Unterdrückung und auch nicht zwingen werdet, und aus dem Rauschen unserer Wälder weht die Erinnerung an eine Vergangenheit von Macht und Größe, die wohl versunken, aber nicht vergessen ist. Dich langweilt der Blick auf die See, weil du die Sprache der Wogen nicht verstehst, die an unsere Ufer rollen. Uns ist das ein Heimatklang, der uns nie verloren geht im Leben, wo wir auch weilen, und uns mächtig immer wieder zurückzieht zu unserem Strande und unseren Wäldern. Dich freilich hat er dort drüben nie berührt, dir ist das alles stumm und tot – du hast die Heimat ja längst vergessen und verloren!«
Sie hatte anfangs ruhig gesprochen, wenigstens sprechen wollen, aber der Gegenstand riß sie unwillkürlich fort und trug sie weit hinaus über die gewohnten Schranken, immer erregter, immer stürmischer klangen ihre Worte, bis sie ihm endlich in völliger Selbstvergessenheit und mit der vollsten Glut leidenschaftlicher Empörung den letzten Vorwurf in das Antlitz schleuderte.
Hellmut machte keinen Versuch, sie zu unterbrechen, stumm, mit finsterer Stirn und fest zusammengepreßten Lippen hörte er die bitteren Wahrheiten an, die zum erstenmal dem verwöhnten übermütigen Erben gesagt wurden, aber dabei hing sein Blick wie gebannt an dem Mädchen, das hoch aufgerichtet mit flammenden Augen vor ihm stand, wie getragen von einem Sturm der Begeisterung und Empörung. War das die »Eisnatur«, aus der nie ein Strahl von Wärme hervorbrach? Sie entschleierte sich ihm heute in seltsamer, nie geahnter Weise.
»Ich habe nicht gewußt, daß du auch schwärmen kannst – mir gegenüber hast du das nie verraten,« sagte er endlich in einem Tone, der spöttisch sein sollte, und aus dem in Wahrheit die tiefste Gereiztheit klang. Das schien Eleonore daran zu erinnern, wie weit sie sich hatte fortreißen lassen, sie atmete tief auf und zwang sich zur Ruhe, während sie mit aufwallender Bitterkeit erwiderte: »Es hätte dir doch nur zum Spott gedient, wie alles andere. Wir beide werden uns nie verstehen. Ich verlange mehr von meinem Gatten als Glanz und Reichtum, und alles andere würdest du mir schuldig bleiben!«
Der junge Majoratsherr zuckte zusammen und seine Hand ballte sich.
»Du bist sehr aufrichtig!«
»Nur wahr, Hellmut! Und wo es sich um Leben und Zukunft handelt, muß man wahr sein, selbst auf Kosten der Rücksicht. Ich bin es gegen dich gewesen – ich konnte nicht anders.«
Sie schien irgend eine Erwiderung zu erwarten, aber diese erfolgte nicht. Hellmut antwortete nicht, er verharrte noch immer regungslos in seiner Stellung, als er längst allein war. In der Stille vernahm man jetzt deutlich das Brausen und Branden der See, das bis hier herauf drang – sie klang halb drohend, halb vertraut, die alte heimatliche Stimme des Meeres.
Graf Odensborg hatte inzwischen eine längere Konferenz mit dem Oberinspektor gehabt, hatte Berichte empfangen, Anordnungen getroffen und Geschäfte erledigt, genau so, als ob er der Majoratsherr sei. Hellmut selbst kümmerte sich nicht um dergleichen langweilige und unbequeme Dinge und zeigte auch nicht die mindeste Neigung, sich mit den Verhältnissen auf seinen Gütern irgendwie vertraut zu machen.
Als der Graf seine Zimmer wieder verließ, traf er an der Treppe mit Frau von Mansfeld, der bisherigen Herrin des Schlosses, zusammen, die aus dem Park kam, wo sie trotz des stürmischen Wetters einen kurzen Morgenspaziergang gemacht hatte. Die mehr als siebzigjährige Frau war einst sehr schön gewesen, das sah man noch heute; ihre Enkelin Eleonore glich ihr auffallend. Jetzt freilich schimmerte das Haar silberweiß unter dem schwarzen Kreppschleier der Witwenhaube, und die Züge zeigten die tiefen Spuren des Alters, aber die Gestalt war noch ungebeugt, und die hellen, klaren Augen verrieten eine ungebrochene geistige und körperliche Frische.
Der junge Majoratsherr hatte sich bis jetzt noch gänzlich als Gast seiner Großmutter betrachtet, und er tat das um so unbefangener, als sein Aufenthalt ja nur von kurzer Dauer sein sollte. Man schien stillschweigend übereingekommen zu sein, die gegenseitige politische Stellung im Gespräch nicht zu berühren, Hellmut zeigte sich überhaupt sehr gleichgültig dagegen und setzte sich mit seinem gewohnten Leichtsinn und Übermut über jede Meinungsverschiedenheit hinweg; um so besser verstand es Graf Odensborg, seinen Standpunkt geltend zu machen, wenn er ihn im Familienkreise auch niemals offen vertrat. Der kühle, vornehme Diplomat stand wie eine Mauer zwischen Großmutter und Enkel und wußte jede etwaige Annäherung zu verhindern. Er ließ der verwitweten Baronin keinen Zweifel darüber, daß er seinen Sohn als sein ausschließliches Eigentum betrachtete und nicht geneigt war, dort irgend einen anderen Einfluß zu dulden, aber das geschah alles in den verbindlichsten Formen. Auch jetzt begrüßte er die alte Dame mit vollster Artigkeit und schloß sich ihr an.
Sie traten in das Balkonzimmer, wo Hellmut sich noch befand. Er ging mit verschränkten Armen auf und nieder, und auf seiner sonst so heiteren Stirn stand eine finstere Wolke. Beim Eintritt seiner Großmutter blickte er auf und kam ihr dann rasch entgegen.
»Ich habe dich ja heute noch nicht gesehen, Großmama,« sagte er wie entschuldigend, indem er ihre Hand küßte.
»Nein, Hellmut, du pflegtest sonst nach dem Frühstück auf einige Minuten zu mir zu kommen und mir den Morgengruß zu bringen, heute habe ich vergebens gewartet.«
Der wenn auch sehr milde Vorwurf setzte den jungen Majoratsherrn augenscheinlich in Verlegenheit, er blickte zu dem Grafen hinüber.
»Ich wollte auch heute kommen, aber mein Vater –«
»Ich gab Hellmut den Rat, nicht zu stören,« mischte sich Odensborg ein. »Ich hörte zufällig, daß Sie Arnulf Jansen erwarteten, gnädige Frau, und da wurden jedenfalls so wichtige Dinge verhandelt, daß Ihnen eine Unterbrechung unwillkommen gewesen wäre.«
»Nur meine Privatangelegenheiten, Herr Graf,« entgegnete die alte Dame mit voller Ruhe. »Übrigens erwarte ich Jansen erst in einer Stunde, er leiht mir seinen Rat und Beistand bei der Einrichtung von Wykstedt, denn ich muß wohl die Verwaltung selbst übernehmen, wenn ich mich dorthin zurückziehe.«
»Nach Wykstedt?« fiel Hellmut betroffen ein. »Du willst das Schloß verlassen?«
»Gewiß, du weißt ja, daß mir dein Großvater das kleine Gut zum Witwensitze bestimmt hat.«
»Aber doch nur der Form wegen, weil Mansfeld Majorat ist. Er hat doch nie daran gedacht, daß du den Ort verlassen würdest, wo du seit fünfzig Jahren Herrin bist.«
»Ich bin es gewesen!« sagte die Baronin ernst. »Jetzt bist du Majoratsherr.«
»Das ändert nichts. Du wirst dich doch auf den Besitzungen deines Enkels nicht als eine Fremde betrachten.«
»Aber mein Enkel ist mir fremd geworden in den langen Jahren, wo er mir fern blieb.«
Die Worte klangen diesmal nicht vorwurfsvoll, nur schmerzlich, und sie verfehlten nicht ihren Eindruck auf den jungen Mann, aber ehe er noch antworten konnte, trat Graf Odensborg dazwischen.
»Ich bedaure aufrichtig, gnädige Frau, daß es nicht möglich war, Ihnen Hellmut öfter zum Besuch zu senden, wie Sie es wünschten. Wir waren viel auf Reisen, dann der Tod meiner Frau, dann Hellmuts Studien – kurz, es war nicht möglich.«
Die alte Dame richtete die Augen fest auf das Gesicht des Grafen.
»Auch da nicht, als mein Gatte starb und seinen Enkel noch einmal zu sehen verlangte?«
»Wir erhielten leider den Brief zu spät, fast gleichzeitig mit der Todesnachricht.«
Die Worte klangen sehr höflich und sehr bestimmt, die Baronin mochte wohl fühlen, daß sich in diesen Zügen nicht lesen und mit diesem Mann nicht rechten ließ, aber die mühsam verhaltene Bitterkeit brach doch hervor, als sie erwiderte: »Ich weiß, Herr Graf, wem ich es verdanke, daß Hellmut seine Heimat nicht wiedersehen durfte.«
»Sie sind ungerecht gegen mich, gnädige Frau,« protestierte Odensborg, mit einer Entrüstung, die freilich so kühl war, wie sein ganzes Wesen. »Sie und Ihr Gemahl haben es der Witwe Ihres Sohnes nie verziehen, daß sie einem Dänen die Hand reichte.«
»Meine Schwiegertochter war frei in ihrer Wahl,« sagte Frau von Mansfeld. »Wir beanspruchten nur das Kind unseres Sohnes, das Sie uns so entschieden weigerten.«
Odensborg zuckte die Achseln.
»Ich sicherte den Sohn seiner Mutter! Sie hatte das erste Recht auf ihn.«
»Sein Vaterland und seine Familie hatten wohl auch einige Rechte – doch ich sehe, daß wir sie verloren haben. Es bleibt also bei meiner Übersiedelung nach Wykstedt.«
Hellmut hatte in einer sehr unbehaglichen Stimmung zugehört. Es war das erste Mal, daß diese Dinge überhaupt erörtert wurden, und es berührte ihn peinlich genug, trotzdem trat er jetzt zu seiner Großmutter und sagte bittend: »Großmama, du darfst nicht gehen! Das sieht ja aus, als ob ich dich vertreibe. Ich weiß, du hängst mit ganzer Seele an dem Orte, wo du ein Menschenalter hindurch gelebt hast, wo all' deine Erinnerungen –«
»So bestürme doch die gnädige Frau nicht so, Hellmut,« unterbrach ihn der Graf. »Sie wird ja hinreichende Gründe für ihren Entschluß haben.«
In den Zügen der Baronin war bei den warmen, herzlichen Worten ihres Enkels ein flüchtiger Schimmer aufgetaucht, aber er erlosch, als sie sah, daß Hellmut bei jener Einmischung sofort verstummte, und auf ihren Lippen lag nur noch ein schmerzliches Lächeln, als sie erwiderte: »Du siehst, Graf Odensborg und ich sind ganz einverstanden hinsichtlich meiner Entfernung. Ich verlasse Mansfeld in der nächsten Woche.«
»Wenn es durchaus dein Wunsch und Wille ist –« sagte Hellmut unsicher. »Aber es tut mir weh, Großmama!«
»Auch mir, mein Sohn, aber ich sehe die Notwendigkeit ein, und du trägst sie jedenfalls leichter als ich.«
Sie neigte das Haupt gegen ihn und den Grafen und verließ das Zimmer.
Der junge Gutsherr machte keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten, aber es lag etwas wie Unwille in seinen Zügen, als er sich jetzt zu seinem Vater wandte.
»Papa – dahin hättest du es nicht kommen lassen sollen!«
»Bin ich es etwa, der die Baronin vertreibt?« fragte
Odensborg kühl. »Es drängt sie ja niemand zu dem Entschluß, und ich dächte, du hättest sie dringend genug gebeten, zu bleiben.«
»Ja – aber –«
»Aber – sie kann es nicht ertragen, daß mit dem neuen Herrn auch ein neues Regiment hier einzieht, daß damit die deutschen Überlieferungen fallen, die ihr Gemahl so lange vertreten hat. Bei dieser Verschiedenheit unserer Ansichten würde sich ein ferneres Zusammenleben allerdings sehr unerquicklich gestalten. Ich hoffe, du siehst das ein, wenn du dich auch augenblicklich zu einer Bitte fortreißen ließest, deren Gewährung uns alle in die größte Verlegenheit versetzt hätte.«
»Ich habe es ja gewußt, daß mich in Mansfeld eine ganze Flut von Unannehmlichkeiten erwartet, deshalb zögerte ich so lange, zu kommen!« rief Hellmut mit mühsam unterdrückter Heftigkeit. »Wenn es durchaus nötig war, daß ich zur Übernahme der Güter persönlich erschien, so ist das ja jetzt erledigt, und es hindert uns nichts, abzureisen. Weshalb soll ich denn eigentlich noch hier bleiben?«
»Weil wir zweifellos am Vorabend eines Krieges stehen und die Feindseligkeiten jeden Tag ausbrechen können. Da dürfen deine Güter nicht herrenlos bleiben. Ich habe mich in den acht Tagen einigermaßen orientiert und gefunden, daß die Verhältnisse noch weit schlimmer liegen, als ich fürchtete. Man hat mir über viele Dinge die Augen geöffnet, von denen ich bisher nichts ahnte; wären sie mir früher bekannt gewesen, ich hätte dir nicht gestattet, nach dem Tode deines Großvaters noch monatelang fern zu bleiben. Gerade hier in Mansfeld und in seiner nächsten Umgebung ist der eigentliche Herd der Opposition, die immer bedrohlicher anwächst. Da ist vor allen Dingen ein gewisser Arnulf Jansen –«
»Das friesische Ideal Eleonores!« warf Hellmut mit bitterem Spott ein.
»Du kennst ihn bereits?«
»Ich sah ihn gestern hier im Schlosse, wo der Bauer eine sehr bedeutende Rolle zu spielen scheint.«
»Sprich nicht so verächtlich von dem ›Bauer‹,« sagte Odensborg ernst zurechtweisend. »Diese friesischen Bauern, die seit einem Jahrhundert auf ihren Höfen sitzen, nehmen es an Reichtum mit dem Adel auf und haben einen unbeschränkten Einfluß auf das Landvolk. Seit dieser Jansen das väterliche Erbe angetreten hat, ist er die Seele und das Haupt der ganzen rebellischen Gesellschaft geworden. Alles schart sich um ihn, alles gehorcht ihm, die gesamte schleswigsche Bauernschaft erkennt ihn als ihren Führer an und folgt jedem seiner Winke. Im Falle eines Krieges könnte dies Treiben doch gefährlich werden.«
Die Auseinandersetzung machte sehr wenig Eindruck auf den jungen Gutsherrn, er hörte mit zerstreuter Miene zu, und seine Antwort verriet die äußerste Ungeduld.
»Aber was geht das mich alles an? Was habe ich mit all diesen Dingen zu tun? Ich bin weder Soldat noch Staatsmann und habe nicht das mindeste Interesse für das Parteitreiben. Wenn es wirklich zum Kriege kommt, so sehe ich eine endlose Reihe von Widerwärtigkeiten und Zerwürfnissen mit meinen Verwandten voraus. Ich fühle mich durchaus nicht verpflichtet, das auszuhalten – ich reise ab.«
»Du wirst bleiben, Hellmut,« sagte Odensborg streng und befehlend. »Du wirst nicht so kindisch sein und vor einigen Unannehmlichkeiten die Flucht ergreifen, wenn ich dir erkläre, daß deine Gegenwart hier notwendig ist.«
Hellmut schlug die Arme übereinander und warf in vollem Trotze den Kopf zurück.
»Seit ich Majoratsherr bin, scheine ich überhaupt gar keine Freiheit mehr zu haben. Du kommandierst mich fortwährend, Papa.«
Graf Odensborg mochte wohl wissen, wie weit er gehen durfte, und wo die Grenzen seiner Macht lagen, denn er lenkte sofort ein:
»Mein Sohn, du weißt, ich habe dir nie den frohen Lebensgenuß und die Freiheit der Jugend verkümmert. Oder bin ich dir ein strenger Vater gewesen?«
»Nein, nein!« fiel der junge Mann ein, der ebenso leicht versöhnt als verletzt war. »Du warst von jeher nur allzu nachsichtig gegen mich.«
Der Graf lächelte und legte beschwichtigend die Hand auf die Schulter seines Sohnes.
»So werde ich es wohl auch in Zukunft sein müssen, solch ein Leichtsinn bedarf der Nachsicht nur zu oft. Du sollst nichts von all' den Widerwärtigkeiten empfinden, ich verspreche es dir. Ich werde die Last wie die Verantwortung auf meine Schultern allein nehmen, aber wenn ich hier in deinem Namen auftrete, mußt du mir als Majoratsherr zur Seite stehen und mich mit deiner Vollmacht decken. Bedenke das und füge dich in das Bleiben.«
Seine Stimme hatte einen Anflug wirklicher Wärme und Herzlichkeit, aber es war der Ton, in dem man zu einem verwöhnten, eigensinnigen Kinde spricht, bei dem die Strenge nichts fruchtet, und das nun mit Zureden zum Gehorsam gebracht werden soll. Es half auch in der Tat; Hellmut gab seinen Widerstand auf und sagte halblaut: »Wenn es sein muß!«
»Es muß sein – und nun noch eins! Ich begegnete Eleonore vorhin, als ich von dir ging. Hast du Wort gehalten und die bewußte Angelegenheit zur Sprache gebracht?«
»Ja!«
Das Wort klang eigentümlich kurz und herb, das fiel auch dem Grafen auf, der seinen Sohn befremdet anblickte.
»So einsilbig? Was hast du denn? Es ist dir doch hoffentlich gelungen, dich frei zu machen?«
»Dessen bedurfte es nicht. Ich wurde abgewiesen.«
»Du? Unmöglich!«
»Du hast dich getäuscht, Papa, als du Pläne und Berechnungen von jener Seite voraussetztest,« sagte Hellmut mit einer Bitterkeit, die deutlich verriet, wie tief ihn jenes Gespräch verstimmt hatte. »Eleonore kam mit ihrer Erklärung der meinigen zuvor. Sie hat nie daran gedacht, die Bestimmungen des Testaments zu erfüllen, sie zerreißt sie einfach und wirft sie mir samt meinem Majorat und meinem Reichtum vor die Füße.«
Die Nachricht war so überraschend, daß selbst der Diplomat einen Augenblick die Fassung verlor.
»Sie gibt dich und Mansfeld auf? Im Ernst?«
»Im vollen Ernst!«
Odensborg schüttelte ungläubig den Kopf.
»Seltsam! Das kommt zwar unseren Wünschen entgegen, aber unbegreiflich bleibt es doch. Da muß irgend ein geheimer Grund vorliegen, sonst weiß ich mir die Sache nicht zu deuten.«
»Aber ich weiß es!« brach Hellmut mit vollster Heftigkeit aus. »Sie hat es mir offen genug gesagt, und was sie noch verschwieg, das sagte mir ihr Blick und Ton – daß sie mich verachtet! Aber ich will und werde mich nicht verachten lassen, und müßte ich alles daran setzen!«
Er wandte sich stürmisch zum Gehen, während der Graf fast erschreckt von diesem jähen Ausbruche dastand.
»Aber, Hellmut! Hellmut!« rief er mahnend seinem Sohne nach, doch dieser hörte nicht, sondern stürmte davon. Auf der Stirn Odensborgs erschien eine finstere Falte, diese Art der Lösung schien ihm nichts weniger als erwünscht zu sein.
In dem Zimmer Eleonores saßen die beiden jungen Mädchen, die sich heute trennen sollten, denn Eva beabsichtigte am Nachmittage nach der Stadt zurückzukehren. Fräulein von Bernsholm war gleichfalls eine Waise, aber als Erbin eines bedeutenden Vermögens eine vielumworbene Partie; sie lebte im Hause ihres Vormundes, des dänischen Hardesvogts Holger, der nicht viel Zeit hatte, sich um das hübsche, verwöhnte und eigensinnige Kind zu kümmern und ihm in den meisten Dingen seinen Willen ließ. Sie führte auch jetzt das Wort und hatte sich in einen glühenden Eifer hineingeredet, bis sie endlich mit vollem Nachdruck schloß: »Sage, was du willst – ich bin empört!«
Eleonore schien eine sehr unaufmerksame Zuhörerin gewesen zu sein und kaum zu wissen, wovon die Rede war, denn sie sah wie aus einem Traume erwachend auf und erwiderte halb mechanisch: »Aber, liebe Eva, dazu sehe ich wirklich keinen Grund.«
»Keinen Grund? Ich habe dir doch erzählt, daß dieser Hauptmann Horst gewagt hat – daß er sich unterstanden hat, mir einen Heiratsantrag zu machen. Mir, mit der er fortwährend auf dem Kriegsfuße steht! Es verging ja kein Tag, wo wir nicht auf irgend eine Weise aneinander gerieten – und jetzt will er mich heiraten!«
»Kam dir das so überraschend?« fragte Eleonore ruhig. »Mir nicht, ich habe längst so etwas geahnt. Du hast also nein gesagt?«
»Natürlich! Dreimal sogar.«
»Und wie nahm er das auf?«
»Er erklärte mir mit der größten Zuversicht, ich würde schließlich ja sagen.«
»Das sieht Fritz Horst ähnlich!«
Eva, die aufgestanden war und heftig einen Gang durch das Zimmer machte, blieb plötzlich stehen.
»Ja, diese Preußen bilden sich ein, man müsse sogar auf Kommando lieben. Das Kommandieren liegt ihnen einmal im Blute, das ist ja überhaupt das einzige, was sie verstehen, das verstehen sie aber auch gründlich. O, ich hasse sie allesamt!«
»Eva, du vergißt, daß ich die Tochter meines Vaters bin,« sagte Eleonore ernst zurechtweisend.
»Dein Vater? Oberst Waldow ist ja hier in Schleswig geboren und erzogen.«
»Aber er trat in preußische Dienste und wurde preußischer Offizier.«
»Nun, dann ist es ja ein Kompliment für ihn, wenn ich behaupte, daß er das Kommandieren verstand,« entgegnete Eva schlagfertig. »Sei doch nicht so empfindlich, Nora! Bei meinem Vormunde höre ich noch ganz andere Dinge, er hat erst neulich die Mansfeldschen Güter eine ›Hochburg der Rebellion‹ genannt.«
»Sagte er das wirklich?« fragte Eleonore, zerstreut in den Park hinausblickend.
»Wörtlich! Eine Hochburg der Rebellion! Klingt das nicht grausig? Und die Besuche bei euch würde er mir nun und nimmermehr gestatten, wenn er nicht durch mich erfahren wollte, was hier im Schlosse eigentlich vorgeht. Ich merke es recht gut, wie er mich auszufragen sucht, aber ich bin verschwiegen wie das Grab.«
Sie legte beteuernd die Hand auf die Brust, aber ihre Freundin schien dieser Grabesverschwiegenheit keine allzugroße Wichtigkeit beizulegen, es lag sogar ein leiser Spott in ihrer Antwort.
»Du würdest auch schwerlich irgend etwas verraten können, übrigens empfängt dein Vormund ja jetzt jede ihm wünschenswerte Auskunft, seit Graf Odensborg hier ist.«
»Wahrscheinlich, denn der Graf war schon zweimal bei uns in der Stadt,« bestätigte Eva mit wichtiger Miene, »und dann führen sie stets endlose politische Gespräche. Ich habe nicht darauf geachtet, ich amüsierte mich mit Baron Hellmut, der mitgekommen war, und der die Politik auch für sehr langweilig erklärt.«
»Hellmut findet alles langweilig, was sich an den Ernst und die Tatkraft des Mannes wendet,« sagte Eleonore kalt.
»Ja, er sprüht immer von Übermut! Im Grunde hat dir dein Großvater gar kein so großes Opfer auferlegt mit dieser Testamentsbestimmung. Dein Vetter ist wirklich die Liebenswürdigkeit selbst, der galanteste, aufmerksamste Kavalier, dazu Majoratsherr – das ist doch immerhin ein Trost, wenn man nun einmal auf Familienbeschluß heiraten muß.«
Eleonore schien das unbeschränkte Vertrauen ihrer jungen Freundin nicht mit der gleichen Offenheit zu erwidern, denn sie berührte mit keinem Worte das Gespräch, das eine Stunde zuvor zwischen ihr und Hellmut stattgefunden hatte, sondern sagte nur ausweichend: »Es handelt sich ja jetzt nicht um meine Wahl, sondern um die deinige. Spricht in deinem Innern wirklich gar keine Stimme für Fritz Horst?«
»Was? Für einen Menschen, der mir eine Liebeserklärung in solchem Stile macht?« rief Eva entrüstet. »Du hast keine Ahnung, wie nüchtern, wie prosaisch und dabei wie diktatorisch das alles herauskam. Ich liebe Sie – ich biete Ihnen meine Hand – heiraten Sie mich – Punktum! Und in diesem Manne soll ich mein Ideal sehen? Nein, das muß etwas Großartiges, etwas Romantisches sein! Ich verlange schwärmerische Hingebung, Zartheit der Empfindung und vor allen Dingen eine leidenschaftliche, ungeheure Liebe.«
»Verlangst du nicht noch mehr von deinem künftigen Gatten? Du wirst enttäuscht werden, die Männer sind keine Ideale.«
Die Weisheit klang allerdings etwas befremdlich in dem Munde des neunzehnjährigen Mädchens; Fräulein Eva aber schien anderer Meinung zu sein, sie richtete sich energisch auf und erklärte feierlich: »Ich heirate nur ein Ideal mit einer ungeheuren Liebe – oder ich bleibe zeitlebens unvermählt!«
Es mochte dahingestellt bleiben, ob es ihr mit dem letzten Entschlusse wirklich so furchtbarer Ernst war, jedenfalls fand sie keine Zeit, ihn ausführlicher zu begründen, denn jetzt wurde die Tür aufgerissen und Otto stürmte herein, atemlos, mit glühenden Wangen und rief jubelnd: »Hurra! Es gibt Krieg!«
Die beiden jungen Mädchen fuhren überrascht auf bei der ungestümen Meldung des Knaben, und seine Schwester sagte vorwurfsvoll: »Was fällt dir ein, Otto? Wie kannst du uns so erschrecken?«
»Es gibt Krieg,« wiederholte er triumphierend. »Soeben hat Fritz Order erhalten, er muß Hals über Kopf fort nicht wahr, Fritz?«
Hauptmann Horst folgte ihm auf dem Fuße und trat jetzt gleichfalls ein.
»Ich komme, mich zu verabschieden, meine Damen, Otto ist mir schon zuvorgekommen mit der Nachricht, wie ich sehe.«
»Sie haben Order erhalten? So plötzlich?« fragte Eleonore, während Evas gespannter Blick die gleiche Frage an den Hauptmann zu richten schien.
»Vor einer Viertelstunde,« bestätigte dieser, »mit dem Befehl, meinen Urlaub sofort abzubrechen und mich unverzüglich zu meinem Regiment zu begeben. Ich muß in aller Eile die nötigen Vorbereitungen treffen, wenn ich den Bahnzug noch erreichen will.«
»Ich helfe dir, Fritz!« fiel Otto ungestüm ein. »Ich packe deinen Koffer, ich bestelle den Wagen, ich besorge alles – du brauchst dich um nichts zu kümmern! Was gäbe ich darum, wenn ich mit dir gehen könnte!«
»Ich nähme dich schon gern mit, mein kleiner Held,« sagte Horst lächelnd. »Ich wollte zu der Frau Baronin, um ihr gleichfalls lebewohl zu sagen, höre aber, daß Jansen bei ihr ist und daß sie Befehl gegeben hat, sie nicht zu stören.«
Eleonore erhob sich rasch und schritt nach der Tür.
»Das ist ein Ausnahmefall, Fritz. Ich gehe sofort zu der Großmama und bringe ihr die Nachricht, daß Sie fort müssen.«
»Und ich helfe packen!« jubelte Otto, indem er der Schwester nacheilte. »Hurra, jetzt geht es ans Dreinschlagen!«
Hauptmann Horst und Fräulein von Bernsholm waren urplötzlich allein. Sie stand am Fenster und blickte angelegentlich hinaus in den Park, während er auf der anderen Seite des Zimmers stand und ebenso angelegentlich zu ihr hinüberblickte. So vergingen einige Minuten, keiner der beiden sprach, aber es machte auch keiner Anstalt zu gehen, Krieg sagte Eva, ohne sich umzuwenden: »Also es gibt Krieg!«
»Ja, Gott sei Dank – endlich!« scholl es von drüben zurück.
»Sie können wohl kaum die Zeit erwarten, um gegen meine Landsleute loszubrechen?« fragte sie mit sprühenden Augen.
»Nun, ich hoffe, Ihre Landsleute werden sich wehren.«
»Ganz sicher, das werden Sie zu Ihrem Schaden erfahren.«
»Um so besser! Wenn der Feind tapfer ist, hat man doppelte Freude am Siege.«
Eva wandte sich entrüstet um. »Sie wissen ja noch gar nicht, ob Sie siegen werden.«
»Das werden wir unter allen Umständen,« behauptete Horst.
