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Die Blume des Glückes


Acht' auf die Fasten am Felsenrand!
In ihren Schoß ist das Glück gebannt.
Und wer sie findet zur rechten Stund',
Dem wird das Walten des Zaubers kund,
Und wer es ausspricht, das rechte Wort,
Der wird erringen den goldnen Hort.
Drum brich sie mutig, weich' nicht zurück,
Denn mit der Blume hältst du das Glück.

 

Der junge Mann, der soeben diese Worte vorgelesen hatte, ließ das Blatt sinken und sagte mit komischer Feierlichkeit: »So, meine Herrschaften, jetzt sind Sie hinreichend unterrichtet und nun handelt es sich nur darum, unter den Tausenden von Blumen die rechte herauszufinden. Was mich betrifft, so werde ich mich schleunigst an das Suchen begeben, sobald dieser wunderliebliche Mai mit seinen Wolkenbrüchen und seinem Unwetter zu Ende ist.«

Man befand sich in der That schon am Ende des Mai, aber die letzte Woche hatte nur jene kalten, stürmischen Frühlingstage gebracht, die im Hochgebirge nicht selten sind. Auch heute schlug der Regen gegen die Fenster und in dem wogenden Nebel draußen traten nur hin und wieder die Umrisse der Berge hervor, um in der nächsten Minute wieder zu verschwinden.

Um so behaglicher war es hier drinnen, im Salon des Landhauses, das an dem schönsten Punkte des Thales lag. Der geschmackvoll und elegant eingerichtete Raum mit seinen Gemälden, Büchern und Teppichen machte jetzt, in dem trüben Lichte des Regentages, einen ungemein anheimelnden Eindruck. Jedenfalls mußten die Besitzer zu den Reichen gehören, da sie eine, doch nur für kurzen Sommeraufenthalt bestimmte Villa so auszustatten vermochten.

Die kleine Gesellschaft, die sich hier zusammengefunden, hatte sich um den Kamin versammelt, in dem trotz der frühlingsmäßigen Jahreszeit ein helles Feuer flackerte. In einem Lehnstuhl ruhte in halb liegender Stellung eine Dame, eine zarte, nur allzu schlanke Gestalt, die unverkennbar den Ausdruck des Leidens trug. Das jugendliche Antlitz zeigte weiche, anmutige Formen, aber es ruhte eine tiefe, fast durchsichtige Blässe darauf. Das dunkle Haar kräuselte sich leicht über der Stirn und wurde in schweren Flechten am Hinterkopf festgehalten. Die ganze Haltung hatte etwas unendlich Müdes, Gebrochenes, und dieselbe Müdigkeit lag in den dunklen Augen, die sich nur bisweilen unter den langen Wimpern hoben. Trotzdem lag ein eigentümlicher Reiz in dieser zarten, kränklichen Erscheinung; das schien auch der junge Mann zu finden, der neben dem Lehnstuhl stand, denn er wandte kaum ein Auge von seiner Nachbarin ab.

Den beiden gegenüber, an der andern Seite des Kamins, saß ein älterer Herr, mit grauen Haaren und weißer Halsbinde, dessen ganzes Aeußere den vornehmen Beamten verriet. Er las in behaglicher Ruhe seine Zeitung, unterbrach aber bisweilen seine Lektüre, um mit einem Blick offenbarer Befriedigung das junge Paar zu streifen, das den kleinen Kreis vervollständigte.

Neben dem Vorleser, der das Blatt noch in der Hand hielt, wurde das blonde Köpfchen eines jungen Mädchens sichtbar. Es war ein allerliebstes Gesicht, das da unter dem kurzen lockigen Haar hervorschaute, freilich noch halb ein Kindergesicht, mit einem Schelmlächeln um den Mund und zwei reizenden Grübchen in den Wangen. Das kleine Fräulein blickte neugierig in das Blatt und fragte:

»Ist das deine eigene Poesie, Heinz?«

»Nein, wahrhaftig nicht!« gab Heinz lachend zur Antwort. »Ich habe nur den Spruch, den mir der alte Ambros im unverfälschtesten Gebirgsdialekt zum besten gab, in das Hochdeutsche übersetzt, um ihn dir und Frau Rehfeld verständlich zu machen. Das eigene Dichten hat mir Guido ein für allemal untersagt, seit ihm eine Probe davon zu Gesicht gekommen ist.«

»In der That? Ich wußte nicht, daß sich Heinrich Kroneck auch bisweilen mit der Poesie abgibt,« sagte Frau Rehfeld, und in ihrer sanften leisen Stimme klang es wie Spott.

»Nur einmal habe ich ein derartiges Verbrechen begangen, gnädige Frau, und die Strafe ist ihm auf dem Fuße gefolgt. Guido, dessen Urteil ich erbat, verdammte die unglückliche Ballade, deren ich mich schuldig gemacht, zur sofortigen Hinrichtung, und ich vollzog den Spruch, indem ich sie mit eigener Hand den Flammen opferte.«

»Und seitdem ist er kuriert,« ergänzte der junge Mann, der immer noch seinen Platz am Lehnstuhl behauptete. »Wir sind ja Freunde, mein lieber Heinz, und unter Freunden ist Aufrichtigkeit die Hauptsache. Du bist ein vortrefflicher Kamerad, ein liebenswürdiger Gesellschafter und hast alle möglichen guten Eigenschaften, aber das Dichten mußt du lassen. Dazu hast du leider nicht das mindeste Talent – das sagt dir Guido Hellmar.«

»Der berühmte Dichter!« ergänzte Heinz, den selbstbewußten Ton parodierend. »Du siehst es ja, ich beuge mich deinem Orakelspruch, denn diese Uebersetzung in das Hochdeutsche wirst du mir doch nicht als poetische Sünde anrechnen. – Was meinst du, Käthchen, wollen wir gemeinschaftlich die Fahrt nach dieser geheimnisvollen Blume antreten? Etwas abenteuerlich wird sie werden, denn die Reise geht ins Blaue hinein, aber ich stelle mich dir als Ritter und Beschützer zur Verfügung.«

»Zu der Fahrt nach dem Glücke – ich bin dabei!« rief das junge Mädchen, auf den übermütigen Scherz ebenso übermütig eingehend.

»Nun, du brauchst doch wahrhaftig das Glück nicht erst zu suchen,« sagte Hellmar. »Du hast ja die beneidenswerte Fähigkeit, dich immer glücklich zu fühlen. Wer doch auch so leicht und lustig auf der Oberfläche des Lebens schwimmen könnte, ohne jemals seine Tiefen zu berühren: aber dies Talent ist nicht allen gegeben.«

»Sehr freundlich von dir, mir ein Kompliment über meine Oberflächlichkeit zu machen,« bemerkte Heinz trocken. »Hier, gnädige Frau, ist der gewünschte Spruch.«

Er hatte sich erhoben und überreichte mit einer leichten, etwas kühlen Verbeugung das Blatt Frau Rehfeld, die es mit einem ebenso kühlen Danke in Empfang nahm, während Heinz zu seinem Freunde trat.

Die beiden jungen Männer standen ungefähr in dem gleichen Alter, waren aber sehr verschieden in ihrem Aeußern. Guido Hellmar hatte in der That einen echten Dichterkopf. Das bleiche, aber edle und regelmäßige Antlitz, mit den dunklen Augen voll schwärmerischer Schwermut, besaß im vollsten Maße den seltenen und bisweilen gefährlichen Reiz des »Interessantseins«, und das schwarze, lang herabfallende Haar erhöhte noch den anziehenden Eindruck dieses Kopfes, der die kaum mittelgroße, fast unansehnliche Gestalt völlig vergessen ließ. Trotzdem zeigte sich diese Gestalt in äußerst malerischer Haltung, Guido stützte den rechten Arm leicht auf die hohe Lehne des Armsessels, während seine Linke mit einer Blume spielte, die er aus der Vase gezogen hatte, und auch sein Anzug verriet einen gewissen künstlerischen Anstrich.

Heinz Kroneck dagegen, der, hoch und schlank gewachsen, seinen berühmten Freund um Kopfeslänge überragte, besaß nicht das Geringste von jener interessanten Melancholie. Ihm blitzte der kecke Lebensmut und Uebermut unverkennbar aus den braunen Augen, und das dichte, braune Kraushaar, das bisweilen über die Stirn herabfiel, wurde stets mit einer ungeduldigen, aber keineswegs malerischen Bewegung zurückgestrichen. Der rechte Arm des jungen Mannes ruhte in einer leichten, schwarzen Binde, daß die Verletzung aber keine schwere war, bezeugte das Gesicht, dessen hübsche offene Züge den Stempel vollster Jugendfrische und Gesundheit trugen.