Diese Zuversicht empörte die junge Dame nun vollends, sie sandte ihm einen niederschmetternden Blick zu und rauschte an ihm vorüber nach der Tür, aber auf der Schwelle blieb sie plötzlich stehen.
»Herr Hauptmann!«
»Sie befehlen, mein gnädiges Fräulein?«
»Wenn es zum Kampfe kommt – nehmen Sie sich nur ja recht in acht.«
»In acht nehmen? Im Kampfe?« wiederholte Horst. »Da müßte ich doch wohl ein jämmerlicher Soldat sein!«
»Ich meine nur, Sie sollen sich nicht ohne Not in Gefahr begeben.«
»Der Gefahr muß man entgegengehen und ihr die Stirn zeigen, das ist das einzige Mittel, sie zu zwingen.«
»O, diese herzlosen Männer!« brach Eva aus. »Da gehen sie so leichtsinnig, so übermütig in den Tod und denken gar nicht daran, daß wir armen Frauen uns grämen und ängstigen –«
Sie hielt inne, wie erschrocken über ihre eigenen Worte, aber es war zu spät, denn Horst, der noch immer seinen Platz am anderen Ende des Zimmers behauptete, rückte jetzt in solchem Sturmschritt vor, daß er sich schon in der nächsten Sekunde an ihrer Seite befand.
»Wer grämt sich? Wer ängstigt sich um mich?«
Eva wurde glühend rot und machte von neuem einen Versuch zu gehen, aber der Hauptmann vertrat ihr den Weg und wiederholte in dem alten diktatorischen Ton: »Ich will wissen, wem diese Angst gilt. Eva, Sie weinen ja! Da will ich doch schleunigst meinen Antrag –«
»Lassen Sie mich!« rief das junge Mädchen mit hervorbrechenden Tränen. »Gehen Sie – ich will nichts hören – kein Wort!«
Horst dachte nicht daran, zu gehorchen, er hielt im Gegenteil die kleine Hand fest, die er ergriffen hatte, und seine Stimme klang jetzt in einer Wärme und Innigkeit, die aus dem tiefsten Herzen kam.
»Eva, lassen Sie mich nicht so gehen! Ich sehe es ja, daß in Ihrem Herzen etwas für mich spricht. Geben Sie mir Ihr Jawort mit in den Kampf, ein Wort nur, mehr verlange ich nicht. Ich will es nur als eine Hoffnung, eine Verheißung meines Glückes nehmen, und wenn ich zurückkehre –«
»Niemals!« schluchzte Eva. »Ich weiß, was ich meinem Vaterlande schuldig bin, und mein Vormund – er würde es mir nie verzeihen – leben Sie wohl!«
Sie riß sich los und eilte in das Nebenzimmer, und als Horst ihr folgen wollte, hörte er, wie drinnen der Riegel vorgeschoben wurde.
»Eva!«
Es klang wie halb ersticktes Schluchzen hinter der geschlossenen Tür, aber es kam keine Antwort. Jetzt schien auch der Hauptmann die Geduld zu verlieren, er richtete sich energisch auf und sagte in dem berühmten preußischen Kommandoton, der der jungen Dame so tief verhaßt war: »Eva, ich gehe jetzt, aber ich komme mit meiner ganzen Compagnie zurück und hole Sie mitten aus dem Hause Ihres Vormundes, und wenn ich dabei diesen preußenfeindlichen Herrn selbst unter die Hände bekomme, dann gnade ihm Gott!«
Damit wandte er sich rasch um und marschierte zur Tür hinaus.
Die Sturmvögel, die so lange schon drohend an den Küsten Schleswig-Holsteins flatterten, hatten recht behalten, sie kündeten Sturm und Kampf; aber der Krieg, sonst ein Schrecknis für jedes Land und Volk, dem er naht, wurde hier ersehnt und begrüßt, wie ein erlösendes, reinigendes Gewitter in einer unerträglich gewordenen Schwüle.
Als der Winter die Wälder und Marschen erstarren ließ in Eis und Schnee, da mischte sich Waffenklang in das Brausen des Meeres, da floß rotes Blut in den weißen Schnee, da wurde gestürmt und gestritten. Aber inmitten all dieses Waffenlärms und dieser Winterstürme zog es doch wie Frühlingsatem durch die Lande, und jetzt waren die drei ersten Monate des Jahres vergangen und es ward auch auf Erden Frühling.
In Mansfeld hatte Graf Odensborg das Regiment angetreten, und man mußte es ihm lassen, daß er die Zügel mit Energie zu führen verstand. Es war nahezu alles anders geworden in den letzten Monaten und mit den »deutschen Traditionen« war gründlich aufgeräumt worden. Die Beamten hatten größtenteils gewechselt, wo eine Entlassung in der kurzen Zeit möglich war, hatte sie stattgefunden, und von den vorläufig noch Zurückgebliebenen wurde unbedingter Gehorsam gefordert und auch geleistet, denn sie wußten, daß im anderen Falle ihre Stellung auf dem Spiele stand. Die Kriegsereignisse und das Vorrücken der verbündeten Armee brachte den Grafen auch nicht einen Schritt von dem Weg ab, den er sich vorgezeichnet hatte, er vertrat nur um so energischer seinen Standpunkt und fand hier, wie überall, eine feste Stütze in dem Hardesvogt Holger, der ihm bei jeder Gelegenheit mit seiner amtlichen Autorität zur Seite stand. In diesem Teil des Landes herrschten die dänischen Behörden noch unbeschränkt; in allen Schlössern und Höfen, auf allen Dörfern lag dänische Einquartierung, und die deutschgesinnte Bevölkerung wurde mit eiserner Hand niedergehalten.
Von dem jungen Majoratsherrn von Mansfeld war kaum jemals die Rede, er war es auch in der Tat nur dem Namen nach, man wußte längst auf den Gütern, daß er seinem Vater vollständig die Zügel überließ und nie den Anordnungen desselben widersprach, daß er sich in den meisten Fällen gar nicht darum kümmerte. Der Gegensatz, in den er dadurch zu seinen Verwandten und Landsleuten geriet, schien ihm allerdings peinlich und unbequem zu sein, aber er tat nicht das geringste, ihn zu mildern, sondern ging ihm einfach aus dem Wege. Während die ganze Bevölkerung, vom Schloßherrn an bis herab zum ärmsten Bauern, mit fieberhafter Spannung die Kriegsereignisse verfolgte, spielte Hellmut eine völlig passive Rolle, aber die Art, wie er seinen Vater schalten und walten ließ, zeigte zur Genüge, auf welcher Seite er stand.
Die verwitwete Baronin befand sich noch im Schlosse, sie hatte schon im Dezember nach Wykstedt übersiedeln wollen, aber es war ein unerwartetes Hindernis eingetreten. Die alte Dame erkrankte schwer, sie blieb wochenlang an das Krankenbett gefesselt, und als die Gefahr endlich überwunden war, erholte sie sich so langsam, daß von der Übersiedelung vorläufig noch keine Rede sein konnte. Der Tod des Gatten, an dessen Seite sie fünfzig Jahre gelebt hatte, die Stellung Hellmuts, der so gänzlich in den Händen seines Stiefvaters und im Bunde mit den Feinden des Landes war, die Sorge um die Zukunft ihrer beiden jüngsten Enkel, das alles lastete schwer auf der Greisin und verzögerte ihre Genesung von Woche zu Woche.
Graf Odensborg hatte die Erkrankung der Baronin zum Vorwande genommen, um sich mit seinem Sohne vollständig von der Familie zurückzuziehen. Im Angesicht der Kriegsereignisse und der Stellung, die man beiderseitig dazu einnahm, war das allerdings eine Erleichterung für beide Teile, und das weitläufige Schloß bot Raum genug für zwei getrennte Haushaltungen. Die beiden Herren bewohnten den oberen Stock und hatten sich ihre Dienerschaft aus Kopenhagen nachkommen lassen, während Frau von Mansfeld in den gewohnten Räumen blieb. Hellmut kam freilich täglich auf einige Minuten, um sich nach dem Befinden seiner Großmutter zu erkundigen und sie zu sehen, wenn ihr Zustand es erlaubte, das war aber auch der einzige Zusammenhang, den er noch mit seinen Verwandten hatte, und bei diesen Krankenbesuchen wurde selbstverständlich jedes ernstere und längere Gespräch vermieden. Odensborg dagegen sah die Hausgenossen nur, wenn er ihnen zufällig einmal auf der Treppe oder im Park begegnete, und fand sich dann stets mit einer flüchtigen Erkundigung nach der gnädigen Frau und einigen höflichen Redensarten ab.
Es war im Anfang des April, ein trüber und noch ziemlich rauher Frühlingstag. Am Himmel zog langsam dunkles Gewölk hin, durch das sich nur von Zeit zu Zeit ein Sonnenblick stahl. Die See lag in träger Ruhe, kaum von einem Hauche bewegt, und die Ferne verschleierte sich im Nebelduft.
Am Waldesrande erschien soeben ein einsamer Spaziergänger, Doktor Lorenz, und trat in die Lichtung hinaus, die hier einen vollen Blick auf den Strand und die See offen ließ. Der alte Herr, der seit nunmehr dreißig Jahren in der Mansfeldschen Familie lebte und Freude und Leid mit derselben teilte, war ursprünglich als Erzieher der Kinder des verstorbenen Majoratsherrn in das Haus gekommen und schließlich dort geblieben, wo er eine Heimat gefunden hatte. Er sah jetzt schon die zweite Generation aufwachsen und hatte auch Ottos Erziehung und Unterricht übernommen, seit dieser sich im großelterlichen Hause befand.
Der Doktor pflegte seine Spaziergänge sonst sehr langsam und bedächtig zu machen, heute aber ging er fast im Laufschritt vorwärts und sah sich dabei ängstlich nach allen Seiten um, blieb aber plötzlich stehen, denn von der waldigen Anhöhe drüben, die sich wie ein kleines Vorgebirge in das Meer hinaus erstreckte, kam ein Mann, dem Anschein nach ein Jäger, da er die Flinte über der Schulter trug.
»Arnulf!« rief der alte Herr, ihn erkennend. »Gott sei Dank, daß ich Sie finde! Ich wollte mich soeben nach Ihrem Hofe flüchten.«
»Flüchten? Weshalb?« sagte Arnulf ruhig, indem er vollends herabstieg.
»Das fragen Sie noch? Haben Sie denn das Schießen nicht gehört?
»Gewiß. Drüben am Strandholm hat es etwas gegeben, und es scheint heiß hergegangen zu sein. Das war kein bloßes Plänkeln mit den Strandwachen, da sind sie ernst aneinander geraten.«
»Ja, es wird immer schrecklicher von Tag zu Tag!« seufzte der Doktor. »Man kann nicht mehr aus der Tür gehen, wenn man seines Lebens sicher sein will. Da bin ich auf einem ganz harmlosen Spaziergange begriffen, denke an nichts Böses, und urplötzlich entwickelt sich eine Schlacht in unmittelbarer Nähe.«
»Warum nicht gar!« war die etwas derbe Antwort. »Erstens war es nicht in unmittelbarer Nähe, sondern mindestens eine Stunde entfernt, und zweitens kann sich da drüben am Strandholm überhaupt keine Schlacht entwickeln, höchstens ein Gefecht.«
»Aber es kann sich bis hierher ziehen, wir können unversehens hineingeraten, und wenn die Soldateska einmal wütend ist, schont sie weder Freund noch Feind.«
»Nun, Herr Doktor, so arg ist es nicht,« sagte Jansen mit leisem Spott. »Sie mit Ihren weißen Haaren sind sicher vor Freund und Feind.«
»Meinen Sie?« fragte der alte Herr etwas beruhigt. »Ja man sieht es mir wohl an, daß ich ein Mann des Friedens bin, und gerade ich muß einen Zögling besitzen, der nichts als Krieg und Schlachten im Kopfe hat. Vor zwei Stunden ist er mit seiner Schwester nach Wykstedt geritten, und wenn er das Schießen gehört hat –«
»Dann kehrt er sicher nicht um,« ergänzte Arnulf. »Wenn Junker Otto so etwas wie ein Gefecht in der Nähe wittert, ist er im stande, gerade darauf loszureiten. Aber der Kampf muß zu Ende sein, seit einer halben Stunde ist alles ruhig.«
Doktor Lorenz schien dem Frieden noch nicht recht zu trauen, er ging nach dem Strande hinunter, um einen besseren Überblick zu gewinnen, rief aber plötzlich im Ton der Überraschung: »Da kommen sie ja – Otto und Eleonore!«
Jansen wandte sich um, mit einer Hast, die sonst gar nicht in seiner Gewohnheit lag. In der nächsten Minute war er an der Seite des Doktors, und sein Blick flog nach dem Strandwege, der sich am Fuße jener waldigen Anhöhe hinzog. Dort erschienen jetzt in der Tat die Geschwister, die gleichfalls die beiden bemerkten, und ihre Schritte beschleunigten.
»Habt ihr das Schießen gehört? Es kam vom Strandholm herüber,« rief Otto, der Schwester voranstürmend. »Sie rücken immer näher, unsere Deutschen! Die Waldungen da drüben sind schon Mansfeldscher Besitz, es ist das erste Gefecht auf unserem Grund und Boden!«
»Otto, ich glaube wahrhaftig, Sie freuen sich darüber,« sagte der Doktor entsetzt, aber sein Zögling warf schmollend die Lippen auf und hieb mit der Reitgerte in die Luft.
»Nein, ich ärgere mich, daß ich nicht dabei sein kann.«
»Das sieht Ihnen wieder ähnlich! Aber Sie sind ja zu Fuß, wo haben Sie denn Ihre Pferde gelassen?«
»Bei Arnulf! Wir waren auf dem Rückwege von Wykstedt in seinem Hof und hörten, daß er auf dem Seeberge sei. Ich sagte es dir ja, Nora, daß wir ihn noch treffen würden, da ist er!«
Er wandte sich nach der Schwester um, die ihm langsamer gefolgt war und etwas überrascht schien, auch den Doktor hier zu finden. Arnulf Jansen hatte seinen Platz nicht verlassen, er tat keinen einzigen Schritt der jungen Dame entgegen, aber seine Augen hingen unverwandt an der schlanken Gestalt, die, ein Hütchen mit wehendem Schleier auf den dunklen Flechten, die Schleppe des dunklen Reitkleides leicht über den Arm geworfen, jetzt vor ihm stand.
»Haben Sie etwas von dem Kampfe gesehen, Arnulf?« fragte sie.
»Nur wenig, es scheint ein Waldgefecht gewesen zu sein, aber der Strandholm ist zu fern und die Luft war zu nebelig, da ließ sich nicht viel unterscheiden.«
Eleonore trat noch einen Schritt näher und dämpfte die Stimme so, daß nur er sie verstehen konnte.
»Und sonst keine Nachrichten?«
»Keine,« gab er ebenso leise zur Antwort. »Unsere Verbindungen –«
»Still, Otto hört auf uns,« unterbrach ihn die junge Dame, und sich anscheinend gleichgültig umwendend, fuhr sie laut fort: »Du solltest mit dem Herrn Doktor auf den Seeberg steigen, lieber Otto. Man hat von dort jedenfalls einen weiteren Ausblick, als hier unten am Strand.«
»Jawohl, das war auch mein Beobachtungsposten,« fiel Jansen ein. Otto schien aber wenig geneigt, diesen Rat zu befolgen, er schaute mit kritischen Blicken von einem zum andern und antwortete mit einer Empfindlichkeit, die er sich gar keine Mühe gab, zu verbergen:
»Das heißt, ich werde fortgeschickt, weil ihr wieder einmal wichtige Besprechungen habt, und da bin ich natürlich überflüssig. O, Arnulf, ich weiß es recht gut, daß meine Schwester deine Vertraute ist! Die erfährt deine Geheimnisse, der sagst du alles, die weiß alles und ich – ich erfahre gar nichts. Ich werde fortgeschickt wie ein Schulknabe, der jedes Wort ausplaudert, das er auffängt –«
»Aber, Otto, was fällt dir ein!« versuchte Eleonore ihn zu beschwichtigen, doch der junge Ungestüm war nicht so leicht zu täuschen.
»O, ich will mich gar nicht in euer Vertrauen drängen,« versetzte er trotzig. »Kommen Sie, Herr Doktor, Sie sehen es ja, man will uns los sein, wir werden nach dem Seeberg hinaufgeschickt, da sind wir außer Hörweite.«
»Wenn es nur da oben im Walde sicher ist,« meinte Lorenz, mit einem bedenklichen Blick auf die Waldhöhe.
»Ich bin bei Ihnen!« rief Otto, sich in die Brust werfend. »Ich beschütze Sie und ich wollte, wir bekämen da oben einen Angriff, einen Überfall –«
»Um des Himmels willen,« protestierte der alte Herr erschrocken, aber sein Zögling fuhr in voller Gereiztheit fort: »Damit ich meiner Schwester und Arnulf zeigen kann, daß ich kein kleiner Bube mehr bin, den man fortschickt, wenn die Erwachsenen reden.«
Damit zog er den Doktor fort, der ihm wohl oder übel folgen mußte, und gleich darauf verschwanden sie zwischen den Bäumen.
»Er hat recht,« sagte Arnulf, ihm nachblickend. »Er wird noch zu sehr als Knabe behandelt und hat doch schon das Zeug zum Mann in sich.«
»Aber er hat auch noch die ganze Unbesonnenheit des Knaben,« wandte Eleonore ein, »und damit bringt er sich und andere in Gefahr. – Also noch keine Nachricht von den unsrigen drüben?«
»Nein, der Bote, den ich erwarte, wird wohl erst in der Nacht kommen, bei Tage darf sich ja hier nichts regen, der Hardesvogt hält Wache wie ein Argus. Er denkt es mit dem Polizei- und Soldatenregiment zu zwingen, lange wird es nicht mehr dauern und gnade ihm Gott, wenn es einmal zusammenbricht!«
Es lag ein dumpfer Groll in den Worten, und der Blick, der sie begleitete, war drohend genug, aber auch auf der Stirn der jungen Dame stand eine finstere Falte, als sie erwiderte: »Holger ist sehr oft auf dem Schlosse. Er und Graf Odensborg sind eng befreundet.«
»Das ist kein Wunder, gleich und gleich gesellt sich! – Und Sie sind auch noch immer in Mansfeld?«
»Weil wir müssen! Sie wissen ja, daß die Erkrankung der Großmutter uns bis jetzt zum Bleiben zwang. Gestern endlich hat der Arzt die Erlaubnis zu der Fahrt nach Wykstedt gegeben, ich komme eben von dort, wo ich alles Nötige angeordnet habe, und in der nächsten Woche verlassen wir Mansfeld – Gott sei Dank!«
Sie atmete tief auf, als werde damit ein unerträglicher Druck von ihr genommen. Jansen nickte zustimmend.
»Ich glaube es wohl, daß Sie sich fortsehnen, der Graf macht Ihnen das Leben schwer genug. Er wirtschaftet in Mansfeld gerade so arg wie der Hardesvogt in seinem Bezirk, und der eigentliche Majoratsherr kümmert sich ja um nichts, der jagt und reitet und fährt den ganzen Tag und sieht es ruhig mit an, wie sein Stiefvater auf seinen Gütern den Herrn und Meister spielt. Ein recht gehorsamer Sohn! Freilich, er ist von Anfang an nichts anderes gewesen als eine bloße Null.«
»Arnulf, lassen Sie das!« sagte Eleonore leise und gepreßt.
»Sie wollen es nicht hören?« fragte er herb. »Und Sie geht es doch am allermeisten an! Der alte Herr hat freilich nicht gewußt, was er Ihnen auferlegte mit jener Testamentsbestimmung.«
»Ich bitte Sie noch einmal – lassen wir das.«
Es lag eine beinahe angstvolle Abwehr in den Worten, aber Jansen trat jetzt dicht an ihre Seite und richtete das Auge voll und finster auf sie.
»Wenn es Sie kränkt, spreche ich keine Silbe mehr, aber mir dürfen Sie schon ein freies Wort gönnen, Fräulein Nora. Ich habe Sie ja aufwachsen sehen und ich ertrage es nun einmal nicht, wenn Ihnen Zwang geschieht. Als ich Sie das erste Mal sah« – seine Stimme gewann einen eigentümlichen Klang, sie verriet eine mühsam unterdrückte Bewegung – »damals, als ich den Oberst Waldow seiner Frau zurückbrachte, da waren Sie ein Kind, und Ihre Mutter hob Sie zu mir empor, damit Sie mir danken sollten für das Leben des Vaters. Ich war ein wilder Bursche damals und kümmerte mich nicht viel um Frauen und Kinder, aber das habe ich doch nie vergessen, wie Sie die kleinen Arme um meinen Hals legten und die vorgesagten Worte nachsprachen – nie. Mir dürfen Sie schon ein Wort gönnen.«
Die Erinnerung, die er berührte, blieb nicht wirkungslos, Eleonore streckte ihm mit aufwallender Herzlichkeit die Hand hin.
»Sie haben recht,« sagte sie einfach.
»Nun, so geben Sie mir auch Antwort auf eine Frage. Nur ein einziges Wort, ja oder nein! – Werden Sie dem Testament gehorchen?«
Sein Auge hing in atemloser Spannung an ihren Zügen, als suche er dort schon die Antwort zu lesen. Eleonore war bleich geworden, aber sie zögerte nicht einen Augenblick, sondern erwiderte mit voller Bestimmtheit: »Nein.«
»Ah!« stieß Arnulf mit einem so wilden Triumphe hervor, daß die junge Dame erschreckt seine Hand fahren ließ und zurücktrat.
»Was haben Sie denn?« fragte sie betroffen.
»Nichts, nichts!« Er hatte sich bereits wieder gefaßt, aber seine Augen blitzten noch wie in tiefster, innerster Genugtuung. »Ich habe es ja vorher gewußt, Sie konnten ja gar nicht einwilligen! Eleonore Waldow und dieser dänische –«
»Arnulf, Sie sprechen von meinem Verwandten,« unterbrach sie ihn, aber Jansen lachte nur bitter auf.
»Nun ja, er heißt Mansfeld, wie sein Vater und Großvater, das ist aber auch alles, was er von ihnen geerbt hat. Es ist ein altes Geschlecht gewesen, die Mansfeld, und auch von der alten guten Art. Sie haben fest zu uns gestanden in all der Not unseres Landes, wie wir zu ihnen, da galt es nicht Ritterschaft und nicht Bauer, wir standen gegen einen Feind. Aber der letzte, der den Namen trägt, der ist verdorben da drüben in ihrem Dänemark, der verachtet und verrät sein Vaterland, den haben sie gelehrt, mitzuhelfen beim Unterdrücken, und der alte Majoratsherr würde sich im Grab umwenden, wüßte er, daß sein Geschlecht so endigt.«
Eleonore gab keine Antwort, es war ja nur die Wahrheit, die sie hören mußte, aber die Blässe in ihrem Antlitz wurde noch tiefer und ihre Lippen zuckten bei diesen mit der rücksichtslosesten Verachtung herausgeschleuderten Worten, da tönte plötzlich eine helle Stimme: »Da ist ja Nora!« Und vom Waldweg her flog Fräulein von Bernsholm auf die Freundin zu, die sich überrascht umwandte.
»Du bist in Mansfeld, Eva? Davon weiß ich ja gar nichts.«
»Ich bin erst vor zwei Stunden mit meinem Vormund gekommen, gleich nachdem du fortgeritten warst,« berichtete Eva. »Wir wollen nach dem Seeberg hinauf, dein Vetter behauptet, es sei der einzige Punkt, von dem man das Gefecht am Strandholm beobachten könnte. Wo sind Sie denn geblieben, Herr von Mansfeld?«
Hellmut stand noch drüben am Waldesrand, aber sein Blick haftete unverwandt auf den beiden, die man hier in einem offenbar sehr angelegentlichen Gespräch überrascht hatte, jetzt kam er langsam näher und sagte nachlässig:
»Wir stören wohl, Eleonore?«
»Worin?« fragte sie kalt und stolz.
»In deiner Unterhaltung mit Herrn Jansen. Er ist jedenfalls vertrauter, als ich, mit deinen Marschen und Wäldern, die du so sehr liebst.«
Der Spott in den Worten hatte etwas Gereiztes, Höhnisches, aber Arnulf blieb die Antwort nicht schuldig, er richtete sich hoch und drohend auf.
»Jawohl, Herr Baron, das bin ich! Und heute lohnt es sich vielleicht auch für Sie, einen Blick darauf zu werfen, denn in unseren Wäldern wird heute gekämpft, und der Kampf geht um unsere Marschen.«
»Mich wundert nur, daß Sie nicht auch dabei sind,« gab Hellmut in dem gleichen Ton zurück, »die Flinte tragen Sie freilich schon auf der Schulter.«
Jansen faßte den Kolben seiner Flinte fester und seine Finger legten sich wie zufällig an den Drücker.
»Es ist immer gut, wenn man eine Waffe bei sich hat! Man kann nie wissen, wie man sie braucht und gegen wen man sie braucht –«
»Arnulf, um Gottes willen – vorsichtig!« raunte Eleonore ihm zu, aber auch Eva war durch jene Bewegung erschreckt worden. Sie neigte sich zu dem jungen Baron, der an ihrer Seite stand, und sagte im Flüsterton: »Lassen Sie sich mit diesem Jansen nicht ein, Herr von Mansfeld. Es ist ein gefährlicher Mensch.«
»Fürchten Sie nichts,« versetzte Hellmut mit einem verächtlichen Lächeln. »Sie sehen es ja, Ihre Freundin braucht nur die Hand auf seinen Arm zu legen und der Berserker wird augenblicklich sanftmütig – eine ganz eigentümliche Macht, die sie über ihn hat.«
Die leise Berührung seines Armes hatte in der Tat genügt, Arnulf zur Besinnung zu bringen, er schwieg, aber sein Auge begegnete in voller Feindseligkeit dem Hellmuts, der es sehr anmaßend zu finden schien, daß der »Bauer« so unausgesetzt seinen Platz neben dem Fräulein behauptete, als ob er ihm von Rechts wegen gebühre. Eleonore mochte die Gefahr dieses Zusammentreffens fühlen, denn sie ergriff den ersten Vorwand, die beiden zu trennen.
»Du wolltest nach dem Seeberg, Eva?« fragte sie. »Otto und Doktor Lorenz sind bereits oben und ich war eben im Begriff, ihnen zu folgen. Du begleitest uns doch, Hellmut?
»Wenn du befiehlst,« versetzte er kühl, aber mit jener ritterlichen Artigkeit, die er ihr gegenüber stets behauptete.
»So müssen wir uns beeilen. Die Sonne fängt schon an, zu sinken.«
»O, die beiden Herren kommen noch später als wir!« rief Eva, die bereits den Weg nach der Höhe einschlug.
»Welche Herren?« fragte Eleonore, sich ihr anschließend.
»Graf Odensborg und mein Vormund, sie müssen bald hier sein, wir sind nur vorausgegangen.«
Die beiden jungen Damen verschwanden zwischen den Bäumen, Hellmut folgte ihnen, blieb aber plötzlich vor Jansen stehen, an dem er vorüber mußte.
»Was meinten Sie vorhin? Gegen wen sollte die Waffe gebraucht werden?
»Gegen das Wild!« war die eisige Antwort. »Ich bin auf der Jagd.«
»Heute, wo in den Wäldern gekämpft wird?« fragte Baron Mansfeld scharf.
»Ja.«
»Nun, denn – gute Jagd hier unten, Herr Jansen!«
»Gute Wacht da oben, Herr Baron!« klang es ebenso herausfordernd zurück.
Wenige Minuten später erschienen in der Tat Graf Odensborg und der Hardesvogt, die gleichfalls durch den Wald kamen. Man hatte auch im Schlosse das anhaltende und heftige Schießen vom Strandholm gehört und wollte das Gefecht beobachten, das sich in so bedenklicher Nähe entwickelte. Die Umgebung von Mansfeld war bisher noch von den Kriegsereignissen verschont geblieben und die deutschen Vorposten standen noch in einer Entfernung von mehreren Meilen.
Die beiden Herren waren in lebhaftem Gespräch begriffen, der Hardesvogt war gleichfalls ein Mann in vorgerückten Jahren, aber ihm fehlte die Vornehmheit, die in der Erscheinung des Grafen lag, und die verbindlichen Formen desselben. Seine Persönlichkeit und sein Auftreten verrieten die ganze Energie, aber auch die ganze Rücksichtslosigkeit eines Mannes, der gewohnt ist, unbeschränkt zu verfügen und jeden etwaigen Widerstand zu brechen. Er verdankte freilich gerade diesen Eigenschaften die ausgedehnten Vollmachten, die ihm zur Seite standen und die weit über die Befugnisse seines Amtes hinausgingen. Die Regierung brauchte und schätzte solche Männer, die inmitten einer durchweg deutsch gesinnten Bevölkerung ihre Autorität aufrecht zu erhalten wußten, und das verstand Holger, wenn er auch in der Wahl der Mittel nicht gerade bedenklich war.
»Wir kommen zu spät, wie es scheint,« sagte er, in die Lichtung hinaustretend. »Der Kampf muß zu Ende sein, am Strandholm ist alles ruhig.«
Odensborg, der ihm folgte, blieb stehen und warf einen Blick nach der See hinüber.
»War das nicht Jansen, der eben nach dem Strande hinunterging?« fragte er.
»Vermutlich, sein Hof liegt ja ganz in der Nähe. Sehen Sie, Herr Graf, dieser starrköpfige Bauer spielt auch eine Hauptrolle in den Schwierigkeiten, von denen wir soeben sprachen. Er ist der schlimmste von allen, ist geradezu eine Gefahr für uns durch die unumschränkte Macht, die er über seinesgleichen ausübt. Ich bin fest überzeugt, daß er trotz alledem Verbindungen mit dem Feinde drüben unterhält, daß die Nachrichten hinüber und herüber gehen, aber es ist bisher nicht möglich gewesen, irgend einen Beweis dafür zu finden.«
»Nun, ich dächte, Sie hätten ihn und sein Haus unter strenge Aufsicht genommen,« warf Odensborg ein. »Er hat ja wohl doppelte Einquartierung?«
»Allerdings, aber was nützt das? Dem könnten wir eine ganze Compagnie Soldaten in den Hof legen, er bietet uns doch offen Trotz an der Spitze seiner Bauern. Diesem Jansen ist nicht beizukommen, so oft wir es auch schon versucht haben, und solange er frei herumgeht, müssen wir fortwährend auf irgend einen Ausbruch unter dem Landvolke gefaßt sein. – Kommt er noch bisweilen nach Mansfeld?«
»Nein, er hat seit Monaten das Schloß nicht mehr betreten.«
»Aber die Kinder des Oberst Waldow reiten sehr oft hinüber zu ihm.«
Der Graf zuckte die Achseln.
»Sie wissen ja, es existiert ein ganz eigentümliches Verhältnis zwischen ihnen und diesem friesischen Bauer. Er gilt ihnen als der Lebensretter ihres Vaters, und sie zeigen ihm ihre Dankbarkeit dafür in überschwenglicher Weise. Ich kann diesen Verkehr nicht hindern, aber einen etwaigen Gegenbesuch des Herrn Jansen würde ich mir sehr energisch verbitten.«
»Denkt Baron Mansfeld ebenso in diesem Punkte?« fragte Holger in einem Tone, der eine gewisse Besorgnis verriet. Der Graf sah ihn erstaunt an.
»Gewiß, mein Sohn fügt sich darin gänzlich meinen Ansichten.
»So scheint es wenigstens, aber sollte sich der Einfluß der Verwandten nicht doch bisweilen geltend machen? Mir sind in der letzten Zeit verschiedene Äußerungen des Herrn von Mansfeld aufgefallen, die befremdlich klangen. Er schien Lust zu haben, gegen uns in Opposition zu treten. Ich rechne mit Sicherheit darauf, daß die Mansfeldschen Güter unter Ihrer ausschließlichen Leitung bleiben, jetzt, wo die Kriegsereignisse immer näher herandrängen, ist das unerläßlich.«
Odensborg lächelte mit der Überlegenheit eines Mannes, der seiner Sache gewiß ist.
»Fürchten Sie nichts, ich halte die Zügel! Hellmut ist übler Laune, das ist das Ganze. Er langweilt sich hier, ohne die gewohnten Zerstreuungen, er fühlt sich isoliert in dem fanatischen Deutschtum ringsum, aber von einem Einfluß der Verwandten ist keine Rede. Er verkehrt gar nicht mehr mit ihnen, die flüchtigen Krankenbesuche bei seiner Großmutter ausgenommen, und eine persönliche Einmischung in die Verwaltung oder gar in die Parteiangelegenheiten ist nun vollends nicht nach seinem Geschmack.«
»Nun, Sie müssen ihn am besten kennen,« meinte Holger. »Übrigens wäre der junge Baron auch schwerlich den jetzigen Verhältnissen gewachsen, selbst wenn er die besten Absichten hätte, denn hier gilt es, mit der äußersten Energie dies rebellische Volk niederzuhalten, das nur auf einen Anlaß zur Empörung wartet. Ein einziges Zeichen von Schwäche, und sie wenden sich gegen uns und gehen mit Sang und Klang zum Feinde über, den sie ja als Retter und Befreier ansehen.«
Sie hatten während des Gespräches die Lichtung durchschritten und standen jetzt am Fuße des Seeberges. Es lohnte kaum noch den Versuch, von dort aus einen Überblick zu gewinnen, denn seit länger als einer halben Stunde war das Schießen völlig verstummt, aber die beiden Herren hatten nun einmal den Weg gemacht, und überdies warteten Hellmut und Eva droben auf die Nachkommenden, sie beschlossen also dennoch hinaufzusteigen.
Inzwischen kehrte auch Arnulf Jansen von seinem Streifzug zurück, den er nur unternommen hatte, um dem Hardesvogt und dem Grafen nicht zu begegnen. Er hatte sie so gut in der Entfernung bemerkt, wie sie ihn, und stieg jetzt langsam von dem tiefer gelegenen Strande wieder zu der Lichtung empor.
»Ist die Luft endlich wieder rein?« murmelte er ingrimmig. »Ich kann diesen Dänen nicht in den Weg treten, einmal reißt mir doch die Geduld, und dann bricht es los. Ich weiß ja, daß sie nur auf solchen Anlaß warten. Vorsichtig? Ja, das ist leicht gesagt, aber schwer getan, wenn es innen wühlt und kocht und man ersticken möchte an dem Grimm. Wann wird das ein Ende nehmen!«
Er wandte sich dem Wald zu, der noch laublos dastand, aber am Unterholz sproßte und grünte es schon, und die mächtigen Stämme der Buchen wehrten den Einblick in die eigentliche Waldestiefe, man sah kaum einige hundert Schritte weit.
Jansen war eben im Begriff, den Weg einzuschlagen, den die dänischen Herren gekommen waren, als er plötzlich stutzte und stehen blieb. Dort hinten regte sich etwas, zwischen den Bäumen wurden Gestalten sichtbar, es schienen sechs oder sieben Menschen zu sein, die in ziemlich scharfem Schritt näher kamen. Allmählich unterschied man auch Uniformen und sah das Blitzen von Gewehren, es war ein Trupp Soldaten, der am Rande der Lichtung Halt machte, nicht weit von dem Platz, wo Arnulf stand.
»Halt!« kommandierte der Führer. »Ich muß mich erst orientieren, in dem verwünschten Wald verliert man ja Weg und Richtung. Ganz recht, wir sind am Seeberg – drüben ist der Strandholm – und eine Viertelstunde von hier liegt Jansens Hof. Dorthin geht der Weg? Vorwärts!«
»Hauptmann Horst!« rief Arnulf vortretend.
»Herr Jansen!« tönte es in offenbar freudiger Überraschung zurück. »Das nenne ich Glück! Wir wollten eben zu Ihnen.«
»Zu mir?«
»Ja, ich weiß es ja, daß Sie zu uns halten, und wir brauchen gerade einen Freund in der Not. Wir sind allein, abgeschnitten von den Unsrigen und wollten uns auf Ihrem Hofe so lange halten, bis –«
»Nicht dorthin!« unterbrach ihn Arnulf. »Ich habe dänische Einquartierung, einige zwanzig Mann.«
Die Nachricht schien dem Hauptmann sehr unerwartet zu kommen, er stampfte unwillig mit dem Fuß.
»Verwünscht! Was fangen wir nun an?«
»Sind Sie den Strandweg gekommen?« fragte Jansen.
»Nein, wir kamen mitten durch den Wald, aber wir wollen uns doch vorläufig hier sichern. Unteroffizier Mertens, Sie gehen an den Strand und behalten den Seeberg scharf im Auge. Ihr anderen faßt hier rechts und links im Wald Posto. Sobald sich irgend etwas zeigt – Meldung!«
Die Soldaten gehorchten. Der Unteroffizier wandte sich nach dem Strande, während die übrigen sich zu beiden Seiten der Lichtung zwischen den Bäumen verteilten. Der Hauptmann überwachte das scharf und wies jedem durch einen kurzen Wink den geeigneten Platz an. Dann erst wandte er sich wieder zu Arnulf Jansen.
»So, jetzt wollen wir beide Kriegsrat halten! Also Ihr Hof ist besetzt?«
»Gewiß, der wurde zu allererst unter Aufsicht gestellt. Aber was war das am Strandholm? Ein Gefecht? Ein Angriff?«
»Eigentlich sollte es nur eine Rekognoszierung sein, aber es wurde ein Gefecht daraus. Unsere Nachrichten haben sich als falsch erwiesen, es hieß, die ganze Küste sei frei.«
»Der Strandholm ist sehr stark besetzt,« warf Arnulf ein.
»Das haben wir erfahren! Sie haben uns einen recht warmen Empfang bereitet, aber wir sind ihnen auch nichts schuldig geblieben, zumal ich und meine Leute nicht. Dabei wagten wir uns aber doch zu weit vor, im Walde wurde es ja ein Einzelgefecht. Mann gegen Mann. Wir waren auf einmal umringt, abgeschnitten, und konnten nicht mehr zu den Unsrigen zurückgelangen.«
»Und Sie sind trotzdem hier?«
»Nun, wir haben uns natürlich durchgeschlagen,« erklärte Horst mit einer Ruhe, als ob das eine selbstverständliche Sache sei. »Dabei mußten wir uns aber tiefer in den Wald werfen und die entgegengesetzte Richtung nehmen. Zum Glück kenne ich von meinen Besuchen in Mansfeld her die Umgegend. Ich wollte meine Leute einstweilen zu Ihnen führen.«
»Da wären Sie geradeswegs den Dänen entgegenmarschiert,« sagte Arnulf finster.
»Aber hinter uns sind sie auch!«
»Ja wohl, und überall in der Umgegend.«
»Das ist ja eine recht beneidenswerte Situation,« meinte der Hauptmann. »Die Unsrigen sind nach erfolgter Rekognoszierung wieder zurückgegangen, wir gelten ihnen wahrscheinlich für gefallen – nun, dazu kann noch Rat werden! Ist der Seeberg wenigstens sicher?«
»Da oben ist der Hardesvogt mit dem Grafen Odensborg. Wenn die Sie entdecken, benachrichtigen sie sofort das nächste Kommando, und die Dänen kommen mit dreifacher Übermacht.«
Das war allerdings eine Fülle von schlimmen Nachrichten, die einen anderen wahrscheinlich aus der Fassung gebracht hätten; Hauptmann Horst nahm sie mit der gewohnten Gelassenheit hin, seine Stimme hatte sogar einen leisen Anflug von Humor, als er erwiderte: »Das wird ja immer lieblicher! Nun, dann müssen wir unser Leben eben so teuer, als nur möglich, verkaufen. Wir sind immerhin unsere sechs.«
»Sieben, Herr Hauptmann! Ich zähle mit!« sagte Arnulf kurz, auf seine Flinte deutend. Horst streckte ihm herzlich die Hand hin.
»Dank, wir können es brauchen!«
»Übrigens sind wir noch nicht so weit,« nahm Jansen wieder das Wort. »Noch gibt es ein Mittel: wenn es mir gelänge, Ihnen ein Boot zu schaffen – sind Sie erst auf der See, so umsegeln Sie den Strandholm, halten sich außer Schußweite und landen erst dort, wo die Unsrigen stehen.«
Horsts Augen blitzten auf bei dem Vorschlag, der allerdings Rettung verhieß.
»Das wäre ein Ausweg! Können Sie uns das Boot schaffen?«
»Nein, wenigstens heute nicht mehr,« war die mit aller Bestimmtheit gegebene Antwort. »Der Strand ist zu scharf bewacht, aber vielleicht geht es in der Nacht, es muß wenigstens versucht werden.«
Horst musterte die Umgebung, als wolle er einen geeigneten Platz zur Verteidigung ausfindig machen, und nickte dann.
»Gut, dann müssen wir hier im Wald biwakieren und jede Minute auf einen Angriff gefaßt sein, das Terrain ist wenigstens günstig.«
»Herr Hauptmann!« tönte es vom Strand her.
»Was gibt es?« fragte Horst, sich rasch umwendend.
»Eine junge Dame und ein Knabe kommen vom Seeberg,« meldete der Unteroffizier.
»Frauen und Kinder – die passieren,« befahl der Hauptmann.
Der Posten hatte recht gesehen, es waren Eva und Otto, die ganz harmlos vom Seeberg kamen, wo sie sich schließlich gelangweilt hatten. Es war dort oben in der Tat nichts zu sehen, als eine gewisse Unruhe und Bewegung unter der Besatzung des Strandholm, die man deutlich mit den Ferngläsern wahrnehmen konnte. Der Graf und der Hardesvogt hatten sich in weitläufige Erörterungen darüber vertieft, ob wirklich ein Angriff auf den Holm stattgefunden habe, wer Sieger geblieben sei, und wohin sich das Gefecht gezogen haben könnte, lauter Dinge, für die sich Fräulein Eva nicht im mindesten interessierte, und ihre Unterhaltungsversuche nach der anderen Seite hin mißglückten ebenfalls. Hellmut und Eleonore schienen beide von einer merkwürdigen Schweigsamkeit ergriffen und gaben kaum Rede und Antwort. Die junge Dame hielt es endlich nicht mehr aus, sie machte Otto den Vorschlag, an den Strand zu gehen, wo sie sich mehr Unterhaltung versprach, er war auch augenblicklich bereit dazu; und so machten sie sich denn zusammen auf den Weg.
»Da oben ist es langweilig,« sagte Eva, das zierliche Näschen rümpfend, als sie eben den Fuß des Seeberges erreichten. »Nora und Baron Hellmut sprechen kein Wort, sie stehen wie festgewachsen an zwei entgegengesetzten Punkten und nun vollends die anderen – ach, mein Gott!«
Sie fuhr erschrocken zusammen, aber in demselben Augenblick klang es auch in stürmisch aufwogender Freude ihr entgegen: »Eva!«
Jetzt erkannte auch Otto den Offizier, der neben Arnulf Jansen stand, und war in drei Sprüngen bei ihm.
»Fritz! Fritz Horst!« jubelte er, aber der Hauptmann legte ihm rasch die Hand auf den Mund.
»Schrei nicht so, mein Junge!« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich bin ganz inkognito hier.«
»Aber wie ist das möglich? Wie kommst du hierher?«
»Fragen Sie nicht,« unterbrach Arnulf die stürmische Erkundigung. »Sagen Sie uns nur, ob der Hardesvogt und der Graf Ihnen folgen.«
Otto schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein, die schauen noch unverwandt durch ihre Ferngläser und kommen fürs erste noch nicht. Wir wollten nur zum Boot –«
»Ein Boot?« fuhr Horst auf, während Jansen ebenso lebhaft einfiel: »Sie sind im Boot gekommen?«
»Ich nicht, aber Fräulein Eva mit den anderen,« berichtigte Otto. »Es liegt unten in der Bucht, da sie hier der Brandung wegen nicht landen konnten.«
»Das ist Hilfe in der Not,« sagte Arnulf, sich zu dem Hauptmann wendend. Dieser hatte unwillkürlich aufgeatmet bei der Nachricht, aber sein Blick flog dabei zu Eva hinüber.
»Ich sage es ja, Glück muß der Mensch haben!« brach er aus. »Ich will sofort hinunter –«
»Bleiben Sie, Herr Hauptmann,« hielt ihn Jansen zurück. »Zeigen Sie sich nicht zu früh am Strande, die preußische Uniform verrät Sie. Wir müssen erst wissen, wer das Boot führt, lassen Sie mich hin, ich bringe Ihnen Nachricht, aber – er trat dicht an seine Seite und senkte die Stimme. »Das Fräulein wird Sie doch nicht verraten? Der Hardesvogt ist ihr Vormund – lassen Sie sie nicht von Ihrer Seite, bis ich wieder da bin.«
»O, das werde ich schon besorgen!« erklärte Horst mit der größten Zuversicht.
»Aber was bedeutet denn das alles?« fragte Otto, der noch immer keine Ahnung von dem Zusammenhange der Sache hatte.
»Herr Jansen kommt sogleich zurück,« sagte Horst. »Willst du ihn nicht begleiten? Von ihm erfährst du am besten den Zusammenhang.«
Der Knabe sah ihn mißtrauisch an. »Soll ich etwa schon wieder fortgeschickt werden? Hast du auch Geheimnisse vor mir?«
»Nicht doch, ich meinte nur, wenn Jansen allein geht, ist es immerhin gefährlich –«
»Gefährlich?« fuhr Otto auf. »Da muß ich dabei sein! Arnulf, nimm mich mit!«
Damit stürmte er nach. Der Hauptmann aber sagte ihn sichtlicher Befriedigung: »Das hilft! Nun sind wir ihn los!«
Eva stand noch immer an ihrem Platze, scheu und zaghaft, als wage sie keinen Schritt vorwärts zu tun. Das sonst so blühende Gesichtchen war bleich geworden, und die Augen hafteten mit einem Ausdruck, in dem sich Schrecken und Freude mischten, auf Horst, der jetzt zu ihr trat.
»Fräulein Eva, Sie zittern ja,« sagte er halblaut. »Fürchten Sie nichts!«
Das junge Mädchen deutete ängstlich auf die Posten, die allerdings in einer Entfernung von mindestens fünfzig Schritt standen, aber doch deutlich zwischen den Bäumen sichtbar waren.
»Aber die Soldaten dort im Walde!«
»Die sind außer Hörweite, und übrigens sind es meine Leute. Jetzt aber lassen Sie mich Ihnen erklären –«
»Sie brauchen mir gar nichts zu sagen, ich errate alles,« unterbrach ihn Eva. »Wie konnten Sie so verwegen, so tollkühn sein!«
Die Worte klangen vorwurfsvoll, aber es sprach trotzdem die tiefste Genugtuung daraus.
Horst lächelte nur.
»Ja, etwas verwegen waren wir allerdings, das ist eben Soldatenmanier.«
»Aber mein Vormund und der Graf können jeden Augenblick kommen und dann sind Sie verloren.«
»Nun, mit den beiden Herren werden wir allenfalls noch fertig,« sagte der Hauptmann gleichmütig. »Im schlimmsten Falle nehmen wir sie gefangen und sie müssen die Seefahrt mitmachen.«
»Sie wollen sie gefangen nehmen?« rief Eva entsetzt.
»Wenn es nicht anders geht, ja, aber beruhigen Sie sich, das geht hoffentlich ohne Blutvergießen ab.«
»Hoffentlich nur! Und wenn es nun doch dazu kommt? Blutvergießen um meinetwillen!«
Horst sah sie etwas erstaunt an bei den letzten Worten, aber er ließ das auf sich beruhen, denn die Angst um ihn und seine Sicherheit sprach so unverkennbar aus dem ganzen Wesen des jungen Mädchens, daß er sich schleunigst vornahm, das zu benutzen.
»Sie haben recht, Fräulein Eva,« hob er wieder an, »Unsere Lage ist sehr ernst, sehr gefährlich.«
»Das sehe ich ja!« rief Eva, der die hellen Tränen in den Augen standen.
»Wer weiß, ob wir mit dem Leben davonkommen!«
»Gott im Himmel!«
»Darum habe ich noch eine letzte Bitte an Sie.«
»Alles – alles, was Sie nur wollen!« schluchzte Eva, der jetzt erst das Furchtbare und Verzweifelte der Lage in seinem vollen Umfange klar wurde.
»So bitte ich nochmals um Ihre Hand.«
Die Tränen der jungen Dame versiegten plötzlich, in starrer Überraschung blickte sie den unverwüstlichen Freier an, der ihr hier, mitten in der Gefahr, im Angesichte des Todes, mit derselben Seelenruhe einen Heiratsantrag machte, wie einst im Schlosse von Mansfeld. Diesmal aber war sie weit entfernt, das nüchtern und prosaisch zu finden, im Gegenteil, sie fand die Situation hochromantisch, und es imponierte ihr ungemein, daß man unter solchen Umständen um ihre Hand warb.
»Und das nennen Sie eine letzte Bitte?« brachte sie endlich hervor.
»Wir können nicht wissen, was die nächsten Minuten bringen,« sagte der praktische Hauptmann. »Also will ich mir noch schleunigst das Jawort sichern.«
»Aber dazu ist doch jetzt keine Zeit.«
»Eigentlich nicht, aber da der Zufall uns hier so unvermutet zusammenführt –«
»Zufall? Unvermutet?« fiel Eva ein. »Wußten Sie denn nicht, daß ich hier sei? Kamen Sie denn nicht, um mich zu sprechen?«
»Um Sie –? Ah so!« Horst erriet jetzt den Irrtum der jungen Dame, aber auch ihr schien eine Ahnung davon aufzugehen, denn ihre Stimme gewann eine gewisse Gereiztheit, als sie fortfuhr: »Sprechen Sie, Herr Hauptmann, Sie sind nicht meinetwegen gekommen?«
»Nein, Eva,« sagte Horst ehrlich. »Wir sind im Kriege, und ein Soldat, der vor dem Feinde steht, darf nicht seinen Herzensangelegenheiten nachgehen. Am allerwenigsten aber gibt man ihm dazu fünf Mann Bedeckung mit.«
Die arme Eva war aus all ihren Himmeln gestürzt durch dies Bekenntnis. Sie hatte sich im vollen Ernste mit dem Gedanken geschmeichelt, der Hauptmann habe um ihretwillen diesen verwegenen Streifzug mitten in das feindliche Gebiet hinein unternommen, sich der Gefangenschaft, vielleicht dem Tode ausgesetzt, um sie wiederzusehen, und nun sollte dies Zusammentreffen ein bloßer Zufall sein! Das war zu arg, die ganze Romantik der Situation verblich plötzlich, und die ganze Empfindlichkeit der jungen Dame brach hervor.
»Und doch haben Sie mir von Herzensangelegenheiten gesprochen?« fragte sie mit steigender Gereiztheit. »Freilich nebenbei – so ganz nebenbei ist das wohl auch im Kriege erlaubt, wenn man sich so ganz zufällig und unvermutet trifft. Leben Sie wohl, Herr Hauptmann!«
Sie wollte gehen, aber Horst vertrat ihr mit aller Entschiedenheit den Weg und sagte in dem alten Kommandoton, der gar keinen Widerspruch zuließ: »Eva – Sie bleiben!«
»Wollen Sie mich etwa auch gefangen nehmen?« fragte sie empört.
»O, mit dem allergrößten Vergnügen!«
»Herr Hauptmann, das ist beleidigend, empörend! Das ist –«
Fräulein Eva kam nicht weiter, trotz aller Entrüstung, denn Horst ergriff jetzt ihre Hand und hielt sie fest trotz alles Sträubens, aber seine eben noch so befehlende Stimme wandelte sich plötzlich zu vollster Innigkeit.
»Eva, geben Sie nicht solcher Empfindlichkeit Raum. Wir haben hart gekämpft am Strandholm, haben uns durchgeschlagen bis hierher und an jeder Minute hing Leben oder Tod. Sie wissen nicht, wie mir zu Mute war, als ich nach all dem Kampf und Blut urplötzlich Ihr Antlitz erblickte. In dem Augenblick wußte ich, daß mich das Glück nicht verlassen hatte, daß wir gerettet waren. Schelten Sie nicht den Zufall, der uns zusammenführt, mir kam er wie eine Verheißung, wie ein Lichtstrahl von oben.«
Die kleine Hand widerstrebte längst nicht mehr, sie ergab sich geduldig der Gefangenschaft, und die Augen des jungen Mädchens hafteten in grenzenloser, aber freudiger Überraschung auf dem Gesicht des Sprechenden.
»Fritz,« sagte sie leise, aber der Ton verriet die innere Bewegung, »Fritz, ich glaube, Sie können sogar poetisch ein!«
»Ich kann alles sein, was Sie nur wollen!« rief Horst aufflammend, im vollen Entzücken darüber, daß er zum erstenmal seinen Namen von ihren Lippen hörte, und Eva sah mit der höchsten Genugtuung, daß er endlich zu der leidenschaftlich romantischen Liebeserklärung ansetzte, die sie bisher so schmerzlich vermißt hatte. Aber das Schicksal gönnte ihr diese Freude nicht und gab dem Hauptmann keine Gelegenheit, seine so plötzlich ausgebrochene Poesie weiter zu entwickeln, denn gerade jetzt, zu der allerungelegensten Zeit, trat Arnulf Jansen dazwischen, der in Begleitung Ottos zurückkam.
»Alles gut,« meldete er. »Das Boot ist da.«
Horst wendete sich rasch um.
»Wo liegt es?«
»Eine Viertelstunde von hier in der Bucht.«
»Und wer ist dabei?«
»Zwei dänische Leute, Diener des Grafen. Sie verstehen ja wohl, ein Boot zu führen, sonst will ich es übernehmen.«
»Danke! Ich verstehe mich auf das Steuer. Unteroffizier Mertens!«
»Herr Hauptmann!« tönte es vom Strande her.
»Rufen Sie unsere Leute heran!«
»Zu Befehl!«
Fräulein Eva sah etwas beleidigt aus; sie begriff nicht, wie man von der Höhe der idealsten Gefühle so urplötzlich in die nüchternste Wirklichkeit herabsteigen konnte, aber Fritz Horst war jetzt wieder im Dienst, und nun war er vom Scheitel bis zur Sohle Soldat und nichts anderes. Er versammelte seine Leute um sich, die Mertens herbeigerufen hatte, und gab seine Befehle ebenso »kurz, knapp und klar,« wie er seine Heiratsanträge zu machen pflegte.
»Achtung, jetzt gilt es! Hier in der Nähe liegt ein Boot, dessen wir uns um jeden Preis bemächtigen müssen. Die beiden Schiffsleute werden überwältigt, aber, wenn irgend möglich, geschont. Sind wir erst einmal auf der See, mögen sie hier Lärm schlagen. Otto, du bleibst und versuchst den Hardesvogt und seine Begleitung aufzuhalten, nur eine Viertelstunde, das genügt.«
»Verlaß dich ganz auf mich!« versicherte Otto, triumphierend darüber, daß man ihm endlich auch eine Rolle zuerteilte. Arnulf untersuchte unterdessen den Hahn seiner Flinte und machte sie schußbereit.
»Ich halte Wache und decke Ihnen den Rücken,« erklärte er. »Jetzt vorwärts!«
Horst trat noch einmal zu der jungen Dame, die seitwärts stand und angstvoll all diese Vorbereitungen verfolgte.
»Eva – leben Sie wohl!« sagte er leise, aber mit derselben Innigkeit, wie vorhin.
Die blauen Augen schwammen in Tränen, als sie den seinigen begegneten, und die Tränen erstickten auch fast die Antwort.
»Fritz – wenn Sie nur erst in Sicherheit wären!«
Er lächelte und zog ihre Hand an seine Lippen.
»Ich habe ja jetzt die Verheißung des Glückes! Auf frohes Wiedersehen!«
Er stellte sich an die Spitze seiner Leute und führte sie in den Wald hinein, während Arnulf sich ihnen anschloß. Einige Minuten war der kleine Zug noch sichtbar, der eilig und schweigend vorrückte, dann verschwand er seitwärts in der Richtung nach der See.
Die beiden Zurückgebliebenen blickten unruhig nach dem Seeberge hinauf, wo sich zum Glück noch niemand zeigte. Endlich begann Otto halblaut: »Fräulein Eva!«
»Nun?« fragte sie, ohne den Blick von der Höhe abzuwenden.
»Ich weiß es jetzt, weshalb Fritz mich gleichfalls nach dem Boote schickte, aber ich nehme ihm das gar nicht übel. Diesmal war ich wirklich ganz überflüssig, das sehe ich ein.«
Das junge Mädchen wurde glühend rot und senkte die Augen.
»Otto, was verstehen Sie denn von solchen Dingen!«
»Bin ich etwa auch dazu noch zu klein?« fragte er beleidigt. »Solchen Blick und solchen feurigen Handkuß werde ich doch wohl verstehen. Aber es freut mich, daß Sie jetzt auch zu uns übergehen, der Herr Hardesvogt bekommt die Gelbsucht vor Ärger, wenn Sie die Frau eines preußischen Hauptmanns werden!«
Fräulein Eva schien ganz vergessen zu haben, daß sie einst mit Entrüstung gegen eine solche Zumutung protestiert hatte, sie mußte wohl anfangen, sich damit vertraut zu machen, denn sie schüttelte nur leise den Kopf und entgegnete mit einem halb unterdrückten Seufzer: »Ach, davon ist ja vorläufig noch gar keine Rede. Fritz kann ja fallen im Kampf!«
»Fritz fällt nicht, der haut sich überall durch, wie er es heute getan hat!« behauptete Otto mit unerschütterlicher Zuversicht. »Aber jetzt müssen wir ihn beschützen, wir dürfen niemand in die Nähe des Bootes lassen, koste es, was es wolle. Da kommen sie schon vom Seeberg! Mut, Fräulein Eva! Zittern Sie nicht so, das verrät uns!«
Die arme Eva konnte in der Tat ihrer Angst nicht Herr werden, ihr bebten alle Glieder, als sie ihren Vormund und den Grafen von der Höhe herabsteigen sah; Horst und seine Leute waren allerdings schon verschwunden, aber der erste beste Zufall konnte eine Entdeckung herbeiführen. Die beiden Herren waren indessen noch ganz ahnungslos.