»Es ist doch merkwürdig, daß Heinz so schnell den Dialekt unsrer Gegend gelernt hat,« meinte Käthchen nachdenklich. »Nach kaum vierzehn Tagen spricht und versteht er ihn schon vollkommen. Die Mama und ich sind im vergangenen Sommer monatelang hier gewesen und wir können uns noch immer mit den Leuten kaum verständigen.«

»Weil ihr ihnen niemals nahe getreten seid. Ihr verkehrt ja nur mit eurer städtischen Dienerschaft und sprecht kaum jemals mit einem der Eingeborenen. Ich habe meine Studien in den Bauerhöfen und Almen gemacht, und da ich nun noch die Gönnerschaft des alten Ambros erlangte, werde ich von den Leuten fast als ihresgleichen angesehen.«

»Nun, das würde ich mir ganz entschieden verbitten,« mischte sich der alte Herr in das Gespräch, indem er seine Zeitung zusammenlegte. »Ich begreife überhaupt nicht, wie dir das Schwatzen mit einem alten ungebildeten Bauer, wie dieser Ambros, Vergnügen machen kann. Und dazu dies gefährliche Umherklettern in den Bergen, mit deinem noch nicht ganz geheilten Arm! Willst du wieder einen Unfall haben, wie er dich erst kürzlich beim Reiten betroffen hat?«

»Sie haben ganz recht, Herr Geheimrat – dies wilde Reiten!« sagte Hellmar mit spöttischer Betonung, und dabei streifte ein ebenso spöttischer Blick den verletzten Arm des Freundes. Heinz aber rief übermütig:

»Schilt mir den Ambros nicht, Papa, du mußt auch noch seine Bekanntschaft machen! Er ist eins von den Originalen, wie man sie nur noch in der Einsamkeit der Berge findet.«

»Laß mich in Ruhe mit deinen Originalen,« sagte Kroneck mißmutig. »Ich habe erst vorgestern die Bekanntschaft eines solchen Exemplares gemacht und trage kein Verlangen nach weiteren Proben. Sie wissen es ja, Eveline.« Hier wandte er sich an die junge Frau; »ich suchte vorgestern den Doktor Eberhard auf, der sich hier ganz in Ihrer Nähe niedergelassen hat. Ich hörte zufällig in der Residenz von ihm, er hat einen Ruf in der ärztlichen Welt und ich wollte sein Hiersein benutzen, um ihn wegen Ihres Leidens zu Rat zu ziehen. Ich bin aber in einer unerhört groben Weise empfangen und abgefertigt worden, und kam nicht einmal so weit, Ihren Namen zu nennen. Kaum hatte ich den Zweck meines Besuches berührt, so fuhr dieser wütende Herr auf mich wie ein Kampfhahn. Ob er denn nicht einmal hier Ruhe finden könne! Er habe schon seit Jahren jede Praxis aufgegeben und kümmere sich den Kuckuck um die Patienten! Ich solle mich gefälligst an den Kreisarzt wenden, er habe keine Zeit und keine Lust, sich mit dergleichen zu befassen, und mit diesen Artigkeiten warf er mich zur Thür hinaus.«

Der Zorn des alten Herrn hatte einen so komischen Anstrich, daß die jüngeren lachten und selbst Eveline ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

»Ich habe bereits von diesem Doktor Eberhard und seinen merkwürdigen Gewohnheiten gehört,« sagte sie. »Er scheint ein vollendeter Sonderling zu sein.«

»Und von der allerunangenehmsten Sorte!« bestätigte Kroneck. »Ich nahe ihm gewiß nicht wieder, darauf kann er sich verlassen.«

»Aber Onkel Kroneck, ich bilde mir nun einmal ein, daß dies Ungetüm von Doktor meiner armen Mama helfen kann,« fiel Käthchen ein. »Wenn Sie nichts bei ihm ausrichten, so gehe ich selbst zu ihm und wanke und weiche nicht, bis er versprochen hat, zu kommen.«

Sie war bei den letzten Worten zu Eveline getreten und legte schmeichelnd die Arme um ihren Hals. Es war eigentümlich, die beiden als Mutter und Tochter verkehren zu sehen, während der Altersunterschied zwischen ihnen doch nur äußerst gering war. Die junge Frau konnte höchstens drei- oder vierundzwanzig Jahre alt sein, während ihre Stieftochter kaum sechzehn Sommer zählte. Dennoch schien das Verhältnis zwischen ihnen ein sehr inniges zu sein, Eveline fuhr zärtlich durch das lockige Haar des jungen Mädchens und erwiderte:

»Nein, mein Kind, du würdest dich nur einer zweiten ebenso herben Zurückweisung aussetzen und zu welchem Zwecke? Mir ist ja doch nicht zu helfen!«

»O Mama, so mußt du nicht sprechen!« rief Käthchen vorwurfsvoll und kniete auf dem Fußkissen vor dem Lehnstuhl nieder; jetzt neigte sich aber auch Guido Hellmar herab und sagte, während er seine Stimme zum weichsten Flüstern dämpfte:

»Fühlen Sie sich schlimmer, gnädige Frau? Ich fürchte, Sie sind zu früh aus dem Süden zurückgekehrt. Der Mai ist noch allzu rauh und stürmisch im Hochgebirge und eine so zarte Natur wie die Ihrige verlangt Sonnenschein.«

»Sonnenschein?« wiederholte die junge Frau mit leise aufquellender Bitterkeit. »Wer verlangt den nicht! Aber das Leben gibt nicht immer, was uns not thut und was uns Glück sein würde.«

»Jawohl! Was ist das Leben überhaupt und was das Glück – ein Schatten!« erklärte Guido düster, während seine dunklen Augen die Evelines suchten und auch fanden.

»Schade, daß ich nicht den Zeichenstift führen kann!« spottete Heinz Kroneck. »Käthchen zu Ihren Füßen, gnädige Frau – Guido malerisch über Sie geneigt – die rührende Gruppe verdiente es, im Bilde festgehalten zu werden.«

Hellmar runzelte die Stirn und auch zwischen den feinen Brauen der jungen Frau erschien eine Falte, als sie entgegnete:

»Das Rührende scheint Ihnen gleichbedeutend mit dem Komischen zu sein, Heinrich.«

»Ganz und gar nicht! Die Gedichte Guidos sind zum Beispiel sehr rührend und ich würde mich doch nicht unterfangen, sie komisch zu finden.«

Hellmar zuckte mit einem mitleidigen Lächeln die Achseln.

»Geniere dich nicht! Ich weiß es ja, mein guter Heinz, du hast bisweilen die Schwäche, den Kritiker zu spielen und dann auch mich zu kritisieren. Ich nehme dir das durchaus nicht übel. Der ehemalige Spielkamerad und Universitätsgenosse darf sich dergleichen schon herausnehmen.«

»Findest du denn die Gedichte des Herrn Hellmar nicht wunderschön?« fragte Käthchen mit naivem Erstaunen.

»Sehr schön! Aber ich habe nun einmal eine Abneigung gegen sanft verwelkende Rosen, selig verstorbene Nachtigallen und verscheidende Schwäne mit dem Todespfeil im Herzen; Guido behandelt mit Vorliebe diese wehmutsvollen Todesarten, er hat es zu einer förmlichen Spezialität darin gebracht.«

Hellmar biß sich auf die Lippen. Die Pflicht der Aufrichtigkeit unter Freunden, die er vorhin betont hatte, schien ihm jetzt unbequem zu werden, aber er hatte die Genugthuung, zu sehen, daß die ganze Gesellschaft den ihm hingeworfenen Handschuh in vollster Empörung aufnahm.

»Heinz, das geht zu weit!« rief der Geheimrat unwillig, Käthchen ließ ein zürnendes: »O, wie abscheulich!« vernehmen und selbst in den müden Augen der jungen Frau dämmerte etwas wie Zorn auf.

»Wir wissen es ja alle, daß Sie ein heilloser Spötter sind, Heinrich,« sagte sie erregt. »Aber der Dichtergenius Ihres Freundes sollte Ihnen doch wenigstens heilig sein!«

»Um des Himmels willen, welch ein Aufstand!« rief Heinz lachend. »Alle Welt deckt den gefeierten Dichter mit ihrer Bewunderung und verdammt den Missethäter, der es wagt, ihn anzugreifen. Ich bitte demütigst um Verzeihung, es soll nicht wieder geschehen!«

Es gelang ihm nicht ganz, die Sache zum Scherze zu wenden. Hellmar war offenbar verletzt und es lag eine Verstimmung über der kleinen Gesellschaft, als glücklicherweise eine Unterbrechung kam. Ein Diner trat ein und öffnete die Flügelthür, die nach dem angrenzenden Eßzimmer führte. Es war die Stunde, wo man zu Tische zu gehen pflegte, und sie wurde diesmal allseitig mit einem Gefühl der Erleichterung begrüßt.

Hellmar trat sofort zu der Dame des Hauses und bot ihr den Arm, er schien das als sein unantastbares Recht zu betrachten und die Leidende konnte in der That nicht zarter und sorgsamer geführt und gestützt werden, als es von seiner Seite geschah. Käthchen hing sich mit unbefangener Vertraulichkeit an den Arm des jüngeren Kroneck und der alte Herr folgte mit mühsam verhehltem Aerger über die Rücksichtslosigkeit seines Sohnes, der ihn, nicht zum erstenmal, in grenzenlose Verlegenheit brachte. In den vierzehn Tagen, wo er und Heinz sich als Gäste in der Rehfeldschen Villa befanden, war schon öfter dergleichen vorgefallen.

Geheimrat Kroneck und der verstorbene Rehfeld waren Vettern gewesen und obgleich sie an verschiedenen Orten lebten und sich nur selten sahen, hatten sie doch stets einen regen brieflichen Verkehr unterhalten. Während Kroneck langsam die einzelnen Stufen der Beamtenlaufbahn erstieg und schließlich in der Residenz eine nicht unbedeutende Stellung im Ministerium einnahm, wurde sein Vetter durch glückliche kaufmännische Unternehmungen zum reichen Manne und zog sich endlich, mit einem sehr bedeutenden Vermögen, von jenen Unternehmungen zurück.