»Sie hatten recht, wir hätten früher aufbrechen müssen,« sagte Odensborg zu dem Hardesvogt. »Übrigens müssen die Nachrichten vom Strandholm bald eintreffen, ich denke, wir schiffen uns jetzt wieder ein und kehren nach dem Schloß zurück.«
»Sie wollen nach dem Boot,« flüsterte Eva.
»Das muß verhindert werden,« gab Otto ebenso leise zurück.
Die Herren kamen jetzt näher, während Hellmut ihnen langsam folgte, Eleonore und der Doktor blieben vorläufig noch unsichtbar, sie schienen noch auf der Höhe zu sein.
»Nun, Fräulein Eva, haben Sie sich hier am Strande besser unterhalten als bei uns?« fragte Odensborg.
Die junge Dame gewann merkwürdigerweise im Angesicht der Gefahr den Mut, der ihr bisher gefehlt hatte. Die Farbe kam und ging in ihrem Antlitz, und die Erregung raubte ihr fast den Atem; aber sie lächelte und erwiderte mit ziemlich fester Stimme: »O gewiß! Wir haben hier etwas ganz Besonderes entdeckt.«
»In der Tat? Was denn?« fragte Holger.
Eva wies nach einer Richtung, die der, in welcher Horst und seine Leute verschwunden waren, gerade entgegengesetzt war.
»Dort drüben, hinter dem Wald – nicht wahr, Otto?«
»Ja, dort drüben!« wiederholte Otto, der nicht ahnte, wo sie hinaus wollte, und sich vergebens den Kopf zermarterte, um ein Mittel ausfindig zu machen, das die Dänen von dem Boote zurückhielt; allerdings spielten in seinen Entwürfen nur die Gewaltstreiche eine Rolle, auf die List verfiel er nicht.
»Nun, was gibt es denn da?« fragte Holger, sein Fernglas nehmend, und der Graf erklärte kopfschüttelnd: »Ich sehe nicht das Geringste.«
»So helfen Sie mir doch!« flüsterte Eva ungeduldig ihrem Mitverschworenen zu, während die Herren sich nach jener Richtung wandten.
»Ich kann nicht lügen!« murmelte Otto.
»Aber ich!« versetzte die junge Dame mit Selbstgefühl, und laut fügte sie hinzu: »Dort drüben hat auch ein Kampf stattgefunden.«
Holger sah sehr ungläubig aus bei dieser kecken Behauptung.
»Einbildung! Dort kann der Feind ja gar nicht stehen,« sagte er.
»Wir haben aber doch die Schüsse gehört und sogar den Pulverdampf gesehen.«
»Sie täuschen sich,« warf Odensborg ein, »das müßten wir doch auch gehört haben.«
»Wir waren drüben am Weiher, wo man durch die Lichtungen blickt, und da haben wir es ganz deutlich gesehen,« behauptete Eva mit vollster Bestimmtheit. Die beiden Herren wurden in der Tat stutzig, während Otto die Energie anstaunte, mit der die junge Dame zu lügen verstand.
»Das müßte man doch untersuchen,« meinte Holger.
»Kommen Sie, Herr Graf, wir wollen uns selbst überzeugen.«
Der Weiher lag volle zehn Minuten entfernt, und wenn die Herren wirklich folgten, konnte man sie dort weitere zehn Minuten mit fruchtlosen Beobachtungen aufhalten, inzwischen hatte der Hauptmann vollkommen Zeit, sich des Bootes zu bemächtigen, und der Zweck war erreicht. Holger schloß sich in der Tat dem jungen Mädchen und Otto an, die eiligst voranliefen, und auch Graf Odensborg war im Begriff zu folgen, blieb aber plötzlich stehen und sah sich nach seinem Sohne um.
Hellmut hatte nicht den geringsten Anteil an dem Gespräch genommen, er stand an einen Baum gelehnt und blickte in die See hinaus, ohne irgend ein Interesse an der ganzen Sache zu verraten, er machte auch keine Anstalt, die anderen zu begleiten.
»Willst du uns nicht folgen, Hellmut?« fragte der Graf.
»Nein – ich bin müde!« versetzte der junge Mann, ohne seine Stellung zu ändern.
»Von dem kurzen Wege? Du bist doch sonst unermüdlich.«
»Nun denn, ich bin abgespannt. Ich habe ja den ganzen Nachmittag nichts weiter gehört, als deine Beratungen mit Holger über Polizei und Gewaltmaßregeln.«
Auf der Stirn Odensborgs erschien eine Falte, aber er schien den herben Ton nicht bemerken zu wollen und trat langsam heran.
»Ich dächte doch, ich hielte dir diese Unannehmlichkeiten so fern als möglich.«
»Ja wohl – ganz fern!«
»Auf deinen ausdrücklichen Wunsch! Du willst ja nie davon hören, dich nie an unseren Beratungen beteiligen.«
»Nein, denn ich habe weder Lust noch Geschick dazu, den Büttel meiner Landsleute zu machen.«
»Hellmut, was ist das für ein Ausdruck!« sagte der Graf vorwurfsvoll. »Was ist überhaupt mit dir vorgegangen? Seit einiger Zeit erkenne ich meinen lebensfrohen, übermütigen Sohn gar nicht wieder. Du bist fortwährend gereizt, erbittert, du zeigst mir nicht mehr das frühere, offene Vertrauen. Wie soll ich das deuten? Ich habe dir von jeher die volle Liebe des Vaters gegeben und darf wohl auch die deinige fordern.«
Die Worte hatten wieder jenen Klang der Güte und Nachsicht, die der kalte gemessene Graf Odensborg nur seinem Stiefsohn gegenüber kannte, und der junge Mann mochte das fühlen. Er strich hastig mit der Hand über die Stirn, als wollte er quälende Gedanken verscheuchen, und entgegnete milder: »Verzeih, Papa, gegen dich war das nicht gerichtet. Ich sagte es dir ja vorher, daß die Verhältnisse hier in Mansfeld mich peinigen würden, jetzt sind sie mir unerträglich geworden und du bestehst noch immer auf unserem Hierbleiben?«
»Weil das unerläßlich ist, unsere Gegenwart ist jetzt notwendiger als je.«
»Die deinige vielleicht!« sagte Hellmut bitter. »Ich bin gänzlich überflüssig auf meinen Gütern.«
Der Graf stutzte und sah ihn forschend an.
»Was meinst du damit?«
»Nichts, gar nichts! Laß mich nur in Ruhe!« rief der junge Majoratsherr mit der äußersten Ungeduld. Odensborg zuckte die Achseln.
»Mit deiner Stimmung ist heute nicht zu rechten. Ich weiß, woher sie stammt – dies Zusammentreffen mit deinen Verwandten ist schuld daran.«
»Nun, ich dächte, Eleonore und ich stünden uns doch jetzt fern genug; wir verkehren ja kaum mehr miteinander.«
»Trotzdem kannst du dich diesem Einfluß nicht entziehen. Leugne es, wie du willst, die Veränderung in deinem ganzen Wesen datiert genau von dem Tage, wo Eleonore Waldow dich – verwarf!«
»Papa!« fuhr Hellmut gereizt auf, aber der Graf wiederholte mit dem schärfsten Nachdruck: »Verwarf! das ist das rechte Wort. Wenn sie irgend einen Grund für dieses Nein gehabt hätte, so würde ich es gelten lassen, aber diese hochmütige, ja verächtliche Abweisung, die du noch immer nicht vergessen kannst –«
»Nun, dafür sorgst du schon, daß ich sie nicht vergesse!« brach der junge Mann mit vollster Heftigkeit aus. »Es wird mir ja fortwährend vor Augen gehalten, es vergeht kein Tag, wo du mich nicht daran erinnerst.«
»Aber Hellmut, wie kannst du dich so aufregen!« beschwichtigte Odensborg. »Wir wollen den Gegenstand fallen lassen, wenn er dich verletzt. Komm, laß uns den anderen folgen.«
Er legte überredend die Hand auf die Schulter seines Sohnes, aber diesmal verfehlte die Milde und Nachgiebigkeit ihren Zweck. Hellmut verschränkte trotzig die Arme und wandte sich ab.
»Nein, ich brauche wenigstens einige Minuten des Alleinseins. Geh du zu ihnen, ich bitte dich.«
Er wiederholte die Bitte, als sie nicht sogleich erfüllt wurde, in so gereiztem Ton, daß der Graf keinen Versuch mehr machte, ihn zum Mitgehen zu bestimmen, aber die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich, und er murmelte: »Holger hat recht – das sind bedenkliche Symptome.«
Er schlug allein den Weg nach dem Weiher ein und traf dabei mit dem Doktor Lorenz zusammen, der ihn um einen Platz im Boote ersuchte. Der alte Herr wäre um keinen Preis jetzt bei beginnender Dämmerung allein durch den Wald zurückgegangen, und die Furcht vor diesem einsamen Rückwege überwog sogar seine Abneigung gegen den Grafen. Dieser sagte artig zu, und Lorenz schloß sich ihm an, um seinen Zögling zum Aufbruch zu mahnen, da die Schwester schon auf ihn wartete.
Hellmut schien die Gegenwart der anderen als einen peinlichen Zwang empfunden zu haben, denn er atmete auf, als er sich allein sah. Mit dem jungen Majoratsherrn war eine Veränderung vorgegangen, er sah bleicher, ernster aus als vor Monaten, wo er so übermütig und lebenslustig in seine Heimat zurückkehrte; auch seine Stirn konnte finster umwölkt sein, das sah man jetzt, und in seinem Wesen lag eine beinahe krankhafte Reizbarkeit, um seine Lippen ein herber Zug, die der einstige Hellmut nicht gekannt hatte.
Graf Odensborg wußte trotz alledem nicht, wie dem jungen Manne zu Mute war, er war ja fremd auf diesem Boden, und sein Sohn – nun, den ließ man es hinreichend fühlen, daß er auch nur ein Fremder sei. Bei jedem Verkehr mit der Nachbarschaft, bei jeder Berührung mit seinen Landsleuten mußte er das empfinden. Der Erbe der Mansfeldschen Güter, der Enkel des Mannes, der jahrelang an der Spitze der deutschen Partei in den Herzogtümern gestanden hatte, wurde überall mit Argwohn, mit Mißtrauen betrachtet. Er wußte, daß man in ihm den Dänen fürchtete und haßte, er verstand nur zu gut die Blicke, die man tauschte, sobald er sich nahte, dies scheue Ausweichen, dies plötzliche Aufhören aller Gespräche. Es fehlte nicht viel, so stempelte man ihn zum Spion, der dem Hardesvogt jedes Wort verriet, das in harmloser Unterhaltung fiel. Sie hielten ja alle zusammen, alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, wie früher im Haß, so jetzt in der Hoffnung, in dem mühsam verhehlten Triumph, bei dem Nahen ihrer Deutschen. Hellmut fühlte es, daß er mitten unter ihnen stand, wie ein Verfehmter, wie ein Ausgestoßener, und es lag eine unterdrückte Qual in den Worten, die er jetzt halblaut hervorstieß: »Ich wollte, ich hätte dies Mansfeld nie betreten!«
Er wandte sich zum Gehen und stand plötzlich vor Eleonore, die erst jetzt vom Seeberg kam. Sie mußte ihren Vetter wohl so wenig bemerkt haben, als er sie, denn sie blieb betroffen stehen.
»Du hier, Hellmut? Wo sind denn die anderen?«
»Drüben am Weiher!« versetzte er kurz.
Eleonore blickte nach der angedeuteten Richtung, wo noch niemand zu sehen war.
»Ich warte auf Otto,« sagte sie, als ob ihr Hiersein einer Entschuldigung bedürfe. »Doktor Lorenz wollte ihn abrufen, wir müssen noch zu Arnulf zurück, wo wir unsere Pferde gelassen haben, und es ist schon spät geworden.«
»Jawohl, wir werden uns allesamt verspäten,« bemerkte Hellmut ungeduldig, »die Sonne geht bereits unter!«
Die junge Dame schien ungewiß zu sein, ob sie gehen oder bleiben solle, entschied sich aber endlich für das letztere. Sie wollte den Grafen und Holger um keinen Preis aufsuchen, und Otto mußte jede Minute kommen. Sie ahnte ja nicht, daß er und Eva alles daran setzten, die beiden Herren so lange als möglich am Weiher zurückzuhalten, und so trat sie denn etwas zur Seite, scheinbar ganz absichtslos, aber es lag auch in dieser Bewegung etwas von dem scheuen Zurückweichen, das Hellmut nur zu oft gespürt hatte. Seine Lippen zuckten, aber er äußerte kein Wort, sondern behauptete finster und trotzig seinen Platz.
Im Walde und auf dem Wiesengrunde der Lichtung begann der Nebelduft aufzusteigen, und dort über den Wogen sank die Sonne, umlagert von dunklen Wolkenmassen, die sie fast ganz verhüllten. Nur auf Minuten wurde der glutrote Sonnenball sichtbar, der sich langsam der Flut zuneigte und den Saum seines Wolkenschleiers feurig erglänzen ließ. Es lag eine träumerische Stille und Ruhe in der ganzen Natur – die Ruhe vor dem Sturm, der in jenem Gewölk schlief. Noch war er freilich nicht aufgewacht, noch regte sich kein Windhauch, selbst das Meer schien zu träumen, dunkel und unbewegt, nur fern am westlichen Lichte. erglänzte es rot, im Widerschein des sinkenden Lichts.
Zu den Füßen der beiden, die so unverwandt in die See hinausblickten, um sich nicht anblicken zu müssen, brandete die Flut an dem hier klippenreichen Strande. Zwischen dem grauen Gestein blinkte weißer Gischt; es war ein ruheloses Kommen und Gehen der Wellen, ein Aufwallen und Zerfließen, ein Zischen und Schäumen. Die Brandung konnte zum Donner werden, wenn die See hoch ging, heute brauste sie nur dumpf und leise, es klang fast wie ein eintöniges Lied, das immer dieselbe alte Weise wiederholt, das jetzt halb verweht und dann wieder stärker aufklingt, aber nimmer endet, sondern sich ausspinnt bis in die Unendlichkeit.
Das Schweigen hatte schon eine geraume Zeit gewährt, es wurde drückender, peinigender mit jeder Minute, endlich brach es Eleonore mit einem raschen Entschluß.
»Hellmut!« sagte sie leise.
Er wandte sich zu ihr.
»Du wünschest?«
»Ich wollte dich warnen, dich –« Das nächste Wort schien nicht über ihre Lippen zu wollen, sie hielt einen Moment inne und fuhr dann rascher fort: »dich bitten – für die nächste Zeit das Zusammentreffen mit Arnulf Jansen zu vermeiden. Er ist aufs höchste gereizt und erbittert durch die harten Maßregeln, die Graf Odensborg in deinem Namen auf deinen Gütern getroffen hat, und er ist nicht der einzige, den sie erbittern. Wird er nun noch herausgefordert, wie vorhin, so kann ein Unglück geschehen.«
»Soll ich diesen Jansen etwa fürchten?« fragte Hellmut verächtlich. »Du tätest besser, ihm ein geziemendes Benehmen zu empfehlen, er vergaß sich vollständig mir gegenüber.«
»Vergaß sich? Arnulf gehört nicht zu deinen Untergebenen!«
»Gleichviel, ich verkehre mit Leuten seines Schlages nun einmal nicht auf dem Fuß der Gleichberechtigung. Ihr freilich habt das von jeher getan.«
»Wie es der Retter unseres Vaters fordern durfte. Aber auch ohnedies hätte sich Arnulf eine solche Stellung erzwungen. Welchem Stand er auch angehören mag, zu dem gewöhnlichen und gemeinen gehört er nicht.«
»Dieser friesische Bauer scheint ja ein förmlicher Held in deinen Augen zu sein,« spottete der junge Majoratsherr im herbsten Ton.
»Ein Mann wenigstens,« sagte Eleonore kalt. »Und das hat er vor – anderen voraus.«
»Eleonore!« fuhr Hellmut auf. Seine Augen sprühten, aber sie trafen auf einen Blick, der dem seinigen nicht wich, so drohend er auch war. Das Mädchen ließ sich nicht einschüchtern, sondern sprach mit vollem Nachdruck weiter: »Die Mansfeld sind freilich auch Männer gewesen, Männer voll Tatkraft und Mut. Nur der letzte des alten edlen Geschlechtes, den das Schicksal zum Herrn auf den Gütern seiner Vorfahren gemacht hat, nur der allein zieht es vor, der gehorsame Sohn eines Odensborg zu sein. Ja, Hellmut, dieser Fremde ist der Herr und Gebieter auf deinem Erbe, er schaltet damit nach Gefallen, er führt die Zügel und du – bist nichts weiter, als ein Spielball in seinen Händen.«
Hellmut war totenbleich geworden; was er sich selbst nicht eingestand, nicht einzugestehen wagte, das wurde ihm hier offen und schonungslos in das Antlitz geschleudert, seine Hand ballte sich, und mit einer vom Zorn halb erstickten Stimme stieß er hervor: »Eleonore, du pochst auf deine Stellung als Frau, die dich unangreifbar macht. Wenn ein Mann es wagte, mir dergleichen zu sagen –«
»So würdest du ihn vielleicht fordern!« fiel sie ein. »Könntest du der Lüge zeihen?«
Der junge Majoratsherr verstummte bei dieser verhängnisvollen Frage. Jawohl, er hätte den Beleidiger vor die Pistole gefordert und mit der Waffe in der Hand gefühlt, daß jener die Wahrheit sprach. Jetzt mußte er sie aus diesem Munde vernehmen, er hörte nicht das Beben in der Stimme des sonst so stolzen, energischen Mädchens, sah nicht, daß ihre Augen sich wie in Tränen verschleierten, er hörte nur den herben Vorwurf in ihren Worten, und sein tödlich verletzter Stolz bäumte sich auf dagegen, aber eine Antwort fand er nicht.
»Wärst du als ein Däne zu uns gekommen,« fuhr Eleonore fort, »als ein Feind des Volkes, dessen Sohn du bist, wir hätten es ertragen müssen, und es wäre doch immer dein freier Wille, deine Überzeugung gewesen. Doch du hast keine Überzeugung, wie du kein Vaterland hast. Fahre nicht so auf, Hellmut! Einmal wenigstens sollst und mußt du die Wahrheit hören, von mir hören, es wagt ja sonst niemand, sie dir zu sagen. Ich habe es oft genug mit anhören müssen, was der Freiherr von Mansfeld seinem Land, seinem Volke gilt, auf dessen Seite er stehen müßte, und habe schweigen müssen zu der allgemeinen Verurteilung, und doch,« hier brach ihre mühsam behauptete Selbstbeherrschung zusammen, »und doch hätte ich mein Leben hingegeben, wenn ich sie hätte Lügen strafen können. Ich kann es nicht ertragen!«
Hellmut zuckte zusammen. Was war das für ein Ton? Das klang ja wie der Aufschrei eines verzweifelten Schmerzes, eines grenzenlosen Wehs – um ihn! Vor dem jungen Mann leuchtete plötzlich ein blendendes Licht auf, aus Groll und Bitterkeit blitzte es hervor wie ein Sonnenstrahl – er verstand diesen Ton!
»Nora!« sagte er halblaut und mit stockendem Atem.
Über das Antlitz Eleonores floß eine glühende Röte, sie fühlte, daß sie sich verraten hatte, aber Hellmut stand bereits neben ihr und beugte sich zu ihr nieder.
»Du kannst nicht – was kannst du nicht ertragen?«
Sie hob das dunkle Auge zu ihm empor, es schwamm in heißen Tränen.
»Das vernichtende – das verdiente Urteil über dich!«
»Ihr seid sehr schnell fertig mit eurem Urteil und eurer Verdammung,« sagte der junge Mann bitter. »Ihr wißt nicht, was es heißt, zwischen zwei feindlichen Parteien zu stehen, die sich auf Leben und Tod bekämpfen.«
»Ein Mann darf nicht zwischen Parteien stehen!« erklärte Eleonore fest. »Er muß wissen, wo sein Platz ist, hier oder dort. Wähle den deinigen bei unseren Feinden, wenn du willst, aber wähle!«
»Bei euren Feinden? Odensborg wird gehaßt in der Mansfeldschen Familie, ich weiß es. Mir ist er ein zweiter Vater gewesen, zärtlicher und nachsichtiger vielleicht, als es der eigene war.«
»Aber dein Vater hätte dir gelassen, was der Graf mit all seiner Güte und Nachsicht dir genommen hat – den eigenen Willen. Er mag dich lieben, aber eine Regung des Willens, der Selbständigkeit duldet er nicht bei dir. Er hat dir alles genommen, was dem Leben des Mannes Wert gibt, und du hast es dir geduldig nehmen lassen und bist zufrieden gewesen mit den Tändeleien, die er dir dafür gab. Und doch ist es mir, als wäre dir das alles nur aufgezwungen, als würdest und müßtest du es eines Tages von dir werfen und dich erheben in eigener Kraft.«
Hellmut wehrte sich nicht mehr gegen die Vorwürfe, er stand finster mit gesenktem Blick da, erst bei den Worten sah er auf.
»Du glaubst daran?« fragte er langsam. »Du? Und doch war deine Hand die erste, die mich zurückstieß!«
Eleonore trat zu ihm und legte leise ihre Hand auf die seinige.
»Ich glaube an die Macht der Heimat, deren Luft du jetzt wieder atmest, die dich mit ihren tausend Banden umfängt. Ich habe es ja gesehen, was sonst keiner sah, wie es in dir wühlt und kämpft seit Monaten. Du sträubst dich vergebens, es ist mächtiger als du und wird dich gewaltsam hinüberreißen zu uns. Die Heimat wird sich ihr Recht erzwingen oder sich rächen an ihrem Sohn, lassen wird sie dich nicht! Leb wohl!«
Hellmut machte eine Bewegung, als wolle er sie zurückhalten. »Nora!« sagte er halb bittend, aber sie kehrte nicht um, blickte nicht zurück, sondern schlug rasch den Strandweg ein, der zu dem Hof Arnulf Jansens führte, und verschwand dort.
Die Sonne war längst gesunken, der feurige Saum der Wolkenmassen, die den westlichen Horizont umlagerten, begann langsam zu erblassen, und auch jener ferne Meeresstreifen, der noch im Abglanze des versunkenen Lichtes schimmerte, erlosch jetzt im Dämmerungsgrau. Lauter rauschte die Brandung, stärker klang die alte Weise auf und bahnte sich einen Weg zu dem Ohr und dem Herzen des Mannes, der so düster in das ruhelose Spiel der Wellen blickte; war es doch fast, als wiederhole sie die Worte, die er soeben vernommen.
Heimat! Hatte er denn noch eine Heimat? Sie wurde ihm ja genommen, als er noch ein Knabe war; damals riß man ihn los von dem heimischen Boden und führte ihn in ein fremdes Land, wo er Wurzel schlagen sollte. Fremde Anschauungen und Neigungen wurden in die Kindesseele gepflanzt, jede Erinnerung an die Jugendzeit wurde verwischt und ertötet. So wuchs er auf, so kam er nach Jahren zurück in die Heimat, und jetzt fühlte er nur eins – daß er sie verloren hatte, daß er fremd geworden war, hier wie dort!
Die Flut stieg, die Wellen gingen höher, und Hellmut hatte jetzt trotz alledem gelernt, ihre Sprache zu verstehen, sie war ihm nicht mehr stumm und tot. Dies ewige eintönige Rauschen sagte doch so unendlich viel, es drohte mahnend und zürnend dem verlorenen Sohn, und dann verwehte es wieder leise und süß, wie ein altes Wiegenlied aus der Kinderzeit, es lag ein Klang darin, der längst entschwunden und doch nie ganz verloren war – der alte des Vaterlandes!
Da tönte ein anderer Laut herüber, fern, aber deutlich vernehmbar; Hellmut fuhr auf und lauschte, einige Sekunden lang blieb alles still, dann kam es zum zweitenmal von der Bucht her, ein Schrei, ein Hilferuf. Dort mußte irgend etwas vorgehen, und rasch entschlossen eilte der junge Mann nach dem Strand hinunter; vom Fuß des Seeberges, der hier weit in das Meer hinaustrat, konnte man die Bucht sehen, die sonst der Wald verbarg.
Bei dem Boot, wo man nur die beiden Diener zurückgelassen hatte, befand sich jetzt ein ganzer Trupp Menschen. In der zunehmenden Dämmerung ließen sich weder die Uniformen der Soldaten noch die Waffen unterscheiden, aber Hellmuts scharfe Augen entdeckten doch, daß da unten ein Handgemenge stattfand, und jetzt erklang zum drittenmal der Hilferuf, wenn auch schwächer, es war zweifellos ein Überfall.
Baron Mansfeld mußte wohl nicht viel Vorsicht und Überlegung besitzen, sonst hätte er sich sagen müssen, daß er allein gegen eine solche Übermacht keine Hilfe bringen könne, und wenigstens die beiden Herren vom Weiher herbeigerufen; aber er schien nicht einmal daran zu denken, sondern stürmte wieder empor zu der Lichtung und drang in den Wald ein, die Richtung nach der Bucht nehmend. Doch er hatte kaum hundert Schritte getan, da tönte es ihm gebieterisch entgegen: »Halt! Keinen Schritt weiter!«
Hellmut wich unwillkürlich zurück. Vor ihm stand Arnulf Jansen, die Flinte schußfertig in der Hand und augenscheinlich gewillt, ihm den Weg zu verlegen.
»Was soll das?« fragte der junge Mann betroffen. »Ich will hinunter nach der Bucht, geben Sie Raum!«
»Nicht von der Stelle!« wiederholte Arnulf, ohne seine drohende Haltung aufzugeben.
»Sind Sie von Sinnen?« rief Hellmut heftig. »Ich will zu unserem Boot. Unsere Diener werden überfallen, vielleicht ermordet. Noch einmal – geben Sie Raum!«
Anstatt der Aufforderung nachzukommen, hob Arnulf die Flinte noch um einige Zoll und richtete die Mündung auf die Brust des Majoratsherrn.
»Sie bleiben, Herr von Mansfeld! Rühren Sie sich nicht vom Platz, rufen Sie nicht um Hilfe, oder –«
»Oder –?«
»Meine Büchse macht Sie stumm!«
Die Worten klangen in eiserner Entschlossenheit. Man sah, daß es dem Mann Ernst war mit seiner Drohung; auch Hellmut begriff das, aber er richtete sich um so trotziger empor.
»Denken Sie, mich zu schrecken mit solchen Drohungen? Was geht da unten beim Boot vor? Sie wissen es!«
»Und wenn ich es wüßte, Ihnen würde ich es sicher nicht anvertrauen. Sie verraten ja Tag für Tag Ihr eigenes Land, da könnten Sie auch andere verraten.«
»Jansen – wahren Sie sich!« brauste der Majoratsherr auf, den dieser Vorwurf vollends außer sich brachte.
»Ballen Sie nicht so die Faust,« höhnte Arnulf, »es könnte Ihren zarten, weißen Händen schaden. Zurück! Ich rate es Ihnen im guten! Hier steht Besseres auf dem Spiel als Ihr Leben, ich mache mir kein Gewissen daraus, Sie niederzuschießen.«
Er legte die Hand an den Drücker, und vielleicht wäre in der nächsten Sekunde der tödliche Schuß erfolgt, wenn Hellmut ihm nicht zuvorgekommen wäre.
»So weit sind wir noch nicht!« rief er mit flammenden Augen, dabei stürzte er sich blitzschnell auf den Gegner, entriß ihm die Büchse und schleuderte sie mit einer Kraft, die niemand diesen Armen zugetraut hätte, weit hinaus in den Wald.
Ein halbunterdrückter Aufschrei der Wut und der Überraschung zugleich entrang sich den Lippen Arnulfs, er hatte alles andere eher erwartet, als einen Angriff von dieser Seite, war also auch nicht auf der Hut gewesen; der Schwächling da war seiner Meinung nach ja mit einer geladenen Flinte in die Flucht zu jagen. Jetzt blickte er starr, keines Wortes mächtig, den Gegner an, der sich kaltblütig wieder zu ihm wandte.
»So! Jetzt stehen wir gleich auf gleich. Sie sehen, meine Hand ist doch nicht so schwach, wie Sie glauben, sie kann sich wehren, selbst gegen Ihre Faust.«
»Ja – das sehe ich!« murmelte Arnulf mit verbissener Wut.
»Werden Sie mir jetzt sagen, was bei unserem Boot vorgeht?
»Nein!«
»So muß ich mir also den Zugang erzwingen.«
Arnulf gab keine Antwort, aber er wich auch nicht, sondern stand wie eine Mauer da und schien entschlossen, es auf einen Kampf ankommen zu lassen; seine Augen weissagten nichts Gutes. Da tönte ein Schuß von der See her.
»Das Zeichen!« fuhr Jansen auf, »jetzt sind sie auf der See.«
Er trat zurück, aber seine Stimme klang wieder in demselben bitteren Hohn, wie vorhin, als er fortfuhr: »Der Weg ist frei – ich hindere Sie nicht mehr.«
»Was soll das heißen?« fragte Hellmut, der noch immer nicht den Zusammenhang begriff.
»Das soll heißen, daß Hauptmann Horst und seine Leute jetzt in Ihrem Boot davonsegeln! Nun schlagen Sie Lärm! Ehe die Dänen herankommen, ist das Boot längst auf der hohen See.«
»Hauptmann Horst war hier?«
»Mitten unter den Feinden!« ergänzte Arnulf triumphierend. »Jetzt melden Sie es dem Hardesvogt, daß die Preußen in Sicherheit sind, und daß Arnulf Jansen es war, der ihnen fortgeholfen hat.«
»Ich bin kein Verräter!« sagte Hellmut kalt und stolz. »Aber Sie, dünkt mich, sollten jetzt für Ihre Sicherheit sorgen. Wenn man Ihren Anteil an der Sache erfährt, ist es um Ihre Freiheit geschehen. Ich werde schweigen über unsere Begegnung, hüten Sie sich nur, daß Ihr eigener Trotz Sie nicht verrät. Und jetzt lassen Sie mich nach der Bucht, ich muß wissen, was aus unseren Dienern geworden ist.«
Er tat ein paar Schritte, wandte sich aber dann noch einmal um.
»Dort liegt Ihre Büchse – sie war überflüssig zwischen uns beiden. Gute Nacht!«
Arnulf sah ihm regungslos, mit dunkelglühenden Augen nach, dann ging er langsam nach dem Ort, wo seine Flinte lag, und hob sie auf.
»Jawohl, sie war überflüssig,« murmelte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe ihn so lange als Schwächling verachtet und jetzt –« seine Hand krampfte sich um die Waffe, und mit der wildesten Leidenschaft brach er aus: »Jetzt möchte ich ihn hassen – hassen bis aufs Blut!«
Seit zwei Tagen stürmte es ununterbrochen. Die See war im vollen Aufruhr und um das alte Herrenhaus toste und heulte es, aber der Sturm brach sich an seinen Mauern, wie die Wellen sich am Ufer brachen.
In Mansfeld hatte man noch keine Nachricht von Hauptmann Horst und seinen Leuten, aber allem Anschein nach war die kecke Fahrt, an der stark besetzten Küste vorüber, geglückt, im anderen Falle wäre der Strandholm alarmiert worden und dort blieb alles ruhig, eine Gewißheit aber hatte man vorläufig noch nicht.
Eva befand sich noch im Schlosse, sie hatte sich Erlaubnis erschmeichelt, noch einige Tage bleiben zu dürfen, und der Hardesvogt mochte wohl seine Gründe haben, seinem Mündel den unbeschränkten Verkehr mit der Mansfeldschen Familie zu gestatten, der er doch feindselig gegenüberstand. Die kleine Eva plauderte gern und viel, und der Vormund veranlaßte sie regelmäßig dazu, wenn sie von einem jener Besuche kam. Er selbst war freilich jetzt häufig im Schlosse, aber er betrat dann stets nur die Wohnung des Grafen Odensborg, niemals die der Baronin Mansfeld, und er legte nun einmal Wert darauf, über alles unterrichtet zu sein, was in jener »Hochburg der Rebellion« vorging.
Es war am zweiten Tag nach dem Gefecht am Strandholm. Die beiden jungen Damen saßen im Balkonzimmer und hörten dem Doktor Lorenz zu, der aus einem Buch vorlas, während Otto sich am Fenster mit einer Waffe beschäftigte, die ihrem Aussehen nach manches Jahr gedient haben mochte. Es war ein Degen, den der Knabe eben aus der Scheide gezogen hatte und dessen Klinge er prüfte, ohne der Vorlesung die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken; aber auch bei den jungen Mädchen schien sie keinen besonderen Anklang zu finden, denn nach einer Weile legte Lorenz das Buch nieder und sagte: »Ich denke, wir geben das Lesen für heute auf. Sie haben doch keinen Sinn dafür!«
»Nein, Herr Doktor,« entgegnete Eleonore aufrichtig, »Sie haben undankbare Zuhörer. Wer kann auch jetzt an Dichtungen denken, und wenn sie noch so schön sind!«
»Niemand! Wir haben ganz andere Dinge zu tun!« rief Otto vom Fenster her. Lorenz stand auf und trat zu ihm.
»So scheint es! Was haben Sie sich denn da für eine Waffe hervorgesucht?«
Die Augen des Knaben leuchteten, und er richtete sich stolz empor.
»Der Degen meines Vaters! Mein Erbteil.«
»Du kannst ihn ja noch nicht führen,« warf Eleonore ein, deren Blick sich bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater verschleierte; Lorenz aber sagte kopfschüttelnd: »Ihnen dürfte man eine solche Mordwaffe noch gar nicht anvertrauen; bei Ihrem Ungestüm können Sie ein Unglück damit anrichten. Der Degen ist ja viel zu schwer für Sie.«
Die Bemerkung reizte den jugendlichen Helden, er schwang kraftvoll die Waffe und führte damit einen sausenden Hieb in die Luft, während er triumphierend fragte: »Meinen Sie, daß er mir zu schwer ist?«
»Barmherziger Gott! wollen Sie mich umbringen?« rief der alte Herr, entsetzt zurückweichend, aber sein Zögling lachte übermütig.
»Fürchten Sie sich doch nicht, das galt ja nur den Dänen! Man muß sich doch beizeiten üben, wenn der Kampf hier bei uns losbricht. Die Deutschen rücken heran, sie haben den Vormarsch auf der ganzen Linie begonnen; übermorgen, morgen vielleicht schon können sie hier sein.«
»Triumphieren Sie nicht zu früh,« warnte Lorenz. »Das sind vorläufig nur Gerüchte. Verbürgt ist nur, daß die Dänen sich seit gestern aus all unseren Dörfern zurückziehen und sich in der Nähe der Stadt sammeln. Dort scheint ein Hauptangriff erwartet zu werden.«
Eva, die bisher keine Silbe gesprochen, sondern mit gefalteten Händen dagesessen hatte, seufzte bei den letzten Worten tief auf: »Ach, mein Gott!«
»Galt das deinen Landsleuten, Eva, oder vielleicht – ihren Gegnern?« fragte Eleonore halb scherzend.
»Beiden! Ich weiß gar nicht mehr, was ich hoffen und wünschen soll.«
»Das ist doch zweifellos, Fräulein Eva,« mischte sich Otto ein. »Sie müssen wünschen, daß Fritz als Sieger hier einzieht und alles vor sich her niederwirft – was er übrigens unter allen Umständen tun wird. Ja, wir beide haben der preußischen Armee einen großen Dienst geleistet, als wir ihr diesen Hauptmann erhielten.«
Die junge Dame rümpfte das Näschen und nahm eine sehr überlegene Miene an.
»Nun, wenn ich meinen Vormund und den Grafen nicht nach dem Weiher geschickt hätte, Sie hätten die beiden sicher nicht vom Boote zurückgehalten. Sie konnten mir ja nicht einmal beim Lügen helfen.«
»Nein, das konnte ich nicht,« gab Otto zu, »aber der Weg zum Boot wäre nur über meine Leiche gegangen! Sie logen freilich ganz bewundernswert, Fräulein Eva, es war eine unvergleichliche Scene, als wir endlich zurückkamen, und der Graf und der Hardesvogt es noch mit ansehen mußten, wie die Preußen in ihrem Boot davonfuhren. Sie waren außer sich vor Wut und wollten die Dänen herbeiholen, bis Hellmut sie darauf aufmerksam machte, daß das Boot längst außer Schußweite sei. Und dann wurde inquiriert und gedroht und untersucht. Sie wollten durchaus irgend einen Schuldigen haben – auf uns beide verfielen sie natürlich nicht!«
»Wenn Fritz nur glücklich die Vorposten erreicht hat,« sagte Eleonore besorgt. »Er ist zwar ein vortrefflicher Steuermann, aber sie mußten den ganzen Strandholm umsegeln und waren fortwährend im Angesicht der dänischen Besatzung.«
Eva schien diese Besorgnis nicht zu teilen, denn sie lächelte, und ihre Wangen färbten sich höher, als sie sich jetzt zu der Freundin neigte und flüsterte: »Nora, kannst du den Doktor und deinen Bruder nicht auf einige Minuten fortschicken?«
Ein bedeutsamer Blick ergänzte die Worte, und er wurde verstanden; Eleonore wandte sich sofort zu dem alten Herrn.
»Sie wollten ja mit Otto nach dem Park, Herr Doktor, um zu sehen, wie es draußen auf der See zugeht. Der Sturm wird immer heftiger, und ich fürchte, es steht vorläufig noch keine Änderung des Wetters in Aussicht.«
Doktor Lorenz erinnerte sich jetzt auch seines Vorsatzes und forderte seinen Zögling auf, mitzukommen, aber dieser bezeigte keine Lust dazu.
»Ich werde jetzt merkwürdig oft zu Wetterbeobachtungen verwandt,« meinte er mißtrauisch. »Gestern mußte ich dreimal nach dem Gewitter sehen, das schließlich gar nicht hierherkam. Ich weiß nicht, Herr Doktor – mir kommt es vor, als werden wir schon wieder fortgeschickt.«
Die jungen Damen protestierten lachend gegen diese nur zu begründete Annahme, und der Knabe ließ sich denn auch endlich herbei, seinen Lehrer zu begleiten. Kaum waren sie fort, so kam Eva mit ihrem Geheimnis zum Vorschein, das ihr augenscheinlich schon längst auf der Seele brannte.
»Ich habe Nachricht!« erklärte sie triumphierend.
»Von wem?« fragte Eleonore überrascht.
»Von ihm!«
»Fritz Horst?«
»Ja, er hat es wirklich möglich gemacht, mir einen Brief zustellen zu lassen, vor einer Stunde erhielt ich ihn, natürlich im tiefsten Geheimnis.«
Eleonore richtete sich in lebhafter Spannung auf.
»Und was schreibt er dir?«
»Du sollst es hören!«
Eva sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann zog sie den Brief hervor und begann ihn vorzulesen, unterbrach sich aber fortwährend mit allen möglichen Zwischenbemerkungen.
»›Meine geliebte Eva!‹ – Das ist eigentlich sehr verwegen von diesem Herrn Hauptmann. Ich habe ihm das erste Mal einen ganzen Korb gegeben und das zweite Mal mindestens einen halben, trotzdem nennt er mich ohne weiteres: ›Meine geliebte Eva!‹ Aber wunderschön klingt es doch!«
»Ich finde das auch,« stimmte Eleonore lächelnd bei.
»Nun weiter!«
Die junge Dame hielt es für nötig, die Anrede nochmals zu wiederholen und zwar mit vollem Nachdruck, dann las sie weiter.
»›Meine geliebte Eva! Ich bin mit meinen Leuten glücklich gelandet, und wir sind noch in derselben Nacht zu den Unsrigen gestoßen, die uns bereits verloren gaben. In kurzem werden wir gegen den Feind marschieren und ihn besiegen.‹ – Da kommt wieder der preußische Hochmut zum Vorschein! Er findet es ganz selbstverständlich, daß sie siegen, es fällt ihm gar nicht ein, daß es anders sein könnte.
›Ich hoffe dann auch Sie wiederzusehen und Ihnen meinen Antrag zu wiederholen.‹ – Das ist nämlich eine Manie von ihm, er wiederholt mir fortwährend seinen Antrag. – ›Grüßen Sie mir meinen tapferen kleinen Otto und Eleonore. Ich weiß, daß mir das Glück treu bleiben wird, da ich Sie auf meinem Wege fand! Auf ewig Ihr Fritz Horst.‹«
Die Lesende ließ das Blatt sinken und sah ihre Freundin an.
»Was sagst du eigentlich zu diesem Menschen?«
»Ich? Es kommt doch wohl hauptsächlich darauf an, was du dazu sagst.«
»Ja, danach fragt er aber gar nicht! Ich habe ja stets nein gesagt, und er behauptet, ich werde ja sagen.«
»Und ich fürchte, er hat recht.«
»Das fürchte ich auch!« sagte Eva wehmütig, aber mit christlicher Ergebung.
»Deinem Ideal entspricht Fritz Horst freilich gar nicht,« neckte Eleonore. »Das muß etwas Romantisches, etwas Großartiges sein, und überdies verlangst du poetische Hingebung und Zartheit der Empfindung, lauter Dinge, die der Hauptmann leider nicht besitzt.«
Die Neckerei verfehlte ihren Zweck. Eva legte sorgfältig den Brief zusammen und verbarg ihn wieder, dann entgegnete sie mit feierlichem Ernst: »Du irrst, Nora, ich habe mich überzeugt, daß Fritz all diese Eigenschaften im höchsten Maß besitzt.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich, trotz deiner spöttischen Miene. Denke doch nur an vorgestern abend. Feinde rechts und links – Fritz, der sich mit Löwenmut durchgeschlagen hatte, in äußerster Gefahr – ich in Todesangst – mein Vormund und der Graf, seine bittersten Feinde, ganz in der Nähe! Jeder andere hätte da nur an seine Sicherheit, an Rettung und Flucht gedacht, und er – macht mir mit der größten Seelenruhe einen Heiratsantrag. Nennst du das nicht romantisch? Und daß er poetisch sein kann, beweist ja sein Brief: ›Da ich Sie auf meinem Wege fand,‹ und ›Auf ewig!‹ Nur die Zartheit werde ich ihm noch beibringen müssen, davon habe ich leider noch gar nichts bemerkt.«
»Zunächst wirst du einen schweren Kampf mit deinem Vormund auszufechten haben,« sagte Eleonore ernster. »Zum Glück spricht dich das Testament deines Vaters mit zwanzig Jahren mündig, und es sind nur noch sechs Monate bis dahin.«
»Nur fünf Monate, drei Wochen und zwei Tage!« fiel die junge Dame schleunigst ein.
»Hast du das schon so genau ausgerechnet? Du scheinst dich doch sehr eingehend damit beschäftigt zu haben.«
Eva errötete, als sie sich ertappt sah, und wandte sich schmollend ab, aber sie wurden jetzt unterbrochen, denn soeben erschien der junge Majoratsherr und, zur größten Überraschung der beiden Damen, auch sein Stiefvater.
Hellmut pflegte allerdings täglich um diese Zeit zu kommen, um seiner Großmutter den gewohnten Besuch abzustatten, der stets nur wenige Minuten dauerte. Graf Odensborg aber hatte ihn noch niemals begleitet, sondern beobachtete die entschiedenste Zurückhaltung. Indessen, so gespannt sein Verhältnis zu der früheren Herrin von Mansfeld sein mochte, er verleugnete als Weltmann auch ihr gegenüber nie die strengen Formen der Höflichkeit und kam auch heute, sie zu erfüllen. Der Tag der Übersiedelung nach Wykstedt war nunmehr festgesetzt, und da hielt sich der Graf für verpflichtet, der alten Baronin, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, noch vorher einen Besuch abzustatten.
»Ich fürchte, wir stören die Damen in einer vertraulichen Plauderei,« sagte er eintretend. »Ist die gnädige Frau zu sprechen? Ich höre, daß sie übermorgen Mansfeld verläßt, und wollte ihr heute schon Lebewohl sagen, da ich morgen voraussichtlich in der Stadt sein werde.«
Eleonore hatte sich erhoben und die artige Verneigung des Grafen sehr gemessen erwidert.
»Ich muß die Herren bitten, eine kurze Zeit zu warten. Der Arzt ist gerade bei meiner Großmutter, aber ich werde ihr sogleich mitteilen –«
»Nicht doch, das sieht ja aus, als ob wir Sie vertreiben,« fiel Odensborg ein. »Wir warten gern in so liebenswürdiger Gesellschaft.«
Das Kompliment verfehlte seinen Zweck; die junge Dame blieb kühl und ernst, als sie erwiderte: »Wir waren eben im Begriff, zu gehen. Ich muß mir noch einige ärztliche Verhaltungsmaßregeln erbitten, Sie entschuldigen uns daher wohl, Herr Graf! Komm, Eva!«
Sie verließen in der Tat das Zimmer. Odensborg sah ihnen mit spöttischem Lächeln nach.
»Fräulein Waldow zeigt es mir sehr deutlich, wie wenig ich in ihrer Gunst stehe,« bemerkte er. »Es wird eine Erleichterung für uns alle sein, wenn diese Übersiedelung nach Wykstedt endlich stattgefunden hat. Hoffentlich bessert sich dann auch deine Stimmung, Hellmut. Ich habe dich gestern ja kaum zu Gesichte bekommen. Du schlossest dich stundenlang in deinen Zimmern ein, und auch heute ist dir kaum ein Wort abzugewinnen.«
Hellmut war an den Tisch getreten und blätterte in dem Buche, aus dem Doktor Lorenz vorgelesen hatte, während er flüchtig erwiderte: »Du hast mich doch sicher gestern nicht vermißt, Papa, du warst ja den ganzen Tag über so dringend beschäftigt.«
»Allerdings, mit der Untersuchung des rätselhaften Vorfalls am Seeberg. Er ist unglaublich, der kecke Streich dieser Preußen, die sich, sechs Mann hoch, an eine Küste wagten, die von dänischen Truppen wimmelt, und dann noch in unserem eigenen Boote vor unseren Augen höhnend davonfuhren.«
Der junge Mann gab keine Antwort, er schien sich ganz in das Buch zu vertiefen, Odensborg aber ließ den Gegenstand trotzdem nicht fallen, sondern fuhr mit Lebhaftigkeit fort: »Ich fürchte, es handelt sich um mehr als bloße Tollkühnheit bei diesem verwegenen Streifzuge, der jedenfalls in ganz bestimmter Absicht unternommen wurde. Die Sache muß durchaus aufgeklärt werden. Unsere beiden Diener haben freilich nichts weiter aussagen können, als daß man sie bedroht und mit den Gewehren in der Hand gezwungen hat, sich still zu verhalten, bis das Boot auf der See war.
Du warst ja der erste, der zu ihnen gelangte, hast du sonst nichts bemerkt? Niemand gesehen?«
»Nein!« sagte Hellmut kalt.
»Unbegreiflich! Holger behauptet, daß Arnulf Jansen dabei im Spiel sei, und auch ich bin dieser Ansicht, denn wir haben ihn ja kurz zuvor am Strande gesehen, aber vorläufig fehlt noch jeder Beweis, um gegen ihn vorzugehen.«
»Was der Hardesvogt sehr bedauern wird, er sucht ja längst nach einem solchen Anlaß.«
»Und mit vollem Recht,« bestätigte der Graf. »Dieser Jansen ist eine Gefahr für uns alle; es wäre ein Glück, wenn es gelänge, ihn unschädlich zu machen.«
Hellmut las weiter, er schien das Gespräch durchaus abbrechen zu wollen; da wurde hastig die Tür geöffnet, und der Hardesvogt selbst erschien auf der Schwelle. Die beiden Herren sahen betroffen auf, es mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein, was Holger veranlaßte, diese Räume zu betreten, und es lag auch eine ungewöhnliche Eile und Aufregung in der Art, wie er eintrat.
»Verzeihen Sie, Herr Graf, daß ich Sie hier aufsuche,« sagte er rasch. »Ich hörte, daß Sie hier seien, und es handelt sich um eine Sache von der äußersten Wichtigkeit, die keinen Aufschub duldet.«
Hellmut ließ das Buch sinken, aber seine Stirn faltete sich, und ein halb drohender Blick fiel auf den Hardesvogt, der von ihm überhaupt gar keine Notiz genommen hatte, nicht einmal mit einem Gruß. Diese Rücksichtslosigkeit verletzte den jungen Mann offenbar, denn er sagte mit schärfster Betonung: »Guten Tag, Herr Hardesvogt!«
»Guten Tag, Herr Baron,« versetzte Holger nachlässig, seine Unart schien ihm nicht einmal zum Bewußtsein zu kommen, denn er wandte sich sofort wieder ausschließlich an den Grafen.
»Ich muß Sie bitten, mir auf einige Stunden Ihr Schloß zur Verfügung zu stellen. Der Wagen mit dem Delinquenten folgt mir auf dem Fuß, ich bringe ihn einstweilen hierher.«
»Wen?« fuhr Hellmut auf, während Odensborg gleichfalls in lebhafter Spannung fragte: »Den Delinquenten? Sie haben also –«
»Arnulf Jansen verhaften lassen!« ergänzte Holger. »Oder vielmehr, ich habe im Auftrage des Kommandanten die Soldaten, die er beorderte, begleitet, denn die Sache selbst gehört vor das Kriegsgericht.«
Das Gesicht des Grafen verriet die tiefe Genugtuung, die er bei dieser Nachricht empfand, doch erkundigte er sich mit einiger Verwunderung: »Aber was soll er hier? Weshalb transportieren Sie ihn nicht nach der Stadt?«
»Weil wir fürchten müssen, daß der Transport unterwegs überfallen und der Gefangene gewaltsam befreit wird. Es war nicht möglich, die Verhaftung geheim zu halten, die Nachricht davon fliegt wie ein Lauffeuer umher, und das Landvolk droht in offene Rebellion auszubrechen. Wir haben nur zwölf Mann Bedeckung.«
»Zwölf Mann für einen einzigen!« warf Hellmut mit bitterem Spott ein.
Der Ton schien den Hardesvogt zu reizen, er entgegnete zurechtweisend: »Hinter diesem einzelnen stehen Hunderte! Wir haben die Gefährlichkeit dieses Mannes trotz alledem noch unterschätzt. Die Bauern sind wie unsinnig, seit wir die Hand an ihn gelegt haben; als wir das Dorf passierten, rotteten sie sich zusammen und machten Miene, uns anzugreifen. Ich schlug deshalb dem Offizier, der das Kommando führt, vor, den Gefangenen einstweilen hier in Sicherheit zu bringen.«
»In unserem Dorfe liegt aber keine Einquartierung mehr,« wandte Odensborg bedenklich ein. »Auch in der Nähe nicht, seit gestern ist die ganze Umgegend von Truppen entblößt.«
»Leider! Wir haben nach der Stadt senden müssen, der Bote ist bereits fort, trotzdem wird die Bedeckung nicht vor Abend hier sein können, und so lange muß Mansfeld den Arrestanten aufnehmen. Ich darf doch auf Ihren Beistand rechnen?«
»Unbedingt! Verfügen Sie über das Schloß und über alles, was Ihnen nötig erscheint. Sie haben also endlich Beweise? Der Graf war so im Eifer, daß er nicht einmal die finstere Stirn seines Sohnes bemerkte, der es mit anhören mußte, wie man über sein Schloß verfügte, ohne ihn auch nur mit einer Silbe um Erlaubnis zu fragen. Die beiden Herren schienen seine Gegenwart überhaupt vergessen zu haben.
»Endlich!« sagte Holger, die letzte Frage beantwortend. »Ihren Bootsleuten hat sich Jansen wohlweislich nicht gezeigt, aber er ist von einem Hirtenbuben gesehen worden, als er die Preußen mitten durch den Wald eskortierte und dann einen förmlichen Wachtposten bezog, um ihnen den Rücken zu decken.«
»Der Unvorsichtige!« murmelte Hellmut, während jener fortfuhr: »Für mich war seine Mitschuld von Anfang an zweifellos. Der Streich dieser Preußen war zu tollkühn, um ihn auf eigene Hand zu unternehmen.«
»Es werden Versprengte gewesen sein!« warf der junge Gutsherr ein. »Bei dem Kampfe am Strandholm konnten sie leicht abgeschnitten werden.«
»Nein,« erklärte Holger mit voller Bestimmtheit. »Es war ein Akt der Spionage, den Jansen zweifellos geplant und geleitet hat. Jetzt wissen wir auch, weshalb der Feind da drüben stets so genau unterrichtet war. Wir hätten uns nur früher des Spions und Hochverräters bemächtigen sollen, der hier in unserer Mitte weilte.«
Hellmut warf das Buch, das er noch in der Hand hielt, auf den Tisch und richtete sich mit einiger Heftigkeit empor.
»Ich glaube, Herr Hardesvogt, Sie tun Arnulf Jansen zu viel Ehre an, wenn Sie alles auf ihn allein zurückführen. Ein jeder hier im Lande wird zum Spion und Hochverräter, wie Sie es zu nennen belieben, sobald es eine Nachricht für die Deutschen und gegen die gehaßten Dänen gilt.«
Holger warf ihm einen halb erstaunten, halb entrüsteten Blick zu. Er war es gar nicht gewohnt, daß der junge Majoratsherr sich in irgend etwas einmischte, was er und der Graf auf den Mansfeldschen Gütern anzuordnen für gut fanden.
»Das weiß ich, Herr Baron,« entgegnete er scharf. »Da wir aber nicht jeden einzelnen fassen können, so gilt es, an dem Haupte ein Beispiel zu statuieren. Mit dem einen haben wir die ganze Partei in Händen.«
Er zog den Grafen beiseite und fuhr halblaut fort: »Herr von Mansfeld opponiert ja heute fortwährend! Haben Sie den Ton gehört? Der klang noch befremdlicher als die Äußerung selbst.«
»Er ist gereizt und nicht mit Unrecht,« sagte Odensborg leise. »Sie hätten rücksichtsvoller sein müssen, er ist doch nun einmal der Majoratsherr, und Sie nehmen kaum Notiz von seiner Gegenwart!«
Der Hardesvogt machte eine ungeduldige Bewegung.
»Ich kann jetzt nicht solchen Empfindlichkeiten Rechnung tragen! Sie sind der eigentliche Herr, also wende ich mich auch an Sie und an keinen anderen.«
Der Graf wollte antworten, da stürmte Otto herein, bleich vor Aufregung und gerade auf seinen Vetter los.
»Hellmut, hast du es schon gehört? Soeben bringt man Arnulf Jansen, gefesselt, von Soldaten bewacht!«
»Gefesselt?« fuhr Hellmut auf. »Sie haben ihn binden lassen?«
»Natürlich!« sagte Holger kalt. »Ein Spion hat auf keine Rücksicht Anspruch.«
»Aber was hat Arnulf denn begangen?« rief Eleonore, die mit Eva ihrem Bruder auf dem Fuße folgte. »Herr Hardesvogt, haben Sie ihn gefangen nehmen lassen?«
»Mein Fräulein, ich bedaure, Ihnen darüber keine Auskunft geben zu können,« erklärte Holger mit eisiger Abwehr. »Das sind amtliche Dinge.«
»Wir werden doch erfahren können, warum man Arnulf gebunden hat,« fiel Otto trotzig ein, aber seine Schwester mochte wohl sehen, daß von jener Seite keine Auskunft zu erwarten war; sie wandte sich an den jungen Majoratsherrn.
»So frage ich dich, Hellmut, was in deinem Schlosse geschieht! Oder weigert man auch dir die Auskunft?«
»Jansen ist verhaftet,« sagte Hellmut finster. »Man beschuldigt ihn des Hochverrates, des Einverständnisses mit dem Feinde.«
Inzwischen hatte sich Eva an die Seite ihres Vormundes geschlichen und flüsterte angstvoll: »Aber wissen Sie denn nicht, was da draußen vorgeht? Das ganze Dorf scheint sich vor dem Schloß zu versammeln, sie drängen gegen die Gittertore, wir sahen es vom Fenster aus.«
»Ängstige dich nicht, Kind,« beruhigte sie Holger. »Das hat keine Gefahr. Wir werden hier allerdings den Lärm der aufgeregten Bauern aushalten müssen, an das Schloß wagen sie sich nicht. Wir müssen aber doch wohl einige Maßregeln treffen, Herr Graf, wollen Sie mich begleiten?«
Odensborg schloß sich ihm bereitwillig an und beide verschwanden in dem Vorzimmer, durch das man auf die große Haupttreppe gelangte.
Die Verhaftung Arnulf Jansens hatte in der Tat eine bedrohliche Aufregung bei dem Landvolk hervorgerufen, und es schien fast, als werde dieser Gewaltstreich des Hardesvogts schlimme Folgen haben. Die Sache war sorgfältig und geheim vorbereitet worden und sollte erst bekannt werden, wenn der Gefangene sich in der Stadt befand. Arnulf selbst ahnte nichts von dem Schlage, der ihm drohte, bis die zwölf Mann mit den geladenen Gewehren sein Haus umzingelten und der Hardesvogt und der Offizier bei ihm eintraten, um ihn zu verhaften. Aber er ergab sich, obgleich waffenlos, doch nicht so widerstandslos, wie man voraussetzte, und überdies machten seine sämtlichen Leute Miene, ihren Herrn zu verteidigen. Für den Augenblick hatte die Eskorte allerdings noch die Übermacht, aber sie konnte es nicht hindern, daß jene Lärm machten, und die ganze Umgegend zur Hilfe aufriefen.