Er hatte sich erst in reiferen Jahren zu einer Heirat entschlossen und als ihm nach etwa zehnjähriger Ehe seine Frau starb, nahm er eine entfernte Verwandte derselben ins Haus, um seinem einzigen Töchterchen, das damals noch im Kindesalter stand, eine Erzieherin und Gesellschafterin zu geben. Aber schon nach Jahresfrist wurde aus der jungen Verwandten die Frau und Herrin des Hauses. Mit der Liebe des Kindes, das sich mit vollster Innigkeit an sie anschloß, hatte sie auch die Neigung des Vaters gewonnen, der ihr seine Hand bot. Das achtzehnjährige Mädchen war freilich keine passende Gefährtin für den achtungswerten, aber alternden Mann, der schon graue Haare trug, und das Jawort mochte ihr trotz alledem nicht leicht geworden sein, aber die Waise, deren Los die Abhängigkeit war und die noch keine andre Neigung im Herzen trug, wählte schließlich doch, was die Vernunft gebot, Eveline wurde Rehfelds Gattin.

Ihre Ehe dauerte freilich nur kurze Zeit, schon nach drei Jahren war sie Witwe, aber die Aufopferung, mit der sie ihren Gatten in seiner monatelangen Krankheit gepflegt hatte, ohne sich Ruhe und Erholung zu gönnen, schien für ihre zarte Natur verhängnisvoll geworden zu sein. Seitdem zeigten sich bei ihr die Anfänge eines Brustleidens, das sich unaufhaltsam steigerte. Ein wiederholter Aufenthalt im Süden brachte nicht die gehoffte Besserung, und jetzt war die junge Frau, kränker als je, aus Italien zurückgekehrt, wo sie mit ihrer Stieftochter den Winter zugebracht hatte.

Der Besuch des Geheimrat Kroneck war diesmal nicht bloß auf Rechnung der verwandtschaftlichen Rücksicht zu setzen. Er hatte seinen Sohn mitgebracht, der erst bei dieser Gelegenheit die Witwe seines Onkels kennen lernte, sein Hiersein galt jedoch der kleinen Base, die er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Es handelte sich da um einen Lieblingswunsch des verstorbenen Rehfeld, den Kroneck mit dem größten Eifer ergriffen und festgehalten hatte, um den Plan einer Verbindung der beiderseitigen Kinder. In der That standen Heinz und Käthchen auch auf dem besten Fuße. Sie lachten und tollten miteinander, zankten und versöhnten sich und suchten es einer dem andern an Neckereien und Uebermut zuvorzuthun. Man konnte kaum ein junges Paar finden, das so vortrefflich zusammenpaßte.

 

Die Mahlzeit war vorüber und Heinz stand am Fenster seines Zimmers, das im oberen Stock der Villa lag, und sah angelegentlich hinaus, obgleich der Nebel so dicht war, daß man nicht einmal die nächsten Bäume unterscheiden konnte. Der junge Herr hatte freilich Grund, dem Zimmer so beharrlich den Rücken zuzukehren, denn er war augenblicklich das Objekt einer väterlichen Strafpredigt, die sich unaufhaltsam über ihn ergoß.

In der Mitte des Gemachs stand der Geheimrat und hielt seinem Sprößling eine Rede, die schon sehr lange gedauert hatte und noch immer nicht zu Ende war. Er sprach von unverantwortlichem Leichtsinn, unerhörter Rücksichtslosigkeit, heillosen Streichen – kurz, es war ein ganzes Sündenregister, das dem ungeratenen Sohne vorgehalten wurde, aber leider gar keinen Eindruck zu machen schien.

»Jahrelang habe ich Lehre, Beispiel, Ermahnungen umsonst verschwendet,« schloß endlich der erzürnte Vater. »Der Leichtsinn liegt dir im Blute, aber man soll nicht sagen, daß ich meinen einzigen Sohn zu einem Taugenichts erzogen habe. Ich erkläre es dir zum letztenmal, Heinrich, meine Geduld ist zu Ende – das muß anders werden!«

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und es folgte ein kurzes, unbehagliches Schweigen, plötzlich aber wandte sich Heinz um und sagte mit dem Tone vollster Ueberzeugung:

»Papa – eigentlich hast du recht.«

»Siehst du das wirklich ein?« fragte Kroneck, etwas aus der Fassung gebracht durch diese ganz unerwartete Zustimmung. »Nun, so beantworte mir auch gefälligst die Frage, was eigentlich aus dir werden soll?«

»Ja, das weiß der Himmel! Jedenfalls kein mustergültiger Geheimrat, wie du es bist. Dazu habe ich leider nicht die mindeste Anlage.«

»Oder vielmehr nicht die mindeste Lust. Du bist ja nur mit Not und Mühe bei der Arbeit festzuhalten, und kaum hast du die Bureaustunden hinter dir, so fängt das wilde Treiben an. Glaubst du, daß man auf diese Weise Carriere macht? Du bist der jüngste Beamte im Ministerium, mit einem Gehalt, den du bisher als Taschengeld verbraucht hast, und daß ich kein Vermögen besitze, weißt du. Was sollte aus dir werden, wenn Rehfeld und ich nicht auf den glücklichen Gedanken gekommen wären, aus dir und Käthchen ein Paar zu machen?«

»Nun, dann müßte ich mir eben allein meinen Weg im Leben suchen, wie so viele andre.«

»Du?« fragte der Geheimrat mit mitleidigem Erstaunen. »Nein, mein lieber Sohn, du bist nicht geschaffen, dir einen eigenen Weg zu bahnen; danke Gott, daß du einen Vater besitzest, der beizeiten für deine Zukunft gesorgt hat. Diese Heirat ist in der That meine einzige Hoffnung, auch in andrer Hinsicht. Vielleicht gelingt es Käthchen, noch einen vernünftigen Mann aus dir zu machen, du liebst sie ja und sie erwidert deine Gefühle.«

»Wenigstens sind wir gute Kameraden,« sagte Heinz nachlässig. »Aber es ist wider die Abrede, Papa, mich jetzt schon in das Ehejoch zu zwingen. Bis zum nächsten Jahre sollte ich noch meine Freiheit haben, so war es abgemacht, und jetzt überfällst du mich auf einmal meuchlings mit Braut und Verlobung.«

Kroneck hob verzweiflungsvoll die Hände empor.

»Welch eine Ausdrucksweise! Wenn Eveline das hörte. Sie, die mir noch bei unsrer Ankunft sagte: »Mein einziger Wunsch ist, vor meinem Tode noch mein teures Käthchen in die starken, festen Arme eines Mannes zu legen, der ihr Schutz und Hort für das Leben sein wird«.«

»Da kommt sie gerade an den Rechten!« warf Heinz gänzlich ungerührt ein; die Geduld seines Vaters war aber jetzt zu Ende, er fuhr empört auf:

»Kannst du denn nicht eine Minute lang ernsthaft bleiben! Ist das deine ganze Antwort auf diese rührende Mutterliebe?«

»Mein Gott, Papa, ich glaubte, das würde deine Antwort sein. Du proklamierst mich ja täglich als einen Taugenichts und jetzt soll ich auf einmal Schutz und Hort für das Leben sein.«

Kroneck stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja, Gott weiß, wie ich es vor meinem seligen Vetter und vor Eveline verantworten werde, die Zukunft ihres Kindes in solche Hände zu legen!«

In dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich eine leichte Röte und sein Ton klang etwas gereizt, als er antwortete:

»Thust du doch gerade, als sei ich der verlorene Sohn, wie er in der Bibel steht! Was ist denn im Grunde mein Verbrechen? Ein paar durchschwärmte Nächte, ein paar Tollheiten, wie man sie nun einmal in der Jugend nicht lassen kann, einige Schulden, wegen deren ich schon de- und wehmütig um Verzeihung gebeten habe.«

»Ist das etwa nicht genug? Bist du schon so weit, dergleichen für Kleinigkeiten anzusehen? Heinrich, ich sage dir, du bist auf dem geraden Wege zum Verderben und selbst Hellmar meint –«

»Guido?« unterbrach ihn Heinz mit einem raschen, zornigen Aufblick. »Stimmt er etwa ein in dein Verdammungsurteil?«

»Nein, er hat im Gegenteil deine Partei genommen und dich entschuldigt, liebenswürdig, wie er immer ist. Du lohnst ihm freilich dafür mit einer ganz unerhörten Rücksichtslosigkeit, du spottetest ja vorhin förmlich über ihn und seine Werke. Kommt es dir denn nie zum Bewußtsein, daß Hellmar ein gefeierter Dichter ist und du – ein junger Mensch, den er mit seiner Freundschaft beehrt und der alle Ursache hat, auf diese Freundschaft stolz zu sein?«

Heinz warf mit einer halb verächtlichen Bewegung den Kopf zurück.