Als der Zug im Dorfe anlangte, das man notgedrungen passieren mußte, war die Nachricht ihm schon vorangeeilt. Die ganze Einwohnerschaft hatte sich zusammengerottet und verlegte den Dänen den Weg, und die Haltung der wilderregten Menge, die mit jeder Minute mehr anwuchs, wurde immer bedenklicher. Man sah den Moment kommen, wo sie in volle Empörung ausbrechen und sich auf die Eskorte stürzen würde, um Arnulf Jansen gewaltsam zu befreien. Der Hardesvogt ließ daher, nachdem er sich mit dem Offizier verständigt, rasch entschlossen, den ganzen Zug nach dem Herrenhause abschwenken und brachte seinen Gefangenen dort in Sicherheit, während er gleichzeitig um Hilfe nach der Stadt sandte.
Diese Maßregel, so wirksam sie auch für den Augenblick war, drohte verhängnisvoll zu werden, denn sie steigerte die Erbitterung auf das höchste. Schloß Mansfeld hatte seit einem Menschenalter der ganzen Umgegend als der Hort des Deutschtums gegolten und nun sollte es zum Kerker werden für den Führer der deutschen Bauernschaft, den man mit gebundenen Händen wie einen gemeinen Verbrecher dorthin transportierte. Die Dänen hatten kaum Zeit, die Gittertore des Schloßhofes, die für gewöhnlich offen standen, zu schließen und sich in das Schloß selbst zurückzuziehen, als auch schon die Volksmenge heranstürmte und unter Lärm und Drohungen versuchte, den Eingang zu erzwingen.
Die droben im Balkonzimmer Zurückgebliebenen wußten noch immer nicht recht, was eigentlich geschehen war, Eleonore stand totenbleich da, und Otto hatte Tränen der Wut und des Zornes im Auge.
»Ich gehe hinunter! Ich muß Arnulf wenigstens sehen und sprechen!« rief er, aber die Schwester legte verbietend die Hand auf seinen Arm.
»Bleib, man wird uns nicht zu ihm lassen! Der Hardesvogt gebietet ja unumschränkt hier in Mansfeld und niemand wehrt ihm!«
Ihre Augen suchten die Hellmuts, es stand ein halb flehender Ausdruck darin, aber der junge Majoratsherr verstand das nicht oder wollte es nicht verstehen, er verharrte in seinem finsteren Schweigen, und sich jäh abwendend trat er an das Fenster.
Sein Blick schweifte hinaus, doch er verlor sich nicht wie sonst in die blaue Meeresweite, Himmel und Meer verschwanden heut im wogenden Nebel, der mit seinem grauen, feuchten Dunst die ganze Luft erfüllte. Aus diesem Nebel hervor aber stürzten und schäumten die Wellen; die wild empörte See stürmte gegen die Schloßterrasse und überflutete bei jedem neuen Ansturm die hohe Steinbalustrade; bis zu den Fenstern spritzte der Wogenschaum empor, und weiter hin am Strand schimmerte der kochende Gischt der Brandung wie ein weißer, wehender Schleier durch den Nebeldunst. Heute klang sie wie Donner, die Stimme der Brandung, die draußen jeden anderer Lärm verschlang und sich den Weg bahnte bis in die inneren Räume des Schlosses, sie tönte hier dumpfer, aber vielleicht nur um so furchtbarer.
Der Hardesvogt und Graf Odensborg hatten die Absicht gehabt, sich in den Schloßhof zu begeben, aber sie hatten kaum das Vorzimmer betreten, da wurde die andere Tür desselben geöffnet, und Arnulf Jansen zeigte sich auf der Schwelle, von zwei dänischen Soldaten begleitet; der Graf stutzte bei seinem Anblick.
»Sie lassen ihn hierher bringen?« fragte er. »Das wird eine peinliche Scene da drinnen geben.«
»Es ist ein Mißverständnis,« sagte Holger unwillig, und zu den Soldaten gewendet, herrschte er ihnen zu: »Was soll das? Der Gefangene sollte ja unten bleiben.«
»Die Bauern machen Anstalt, die Gittertore zu stürmen,« berichtete einer der Leute. »Der Herr Leutnant meint, daß er den Schloßhof preisgeben müßte, er läßt die Türen besetzen und hat befohlen, den Gefangenen zu dem Herrn Hardesvogt zu bringen.«
Wie zur Antwort klang drohender Lärm von unten her, und dazwischen hörte man einzelne Kommandoworte des Offiziers, der seine Leute verteilte, um wenigstens die Eingänge des Schlosses zu sichern. Holger mochte sich wohl von der Notwendigkeit jener Maßregel überzeugen, denn er sagte kurz: »Gut, so mag er einstweilen hier bleiben. Treten Sie ein, Jansen!«
Er kehrte mit dem Grafen in das Balkonzimmer zurück, und Arnulf folgte mit seinen Begleitern. Er schien eingesehen zu haben, daß Widerstand vergeblich sei, und fügte sich schweigend der Gewalt, aber sein drohender Blick und die fest zusammengebissenen Zähne verrieten, wie wild er sich innerlich dagegen aufbäumte. Man hatte ihm die Arme mit Stricken zusammengeschnürt und sie auf dem Rücken festgebunden, während die Soldaten, die ihn in die Mitte genommen, die Gewehre schußfertig hielten, bereit, jeden Augenblick davon Gebrauch zu machen.
»Arnulf!« schrie Otto verzweiflungsvoll auf, und auch Eleonore fuhr beim Anblick des Gefesselten empor.
»Arnulf, was ist geschehen?«
»Zurück!« riefen die Soldaten, indem sie den Herbeieilenden drohend die Gewehre entgegenhielten.
»Setze dich keinen Unannehmlichkeiten aus, Eleonore!« sagte Hellmut scharf und laut vom Fenster her. Er hatte bei dem leidenschaftlichen Ausruf seiner jungen Verwandten unwillkürlich eine Bewegung gemacht, als wolle er sie aus jener Nähe fortreißen, schien sich aber plötzlich zu besinnen und behauptete seinen Platz, doch sein Gesicht verriet eher alles andere, als Mitleid für den Gefangenen, für den sich eine so stürmische Teilnahme kundgab.
Holger hatte sich inzwischen zu den beiden Soldaten gewandt und gab ihnen seine Anweisungen.
»Kehren Sie zu dem Herrn Leutnant zurück, er wird jetzt keinen Mann entbehren können. Ich werde dafür sorgen, daß der Gefangene keinen Fluchtversuch macht, und lasse ihn in sicheren Gewahrsam bringen.«
Die Leute mochten wohl darüber unterrichtet sein, daß die Befehle des Hardesvogts unter allen Umständen zu befolgen seien, denn sie machten gehorsam Kehrt und verließen das Zimmer. Odensborg aber fragte leise und bedenklich: »Sie schicken die Bedeckung fort?«
»Ich fürchte, sie wird dort unten nötiger gebraucht,« war die ebenso leise Antwort. »Sie haben doch Ihre Dienerschaft zur Hand, für alle Fälle?«
»Gewiß, zwei Diener sind oben in meiner Wohnung, ich kann sie jeden Augenblick herbeirufen.«
»Das genügt, und überdies – er ist ja gebunden!«
»Ja wohl, Herr Hardesvogt,« sagte Arnulf, der das letzte Wort hörte, mit bitterem Spott, »und es ist gut, daß Sie die Stricke nicht gespart haben. Hätte ich nur die Arme frei, dann sollte es Ihnen schwer werden, mich zu halten.«
Holger zuckte gleichgültig die Schultern.
»An Ihrem schlimmen Willen zweifle ich nicht. Zum Glück bin ich nicht allein hier.«
»Nein, da ist ja noch Graf Odensborg und –« hier fiel ein verächtlicher Blick auf die Fensternische, wo der junge Majoratsherr stand, »und noch einer, der im Notfall Schergendienste leisten würde!«
»Jansen!« fuhr Hellmut empört auf.
»Nun, Herr Baron, ich weiß, wem ich meine Verhaftung danke,« sagte Arnulf mit herber Verachtung. »Ich habe es schon vorgestern abend gewußt, daß Sie den Angeber machen würden trotz all Ihrer hochtrabenden Worte.«
»Das ist nicht wahr, Hellmut, das hast du nicht getan!« rief Eleonore aufflammend, aber es klang doch etwas wie Todesangst in ihrer Stimme.
»Sparen Sie Ihre Beleidigungen!« entgegnete Hellmut stolz. »Fragen Sie den Hardesvogt, wer und was Sie verraten hat. Ich antworte nicht auf solche Vorwürfe.«
Ein tiefer, erleichternder Atemzug hob die Brust Eleonores und leise, aber mit dem Ausdruck der tiefsten Genugtuung flüsterte sie: »Ich wußte es ja.«
Holger und Odensborg waren aufmerksam geworden bei jenen Worten, die auf irgend ein Einverständnis zu deuten schienen, und der erstere fragte mit scharfer Betonung: »Was bedeutet das, Herr Baron? Ich will nicht hoffen – aber mir scheint, Sie wußten von der Sache?«
»Ja!« sagte Hellmut kalt.
»Du bist an jenem Abend mit Jansen zusammengetroffen?« fiel Odensborg ein.
»Ja!«
»Und du machtest uns keine Mitteilung davon?«
Der junge Majoratsherr warf trotzig den Kopf zurück.
»Nein, ich fühlte keine Verpflichtung, den Denunzianten zu machen.«
»In der Tat, Herr Graf, das ist ein sehr eigentümliches Benehmen Ihres Sohnes!« sagte Holger zu dem Grafen gewandt, der ebenso bestürzt wie entrüstet zu sein schien über diese Entdeckung.
Otto hatte sich inzwischen an Arnulfs Seite gestohlen und flüsterte ihm halblaut, aber triumphierend zu: »Siehst du, Arnulf, Hellmut war es nicht, der dich verriet.«
»Ich wollte, er wäre es gewesen!« murmelte Jansen, den glühenden Blick starr und unverwandt auf Eleonore gerichtet, die langsam an die Seite ihres Vetters getreten war. »Dann würde er jetzt allein stehen!«
Der Hardesvogt hatte seine große Amtsmiene aufgesetzt, er fühlte sich hier als unumschränkter Gebieter, das sah man; es war etwas unendlich Hochmütiges und Verletzendes in der Art, wie er jetzt zu dem Herrn des Schlosses sprach.
»Herr von Mansfeld, Sie danken es meiner Rücksicht für Ihren Vater, wenn ich Ihr seltsames Geständnis auf sich beruhen lasse. Wir sind auch ohne Ihre Hilfe des Gefangenen habhaft geworden, aber bei Ihnen habe ich denn doch kein Einverständnis mit Spionen vorausgesetzt.«
»Ein Spion? Ich?« fuhr Arnulf auf. »Das ist eine schändliche Lüge!«
»So? Was waren denn jene Preußen, die auf so rätselhafte Weise sich mitten in das vom Feinde besetzte Gebiet wagten und so spurlos wieder verschwanden?«
»Versprengte sind es gewesen! Hauptmann Horst und seine Leute, die beim Kampf am Strandholm von ihrem Regiment abgeschnitten wurden.«
»Hauptmann Horst!« wiederholte Odensborg überrascht. »Ah, der also! Das wußten wir bisher noch nicht, das Boot war bereits zu weit, um ihn zu erkennen.«
»Sie führen Ihre Verteidigung sehr ungeschickt, Jansen,« sagte Holger spöttisch. »Wer wird Ihnen das Märchen von den Versprengten glauben, wenn Hauptmann Horst der Führer war, er, der wochenlang vor dem Ausbruch des Krieges hier den Spion gespielt hat.«
»Das ist nicht wahr, das hat Fritz nicht getan!« mischte sich Otto mit leidenschaftlicher Entrüstung ein. »Der kämpft nur mit dem Degen in der Hand, mit Spionieren gibt er sich nicht ab.«
»Sparen Sie Ihre Entrüstung, mein junger Herr, wir wissen besser Bescheid,« wies ihn der Hardesvogt zurecht. »Übrigens habe ich die Aussagen des Gefangenen nicht zu prüfen, das ist die Sache des Kriegsgerichts, das unverzüglich zusammentreten wird.«
»Des Kriegsgerichts?« rief Eleonore erbleichend.
»Allerdings, mein Fräulein! Sie glauben doch nicht, daß in jetziger Zeit ein regelrechter Prozeß durch alle Instanzen geführt werden wird? Wir sind im Kriege und haben Standrecht für solche Vergehen – das Urteil wird binnen vierundzwanzig Stunden gesprochen werden.«
Ein sekundenlanges, angstvolles Schweigen folgte diesen Worten, die den ganzen furchtbaren Ernst der Lage kennzeichneten, nur Hellmut lehnte unbeweglich und scheinbar teilnahmlos am Fenster. Er schien die Drohung des Hardesvogts nicht vernommen zu haben und nur dem Toben der Brandung da unten zu lauschen. Die alte, heimatliche Stille des Meeres, heute sang sie ihm nicht das träumerische Wiegenlied, wie vorgestern am Seeberge, jetzt schlug sie wie mit Donnerlauten an sein Ohr und er wußte auch, was sie von ihm wollte.
Wäre es nur nicht Arnulf Jansen gewesen, der gefesselt dort stand, und wäre nur nicht diese tödliche Blässe in dem Antlitz Eleonores gewesen! Zitterte sie denn wirklich so um diesen »Bauer«? Freilich, ihr war er ja der Retter ihres Vaters, der Führer ihres Volkes, ein Mann voll Tatkraft und Mut, vielleicht hatte sie um seinetwillen den Erben von Mansfeld verschmäht. Jener Lichtstrahl, der vorgestern so blendend, so beseligend aufzuckte, als sie sich ihrem Vetter gegenüber verriet, erlosch wieder im Argwohn der Eifersucht.
»Arnulf, sie wollen dir an das Leben!« brach Otto jetzt verzweiflungsvoll aus. Jansen nickte kurz und düster.
»Ja, Junker Otto, das wollen sie und das werden sie wohl auch zu stande bringen. Das Ende von dem Ganzen wird eine Kugel sein!«
»Das fürchte ich auch,« bestätigte Holger. »Sie können schwerlich beweisen, daß jener Streifzug keine Spionage war, und das bloße Leugnen wird Ihnen nichts helfen.«
»Leugnen?« rief Arnulf mit wild aufflammendem Trotze. »Ich leugne nicht, daß ich mit dabei war, daß ich geholfen habe, den Hauptmann und die Seinen in Sicherheit zu bringen. Hätte ich noch mehr tun können, es wäre geschehen! Ich habe es ja nie geleugnet, daß ich euch Dänen hasse bis aufs Blut, daß ich mit Leib und Seele zu den Deutschen stehe. Wenn ihr mich daraufhin Spion und Hochverräter nennt, so mag's drum sein, in meinem Lande, bei meinem Volke, da wird man es anders nennen. Ihr könnt euer Kriegsgericht zusammenrufen und Standrecht über mich halten, mein Recht ist's, denen, die uns befreien wollen von euch und eurem Joche, zu helfen, wo und wie ich nur kann. Das habe ich getan und das würde ich noch einmal tun, wenn ich frei wäre. Da habt ihr mein Bekenntnis – und nun laßt mich niederschießen!«
Es lag etwas so Überwältigendes in diesem jähen Ausbruch, daß der Hardesvogt und der Graf unwillkürlich zurückwichen. Sie hatten Furcht vor dem Manne, der mit gebundenen Händen, aber mit ungebeugtem Trotz vor ihnen stand und ihnen hoch aufgerichtet, in wilder Empörung seinen Haß in das Antlitz schleuderte. Auch Hellmut hatte sich umgewandt und blickte mit einem Gemisch von Groll und Bewunderung auf den Gefangenen, der es wagte, im Angesichte des Todes so zu sprechen.
Da öffnete sich die Tür, welche in die Zimmer der Frau von Mansfeld führte, und die alte Dame selbst erschien in höchster Bestürzung.
»Ich kann die Nachricht nicht glauben! Ist es denn wirklich wahr, Arnulf?« Sie verstummte mitten in der Rede; der Anblick, der sich ihr bot, sprach genug, und jetzt eilte auch Otto der Großmutter entgegen.
»Ja, Großmama, sie haben ihn gebunden wie einen Verbrecher, weil er Fritz gerettet hat!«
»Und das hier im Schlosse meines Enkels?« fragte die Baronin mit bitterem Vorwurfe, sich zu dem Hardesvogt wendend, der mit zurückweisender Kälte erwiderte: »Gnädige Frau, ich muß bitten, mir die Ausführung meiner Maßregeln allein zu überlassen, ich übernehme die Verantwortung dafür.«
»Aber hören Sie denn nicht, was draußen im Schloßhofe vorgeht? Der Tumult wächst mit jeder Minute! Man wird gewaltsam hier eindringen und Arnulf Jansen befreien.«
»Es ist dafür gesorgt, daß dies nicht geschieht,« erklärte Holger, aber diese Tatsachen schienen seine Zuversicht Lügen zu strafen, denn jetzt vernahm man auch hier im Balkonzimmer den Lärm vom Schloßhofe her, wildes, drohendes Geschrei, die Menge mußte bis unmittelbar vor die Türen des Schlosses gelangt sein.
Unwillkürlich schwiegen alle und lauschten. Das Toben des wild empörten Meeres, das der Sturm aufwühlte, mischte sich mit dem Toben der drohenden Menge, die ihren Führer zurückforderte, und jetzt klang noch eine dritte Stimme hinein, so leise, daß nur der Herr des Schlosses allein sie vernahm, aber mahnend, beschwörend, und eine Hand legte sich auf seinen Arm.
»Hellmut – Hellmut!«
»Was willst du, Eleonore?« fragte er, noch immer halb abgewendet.
Die Hand glitt von seinem Arme, und Eleonore trat zurück.
»Nichts – wenn du mich so fragst!«
»Rufe mich für jeden anderen zur Hilfe auf, aber nicht für diesen Jansen!«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich ihn hasse – und weil er mir den Haß zehnfach zurückgibt!«
Eleonore sah ihn betroffen und bestürzt an, sie verstand die Worte nicht. Da kam Doktor Lorenz aus dem Vorzimmer, dessen Fenster auf den Schloßhof hinausgingen; der alte Herr bebte an alle Gliedern.
»Sie haben die Gittertore gestürmt,« berichtete er. »Der ganze Schloßhof wogt von Menschen, sie versuchen jetzt einen Angriff gegen die Türen – der Offizier droht, Feuer geben zu lassen! Herr Hardesvogt, Sie setzen sich und uns alle in Gefahr, wenn Sie es zum äußersten kommen lassen.«
»Nun, Herr Doktor, Sie und die Mansfelder Herrschaften sind doch sicher nicht gefährdet,« sagte Holger höhnisch. »Die Rebellen wissen es sehr gut, wie viel Sympathien sie hier im Schloß haben.«
»Das scheint aber wirklich ernstlich zu werden,« bemerkte Odensborg leise zu dem Hardesvogt gewandt, dessen Gleichgültigkeit auch einigermaßen erzwungen zu sein schien, denn er erwiderte in demselben Ton: »Es sieht allerdings bedenklich aus. Vor allen Dingen müssen wir Jansen fortschaffen; auf ein Wort, Herr Graf!«
Er zog den Grafen beiseite und sprach dort leise und angelegentlich auf ihn ein. Inzwischen war Eleonore zu dem Gefangenen getreten, die Nachrichten vom Schloßhofe hatten ihr neuen Mut gegeben.
»Arnulf, sie kommen!« sagte sie halblaut, aber mit blitzenden Augen. »Sie werden den Eingang stürmen und Sie befreien.«
Jansen schüttelte finster, aber mit vollster Entschiedenheit den Kopf.
»Nein! Wenn ich an ihrer Spitze wäre, erzwängen sie es vielleicht – eine führerlose Schar hält den Schüssen nicht stand, und die Soldaten werden schießen, ich weiß es, sie haben Befehl dazu.«
»So befreie ich dich!« rief Otto, nach dem Degen greifend, den er vorhin an die Wand gelehnt hatte, als er mit Lorenz nach dem Park ging; die Baronin faßte erschrocken seinen Arm.
»Otto, um des Himmels willen nur jetzt keine Unbesonnenheit!«
»Aber Großmama, Arnulf darf nicht fallen, nicht so fallen!« rief Eleonore heftig. In dem düsteren Antlitz des Gefangenen leuchtete es auf bei diesem Ton, aus dem eine bebende Angst sprach. Doch das dauerte nur einen Moment.
»Sie meinen, weil die Retter so nahe sind, weil sie schon morgen hier sein können. Ja, das ist's, was mir das Sterben bitter macht. Ich habe den Tag der Befreiung ersehnt und erhofft mein Leben lang, habe schon als junger Bursche mein Leben dafür eingesetzt. Nachher wäre ich gern gefallen, aber vorher – vielleicht nur vierundzwanzig Stunden vorher – das ist hart!«
Der Hardesvogt hatte inzwischen sein kurzes Gespräch mit dem Grafen beendet, aber er hatte Jansen dabei nicht einen Moment aus den Augen gelassen, als fürchte er selbst hier einen Flucht- oder Befreiungsversuch.
Freilich, die sämtlichen Ausgänge des Schlosses waren ja besetzt, und hier im Zimmer befanden sich außer den drei Frauen nur ein alter, furchtsamer Mann und ein Knabe, dessen trotziger Griff nach dem Degen nur ein spöttisches Lächeln auf die Lippen der beiden Herren rief. Den Herrn des Schlosses selbst beachteten sie nicht, der zählte nicht mit in solchen Dingen, und er stand ja auch noch immer am Fenster und sah in die stürmende See hinaus.
»Also in das obere Erkerzimmer,« sagte Holger, »das bietet noch die meiste Sicherheit. Ihre beiden Diener transportieren den Gefangenen, und ich werde ihn begleiten – Jansen, machen Sie sich bereit, zu folgen.«
»Wohin?« fragte Jansen aufblickend.
»Wohin ich Sie führen lasse.«
Otto legte wie zum Schutz den Arm um die Schulter des Gefesselten.
»Arnulf, geh nicht! Wir sehen dich nicht wieder!«
»Was nützt das Sträuben – ich bin ja gebunden!« sagte Jansen herb.
Eleonore stand noch an seiner Seite, sie machte gleichfalls eine Bewegung, als wolle sie ihn zurückhalten.
»Arnulf!«
Er wandte langsam das Haupt zu ihr, und ein schwerer, düsterer Blick fiel auf das schöne Antlitz, das er wohl heute zum letztenmal sah.
»Leben Sie wohl, Fräulein Nora! Ich kann Ihnen nicht einmal die Hand geben zum Abschied, aber ich weiß, Sie werden mich nicht Spion nennen. Denken Sie an mich morgen früh! Ich werde auch an Sie denken, wenn die Kugeln –« die Stimme des sonst so trotzigen Mannes bebte in aufquellender Weichheit, aber wie im Zorn gegen diese Schwäche brach er plötzlich ab und biß die Zähne zusammen – »Leben Sie wohl!«
»Genug des Redens,« fiel Holger ein. »Herr Graf, darf ich bitten, die Diener herbeizurufen?«
»Sogleich,« versetzte Odensborg, indem er sich nach der Tür wandte, aber in demselben Moment verließ sein Sohn den Platz am Fenster und trat mit einer stürmischen Bewegung dazwischen.
»Halt! Du rufst niemand, Papa! Unsere Leute werden nicht zu solchen Diensten gebraucht.
»Hellmut, was fällt dir ein?« rief der Graf bestürzt, während die anderen betroffen auf den jungen Majoratsherrn blickten, der bleich vor innerer Aufregung, aber in entschlossener, drohender Haltung vor den beiden Dänen stand.
»Was soll das bedeuten, Herr Baron?« fragte Holger entrüstet.
»Es bedeutet, daß ich Herr in Mansfeld bin, nicht mein Vater, und daß ich Ihnen das in Erinnerung bringe, Herr Hardesvogt.«
Holger maß ihn mit einem ebenso erstaunten wie hochmütigen Blick.
»Sie scheinen zu vergessen, in wessen Namen ich hier stehe,« sagte er schroff.
»Und Sie vergessen, wo Sie stehen. Das ist mein Schloß, hier habe ich zu befehlen, ich allein! Und ich dulde fremde Gewalttätigkeit nicht länger.«
Die Worte klangen in vollster Energie, es war der Ton des Herrn und Gebieters, den man zum erstenmal von diesen Lippen hörte, und er war so machtvoll, daß der Hardesvogt zurückprallte, während die anderen wie gelähmt vor Überraschung zu sein schienen. Nur Eleonores Augen leuchteten auf, und mit einem tiefen Atemzug flüsterte sie: »Ah, endlich! Endlich!«
»Aber Hellmut, so bedenke doch, gegen wen du dich auflehnst,« mahnte Graf Odensborg mit einer Stimme, die zwischen Schrecken und Empörung schwankte, »der Hardesvogt handelt im Auftrag des Kommandanten –«
»Der Kommandant mag seine Gefangenen anderswo bewachen lassen,« unterbrach ihn Hellmut. »Mein Schloß ist kein Gefängnis und dieser Ort kein Verhörzimmer. Hier in Mansfeld ist kein Verbrecher und zu – Schergendiensten gebe ich mich und mein Haus nicht her!«
Er legte einen bitteren Nachdruck auf das Wort, das man ihm vorhin so verächtlich zugeschleudert hatte, aber es wurde jetzt kaum gehört. Arnulf Jansen, dem doch diese ganze Scene allein galt, stand da, als ob sie ihn gar nichts angehe, auf seinem Gesicht lag eine fahle Blässe, doch er sah nicht auf die Dänen, nicht auf den Schloßherrn, der sich so urplötzlich zu seinem Beschützer aufwarf, sein Blick hing nur an dem strahlenden Antlitz Eleonores, alles andere schien für ihn nicht zu existieren.
»Arnulf, hörst du es?« fragte Otto triumphierend; Jansen wandte das Auge nicht ab von jenem Punkt, aber er antwortete dumpf: »Jawohl, ich höre es und ich sehe es auch – an ihren Augen!«
»Sie scheinen sich den Rebellen da unten anschließen zu wollen,« sagte Holger mit einem drohenden Blick, der kalt und fest erwidert wurde, und ebenso kalt und fest klang die Antwort: »Es sind die Bauern meiner Güter und es ist einer meiner Landsleute, den sie befreien wollen. Wenn sie wirklich hier eindringen – ich wehre ihnen den Eingang nicht.«
»Das geht denn doch allzu weit! Herr Graf, dulden Sie das von Ihrem Sohn?« rief der Hardesvogt aufgebracht.
Odensborg machte in der Tat noch einen letzten Versuch, einzuschreiten.
»Hellmut, ich beschwöre dich, ich fordere von dir –«
»Laß mich,« fiel ihm Hellmut in das Wort. »Wir beide werden das später miteinander ausmachen. Versuche es nicht, mich wieder in den alten Bann der Willenlosigkeit zu beugen, das ist vorbei. Ich weiß jetzt, wo mein Platz ist, du selbst hast ihn mir gezeigt, als du mir eine solche Scene vor Augen führtest. Du hast mich zu der Wahl gezwungen, für oder gegen euch. Nun denn –« er trat an die Seite des Gefangenen und richtete sich hoch empor, – »ich habe gewählt – ich stehe zu meinem Volke und meinem Vaterlande!«
»Hellmut! O, ich wußte es ja!« brach Eleonore leidenschaftlich aus. »Ich kannte ihn besser als ihr alle!«
»Ja – als wir alle!« wiederholte Arnulf tonlos, während seine Hand sich wie im Schmerz zusammenkrampfte.
Der Hardesvogt mochte wohl einsehen, daß die Autorität des Grafen über seinen Sohn zu Ende war, und damit hörte auch seine Rücksicht auf. Er nahm wieder die Miene des allmächtigen Beamten an, der seinen Drohungen den nötigen Nachdruck zu geben wußte.
»Herr von Mansfeld, Sie haben sich die Folgen Ihres unerhörten Benehmens selbst zuzuschreiben,« erklärte er. »Ihre aufrührerischen Bauern da draußen wird man mit Schüssen zu Paaren treiben, ich aber werde selbstverständlich diese Scene nicht verschweigen, wenn die militärische Hilfe hier eintrifft. Ich werde den Befehlshaber auffordern, sich des Schlosses zu versichern, dessen Herr sich so offen und rückhaltlos für die Rebellion erklärt!«
»Erst müßte man das Schloß doch wohl nehmen!« warf ihm Hellmut gereizt entgegen. »Wenn ich es nun verteidigen wollte!«
»Natürlich werden wir es verteidigen!« rief Otto, seinen Degen schwingend. Doktor Lorenz hielt ihn entsetzt fest.
»Otto, um Gottes willen!«
»Lassen Sie doch dem Knaben sein Spielwerk!« sagte Holger verächtlich. »Sie verweigern mir also Ihre Dienerschaft, Herr Baron? Nun, dann muß ich mir andere Hilfe rufen.«
Er wollte gehen, aber Hellmut vertrat ihm gebieterisch den Weg.
»Sie bleiben, Herr Hardesvogt!«
»Wollen Sie mich mit Gewalt zurückhalten?«
Rede und Gegenrede klangen gleich drohend, aber sie verstummten plötzlich, denn vom Schloßhofe her tönte jetzt eine Laut, schärfer, furchtbarer als der wilde Lärm – das Knattern von Gewehren.
»Barmherziger Gott!« schrie die Baronin auf, und Eva, die sich wie Schutz suchend an ihre Seite geflüchtet hatte, verbarg das Gesicht in den Händen.
»Das sind Schüsse! Sie geben Feuer!«
Es ging wie eine Bewegung des Schreckens durch die sämtlichen Anwesenden, nur der Hardesvogt blieb ruhig, er fühlte sich wieder als Herr der Lage.
»Sie sehen, wohin dieser unsinnige Widerstand führt, wagen Sie nicht das Äußerste,« wandte er sich an den Schloßherrn, doch dieser fuhr jetzt auf, in voller Empörung und mit flammenden Augen.
»Hier gibt es nichts mehr zu wagen! Wenn denn nun einmal Blut fließt, dann soll es auch nicht bloß das unsrige sein!«
»Hellmut, bist du von Sinnen?« rief Odensborg, aber Hellmut hörte nicht auf ihn, mit einer einzigen kraftvollen Bewegung hatte er seinem jungen Vetter den Degen entrissen und stellte sich mit erhobener Waffe vor Arnulf Jansen.
»Otto – binde die Stricke los,« befahl er.
»Ja – ja!« schrie Otto herbeistürzend, mit vor Aufregung bebenden Händen versuchte er die Fesseln Arnulfs zu lösen, dessen ganze Energie zurückkehrte, als er die Möglichkeit sah, frei zu werden.
»Nur erst die Arme frei!« stieß er hervor. »Eine Waffe wird sich schon finden.«
In wenigen Minuten hatte Otto sein Werk getan.
Die Stricke fielen zu Boden. Der Befreite tat einen Atemzug und reckte die kraftvollen Arme. Man sah es, sie konnten zur Not auch unbewehrt einen Feind niederschlagen, und dazu gab es Gelegenheit. Denn die Schüsse schienen die Wut der Menge vollends entfesselt zu haben, das Toben schwoll furchtbar drohend an. Auch Hellmut vernahm es, und er zögerte jetzt, wo der Gefangene seiner Banden ledig war, nicht einen Augenblick mehr, sondern eilte nach der Tür.
»Kommen Sie, Arnulf! Unser Platz ist da unten!«
»Wo man die Unsrigen niederschießt!« ergänzte Arnulf, ihm nachstürmend. Sie waren verschwunden, ehe die anderen nur zur Besinnung kamen.
Die Kräfte der greisen Frau von Mansfeld waren dieser Scene nicht gewachsen, sie sank halb ohnmächtig in einen Sessel.
»Hellmut – er geht in den Tod!«
Da stürzte Eleonore vor ihr auf die Kniee und mit beiden Armen die Großmutter umschlingend, rief sie stürmisch: »Laß ihn! Im Leben oder Tod – wir haben ihn wiedergewonnen!«
Draußen vor dem Schloß schien es in der Tat zum äußersten gekommen zu sein. Die Gittertore, die man in der Eile geschlossen hatte, waren längst dem Ansturm gewichen, die erbitterte, tobende Menge erfüllte den ganzen inneren Hof und versuchte gewaltsam den Eingang zu erzwingen. Sie hatte bereits einen Angriff auf die Türen unternommen, der zwar für den Augenblick noch erfolglos geblieben war, aber den Dänen doch den ganzen Ernst ihrer Lage klar machte. Sie gaben Feuer, in der Hoffnung, die Bauern einzuschüchtern, entflammten diese aber dadurch vollends zur Wut. Nach einem augenblicklichen Zurückweichen schlossen sie sich um so dichter zusammen und schickten sich an, den Sturm auf den Haupteingang zu wiederholen, als plötzlich die Torflügel weit geöffnet wurden.
Dort auf den steinernen Stufen erschien der, um dessentwillen der ganze Aufruhr stattfand, erschien Arnulf Jansen und neben ihm – Hellmut von Mansfeld.
Einen Moment lang verharrte die Menge in starrer, atemloser Überraschung, dann aber brach ein stürmisches Jubelgeschrei aus. Niemand wußte, was geschehen war. Niemand begriff den Zusammenhang, aber dort oben stand der Führer, den man retten wollte, frei, der Banden entledigt, und der junge Schloßherr, den man gewohnt war, in den Reihen der Feinde zu suchen, stand neben dem Befreiten, den Degen in der Hand! Der Instinkt des Volkes ahnte, daß er der Retter gewesen war.
Der kühne Handstreich der beiden Männer war in der Tat über Erwarten geglückt, denn die Dänen glaubten im Schlosse einen völlig sicheren Rückhalt zu haben und erwarteten nichts weniger als einen Angriff von dieser Seite. Der Offizier hatte seine Leute teilen müssen, um die beiden Eingänge gleichzeitig zu sichern, er hatte nur einen Wachtposten an die Haupttür gestellt, während er selbst von einem Zimmer des Erdgeschosses aus die Verteidigung leitete und aus den Fenstern desselben feuern ließ. Die beiden Herabstürmenden übersahen das mit einem einzigen Blick, Hellmut warf mit schneller Geistesgegenwart die Tür jenes Zimmers ins Schloß und schob den schweren Riegel vor; als er sich wieder umwendete, lag der Posten, von Arnulfs nerviger Faust getroffen, bereits am Boden, und seine Waffe war in Arnulfs Hand. In wenigen Minuten gelang es ihnen, die Tür zu öffnen, und gleich darauf waren sie beide umflutet von der jubelnd eindringenden Menge, die sich wie ein entfesselter Strom in die inneren Räume ergoß. Ehe die eingeschlossenen Dänen vermochten, die Tür zu sprengen, wurde es ihnen schon klar, daß das Schloß bereits in den Händen der Bauern sei, sie mußten der Übermacht weichen und ergaben sich, ebenso wie ihre zur Hilfe herbeieilenden Kameraden, nach kurzer Gegenwehr.
Das alles war in den Morgenstunden geschehen, jetzt war es Spätnachmittag geworden, der Abend nahte und draußen stürmte es noch mit unverminderter Heftigkeit, während man drinnen bemüht war, mit fieberhafter Eile das Schloß in Verteidigungszustand zu setzen. Nach dem, was sich ereignet hatte, blieb nichts anderes übrig, als der militärischen Hilfe, die sich der Hardesvogt aus der Stadt erbeten hatte und die jede Stunde eintreffen konnte, gewaltsam den Eingang zu verwehren. Mansfeld war ja früher befestigt gewesen, es konnte mit seinen Mauern und seinem Schloßgraben sich immerhin einige Zeit halten, wenn es energisch verteidigt wurde, und ein Teil der jüngeren Dorfbewohner hatte sich freiwillig erboten, im Schlosse zu bleiben, um bei der Verteidigung zu helfen.
Das sonst so friedliche Herrenhaus hatte urplötzlich ein ganz kriegerisches Ansehen bekommen. Das Jagdzimmer des verstorbenen Majoratsherrn hatte seine sämtlichen Büchsen und Hirschfänger hergeben müssen; was sonst an Waffen noch zu finden war, wurde herbeigeschleppt und verteilt, die Eingänge wurden verschlossen und verrammelt, überall Posten ausgestellt, es ging zu, wie in einer belagerten Festung, und allem Anschein nach hatte man auch eine Belagerung auszuhalten, wenn die Dänen anrückten.
In der großen Vorhalle im Erdgeschoß, die auf die Terrasse und das Meer hinausging, stand Baron Mansfeld und entließ die zurückgebliebenen Bauern mit verschiedenen Befehlen und Anordnungen, als Arnulf Jansen eintrat. Dieser blieb an der Tür stehen und sah stumm, aber mit fest zusammengepreßten Lippen zu, wie seine Landsleute, deren ausschließlicher Führer er bisher gewesen war, sich um den jungen Schloßherrn scharten und dessen Befehle empfingen; jetzt gewahrte ihn Hellmut und wandte sich rasch zu ihm.
»Da sind Sie ja, Arnulf! Sie kommen vom Schloßhof? Sind all die Eingänge besetzt?«
Arnulf kam langsam näher, er war jetzt frei und sah, daß man sich bereit machte, ihn und seine Freiheit bis aufs äußerste zu verteidigen, aber seine Stirn war finster wie die Nacht, und in seinem Wesen lag eine kalte, beinahe feindselige Zurückhaltung, als er antwortete: »Alle! Ein jeder steht an seinem Posten.«
»Gut, so ist alles Notwendige geschehen, und nun müssen wir das Kommando erwarten. Das Detachement aus der Stadt kann in einer Stunde hier sein, ich fürchte, es wird uns mehr zu schaffen machen, als die kleine Schar heute morgen.«
Jansen erwiderte nichts auf diese Bemerkung. Der Mann, der gewohnt war, überall selbst an der Spitze zu stehen, konnte es noch immer nicht begreifen, daß ein anderer, den er so lange als Schwächling verachtet hatte, jetzt die Führung übernahm und sich dieser Führung so vollkommen gewachsen zeigte.
»Graf Odensborg will fort,« sagte er kurz. »Sie haben Befehl gegeben, ihn passieren zu lassen?«
Über Hellmuts Stirn flog ein Schatten, aber er neigte bejahend das Haupt.
»Ich kann und will ihn nicht zurückhalten, da er das Schloß zu verlassen wünscht, und auch Holger will ihn begleiten. Der Hardesvogt wird zwar nicht verfehlen, in der Stadt alles gegen uns in Aufruhr zu bringen, aber die Nachricht von dem Geschehenen läßt sich doch nicht mehr zurückhalten, sobald das gegen uns beorderte Detachement hier eintrifft. Wann glauben Sie, daß die deutschen Truppen hier sein können?«
»Das ist unberechenbar! Wir wissen nur, daß sie auf dem Marsch sind und sich wahrscheinlich nach der Stadt wenden.«
»Gleichviel, wir haben immerhin Hoffnung auf Entsatz, und so lange muß Mansfeld sich unter jeder Bedingung halten. Nicht wahr, Arnulf?«
Weder die Entschlossenheit dieser Worte, noch die vertrauliche Anrede machten einen Eindruck auf Jansen; seine finstere Stirn hellte sich nicht auf, und mit eisiger Ablehnung entgegnete er: »Sie haben das Kommando in Ihrem Schlosse, Herr Baron – ich habe nur zu gehorchen.«
Hellmut wandte sich, ohne den Ton bemerken zu wollen, wieder zu den Bauern, die ihn noch immer umgaben.
»Die beiden Herren werden also durch die kleine Pforte hinaus gelassen, ich habe den Wagen bereits nach dem Dorfe voraus gesandt. Die gefangenen Dänen bleiben hier, wir dürfen die Zahl unserer Angreifer nicht vermehren. Es ist hinreichend dafür gesorgt, daß sie nicht etwa ausbrechen und einen Handstreich gegen uns unternehmen, und den Feinden draußen werden wir mit vereinten Kräften standhalten. Geht jetzt nach dem Schloßhofe, wir folgen sogleich.«
Ein froher, begeisterter Zuruf antwortete ihm, die Leute fügten sich unbedingt den Befehlen dessen, der ihnen noch heute morgen als Fremdling und Feind galt, jetzt, wo er sich so energisch für sie erklärt hatte, war er ihnen nur noch der Erbe der Mansfeld, der Enkel ihres geliebten alten Gutsherrn, es war einfach selbstverständlich, daß er sich an ihre Spitze stellte und daß sie gehorchten. Sie begriffen nur nicht, daß ihr bisheriger Führer so vollständig auf das Kommando verzichtete, das lag doch sonst nicht in Arnulf Jansens Art.
Die schweren Tritte der Bauern klangen noch draußen auf den Steinfliesen, da kamen leichte Schritte die Treppe herunter, und die beiden jungen Mädchen erschienen in der Halle, Eleonore mit einem Gesicht, das trotz Gefahr und Sorge wie durchleuchtet war von innerem Glück, während Eva, die an ihrem Arm hing, halb ängstlich, halb neugierig den kriegerischen Anstalten zusah.
»Hellmut, wo hast du meinen Bruder gelassen?« fragte Eleonore im Eintreten, während sie sich suchend umsah.
»Otto?« fragte der junge Schloßherr überrascht. »Ich habe ihn nicht gesehen. War er nicht bei Ihnen, Arnulf?«
»Nein,« versetzte dieser.
»Nun, dann wird er irgendwo bei den Verteidigungsanstalten sein. Er war ja noch bei uns, als der Plan dazu entworfen wurde.«
»Aber seitdem ist er wie verschwunden, wir vermissen ihn schon seit Stunden, auch Doktor Lorenz sucht ihn überall.«
»Er kann doch nur im Schlosse sein, ich werde Nachfrage halten,« sagte Hellmut, hielt aber plötzlich inne und brach in ein lautes Gelächter aus, wobei ihm die jungen Damen Gesellschaft leisteten. Die stürmische Heiterkeit galt dem Doktor Lorenz, der in voller Kriegsbereitschaft angezogen kam.
Der alte Herr bildete sich wahrscheinlich ein, er müsse draußen im Freien kämpfen und hatte sich nach Kräften gegen den Sturm und vielleicht auch gegen die Kugeln der Feinde zu sichern gesucht. Er hatte seinen großen Winterpelz angelegt und eine Pudelmütze aufgesetzt, auf der Schulter aber trug er ein höchst wunderbares Schießinstrument, das vermutlich aus der ehemaligen Rüstkammer des Schlosses stammte und ein mehr ehrwürdiges als gefährliches Ansehen hatte. Bei seinem Eintritt wiederholte sich das Gelächter.
»Herr Doktor Lorenz, so kriegerisch? – Das ist ja ein seltener Anblick!« riefen die jungen Damen, und der Schloßherr senkte ironisch die Spitze seines Degens.
»Die Gelahrtheit in Waffen!«
»Nur zur Verteidigung, nicht zum Angriff!« versicherte der Doktor wehmütig.
»Sie sehen auch nicht angriffsmäßig aus,« sagte Hellmut. »Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
»Sie haben ja das ganze Schloß bewaffnet, Herr Baron, sogar dem alten Kastellan haben Sie eine Flinte in die Hand gegeben und ihn als Beobachtungsposten an das Turmfenster gestellt. Da schämte ich mich, allein unbewehrt zu bleiben, und da« – der alte Herr seufzte tief auf – »da bin ich auch in das Jagdzimmer gegangen.«
Hellmut unterdrückte mühsam einen neuen Ausbruch des Lachens, als er die Flinte besah, die mit ebensoviel Stolz wie Vorsicht getragen wurde.
»Aber was für ein vorsündflutliches Gewehr haben Sie sich denn da ausgesucht? Es ist ja ganz verrostet!«
»Ich glaubte, die älteste Waffe sei die ungefährlichste,« erklärte Lorenz. »Sie machen sich also wirklich auf einen Kampf gefaßt?«
»Wahrscheinlich kommt es dazu,« versetzte der junge Schloßherr ernster. »Man wird die Herausgabe der Gefangenen und Arnulf Jansens Auslieferung erzwingen wollen, und der Gewalt werden wir auch mit Gewalt begegnen, wie heute morgen.«
»Ja, das war ein schrecklicher Auftritt!« Der Doktor schauderte noch nachträglich bei der Erinnerung. »Wenn ich nur wüßte, wie das alles so blitzschnell zugegangen ist! Wir sahen vom Fenster aus nur ein wildes Durcheinander, dann auf einmal waren die Türen offen, die Bauern im Schloß, es gab ein stürmisches Jubelgeschrei – alles in einem Atem, man kam gar nicht zu Besinnung dabei.«
»Nun, ich hoffe, wir werden auch mit den anderen fertig werden,« sagte Hellmut. »Ängstigen Sie sich nicht so, Fräulein Eva, Sie sehen ganz mutlos aus – und du, Nora?«
Er trat zu Eleonore, und sein Blick suchte den ihrigen, der ihn jetzt nicht mehr floh. Es war ein sekundenlanges Anschauen, stumm und doch beredt genug für die beiden.
»Ich, Hellmut?« wiederholte sie leise. »Ich kenne weder Furcht noch Angst, wenn du das Kommando führst, ich weiß, du wirst uns schützen.«
Er lächelte und zog ihre Hand an die Lippen.
»Gewiß, denn ich habe dich zu schützen!«
»Herr Baron, Sie werden im Schloßhofe erwartet!« mahnte Arnulf so laut und schroff, daß Doktor Lorenz erschrocken zusammenfuhr. Hellmut richtete sich schnell empor, noch ein paar innig geflüsterte Abschiedsworte, dann verließ er mit Jansen die Halle.
»Was hat denn Arnulf?« fragte der Doktor verwundert. »Was war das für ein Ton, mit dem er zum Aufbruch mahnte!«
»Nicht wahr, es klang abscheulich?« fiel Eva ein. »Mir ist dieser Jansen stets unheimlich gewesen, und jetzt finde ich ihn geradezu entsetzlich. Um seinetwillen wird das ganze Schloß bewaffnet, um seinetwillen nehmen wir alle die Gefahr auf uns, und er geht herum mit einem Gesicht wie eine Wetterwolke und spricht kein Wort. Baron Hellmut hat ihm das Leben gerettet, aber ich glaube, er hat ihm noch nicht einmal gedankt, und jetzt eben, als du mit deinem Vetter sprachst, Nora, da schoß er einen Blick auf euch beide – einen Blick, bei dem es mich ganz kalt überlief!«
Eleonore antwortete nicht, sie sah schweigend den beiden Männern nach, aber auch ihr war Arnulfs Benehmen rätselhaft. Was lag denn zwischen ihm und Hellmut, daß nicht einmal dieser Tag es aufheben konnte?
»Und heute haben wir doch allesamt dem jungen Baron Abbitte geleistet,« sagte Lorenz warm. »Wer hätte je geglaubt, daß er sich so zeigen würde. Er wirtschaftet ja im Schlosse herum, daß einem Hören und Sehen vergeht. Da verteilt er Waffen, gibt Befehle, entwirft Verteidigungspläne, als hätte er sein Leben lang nur Festungen kommandiert.«
Eleonore hörte mit einem strahlenden Lächeln zu.
»Ja, er hat es schnell genug gelernt, die Zügel zu führen! Unsere Bauern scharten sich wie auf Kommando um ihn, als er sich an ihre Spitze stellte, sie fühlten, daß es wieder ein Mansfeld war, der sie anführte!«
Eva war inzwischen an die Glastür getreten, die sich auf die Terrasse öffnete, aber draußen war nichts zu sehen, als der immer dichter werdende Nebel und die spritzenden, schäumenden Wogen.
»Hört nur, wie die See wieder tobt! Das währt nun schon seit heute morgen, und wer weiß, was uns der Abend bringt!«
Die Worte klangen sehr zaghaft. Eleonore folgte ihr und legte den Arm um ihre Schulter.
»Du bist ja freiwillig bei uns geblieben, Eva! Noch hast du die Wahl, wenn du den Hardesvogt begleiten willst –«
»Um des Himmels willen nicht!« fuhr die junge Dame erschrocken auf. »Soll ich etwa die Wutausbrüche meines racheschnaubenden Vormundes mit anhören? Er brächte mich um, wenn er ahnte –«
»Daß sein Mündel es vorzieht, die Gefahr mit uns zu teilen, um sich von den deutschen Truppen befreien zu lassen. Vielleicht passiert ein gewisses Regiment Mansfeld, dessen Hauptmann –«
»Ach, laß doch die Neckereien,« schmollte Eva. »Freilich, für dich scheinen weder Gefahr noch Angst zu existieren; seit dein Hellmut sich so urplötzlich als Held entwickelt hat, seitdem gehst du wie verklärt umher und er desgleichen. Vorhin hat er wohl fünf Minuten deine Hand gehalten und dir ins Auge gesehen, es war eigentlich etwas langweilig.«
»So?« neckte Eleonore, indem sie die Freundin mit sich fortzog. »Ich fürchte, vorgestern am Seeberg ist ganz Ähnliches passiert – hast du das auch langweilig gefunden?«
»O, das war etwas anderes!« erklärte Fräulein Eva, »da wurde ich angesehen.«
Doktor Lorenz schüttelte den Kopf und blickte den beiden jungen Mädchen nach, als sie die Halle verließen.
»Diese übermütige Jugend! Das lacht und scherzt im Angesicht einer Gefahr, vor der man zittern müßte. Aber es ist merkwürdig, es zittert eigentlich niemand hier in Mansfeld, da darf ich es anstandshalber auch nicht tun.«
Er nahm die Flinte von der Schulter und lehnte sie mit der äußersten Vorsicht an einen Pfeiler, während er fortfuhr: »Man muß sich in acht nehmen mit solch einem Mordgewehr. Es ist zwar nicht geladen, aber – wer weiß – es könnte doch losgehen. Man hat Beispiele, daß solch ein Ding noch eine alte Kugel im Lauf hat, also Vorsicht! Wenn ich nur wüßte, wo der tollkühne Junge steckt, er ist ganz spurlos –«
Das Wort blieb ihm in der Kehle stecken, denn der, dem seine Gedanken galten, sein spurlos verschwundener Zögling, kam urplötzlich wieder zum Vorschein. Er setzte mit einem kecken Sprung über die Steinbalustrade der Terrasse, riß die Glastür auf und trat ein, aber in welchem Zustand!
Triefend am ganzen Körper, das Wasser floß ihm aus den Haaren und von den Kleidern, doch unter den nassen Locken hervor blitzten die Augen übermütig und siegesfreudig, und ebenso klang auch seine Stimme, als er rief: »Da bin ich!«
Der Doktor schlug die Hände über den Kopf zusammen bei diesem Anblick.
»Otto, lassen Sie sich endlich wieder sehen? Wo sind Sie denn den ganzen Nachmittag gewesen, und wie sehen Sie aus? Sie sind ja über und über naß!«
Der Knabe warf einen sehr unbekümmerten Blick auf seinen gänzlich durchweichten Anzug.
»Das kommt von den Spritzwellen! Das Boot stand zur Hälfte voll Wasser.«
»Das Boot? Sie waren doch nicht –?«
»Auf der See! Ich komme direkt aus dem Boote.«
Lorenz prallte zurück und wurde kreidebleich.
»Bei diesem Sturm?«
»Bei diesem Sturm!«
»Aber um des Himmels willen, weshalb denn?«
Otto warf trotzig den Kopf zurück.
»Das erfahren Sie nicht, Herr Doktor, das erfährt überhaupt niemand. Ich will auch einmal ein Geheimnis für mich allein haben, ich will nicht immer bloß fortgeschickt werden, wenn die anderen ihre Geheimnisse austauschen.«
»Aber Sie müssen doch irgend einen Grund gehabt haben, sich in solche Lebensgefahr zu begeben,« jammerte der alte Herr. »Ich begreife überhaupt nicht, wie Sie mit dem eben davongekommen sind. Es wagt sich ja heute niemand hinaus.«
»Aber ich wagte es!« triumphierte der Knabe. »Ich habe es von Arnulf gelernt, ein Boot auch im Sturm zu führen, und heute habe ich es geführt wie ein echter Seemann.«
»Aber so sagen Sie mir doch wenigstens –«
»Keine Silbe! Mit Ihnen habe ich überhaupt noch abzurechnen, Herr Doktor; hätten Sie mich nicht festgehalten, dann wäre ich heute morgen auch mit dabei gewesen, aber Sie ließen mich nicht los, bis die Großmutter kam und mich mit Bitten und Tränen umfaßte. Die konnte ich freilich nicht zurückstoßen, aber. ich hole sicher den Kampf nach, den ihr mir unterschlagen habt. Es ist doch noch nichts passiert im Schlosse?«
»Nein, aber es wird leider etwas passieren, wenn die Soldaten aus der Stadt anrücken.«
»Hoffentlich! Sie werden uns angreifen, wir werden uns verteidigen, sie zurückschlagen – Herr Doktor, ich habe nie geglaubt, daß wir hier in Mansfeld ein solches Glück haben würden!«
Er fiel stürmisch seinem Lehrer um den Hals, der ganz verzweiflungsvoll die Umarmung über sich ergehen ließ und nur seufzte: »Otto, gottloses Kind! Das nennt er ein Glück!«
»Natürlich! Aber vor allem muß ich mir jetzt auch eine Waffe suchen. Ah, da steht ja eine Flinte!«
Er wollte danach greifen, aber der Doktor hielt ihn zurück und erklärte mit großem Selbstgefühl: »Lassen Sie – das ist meine Waffe!«
»Ihre Waffe?« Otto sah mit dem äußersten Erstaunen den sonst so friedliebenden alten Herrn an, dessen Kriegsausrüstung mit dem Pelz er erst jetzt bemerkte.
»Ja, aber es ist nicht meine Absicht, Blut damit zu vergießen,« beeilte sich der Doktor hinzuzufügen.
»Nun, mit dem Gewehre werden Sie sicher kein Blut vergießen!« lachte Otto, indem er sich desselben bemächtigte.
»Ich glaube, der Hahn läßt sich gar nicht mehr spannen.«
Er versuchte das auf der Stelle, aber umsonst, der gänzlich verrostete Hahn war nicht zu bewegen, trotzdem wich Lorenz ängstlich zurück.
»Nehmen Sie sich doch in acht! Es kann ja losgehen!«
»Dazu hat man ja die Gewehre, daß sie losgehen,« meinte Otto, indem er seine Bemühungen mit aller Kraft wiederholte, aber ebenso vergeblich wie das erste Mal.
»Aber nicht in meiner Hand! Geben Sie mir die Flinte zurück.«
»Mit Vergnügen – zum Schießen läßt sie sich nicht gebrauchen. Aber jetzt muß ich zu meinem Vetter, auf den ich heute zum erstenmal stolz bin, zu Hellmut, unserem Kommandanten!«
»So legen Sie doch erst die nassen Kleider ab,« bat Lorenz, aber er erhielt nur ein übermütiges Gelächter zur Antwort.
»Nein, Herr Doktor, das sind Kleinigkeiten, und heute sind wir allesamt Helden, sogar Sie, mit Pelz und Pudelmütze und einer Flinte – die nicht losgeht!«
Er lief noch immer lachend davon, während der Doktor tiefbeleidigt das ehrwürdige, vielgeschmähte Schießinstrument wieder auf die Schulter nahm und sich anschickte, damit auf dem Schloßhof in Reih und Glied zu treten. Er hatte sich doch nun einmal in Kriegsbereitschaft gesetzt, jetzt wollte er auch mit dabei sein.
Graf Odensborg und der Hardesvogt waren von der Katastrophe wohl am schwersten getroffen worden. Der Graf hatte von dem Augenblick an, wo sein Sohn sich mit erhobenem Degen vor Arnulf Jansen stellte, jedes Eingreifen aufgegeben, er fühlte, daß seine Macht zu Ende war, Holger dagegen, den seine Energie und Entschlossenheit auch jetzt nicht verließ, machte einen Versuch, den Davonstürmenden zu folgen und die unten befindlichen Dänen zu warnen. Aber man mußte das vorausgesehen haben, denn er fand die Tür des Vorzimmers von außen verschlossen, und während er noch daran rüttelte, verriet ihm der im Schloßhof ausbrechende Jubel schon, daß es zu spät sei und daß der kühne Handstreich geglückt war.
Odensborg hatte sich in seine Zimmer zurückgezogen und dort eingeschlossen, wo er auf Hellmuts Befehl von niemand behelligt wurde. Als er am Nachmittag hinuntersandte, um einen Wagen zu fordern, da er abreisen wollte, brachte der Diener ihm die Meldung zurück, der Wagen werde in einer halben Stunde bereit sein. Der Hardesvogt dagegen, von dessen Feindseligkeit man sich des Schlimmsten versah, war als Gefangener behandelt worden, erst jetzt wurde ihm angekündigt, daß es ihm freistehe, in Begleitung des Grafen das Schloß zu verlassen, und er machte selbstverständlich von dieser Erlaubnis Gebrauch.
In einem Gemach des oberen Stockwerkes, das Odensborg und sein Sohn bisher bewohnt hatten, stand Hellmut. Er wartete auf den Grafen, den er seit heute morgen nicht wiedergesehen hatte und der sich noch auf seinem Zimmer befand. Jetzt wurde die Tür desselben geöffnet, ein Diener mit einigem Handgepäck trat heraus und die Stimme Odensborgs fragte von drinnen: »Der Wagen ist also angespannt?«
»Jawohl, Herr Graf, er wartet am Eingange des Dorfes, da die Gittertore des Schloßhofes schon verrammelt sind.«
»So trage das Gepäck hinunter! Es bleibt dabei, daß du und Franz mich begleiten, wir fahren direkt nach der Stadt.«
Der Diener gehorchte, mit einem scheuen Blick auf den jungen Schloßherrn ging er an diesem vorüber und verließ das Gemach, wenige Minuten später erschien auch der Graf in Reisekleidung und wollte sich gleichfalls hinunterbegeben, als sein Sohn ihm entgegentrat.
»Du willst abreisen, Papa?« fragte er.