»In diesem Falle beehrte er mich sogar mit seiner Begleitung, die ich gar nicht einmal gewünscht habe. Kaum hört er von unsrem Reiseplan, so bekommt er auf einmal Lust, eine Fahrt in das Gebirge zu machen, taucht wenige Tage nach unsrer Ankunft hier auf, um mich zu besuchen, nimmt ohne weiteres die angebotene Gastfreundschaft an und macht gar keine Miene, wieder zu gehen. Statt dessen entwickelt sich eine hochromantische ›Seelenfreundschaft‹ zwischen ihm und Frau Eveline. Das ist ein Hin und Her von schmachtenden Blicken, ein fortwährendes Seufzen über entblätterte Rosen und verstorbene Nachtigallen, eine rührend zarte und poetische Huldigung des Minnesängers, der gar nicht mehr von der Seite seiner Dame kommt – ich halte es nicht aus, diese ewigen Sentimentalitäten und Ueberspanntheiten mit anzuhören!«

Er hatte in steigender Erregung gesprochen. Der Geheimrat blickte höchst erstaunt auf seinen Sohn, dessen Wangen glühten und der sich bei den letzten Worten so weit vergaß, mit dem Fuße zu stampfen.

»Nun, und wenn das alles wäre – was geht es dich an?«

Der junge Mann biß sich auf die Lippen und trat wieder an das Fenster.

»Freilich – was geht es mich an?«

»Ja, das frage ich auch. Wenn diese Aufmerksamkeiten Käthchen gälten, so hättest du allenfalls Grund, so gereizt darüber zu sein aber Eveline! Mißgönnst du der Armen den letzten Sonnenstrahl, der mit dieser zarten Huldigung eines Dichters in ihr Leben fällt? Du weißt es ja, daß die Tage dieses Lebens gezählt sind. Und bei dieser Gelegenheit muß ich dir sagen, daß auch dein Benehmen gegen Eveline vieles zu wünschen übrig läßt. Was soll der fremde, kalte Ton, den du ihr gegenüber förmlich absichtlich festhältst. Weshalb nennst du sie fortwährend ›gnädige Frau‹?«

»Soll ich sie vielleicht Tante Eveline nennen?« fragte Heinz, ohne sich umzuwenden, aber in seiner Stimme klang noch die frühere Gereiztheit.

»Warum nicht? Sie ist allerdings drei Jahre jünger als du, aber sie ist die Witwe deines Onkels und wird in kurzem deine Schwiegermutter werden.«

»Schwiegermutter!« Heinz fuhr empor, als habe man ihm einen Schlag in das Gesicht versetzt, der Vater trat ganz erschrocken einen Schritt zurück und sah ihn kopfschüttelnd an, als zweifle er an seinem Verstande.

»Nun ja, das ist doch eine längst beschlossene Sache. Du warst ja vollkommen damit einverstanden, als wir hieher kamen. Was hast du denn eigentlich?«

Der junge Mann lachte laut, aber etwas gezwungen auf.

»O, nichts! Ich meine nur, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, wenn du und Frau Eveline dem kleinen Käthchen die erhabene Mission anvertraust, mich zu bessern. Dem Zügel gehorche ich sicher nicht. Kurz und gut, Papa, ich habe mir die Sache überlegt. Meine Freiheit ist mir zu lieb – ich will vorläufig noch nicht heiraten!«

Diese kurze und bündige Antwort brachte den alten Herrn förmlich außer sich. Er hielt eine zweite noch längere Rede und sparte weder Vorwürfe noch Drohungen, erzielte aber leider damit nicht den geringsten Eindruck. Heinz hörte kaum zu, er trommelte einen Marsch auf der Fensterscheibe und sah so verstockt als möglich aus.

»Aber, Herr Geheimrat, weshalb regen Sie sich so auf?« tönte eine sanfte, wohllautende Stimme und der schöne Dichterkopf Guido Hellmars zeigte sich in der Thür.

»Was hat denn mein armer Heinz verbrochen, daß Sie wie ein Jupiter im Donnergewölk thronen? Ich lege Fürbitte ein, lassen Sie Gnade für Recht ergehen.«

»Ich danke dir, ich werde schon allein mit dem Papa fertig,« sagte Heinz kühl, aber bei dem Geheimrat schien diese Fürbitte von großem Gewicht zu sein, er bemeisterte sofort seine Aufregung und wandte sich in einer fast respektvollen Weise zu dem viel jüngeren Manne.

»Ich habe meinem Sohne wieder einmal den Text lesen müssen. Sie kennen ja seinen Leichtsinn, Guido! Er ist und bleibt unverbesserlich.«

»Und deshalb soll ich schleunigst in die Besserungsanstalt der Ehe gesteckt werden,« ergänzte Heinz; »aber daraus wird nichts, Papa. Ich fühle mich noch nicht würdig genug dazu, und im Bewußtsein dieser Unwürdigkeit sträube ich mich mit Händen und Füßen.«

Der alte Herr wollte von neuem auffahren, aber Guido legte beschwichtigend die Hand auf seine Schulter und wandte sich dann zu seinem Freunde.

»Daran thust du sehr unrecht. Ich bin vollkommen der Meinung deines Vaters. Du hättest keine bessere Wahl treffen können, als er es für dich gethan hat. Käthchen Rehfeld ist eine allerliebste Erscheinung und überdies eine sehr reiche Partie – sie erbt ja wohl die Hälfte des väterlichen Vermögens?«

»Nein, nur einen Teil desselben,« berichtigte Kroneck, »aber ihr Erbteil ist auch mit dieser Beschränkung noch bedeutend genug. Zur Universalerbin hat mein verstorbener Vetter seine Frau eingesetzt. Wahrscheinlich zum Dank für die grenzenlose Hingebung und Aufopferung, mit der sie ihn in seiner Krankheit gepflegt hat.«

»Wahrscheinlich! Und hat Frau Rehfeld freie Verfügung über ihr Vermögen?«

»Interessiert dich das?« fragte Heinz kurz und scharf.

»Gewiß,« versetzte Hellmar, unbefangen lächelnd. »Mich interessiert alles, was dich betrifft, und hier handelt es sich ja um deine künftige Familie.«

»Eveline ist vollkommen Herrin ihres Vermögens,« erklärte Kroneck. »So bestimmt es das Testament, jetzt freilich ist diese Bestimmung bedeutungslos und Käthchen hat alle Aussicht, eine der reichsten Erbinnen zu werden. Gott weiß es, ich verzichtete gern auf die glänzenden Aussichten, die sich dann dem Heinz eröffnen, könnte ich damit der armen Frau das Leben erhalten. Wer ahnte denn, daß sie so jung schon dieser tückischen Krankheit erliegen würde! Ihr Leiden hat in der letzten Zeit beängstigende Fortschritte gemacht, ich erschrak, als ich sie wiedersah. Vielleicht ist noch ein Hinfristen möglich – und das hoffte ich von der Behandlung dieses Doktor Eberhard, der sich ausschließlich mit solchen Krankheiten beschäftigt – eine Rettung gibt es nicht.«

Hellmars schöne dunkle Augen verschleierten sich mit dem Ausdruck der tiefsten Schwermut.

»Ein tragisches Schicksal! Es ist so unendlich rührend, diese holde Grabesblume zu sehen, die noch einmal wehmutsvoll das Haupt emporhebt, um der Sonne entgegenzuwelken.«

Der alte Herr hörte andachtsvoll und gerührt zu. Die »holde Grabesblume« imponierte ihm ungemein, leider fuhr sein Sohn mit seiner entsetzlichen Rücksichtslosigkeit wieder dazwischen.

»Lieber Guido, deine poetischen Bilder sind sehr schön, aber logisch sind sie nicht. Der Sonne entgegenwelken! Das ist etwas unklar und das thun die Blumen auch für gewöhnlich nicht, im Gegenteil, meistenteils blühen sie auf im Sonnenschein.«

»Welche unglaubliche Herzlosigkeit, mit solchen Dingen zu scherzen!« fuhr Hellmar empört auf. »Frau Rehfeld hat recht, dir ist nichts heilig! Ich glaube, du wärst imstande, noch im Angesichte des Todes zu spotten.«

»Vielleicht! Aber ich rechne nicht im Angesichte des Todes.«

Es lag ein scharfer, beinahe drohender Nachdruck auf dem einen Worte, doch Hellmar schien keine Lust zu haben, mit dem Spötter noch weiter anzubinden, er wandte sich achselzuckend ab.

»Kommen Sie, Herr Geheimrat! Mit Heinz ist heute wieder einmal nichts anzufangen, er ist in seiner Oppositionslaune und da rechte ich nie mit ihm.«

Er zog freundschaftlich den Arm des alten Herrn in den seinigen und verließ mit ihm das Zimmer.

»Ja, Guido, Sie sind immer nachsichtig und rücksichtsvoll!« seufzte Kroneck, während sie die Treppe hinunterstiegen. »Was gäbe ich darum, wenn mein Sohn Ihnen gliche! Wie oft habe ich Sie ihm schon als Beispiel aufgestellt, aber vergebens. Er begreift nicht einmal eine ideale Natur wie die Ihrige. Ich bewundere es oft genug, wieviel Geduld Sie mit ihm haben.«

Hellmar lächelte und machte eine abwehrende Bewegung.

»Nicht so streng, Papa Kroneck! Heinz hat seine Fehler, seine großen Fehler sogar, aber mit einem Freunde geht man nicht ins Gericht darüber. Mir ist er lieb, mit all seinen Schwächen.«

Und damit zog er den Geheimrat, der ganz entzückt war, sich von diesen Lippen »Papa Kroneck« nennen zu hören, mit sich fort.


Der nächste Morgen brachte einen völligen Umschlag des Wetters. Die gestern noch nebelumhüllte Landschaft, in der Sturm und Regen um die Herrschaft stritten, lag heute wie gebadet in goldenem Sonnenschein, und die mächtigen Berggipfel ringsum zeigten sich in vollster Klarheit.

Die Gartenanlagen der Rehfeldschen Besitzung, die in ihrer hohen, prachtvollen Lage das ganze Thal beherrschte und überhaupt im Stile eines großen vornehmen Landsitzes angelegt war, erstreckten sich bis auf die nächsten Anhöhen, unmittelbar dahinter stieg der Wald an und ein im Anfange noch ziemlich bequemer Bergpfad führte in vielfachen Windungen zu der Höhe empor.

Von dieser Höhe kam Heinz Kroneck, der soeben von einer Streiferei in die Berge zurückkehrte. Der Tag war heiß gewesen, als wolle die Sonne wieder gut machen, was sie so lange durch ihre Abwesenheit verschuldet, und selbst der Abend war mild und beinahe schwül, wie mitten im Sommer.

Der junge Mann war übrigens nicht allein, an seiner Seite ging ein Mädchen, in der malerischen Tracht der Umgegend, der Hut mit den Goldschnüren saß keck auf den blonden Zöpfen und beschattete ein lachendes Gesicht mit roten Wangen und hellen Augen. Das bunte Seidentuch, das Hals und Schultern bedeckte, und das Sammetmieder mit den silbernen Ketten standen der etwas derben, aber frischen und jugendlichen Erscheinung allerliebst. Sie trug einen Korb am Arme und schien durchaus nichts gegen die Begleitung zu haben, die sich ihr zugesellt hatte, denn von Zeit zu Zeit lachte sie hell auf über irgend eine Bemerkung ihres Gefährten. Dieser war aber auch in der sprudelndsten Laune, er neckte und scherzte, bald im Dialekt, bald auf hochdeutsch, und war offenbar ebenso zufrieden mit seiner Begleiterin wie sie mit ihm.

»Also gemerkt hast du es doch, daß ich jetzt seltener in das Thalwirtshaus komme,« sagte er, während sie beide rüstig bergab stiegen. »Und hast mich vielleicht auch vermißt? Beichte einmal, Gundel!«

Gundel warf schmollend die roten Lippen auf.

»Nun, gesorgt hab' ich darum grad nicht. Wer nicht zu uns kommen mag, der bleibt eben fort. Ich hab' ohnehin Gesellschaft.«

»Das glaube ich dir! Es ist ja weit und breit bekannt, welch eine hübsche Tochter der Thalwirt besitzt, und allzulange wird es nicht dauern, bis es im Thalwirtshaus eine Hochzeit gibt. Du hast ja die Wahl unter allen Burschen der Umgegend.«

»Vielleicht auch unter den Stadtherren!« warf das Mädchen schnippisch ein.

»So? Also auch ein Städter hat dir bereits Herz und Hand angeboten? Darf man den Namen des Glücklichen wissen, der wohl die meiste Aussicht auf Erhörung hat, da er die Zivilisation vertritt.«

»Nun, der Herr Heinz Kroneck ist's nicht!« lachte Gundel übermütig. »Der sitzt lieber droben in der Hütten bei dem alten Ambros und schaut sich die Berge an. Ich hab' schon geglaubt, er findet nimmer wieder den Weg ins Thalwirtshaus.«

»Und du meinst, ich thäte besser, die schöne Gundel anzuschauen als die Berge? Im Grunde hast du recht, aber ich habe nun einmal eine Vorliebe für den alten Burschen dort oben. Bist du eifersüchtig auf den Ambros?«

Gundel überhörte die Neckerei und ihre Stimme klang ernster, als sie sagte:

»Ist's wahr, daß Sie nächstens mit ihm auf die Schneespitz' wollen?«

»Gewiß, sobald die Witterung es erlaubt.«

»Nun – ich thät' es nicht!«

»Weshalb nicht? Hast du etwas gegen den Alten?«

»Nein – aber ich trau' ihm nicht.«

»Dem Ambros Berghofer? Er steht doch überall in dem besten Rufe.«

»Kann schon sein, mir ist's unheimlich in seiner Näh'! Ich möcht' nicht im Schlimmen mit ihm zusammengeraten.«

»Ich auch nicht,« sagte Heinz lachend. »Wenigstens würde ich in solchem Falle auf meiner Hut sein, aber du brauchst keine Sorge zu haben, ich und der Ambros sind die besten Freunde und jedenfalls kann ich keinen zuverlässigeren Führer finden als ihn.«

Gundel sah zu Boden und zupfte an ihren Schürzenbändern.

»Mag sein! Aber ich bring' es nicht aus dem Sinn, was der Vater einmal von ihm erzählt hat. Der hat den Berghofer gut gekannt in seinen jungen Jahren, als er noch Führer war. Der beste soll's freilich gewesen sein und der begehrteste weit und breit. Aber da ist er einmal hinauf auf die Schneespitz' mit einem Fremden und unterwegs ist ein Wetter gekommen, sie haben nicht weiter gekonnt, haben den Weg verloren, und zuletzt –«

»Nun – zuletzt?«

»Da hat sich der Ambros allein in die Schutzhütten gerettet und der Fremde – der ist umgekommen im Schnee.«

»Das ist allerdings traurig, aber es ist doch nicht die Schuld des Führers, wenn ein Unglück passiert.«

»Es hätt' aber nicht passieren dürfen, meint der Vater, denn wenn der Ambros damals nicht den Kopf verloren und sein Leben geschont hätt', dann wären sie beide davongekommen, das Wetter ist nicht so arg gewesen und sie waren noch unten bei den Scharten, wo es keine Gefahr hat mit dem Weg. Schön ist's nicht von dem Berghofer, daß er den Fremden im Stich gelassen hat.«

»Gundel, da täuscht sich dein Vater,« sagte Heinz sehr entschieden. »Ambros Berghofer wäre der letzte, der jemand in der Not verläßt, der scheut die Gefahr nicht, der sucht sie im Gegenteil auf, ich habe Proben davon.«

»Er hat sie doch damals gescheut,« beharrte das Mädchen. »Er saß sicher in der Schutzhütten, während der Fremde in die Schneegruben geriet und elendiglich umkam. Es ist damals ein arges Gered' gewesen über die Sach' und es hat ihm auch arg geschadet. Er ist von keinem mehr begehrt worden und er hat auch das Führen aufgegeben seitdem.«

»Gleichviel, die Sache muß anders zusammenhängen! Es kann ja niemand von einem bezahlten Führer verlangen, daß er sein eigenes Leben auf das Spiel setzt um eines Fremden willen, und doch geschieht es fast immer, es ist das Ehrensache bei den Leuten. Und der alte Berghofer, diese eiserne Natur, die mit allen Schrecken der Alpenwelt vertraut ist, sollte sich feig geflüchtet haben und einen Hilflosen dem Verderben preisgegeben, das glaube ich nicht.«

»Nun, wenn Sie es besser wissen, mir ist's recht!« sagte Gundel, etwas beleidigt durch den entschiedenen Widerspruch. »Aber gehen Sie mit dem Ambros nicht auf die Schneespitz', es könnt ein zweites Unglück passieren.«

»Was fragst du denn danach, ob mir etwas zustößt?« neckte Heinz, »oder würde es dir leid thun um mich? Eigentlich müßte ich die Partie unternehmen, um zu erfahren, ob die Gundel sich wirklich um mich ängstigt. Was gibst du mir, wenn ich dir einen Buschen Edelweiß von der Schneespitze mitbringe?«

Damit war er wieder bei dem alten Uebermut angelangt und auch der Gundel schien dieser Ton besser zuzusagen als das vorhergehende ernstere Gespräch, sie verweigerte lachend das geforderte Versprechen, schien aber die fortgesetzten Neckereien ihres Begleiters nur zu gern zu hören und blieb ihm keine Antwort darauf schuldig.

So erreichten sie den letzten Abhang des Berges, wo der Wald endigte und die Parkanlagen der Rehfeldschen Villa begannen. Sie traten eben aus den Bäumen hervor und Gundel wollte sich ausschütten vor Lachen über eine lustige Bemerkung ihres Begleiters, als sie sah, wie er auf einmal eine jäh zurückweichende Bewegung machte. Einen Moment lang schien es sogar, als hätte er Lust, umzukehren, und als sie der Richtung seines Blickes folgte, bemerkte sie die junge Frau Rehfeld, die auf einem moosigen Felsstücke saß, über welches sie ihren Plaid gebreitet hatte.

Es war ein Ausnahmefall, wenn Eveline die freilich nur mäßige Anhöhe erstieg, und heute schien sie dies sogar ohne Unterstützung gethan zu haben, denn es befand sich niemand in ihrer Nähe. Bei der ringsum herrschenden Stille aber mußte sie das laute und lustige Gespräch schon eine Weile gehört und wohl auch die Stimme des jungen Verwandten erkannt haben, denn ihre Züge trugen einen Ausdruck von Strenge, der ihnen sonst ganz fremd war.

Heinz war unwillkürlich stehen geblieben, dann aber richtete er sich mit einer halb trotzigen Bewegung empor und näherte sich der Dame mit jener kühlen Artigkeit, die er ihr gegenüber stets festhielt.