Odensborg blieb stehen und maß ihn mit einem Blick des herbsten Vorwurfes.
»Ja! Hoffentlich werde ich hier nicht als Gefangener behandelt und mit Gewalt zurückgehalten.«
»Man wird dich frei passieren lassen – ich habe Befehl dazu gegeben.«
Es folgte eine kurze, aber schwere Pause, die beiden standen sich stumm gegenüber, beide bleich und erregt, fühlten sie doch erst jetzt ganz und voll, was die Scene von heute morgen für sie bedeutete. Endlich nahm Odensborg wieder das Wort.
»Du hast doch wohl nicht erwartet, daß ich bleiben werde nach dem, was geschehen ist.«
»Nein,« entgegnete Hellmut gepreßt. »Aber ich glaubte nicht, daß du gehen würdest, ohne mich auch nur einmal sehen zu wollen. Du hast mir vorhin den Einlaß in dein Zimmer verweigert.«
»Ich ordnete meine Papiere,« sagte der Graf kalt. »Und du mußtest ja dein Schloß in Verteidigungszustand setzen. Wie lange soll denn eigentlich die Komödie dauern?«
»Welche Komödie?«
»Die du hier mit deinen Bauern aufführst. Wenn ich geahnt hätte, daß mein Sohn mir so gegenüberstehen würde, als Beschützer eines Spions, an der Spitze einer aufrührerischen Rotte –«
»Papa, laß das!« unterbrach ihn der junge Mann ernst. »Es macht uns diese Stunde nur noch bitterer.«
»Jawohl, sie ist bitter!« brach Odensborg aus. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du – du dich in so unerhörtem Trotz gegen den Vater wendest, daß du in einer einzigen Stunde alles von dir wirfst und mit Füßen trittst, was ich jahrelang gepflanzt und behütet habe.«
»Was du mir aufgezwungen hast! Freilich, warum ließ ich es mir aufzwingen – aber sei gerecht – du warst es, der mir Wille und Urteil genommen hat. Du hast mich die Freuden des Lebens unbeschränkt genießen lassen, von seinen Pflichten und seinem Ernste hast du mich ferngehalten. Ich durfte nie mein Vaterland betreten, nie meine Verwandten wiedersehen, jedes Band, das mich an die Heimat knüpfte, wurde absichtlich gelöst und zerrissen du wolltest nur einen gehorsamen Sohn, der keinen anderen Willen kannte, wie den deinigen, und du hast ihn ja auch gehabt – bis heute.«
»Und ich hätte ihn noch, ohne jene unselige Leidenschaft, die sich deiner bemächtigt hat. Denkst du, ich weiß es nicht, welcher Stimme du folgst, welche Hand dich von mir losreißt? In dem Augenblick, wo sie dich verwarf, hast du Eleonore Waldow lieben gelernt, und dieser Liebe opferst du mich.«
Hellmut schüttelte langsam und verneinend das Haupt.
»Du irrst, das ist denn doch noch etwas anderes gewesen. Ich war meinem Vaterlande fremd geworden, und fremd und feindselig empfing mich alles, als ich seinen Boden wieder betrat, und doch wußte ich es vom ersten Tage an, daß es meine Heimat war, man fühlt das ja in jedem Nerv, in jedem Atemzuge!«
Er hielt einen Moment inne, wie um eine Antwort zu erwarten, und als diese nicht erfolgte, fuhr er in steigender Erregung fort: »Du weißt nicht, wie oft mir die Scham blutrot in die Stirn gestiegen ist, wenn ich den Namen Mansfeld zu dem herleihen mußte, was durch dich auf meinen Gütern geschah, weißt nicht, wie oft ich im Begriff stand, die Fessel abzuwerfen. Aber heute, wo ihr einen Mann zum Tode führen wolltet, dessen ganze Schuld es ist, daß er sein Vaterland, mein Vaterland geliebt hat, wo eure Kugeln aus meinem Vaterhause auf meine Landsleute gerichtet waren, da war es zu Ende mit dem Kampfe, da tat ich – was ich tun mußte!«
Odensborg hatte schweigend und finster zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, aber es lag mehr Schmerz als Zorn in seinem Antlitz, jetzt trat er mit einer raschen Bewegung näher und legte wie beschwörend die Hand auf den Arm des jungen Mannes.
»Hellmut, bedenke, daß diese Stunde uns auf immer scheidet! Du bist mein Sohn gewesen, wenn auch keine Bande des Blutes uns vereinigten – soll ich dich wirklich verlieren?«
»Du hättest mich nicht hierher bringen dürfen,« sagte Hellmut leise. »Nicht jetzt herbringen, wo mein Vaterland sich losringt von euch, wo in blutigen Kämpfen für seine Befreiung gestritten wird. Die Probe hat deine Erziehung nicht ausgehalten, da regt sich das deutsche Blut und rächt sich für die lange Unterdrückung. Ich kann und will es nicht mehr vergessen, daß ich der Sohn eines Mansfeld bin und daß ich das Erbe meines Vaters zu vertreten habe.«
Der Graf ließ seinen Arm los und trat zurück, während der alte, eisige Ausdruck sich wieder über seine Züge legte.
»So sind wir zu Ende!«
»Du gehst?« fuhr der junge Mann auf. »Ohne ein Wort des Abschieds? Ohne ein einziges Zeichen der Versöhnung?«
»Wozu das? Du hast ja dein ›Vaterland‹, dem du mich opferst – ich gehe zu den Meinen.«
Die Worte klangen in unendlicher Bitterkeit, und doch fühlte es Hellmut, was er dem Mann gewesen war, der, kalt und berechnend der ganzen Welt gegenüber, nur ihn allein geliebt hatte, wenn auch freilich auf seine Weise.
»Vater! Mein Vater!« flehte er.
Odensborg sah ihn an, er sah ein paar heiße Tränen in den blauen Augen, die so flehend auf ihn gerichtet waren, und mit dem Zorn schwand auch seine Fassung dahin.
»Lebe wohl!« stieß er mit ausbrechendem Schmerz hervor und wandte sich zum Gehen.
Hellmut machte eine Bewegung, als wolle er ihm nachstürzen, hielt aber plötzlich inne und verharrte an seinem Platz. Er hatte ja gewählt, jetzt galt es die Wahl zu behaupten, selbst um diesen Preis!
Der Befehl des Schloßherrn wurde pünktlich ausgeführt. Graf Odensborg verließ mit seinen beiden Dienern und dem Hardesvogt unbehelligt das Herrenhaus. Die kleine Seitenpforte öffnete sich ihnen, um sich sofort wieder zu schließen; man hatte allen Grund, vorsichtig zu sein.
Wenige Minuten später trat Arnulf Jansen in das Schloß, er suchte Baron Mansfeld, mit dem er am Fuß der großen Treppe zusammentraf.
»Der Graf und der Hardesvogt sind fort,« meldete er in seiner kurzen, schroffen Weise.
Hellmut war noch bleich, aber ernst und ruhig; wie schwer erkämpft diese Ruhe war, davon gab nur das leise Beben seiner Stimme Zeugnis, als er antwortete: »Ich – weiß es!«
»Und hinter ihnen habe ich den Eingang wieder verwahren lassen,« fuhr Arnulf fort, »denn – sie kommen!«
»Die Dänen? Schon jetzt?«
»Ja, sie marschieren die Landstraße entlang und können in einer Viertelstunde hier sein.«
»Sind sie zahlreich?« fragte Hellmut, während sie beide in die Halle traten, wo sich augenblicklich niemand befand.
»Es sind mehr, als wir glaubten. In dem Sturm und Nebel läßt sich nichts Genaues unterscheiden, aber es mögen wohl ein paar hundert Mann sein.«
Der junge Schloßherr schien betroffen von der Nachricht, die er nicht erwartet haben mochte.
»So viele?« murmelte er. »Darauf war ich nicht gefaßt.«
»Ich auch nicht, sie scheinen es ernst zu nehmen mit unserer Rebellion und schicken uns gleich ein halbes Regiment her. Der Kampf wird heißer, als wir glaubten.«
»Gleichviel, er wird gewagt, koste es was es wolle!«
»Vielleicht kostet es wieder Blut – um meinetwillen!« sagte Arnulf finster.
»Lassen Sie das doch jetzt ruhen,« versuchte Hellmut abzulenken, aber Jansen schüttelte heftig den Kopf.
»Sie können es ruhen lassen – ich nicht! Sie wissen nicht, wie das quält und lastet. Wenn wir dieser Übermacht unterliegen –«
»Wir unterliegen nicht. Die deutschen Truppen sind unterwegs, und so lange halten wir das Schloß.«
Arnulf antwortete nicht sogleich, er schien mit sich zu kämpfen, endlich sagte er, ohne das Auge vom Boden zu heben: »Herr von Mansfeld – Sie haben mir heute Leben und Freiheit gerettet.«
»Und Sie hätten lieber Leben und Freiheit hingeworfen, als sie mir gedankt!«
»Mag sein, aber das macht die Schuld nicht leichter, die ich gegen Sie habe.«
»Arnulf – Sie hassen mich!«
Jansen schwieg, aber seine finster umwölkte Stirn gab die Antwort.
»Auch jetzt noch?« fragte der junge Schloßherr vorwurfsvoll.
Arnulf hob langsam das Auge empor, in dem etwas von dem alten Trotze flammte.
»Ich kann nicht heucheln, Herr von Mansfeld. Ja, ich habe Sie bitter gehaßt, als einen Abtrünnigen, der sein Vaterland verriet und verleugnete, als einen Schwächling, der sich am fremden Gängelband führen ließ. Ich weiß es erst seit heute, daß Sie ein Mann sind, aber ein Paar andere Augen, die sahen tiefer als ich, und die haben recht behalten. Sie haben ja jetzt Ihr Vaterland und Ihre Braut – da können Sie schon meinen Haß ertragen!«
Es lag ein dumpfer Schmerz in diesen Worten, der ihnen das Feindselige nahm, und Hellmut wußte, daß es nicht kleinliche und niedrige Beweggründe waren, die den Mann dort von ihm fern hielten. Seine Antwort klang nicht gereizt, nur mahnend und tiefernst.
»Arnulf, wir stehen vor einem Kampf, in dem einer von uns fallen kann. Da sollten wir doch vorher Frieden miteinander machen.«
Arnulf strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er dort etwas wegwischen, man sah, welche furchtbare Überwindung es ihn kostete, dem Gegner die Hand zu bieten, aber er tat es endlich doch.
»Ohne Sie stände ich jetzt vor dem Kriegsgericht und hätte die Kugel zu gewärtigen. Komme was da will, ich bin doch frei! – Ich danke Ihnen!«
Hellmut umschloß die dargebotene Rechte mit festem Druck.
»Wir wollen den alten Haß begraben, und das übrige stellen wir der Zukunft anheim.«
Die beiden Männer hatten es nicht bemerkt, daß Eleonore am Eingange stand und die letzten Worte hörte, jetzt trat sie vollends ein.
»Haben Sie endlich ein Wort des Dankes gesprochen, Arnulf?« fragte sie.
Jansen wandte sich um und sah sie an, es war ein dunkler, rätselvoller Blick, und ein schwerer Atemzug rang sich aus seiner Brust empor.
»Ja,« entgegnete er. »Blicken Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, Fräulein Nora, Sie wissen nicht, was dieser Dank mich kostet. – Im Schloßhofe finden Sie mich, Herr von Mansfeld.«
»Ich folge sogleich,« rief ihm Hellmut nach, dann trat er zu Eleonore.
»Die Dänen kommen, Nora,« sagte er bedeutungsvoll, »es ist eine Übermacht.«
»Ich weiß es,« versetzte sie. »Ihr werdet trotzdem das Schloß halten?«
»Bis auf den letzten Mann!«
»Und Graf Odensborg hat dich verlassen?«
»Ja – für immer!«
Die Antwort klang schwer und düster, und Eleonore mochte fühlen, was darin lag, sie legte wie tröstend die Hand auf seine Schulter.
»Nicht für immer. Er wird dir später Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er wird –«
»Bei den Seinen bleiben, wie ich es tue!« ergänzte Hellmut. »Wozu uns darüber täuschen. Er opfert mich, wie ich ihn opfern mußte. Seit heute morgen wußten wir es ja, daß wir uns trennen mußten, aber wir haben uns beide die Trennung nicht so schwer gedacht.«
»Bereust du deinen Entschluß?« fragte sie leise.
»Es war kein Entschluß, es war ein Erwachen! Du hast es mir ja vorher gesagt, daß die Heimat sich ihr Recht erzwingen würde bei dem verlorenen Sohn. Wenn ich den Vater verlor, so habe ich dafür dich gefunden, oder – verwirfst du mich auch jetzt noch?«
Es bedurfte der Frage nicht mehr, das glühende Erröten des Mädchens sagte genug.
»Hellmut, nicht in dieser Stunde – wir stehen vor einer Gefahr –«
»In dieser Stunde hast du mir das Recht gegeben, dich zu schützen!« fiel er leidenschaftlich ein. »Die Gefahr wird vorübergehen, aber mein Recht gebe ich nicht auf. Kannst du jetzt deine Hand mit vollem Vertrauen in die meine legen?«
Er hatte den Arm um sie gelegt und sah ihr tief in das Auge, das mit dem Ausdruck der vollsten Zärtlichkeit dem seinigen begegnete, und dieselbe hingebende Zärtlichkeit klang in ihrer Stimme, als sie antwortete: »Ja, Hellmut, jetzt kann ich es, denn jetzt weiß ich, daß du dein Weib vertreten und schützen wirst für das ganze Leben!«
Der alte Majoratsherr hatte schließlich recht behalten mit seiner so vielfach angefochtenen Testamentsbestimmung, die beiden, die er vereinigen wollte, hatten sich am Ende doch gefunden. Aber es blieb ihnen keine Zeit, sich ihres neugewonnenen Glückes zu freuen, nur einen heißen Kuß drückte Hellmut auf die Lippen seiner Braut, dann ließ er sie aus den Armen. Sein Platz war jetzt draußen, wo die anrückenden Dänen jeden Augenblick erscheinen konnten.
Er trat mit Eleonore hinaus, aber sie wurden noch einige Minuten aufgehalten; Frau von Mansfeld kam soeben die Treppe herunter, mit Eva und Doktor Lorenz, der ihnen folgte. Man hatte ihm begreiflich gemacht, daß seine kriegerische Tätigkeit einstweilen noch nicht notwendig sei, und daß er in Reserve bleiben müsse. Er hatte deshalb beschlossen, die Damen zu beschützen – selbstverständlich mit der Flinte – obgleich es vorläufig noch gar nichts zu beschützen gab.
»Großmama, was tust du hier? Warum bleibst du nicht oben in deinem Zimmer?« rief Hellmut, auf die Baronin zueilend, die ihm mit ausbrechenden Tränen die Arme entgegenstreckte.
»Ich wollte dich noch einmal sehen! Ich muß dich ja nun zum zweitenmal in die Gefahr hinauslassen. Hellmut, ich bitte dich –«
»Ruhig, ruhig, Großmama!« beschwichtigte er sie. »Für den Augenblick geschieht ja noch nichts, sie werden jedenfalls erst versuchen, ob wir ihnen das Schloß freiwillig öffnen. Doch jetzt laß mich hinaus auf meinen Posten.«
Er machte sich sanft, aber entschieden los und wollte gehen. Da stürzte Otto herein und rief atemlos, aber mit stürmischer Freude: »Hurra! Jetzt sind sie da!«
Die Baronin zuckte schmerzvoll zusammen und sandte ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Otto, wie kannst du uns die Feinde mit solchem Jubel ankündigen!«
»Wer spricht denn von Feinden, Großmama? Hört doch nur! Pflegen sich die Dänen so anzukündigen?«
Dicht vor dem Schlosse vernahm man jetzt die Signalhörner der anrückenden Soldaten, aber das waren andere Töne als jene, die man monatelang gehört hatte, als auf allen Dörfern, in allen Höfen ringsum dänische Einquartierung lag. Alle lauschten mit verhaltenem Atem, und plötzlich fuhr Hellmut in der höchsten Überraschung auf: »Mein Gott, das klingt ja beinahe wie –«
»Das sind preußische Signale!« fiel Eleonore stürmisch ein.
»Natürlich!« jubelte der Knabe. »Der Fritz ist es mit seiner Kompagnie!«
»Fritz?« wiederholte Eva, es klang wie ein Aufschrei der Freude, aber Frau von Mansfeld schüttelte ungläubig den Kopf.
»Unmöglich! Otto, du täuschest dich und uns alle.«
»Nun, Großmama, mir kannst du immerhin glauben, ich weiß das ganz genau,« versicherte der Knabe, sich in die Brust werfend. »Aber jetzt reißen sie im Schloßhofe die Gittertore auf, da muß ich dabei sein! Ich muß zuerst den Fritz begrüßen!«
Er stürmte davon, Hellmut ihm nach, und während die Baronin wie betäubt vor Schreck und Freude dastand, eilte Eva zu ihrer Freundin: »Nora, hältst du das für möglich? Fritz mit seiner Kompagnie?«
Eleonore wollte antworten, aber in diesem Augenblick warf Doktor Lorenz seine ehrwürdige, bisher so ängstlich behütete Flinte krachend auf die Steinfliesen und rief mit aufgehobenen Händen: »Gott sei Dank! Jetzt brauchen wir die Mordwaffen nicht mehr!«
Im Schloßhofe hatte sich inzwischen ein lautes, fröhliches Getümmel erhoben. In dem Augenblick, wo man in den anrückenden Soldaten die Freunde erkannte, war es vorbei mit Sorge und Gefahr. Alles stürzte herbei, um die verrammelten Eingänge wieder frei zu machen, die so mühsam geschaffenen Verteidigungsanstalten wurden jubelnd eingerissen. Jetzt öffnete sich das große Gittertor, und Otto stürmte richtig als der erste hinaus, um den Hauptmann Horst zu begrüßen, der an der Spitze seiner Kompagnie einzog.
»Da sind wir!« sagte er, Arnulf Jansen, der ihn im Schloßhofe empfing, die Hand hinstreckend. »Wir kamen noch zur rechten Zeit.«
Jansen erwiderte herzlich den Händedruck.
»Jawohl, Herr Hauptmann,« versetzte er, »wir hielten Sie und Ihre Leute für die anrückenden Dänen.«
»Nun, die werden wohl wieder abrücken, wenn sie uns zu Gesicht bekommen!« meinte Horst, dann wandte er sich zu Hellmut, der jetzt auch herantrat.
»Herr von Mansfeld, ich habe es schon gehört, daß Sie der Kommandant Ihres Schlosses sind, also bitte ich den Herrn Kameraden um Quartier für mich und meine Leute.«
»Willkommen! Tausendmal willkommen!« rief Hellmut.
In der Tat wurde selten eine Bitte freudiger gewährt und eine Einquartierung herzlicher willkommen geheißen, als in diesem Falle. Der große, sonst so stille Schloßhof vermochte den kriegerischen Zuwachs kaum zu fassen, der von allen Seiten umringt und begrüßt wurde, es war ein freudiges, lärmendes Durcheinander, aber es klang anders als jener wilde Tumult, der in den Morgenstunden hier getobt hatte.
Jetzt trat Horst mit Hellmut und Arnulf und mit Otto, der ihm nicht von der Seite ging, in das Schloß, und nun kam die Reihe der Überraschung an den Herrn Hauptmann. Er hatte allerdings gehofft, die Baronin und Eleonore noch hier zu finden, aber neben den beiden Damen, die ihn am Fuße der Treppe erwarteten, tauchte ein blondes Köpfchen auf, und ein Paar blaue Augen blickten glückselig dem Eintretenden entgegen.
»Eva!« brach dieser aus, es war ein Ton so leidenschaftlichen Entzückens, daß selbst die hochgespannten Erwartungen, welche die romantische kleine Eva von diesem Wiedersehen hegte, noch übertroffen wurden, und nun vergaß sie auch ihrerseits den Vormund, den Preußenhaß, sogar die Gegenwart der Zeugen und flog dem Hauptmann entgegen: »Fritz!«
»Das nenne ich Glück!« rief er, sie stürmisch umfangend.
»Das lohnte den Marsch durch Sturm und Wetter!«
»Aber Fritz, wo kommen Sie denn so unerwartet her?« fragte Frau von Mansfeld. Horst sah sie erstaunt an.
»Unerwartet?« wiederholte er, ohne jedoch Eva loszulassen.
»Gewiß,« fiel Hellmut ein. »Welchem glücklichen Zufall verdanken wir Ihr Erscheinen gerade im rechten Augenblick?«
»Das ist kein Zufall, Herr von Mansfeld, wir sind eigens hermarschiert, um Ihnen Hilfe zu bringen.«
»Sie wußten, daß wir Hilfe brauchten? Die Nachricht kann doch nicht bis zu Ihnen gelangt sein?«
»Doch, sie ist zu uns gelangt. Ich bekam urplötzlich den Befehl, im Eilmarsch nach Ihrem Schlosse aufzubrechen, es gelte, den Führer der schleswigschen Bauernschaft, Arnulf Jansen, vor dem Kriegsgericht zu retten, wir müßten noch vor Abend zur Stelle sein. Nun, bei Jansen hatte ich ohnehin noch eine Schuld abzutragen, so sind wir denn auf Leben und Tod marschiert und haben den ganzen Weg in drei Stunden gemacht.«
»Das ist unbegreiflich,« sagte Arnulf. »Wer kann denn nur der Helfer in der Not gewesen sein?«
»Ich!« tönte es hinter ihm, und Otto, der bisher seitwärts gestanden und mit geheimem Triumphe der Erörterung zugehört hatte, trat mit ungeheurem Selbstbewußtsein mitten in den Kreis, wo ihn ein allgemeiner Ausruf der Überraschung empfing.
»Otto – du?«
»Ja, lieber Hellmut, ich, dein kleiner Vetter, den du noch an den Schultisch schrauben wolltest! Während ihr darüber debattiertet, wie das Schloß bis zur Ankunft unserer Truppen zu halten sei, habe ich sie einfach herbeigeholt – werde ich jetzt noch hinausgeschickt, um nach dem Wetter zu sehen?«
Er stellte sich mit trotzig erhobenem Haupte vor seine Schwester hin, der das Rätsel seines Verschwindens nun allerdings gelöst war.
»Aber du kannst doch unmöglich in den wenigen Stunden den Hin- und Rückweg gemacht haben,« warf sie ein.
»Auf dem Landwege freilich nicht, aber im Boote, quer durch die Bucht, da erreichte ich in einer Stunde die Vorposten.«
»Du bist in diesem Sturme auf der See gewesen?« rief Frau von Mansfeld erschrocken.
»Ja, Großmama! Ich bin freilich mit dem Sturme um die Wette gejagt, aber ich gelangte rechtzeitig zum Kommandanten. Er ist ja ein alter Kriegskamerad meines Vaters, und da wußte ich, daß der Sohn Gehör bei ihm finden würde. Ich berichtete, wie es hier stand, und erhielt Zusicherung sofortiger Hilfe. Was sagst du dazu, Fritz?«
»Daß du ein prächtiger Junge bist!« rief der Hauptmann. »Ohne den Befehl wären wir erst morgen abend hier gewesen, ich ahnte nicht, daß du ihn erwirkt hattest. Aber weshalb schlossest du dich denn unserem Marsche nicht an? Weshalb wagtest du dich zum zweitenmal auf die wütende See?«
»Weil ich auf dem Wege nur eine Stunde brauchte,« erklärte Otto, fast beleidigt durch diese Frage. »Inzwischen hätten ja die Dänen hier eintreffen können, es hätte einen Angriff, einen Kampf gegeben, und ich wäre nicht dabei gewesen. Du siehst doch ein, Fritz, daß ich das nicht riskieren konnte?«
»Ich sehe nur ein, daß du zum Soldaten geboren bist,« sagte Horst lachend.
»Natürlich bin ich das! Den nächsten Krieg mache ich schon mit, im zweiten bin ich Offizier, und im dritten –«
»Otto, hören Sie auf!« unterbrach ihn Doktor Lorenz entsetzt. »Soll es denn nichts als Krieg in der Welt geben?«
Der jugendliche Held schien sehr geneigt, das anzunehmen, jetzt aber eilte er zu seinem Freund Jansen, der ihm noch kein Wort der Anerkennung gesagt hatte, und fragte eifrig: »Arnulf, du stehst ja so ganz allein und siehst so finster aus – was hast du denn?«
Arnulf stand in der Tat abseits, stumm und düster, als habe er allein keinen Anteil an der allgemeinen Freude, jetzt wandte er sich um und versuchte zu lächeln, aber es lag ein verbissener Schmerz in seinen Zügen, als er erwiderte: »Nichts, nichts, Junker Otto!«
»Du ärgerst dich, daß wir um unseren Kampf mit den Dänen kommen,« meinte Otto, dem diese Erklärung sehr nahe zu liegen schien. »Ja, ich ärgere mich auch! Wer konnte denn auch wissen, daß Fritz in solchem Sturmschritt marschieren würde. Er kam eigentlich viel zu früh, einen kleinen Angriff der Dänen hätte er uns doch gönnen können.«
»Verspare dir das auf zukünftige Zeiten, mein Junge,« sagte Horst ernster. »Für diesmal ist es unsere Sache, mit dem Feinde fertig zu werden. Morgen rücken unsere Truppen nach, und dann naht die Entscheidung.«
Man war inzwischen in die große Halle eingetreten; die Baronin wollte näheres über die Verhandlungen mit dem Kommandanten hören und während sie ihren Enkel halb mit Lob und halb mit Vorwürfen wegen seiner Tollkühnheit überschüttete, benutzte der Hauptmann die Gelegenheit, um Eva beiseite zu ziehen, die bei seinen letzten Worten wieder ganz mutlos geworden war.
»Fritz – wenn du nun fällst im Kampfe!« flüsterte sie angstvoll.
»Im Gegenteil! Ich siege und werde heiraten!« behauptete Fritz mit unerschütterlicher Zuversicht. »Aber diesmal müssen wir durchaus ins klare kommen, Eva, sonst werden wir wieder gestört, wie damals am Seeberg.«
»Ja – bei deiner ›letzten‹ Bitte.«
»Ganz recht. Also wiederhole ich feierlichst meinen Antrag.«
Die junge Dame war es nun nachgerade gewohnt, daß ihr diese Anträge unter den merkwürdigsten Verhältnissen gemacht wurden, und wunderte sich gar nicht mehr darüber, sie erlaubte sich nur die schüchterne Bemerkung: »Das ist nun das dritte Mal!«
»Du hast mir ja auch dreimal Nein gesagt, und ich erklärte dir, du würdest schließlich Ja sagen. Hatte ich recht?«
Er beugte sich zärtlich zu ihr nieder, und das blonde Köpfchen schmiegte sich ebenso zärtlich an seine Brust, während das alte, schelmische Lächeln wieder aufleuchtete.
»Ja, Fritz – leider hast du recht behalten! Aber uns werden noch schwere Kämpfe bevorstehen, mein Vormund wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, um uns zu trennen!«
Horst lachte, die Aussicht auf diesen Kampf schien ihn sehr wenig zu kümmern.
»Sei ruhig, meine kleine, süße Eva,« tröstete er. »Das ist meine Sache, ich werde schon fertig mit dem Herrn Hardesvogt. Ich würde mich nötigenfalls mit vierundzwanzig Vormündern herumschlagen, um dich zu gewinnen.«
Eva blickte mit großen Augen zu ihm empor. Vierundzwanzig Vormünder! Das war etwas viel, aber es imponierte ihr ungemein, und sie zweifelte nicht, daß ihr Erwählter sie alle vierundzwanzig in die Flucht schlagen würde. Jetzt war sie auch über die ungeheure Liebe im klaren. Fritz war ganz ihr Ideal und sie sah sich nach der Freundin um, um ihr das schleunigst mitzuteilen.
Eleonore und Hellmut befanden sich aber nicht mehr bei den anderen, sie standen draußen auf der Terrasse, ohne des Sturmes zu achten, der sie umwehte. Sie lauschten jenem mächtigen, wilden Liede, das aus Wogensturm und Wellenbrausen zu ihnen emporklang. Die alte vertraute Stimme des Meeres, der alte Heimatklang des Vaterlandes, sie grüßten jetzt den einst verlorenen und nun wiedergewonnenen Sohn!
Der junge Schloßherr hatte den Arm um seine Braut gelegt und flüsterte ihr eine Bitte ins Ohr, aber sie schüttelte leise verneinend das Haupt.
»Noch nicht, Hellmut! Noch tobt ja Sturm und Kampf überall, laß es erst wieder Frieden, laß es Licht werden in unserem Vaterland – dann werde ich auch die deine!«
»Aber das kann noch Monde dauern,« warf Hellmut ein. »Noch ist der Sieg nicht errungen und wer weiß, wann das geschieht! So lange soll ich harren?«
Eleonore hob die schönen, dunklen Augen zu ihm empor, sie strahlten in der Gewißheit des Sieges und des Glückes, und während sie das Haupt an seine Schulter lehnte, antwortete sie leise, aber mit vollster Innigkeit: »Harren und hoffen!«
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