»Sie hier, gnädige Frau? Und so ganz allein?«

Eveline erwiderte seinen Gruß nur mit einer leisen Bewegung des Hauptes, dann glitt ihr Blick langsam von ihm zu dem Mädchen, das ihm gefolgt war und an seiner Seite stand. Sie kannte die hübsche Tochter des Thalwirts, die jetzt knickste und unbefangen ihr »Grüß Gott« sprach. Die junge Frau war sonst gütig und freundlich gegen jedermann, diesmal aber neigte sie mit kalter Herablassung das Haupt und sagte kurz:

»Ich danke, mein Kind. – Lassen Sie sich nicht stören in Ihrer Unterhaltung, Heinrich, Sie wollten jedenfalls die Gundel nach Hause begleiten.«

Eine helle Röte floß über das Antlitz des jungen Mannes, er verstand den Ton, den das Mädchen nicht begriff, und anscheinend ruhig, aber mit merklicher Betonung, entgegnete er:

»Sie sind im Irrtum, gnädige Frau. Wir sind nur zufällig zusammengetroffen und unsre Wege trennen sich hier. Gute Nacht, Gundel, und grüße mir den Vater!«

Gundel, die keine Ahnung davon hatte, wie peinlich ihre Gegenwart in diesem Momente ihrem Begleiter war, mit dem sie in der That nur der Zufall zusammengeführt hatte, fand diese Verabschiedung ganz in der Ordnung, denn man war in unmittelbarer Nähe des Parkes und dort führte der Weg seitwärts nach dem Thale. Sie nickte dem jungen Manne vertraulich zu und erwiderte:

»Ich will's ihm ausrichten, und kommen Sie bald einmal wieder in das Thalwirtshaus, Herr Kroneck – behüt Gott, gnädige Frau!«

Eveline gab keine Antwort, aber ihre Augen folgten dem Mädchen, das noch einmal das lachende Gesicht zurückwandte und dann lustig und mit flinken Füßen den Abhang hinunterstieg.

Einige Minuten lang herrschte auf der Höhe noch vollständiges Schweigen, bis Heinz, dem diese Stimmung unbehaglich zu werden begann, wieder das Wort nahm:

»Sollte die Abendluft Ihnen nicht schädlich sein? Die Sonne ist bereits untergegangen.«

»Es ist ja sommerwarm heute und ich habe eine warme Hülle mitgenommen,« sagte Eveline, auf das Tuch deutend. »Sie scheinen recht vertraut mit der Gundel zu sein, Herr Hellmar sagte mir freilich, daß Sie viel im Thalwirtshause verkehren.«

»Nicht mehr wie Guido selbst, er ist jedenfalls öfter dort als ich.«

»Ich weiß es, er macht seine Studien bei den Bauern und Jägern, die dort vorzugsweise verkehren, aber er hat mir bereits gestanden, daß dies vielgepriesene Volksleben ihn im Grunde anwidert, und ich begreife das. Eine zarte, vornehme Dichternatur, wie die seinige, muß sich zurückgestoßen fühlen von den Roheiten, die leider von dem Wesen dieser Leute unzertrennlich sind.«

»Das ist eben Guidos Meinung! Roh habe ich die Leute nur in den seltensten Fällen gefunden, derb sind sie allerdings, aber es liegt etwas Urgesundes, Kraftvolles in ihrer ganzen Lebens- und Anschauungsweise, etwas, von dem wir lernen könnten.«

»Nun, Sie lernten jedenfalls bei dem Gespräche, das ich bereits aus dem Walde hörte,« sagte Eveline scharf, »und Sie verstehen es auch, den Ton zu treffen, der für eine solche Bauernschönheit paßt – der Geschmack ist eben verschieden.«

»Ein Salongespräch kann ich freilich mit der Gundel nicht führen; wenn ich überhaupt mit ihr reden will, so muß ich den Ton anschlagen, an den sie gewöhnt ist,« erklärte Heinz, der seiner Ungeduld über dies Examen Luft machte, indem er seinen Hut abnahm und das braune lockige Haar zurückstrich, Evelines Blick streifte dabei seinen Arm.

»Sie tragen ja die Binde nicht mehr,« bemerkte sie. »Ist Ihre Verletzung bereits geheilt?«

»Die Sache war ja nicht der Rede wert! Eine unbedeutende Schramme, die mich nur eine Zeit lang am Schreiben hinderte und der ich es danke, daß ich den Papa auf seinem Frühjahrsausflug begleiten durfte, sonst hätte man mich schwerlich von der Kette losgelassen!«

»Von der Kette? Meinen Sie damit Ihre amtliche Stellung? Andre würden viel darum geben, in Ihrem Alter schon im Ministerium arbeiten zu dürfen und einen Vater zu besitzen, der ihnen Schritt für Schritt die Laufbahn ebnet.«

Das war wieder der zurechtweisende, schulmeisternde Ton, den Frau Eveline mit Vorliebe dem jungen Verwandten gegenüber anschlug und der diesen stets in die vollste Opposition hineintrieb; auch heute klang seine Entgegnung, als wolle er die Vorwürfe geradezu herausfordern.

»Haben Sie denn Vertrauen zu meiner Laufbahn, gnädige Frau? Ich nicht! Mein Papa erzählt es mir täglich, daß ich überhaupt keine Carriere machen werde und ich bin vollkommen seiner Meinung. Ich tauge nun einmal nicht für die Fronarbeit in den Bureaus.«

»Wenn Sie eine ernste, verantwortungsreiche Thätigkeit so bezeichnen, allerdings nicht,« bemerkte die junge Frau kalt.

»Ernst? Verantwortungsreich? Mein Gott, wir jüngeren und jüngsten Beamten werden leider noch nicht beim Regieren zugelassen, wir müssen uns in aller Bescheidenheit begnügen, Schreiberdienste zu leisten, und das ist etwas sehr Langweiliges. Sie haben keine Ahnung, wie ermüdend, wie geisttötend dieser ewig gleiche Pendelschlag des Bureaulebens ist, wo man, an seinen Pult festgeschraubt, um des Himmels willen keinen eigenen Gedanken haben darf! Mich treibt es oft gewaltsam hinaus in das Freie!«

»Und dann reiten Sie stets so wild, daher stammt ja wohl die Wunde an Ihrer Hand – so hieß es wenigstens.«

Der junge Mann stutzte und sah betroffen auf.

»Es scheint, daß Sie andrer Meinung darüber sind.«

»Ja, denn ich hörte, daß Heinrich Kroneck vor vier Wochen ein Duell in der Residenz gehabt habe und dabei verwundet worden sei.«

»Von wem haben Sie das gehört?«

Eveline schwieg.

»Es bedarf eigentlich keiner Frage – nur Guido kann es Ihnen gesagt haben.«

»Er ist allerdings darüber unterrichtet.«

»Er mußte es wohl sein, da er mein Sekundant war. Ich glaubte aber nicht, daß er darüber schwatzen würde und werde mich künftig hüten, ihn bei dergleichen Ehrenhändeln wieder in das Vertrauen zu ziehen.«

»Künftig?« wiederholte die junge Frau ganz entsetzt. »Dergleichen ›Ehrenhändel‹ sind also bei Ihnen Gewohnheitssache! Ich glaubte nicht, daß Sie so rauflustig wären, wenn ich auch längst weiß, wie wenig ernst Sie es mit dem Leben nehmen. – Sie sind verletzt, Heinrich, ich sehe es, aber ich kann Ihnen diese Erklärung nicht ersparen. Ich habe in der letzten Zeit Einblicke in gewisse Dinge erhalten, die mich zwingen, einmal offen und rückhaltlos mit Ihnen zu reden, denn es handelt sich hier um die Zukunft eines Wesens, das mir das teuerste auf Erden ist.«

Sie hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten, statt dessen fragte Heinz ruhig:

»Hat mich Guido Ihnen in so abschreckender Weise geschildert?

Eine leichte Röte überflog Evelines Antlitz, aber sie bekämpfte rasch ihre Verlegenheit.

»Guido Hellmar? Sie meinen doch nicht –«

»Daß er Ihnen diese ›Einblicke‹ gegeben hat! Ja, das meine ich allerdings.«

»Nun wohl – können Sie Ihren Freund der Lüge zeihen?«

»Die Thatsachen mögen wahr sein, die Färbung ist falsch. Weiter kann ich Ihnen nichts sagen, denn – ich hasse die Angeberei.«

Die letzten Worte klangen in schneidender Schärfe, aber die junge Frau begegnete dem Vorwurfe mit voller Entrüstung.

»Sie sind im Irrtum, wenn Sie Hellmar einer solchen Niedrigkeit fähig halten. Ganz unabsichtlich, im Gespräche, hat er mir einiges verraten und nur mit dem größten Widerstreben ließ er sich zu den Erklärungen herbei, die ich verlangte. Was er auch zugeben mußte, er hatte immer eine Entschuldigung, eine Verteidigung für Sie. Erst bei dieser Gelegenheit habe ich die ganze Lauterkeit seines Charakters und seiner Lebensanschauungen kennen gelernt, die Persönlichkeit dieses Mannes ist nur eine Ergänzung seiner Werke.«

»Und wenn man Ihnen nun zum Beispiel sagte, daß diese Persönlichkeit nicht so rein und ideal ist, wie Sie glauben?«

»So würde ich antworten, daß alles Bedeutende seine Feinde und seine – Neider hat.«

Heinz zuckte leicht zusammen bei dem herben Worte, dann aber sagte er kalt:

»Ein vollkommen wahrer Ausspruch! Aber wir sind von unsrem Thema abgekommen. Ich warte in aller Demut auf meine Strafpredigt.«

Der Ton verletzte Eveline augenscheinlich, sie erhob sich und in ihrer Stimme klang die mühsam zurückgehaltene Erregung, als sie erwiderte:

»Ich beabsichtige Ihnen keine Strafpredigt zu halten, das würde wohl nutzlos sein, aber sagen muß ich Ihnen doch, daß ich von unsrer persönlichen Bekanntschaft ein andres Resultat erwartet habe. Der Wunsch meines verstorbenen Gatten ist mir ein heiliges Vermächtnis, aber ich bin mir auch vollkommen der Verantwortlichkeit bewußt, die er mit der Sorge für sein Kind in meine Hände gelegt hat. Ich fürchte für Käthchens Zukunft an Ihrer Seite und ich wage es jetzt nicht mehr, die Hand zu bieten, um ein Band zu knüpfen, das ihr vielleicht zum Unglück wird.«

»Nun denn, gnädige Frau, so lösen Sie dies Band, noch ehe es fest geknüpft wird. Ich werde mich fügen.«

Eveline sah betroffen auf den jungen Verwandten. Sie hatte Entschuldigungen und Bitten, hatte ein Versprechen der Besserung erwartet, statt dessen schien er sehr geneigt, aus Trotz und Empfindlichkeit auf die Braut zu verzichten, und zugleich auf all die glänzenden Aussichten, die sich ihm mit dieser Verbindung eröffneten.

»Ich glaubte, Sie liebten Käthchen?« sagte sie langsam. »Wird es Ihnen so leicht, sie aufzugeben?«

»Wenn ich sehe, daß mein Zurücktreten gewünscht wird, so bin ich auf der Stelle bereit –«

»Grüß Gott!« sagte eine tiefe Stimme, die Erklärung unterbrechend, die der junge Mann mit einer gewissen Hast aussprechen wollte. Er wandte sich rasch um, auch Eveline war aufmerksam

geworden und blickte verwundert auf die fremde Erscheinung, die plötzlich in der Biegung des Weges auftauchte und dicht vor ihnen stand.

Es war ein alter Mann in der Bergtracht des Landes, aber die hagere, sehnige Gestalt trug sich noch aufrecht und ungebeugt von der Last der Jahre und das eisgraue Haar, das unter dem Hute sichtbar wurde, war noch dicht und voll. Die braunen, verwitterten Züge hatten etwas Eisernes, man sah, daß Wind und Wetter sie gehärtet hatten, wie den Mann selbst, und unter den buschigen, weißen Brauen blitzten die grauen Augen mit fast jugendlichem Feuer. Der Anzug war keinesfalls ärmlich, verriet aber doch, daß er schon manches Wetter ausgehalten hatte. Die schweren nägelbeschlagenen Bergschuhe an den Füßen, den Alpenstock in der Hand, stand der Alte so trotzig und herausfordernd da, als sei er bereit, es noch mit dem Jüngsten aufzunehmen.

»Ah, Sie sind es, Ambros!« sagte Heinz. »Haben Sie mich in der Villa aufgesucht?«

»Ja, Herr Heinz,« erwiderte Berghofer, indem er den Hut vor der Dame zog. »Ich wollt' Ihnen sagen, daß es nichts ist morgen mit dem Aufstieg zur Schneespitz', der Weg ist noch nicht wieder gehbar.«

»Das dachte ich mir! Diese fortwährenden Regengüsse haben das ganze Gebirge unwegsam gemacht. – Es ist Ambros Berghofer, gnädige Frau, von dem ich Ihnen bereits erzählte, und der mir den ganzen Sagenschatz der Umgegend aufgethan hat. Durch ihn habe ich die sämtlichen Berggeister, Wunschmännlein und sonstige Spukwesen der Alpenwelt kennen gelernt, leider nur in seinen Erzählungen, denn leibhaftig ist mir noch keines davon begegnet.«

»Ja, der junge Herr lacht darüber und es ist doch wahr, er soll's nur probieren!« sagte Ambros trocken, indem er sich zu der Dame wandte. Dieser war bei der gereizten Wendung, die das Gespräch schließlich genommen, die Unterbrechung nicht unwillkommen, wenn sie auch nicht so schnell wie Heinz den leichten Unterhaltungston wiederfand.

Ueberdies interessierte sie die fremde Erscheinung und um vieles freundlicher, als sie vorhin zu der Gundel gesprochen, fragte sie:

»Haben Sie denn schon etwas dergleichen gesehen?«

»Gesehen – nein, aber das braucht's auch nicht, man spürt es eben. Der Herr Heinz wird's auch schon spüren, wenn es ihm nah kommt, und nah kommen wird's ihm schon einmal. Wer mit solchen Augen in die Welt schaut, der schaut mehr als all die andern. Ich habe es gemerkt den ersten Tag, wo wir beisammen waren.«

»Sie sehen, gnädige Frau, es gibt doch wenigstens einen Menschen, der mich nicht für einen Taugenichts hält,« warf Heinz etwas boshaft ein. »Ich stehe in großer Gunst bei dem Ambros und das will etwas sagen, denn er ist sonst ziemlich unzugänglich.«

Eveline fand für gut, den Ausfall zu überhören, sie bemerkte allerdings mit Verwunderung, daß die derbe, harte Redeweise des alten Bauern eine eigentümliche Wärme annahm, als er von dem jungen Manne sprach, und daß die scharfen grauen Augen mit einem beinahe weichen Ausdruck auf den Zügen desselben hafteten.

Heinz schien hier in der That eine Eroberung gemacht zu haben.

»Hausen Sie denn so ganz allein auf dem einsamen hochgelegenen Berghofe?« fragte sie. »Er liegt ja wohl auf dem Wege zur Schneespitze?«

»Ich hab' eine alte Magd für das Hauswesen und einen Buben für das Vieh, sonst niemand, seit mir mein Weib gestorben ist. Einsam liegt der Hof freilich und hoch genug auch, es ist der höchste im ganzen Gebirg, aber mir ist's grad recht so, und ich hab' auch genug zu schaffen.«

»Ja, das mag wohl im Sommer angehen, aber im Winter, wenn die Schneestürme alles verwehen und begraben, muß es schrecklich sein in solcher Höhe, Sie müssen sich ja wie lebendig begraben vorkommen, wenn der Weg in das Thal gesperrt ist, und im vergangenen Winter erst hat ein Lawinensturz einen dieser Berghöfe verschüttet. Droht Ihnen nicht bisweilen eine gleiche Gefahr? Es ist ein furchtbarer Gedanke, so in Schnee und Eis umzukommen, verlassen von aller Welt, ohne Menschenhilfe und Menschennähe –«

Sie hielt plötzlich inne und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ambros stand unbeweglich und in seinem eisernen Gesicht zuckte keine Muskel, aber seine Augen waren mit einem so unheimlichen, so seltsam drohenden Ausdruck auf die junge Frau gerichtet, daß sie verstummte. Es wurde ihr kalt unter diesem Blick.

»Sterben müssen wir alle einmal!« sagte der Bauer rauh. »Ob eins so oder so umkommt, das gilt am End' gleich. – Also, Herr Heinz, es geht morgen nimmer mit der Schneespitz', vielleicht in zwei oder drei Tagen, wenn das Wetter anhält.«

»Kennen Sie auch den Weg genau?« fragte Heinz, dem jetzt die Erinnerung an Gundels Erzählung auftauchte. »Er soll sehr beschwerlich sein und für den Unkundigen Gefahr bringen, wenn man zufällig in Schneegruben gerät.«

Ambros stieß mit seinem Bergstocke so heftig auf den Boden, daß die Spitze sich tief in das Erdreich bohrte, und ließ ein lautes, höhnisches Gelächter hören.

»Fürchten Sie sich davor? Nun, dann ist's freilich gescheiter, Sie lassen die Schneespitz' in Ruh. Ich hab' gemeint, Sie seien anders wie die Stadtherren, weil Sie so keck in den Bergen herumsteigen, als wenn es gar keine Klippen und keine Abstürze gäb'. Nun, mir ist's recht, ich dräng' mich nicht zu der Führerschaft – behüt' Gott!«

Damit kehrte er trotzig den beiden den Rücken und stieg bergaufwärts.

»Behüt' Gott, Ambros – Sie und Ihre Grobheit!« rief Heinz ihm lachend nach, Eveline aber sagte beklommen:

»Ein seltsamer Mensch! Ich begreife wirklich nicht, Heinrich, wie Sie an einem derartigen Verkehr Vergnügen finden können.

Haben Sie denn nicht den unheimlichen Blick gesehen, mit dem er mich maß, bei einer doch ganz harmlosen Bemerkung? Was war dem Manne nur?«

Heinz zuckte die Achseln.

»Nichts Besonderes, nur eine der seltsamen Launen, die man eben bei diesem Original hinnehmen muß, wenn man überhaupt mit ihm verkehren will. Liebenswürdig ist der Ambros allerdings nicht, die Felsen, unter denen er haust, sind nicht starrer und schroffer als er, und ich gestehe, daß mir in seinem Wesen manches rätselhaft und unheimlich ist. Aber mich interessieren gerade solche Ausnahmenaturen, bei denen man erst suchen und erraten muß, was sich eigentlich in ihrer Tiefe birgt.«

Die junge Frau schien andrer Meinung zu sein, aber sie erwiderte nichts und es trat ein minutenlanges Schweigen ein. Beide fühlten, daß das vorhin unterbrochene Gespräch auf irgend eine Weise wieder aufgenommen werden mußte, und waren doch in Verlegenheit, den rechten Ton zu finden. Heinz benutzte die Pause, um seinen Hut aufzunehmen, den er vorhin achtlos auf einen Stein geworfen hatte, und den lose zusammengefügten Alpenstrauß, der ihn zierte, fester zu stecken, und Eveline blickte halb abgewendet in die Landschaft hinaus.

Die Villa mit ihrem Parke lag hinter der Anhöhe und auch die mächtigen schneebedeckten Alpengipfel, die das Thal einschlossen, waren von hier aus nicht sichtbar, man blickte nur in eine stille Waldes- und Bergeseinsamkeit. Fern blinkte der Spiegel eines kleinen Sees auf und schimmerte in dem letzten Abendlichte, das eben hinter den Bergen verglühte. Die leichten Abendwolken, die hie und da den Himmel bedeckten, ließen dessen tiefes Blau durchschimmern und die Mondessichel trat aus ihnen in voller Klarheit hervor.

Der Frühling war diesmal spät in die Berge gekommen. Heute am letzten Maitage zeigte die Landschaft noch jenes erste lichte Grün, das sich wie ein durchsichtiger Schleier um Bäume und Gesträuch wob. Hier zögerte das Laub noch in seiner Knospenhülle, dort brach es eben erst kraus und dicht hervor, mit zartem, braunrötlichem Schimmer, aber die Hecken blühten schon rot und weiß und der Boden war wie übersät mit der duftenden Blumenwelt des Vorfrühlings, die bei den heißeren Strahlen der Sonne vergeht und stirbt.

Heinz war noch immer angelegentlich mit seinem Strauße beschäftigt, aber dabei glitt doch sein Blick hinüber zu der jungen Frau und blieb halb unbewußt an ihren Zügen haften. Sie lehnte in müder Haltung am Stamme eines Baumes und schien ganz versunken in den Anblick der Landschaft. Unter dem leichten weißen Schleiertuch, das sie über den Kopf geworfen hatte, stahl sich das Haar in einzelnen dunklen Ringen hervor und ließ die Blässe des Gesichtes noch tiefer und durchsichtiger erscheinen. Die zarten Linien des Profils traten freilich in dieser Stellung in ihrer ganzen Lieblichkeit hervor und die dunklen Augen waren mit dem Ausdruck schwermütiger Träumerei in die Ferne gerichtet. Der wilde Apfelbaum über ihrem Haupte hatte noch keine Blätter, aber er war wie übersät mit weißem Blütenschnee und seine Zweige neigten sich tief herab auf die schlanke Gestalt, die so zart und vergänglich erschien, wie jene Blüten, denen auch nur kurze Lenztage beschieden waren.

Eveline mußte den Blick fühlen, der so unverwandt auf ihr ruhte, denn sie wandte sich plötzlich um, und ihr Auge fiel auf den in der That sehr schönen Strauß, den der junge Mann soeben wieder befestigt hatte.

»Welch eine seltene Blume Sie da haben!« sagte sie. »Ich habe noch nie eine solche gesehen.«

»Ich auch nicht, und ich kenne doch so ziemlich die ganze Alpenflora. Darf ich Ihnen diese Beute meines Streifzuges anbieten? Sie hat wenigstens den Vorzug, mit Lebensgefahr erobert zu sein.«

Heinz hatte mit diesen Worten den blütenschweren Zweig aus dem Strauße gezogen und bot ihn der jungen Frau. Es war in der That eine selten schöne und eigenartige Blume. Der schlanke Stengel trug eine Anzahl Blüten von dem tiefen, märchenhaften Blau der Enziane, aber von andrer Form und Art, der Kelch zeigte dagegen eine leuchtende Purpurfarbe, tief im Grunde desselben schimmerte ein Kranz zarter, goldiger Staubfäden, wie ein goldenes Krönchen gestaltet, und ein leiser und doch berauschender Duft stieg daraus hervor, süß und herb zugleich, wie Frühlingshauch, der über blühende Alpenwiesen dahinzieht.

Eveline zögerte einen Moment lang, aber es klang etwas wie Bitte in dem Tone des jungen Mannes und halb unwillkürlich streckte sie die Hand aus.

»Mit Lebensgefahr?« wiederholte sie. »War die Blume so schwer zu erreichen?«

»Nun ja, sie hatte sich auf einer fast unzugänglichen Klippe angesiedelt, hoch oben in einer einsam düsteren Felsschlucht, von deren Zacken ein Wildbach herab schäumte und tobte. Wie eine Gemse habe ich an der Wand emporklettern müssen und bisweilen klebte ich förmlich daran, wenn sich auch nicht ein fußbreit Raum bot zum Vorwärtsdringen, und der Wildbach mir den Weg verlegte. Aber endlich fand ich doch eine Zwergtanne, die mir Stütze für den Fuß und den linken Arm gab und mit der Rechten griff ich hinauf und riß diese spröde Alpenschönheit los von ihrer Felsenheimat – ich wollte sie nun einmal haben!«

»Und das alles um einer Blume willen!« sagte Eveline halb »Wie tollkühn, das Leben deshalb zu wagen!«

»Warum denn nicht? Es ist ein Ziel wie jedes andre und ein Ziel muß erreicht werden. Glauben Sie mir, es hat einen eigenen Reiz, das Leben einzusetzen, da fühlt man erst, was das Leben wert ist! Es war trotz alledem doch ein schöner Moment, als ich so mit halbem Leibe über dem Abgrunde schwebte, rings um mich her die starren, wilden Schroffen, hoch über mir der strahlend blaue Himmel, mit seinem Sonnenglanz, tief unter mir dämmernde Tannennacht. Einen Augenblick des Schwindels, der Angst und ich war verloren! Dazu netzte mir der weiße Sprühschaum des Wildbaches die heiße Stirn, sein Brausen klang mir in das Ohr wie Orgelton und über mir lockte und winkte diese schöne Alpenfee, mit ihrem märchenhaften Zauber – ich glaube, ich hätte sie selbst im Sturze nicht losgelassen!«

Er hatte in voller Erregung gesprochen und die Schilderung klang in seinem Munde so leidenschaftlich, so hinreißend, daß das beängstigend schöne Bild von keckem Wagen und triumphierendem Gelingen leibhaftig wieder emporzusteigen schien. Die großen dunklen Augen Evelines hafteten anfangs befremdet, dann erstaunt und fast erschrocken auf seinen Zügen, als entschleiere sich ihr etwas ganz Unbekanntes.

»So habe ich Sie noch niemals sprechen hören, Heinrich,« sagte sie endlich mit verhaltenem Atem. »Das klang ja – wie ein Gedicht!«

Die helle Röte floß wieder über die Wangen des jungen Mannes, als sei er wie vorhin auf etwas Ungehörigem ertappt worden, und in den alten spöttischen Ton zurückfallend, entgegnete er:

»O nein, das ist nur Stimmung – nichts weiter! Das Dichten ist Guidos Reich, ich würde es nicht wagen, ihm in das Handwerk zu pfuschen, und der Pfuscher würde auch an Ihnen, gnädige Frau, eine strenge Richterin finden – ist er doch vorhin erst wie ein Schulknabe ausgescholten worden!«

»Ich sprach als Mutter!« erklärte Eveline ernst.

»Als Mutter!« wiederholte er, aber das Wort kam herb, beinahe höhnisch von seinen Lippen.

»Gewiß! Wenn ich und Käthchen den Jahren nach auch Schwestern sein könnten, sie steht mir nur um so näher dadurch und jedenfalls habe ich Mutterrechte über sie. Begreifen Sie es denn nicht, daß ich um ihre Zukunft sorge?«

»Nun, von dieser Sorge hoffte ich Sie ja zu befreien, gnädige Frau. Ich wollte –«

»Aus Trotz und Empfindlichkeit ein Wort aussprechen, das Sie schon in der nächsten Minute bereuen würden! Ich erwiese Ihnen und auch meinem Käthchen einen schlechten Dienst, wenn ich es annähme, denn sie hängt an Ihnen mit ihrem ganzen kleinen Herzen, und Sie, Heinrich? – War es Ihnen ernst mit jenem Worte? Dann allerdings wäre es zu Ende zwischen uns.«

Heinz schwieg. Er hatte sich gestern erst so übermütig gegen das »Ehejoch« aufgebäumt, in das der Vater ihn stecken wollte, jetzt kostete es ihn nur ein einziges Ja, um seine Freiheit zurückzuerobern. Warum sprach er es denn nicht aus? Warum sah er so betroffen auf bei der doch selbstverständlichen Erklärung, daß dann der freundschaftliche Verkehr der beiden Familien zu Ende sei? Zwischen uns! Das kleine Wörtchen bannte Trotz und Empfindlichkeit, der Blick des jungen Mannes glitt wieder hinüber zu der zarten Gestalt mit dem weißen Schleier über dem Haupte und zögernd, ungewiß erwiderte er endlich:

»Ich glaubte, Sie wünschten mein Zurücktreten.«

»Dann haben Sie mich mißverstanden. Ich wollte nur mahnen, warnen, und dies Recht wenigstens müssen Sie mir zugestehen. Käthchen ist ja noch so jung, ich habe nie daran gedacht, sie jetzt schon zu binden, sei es auch nur durch eine Verlobung.«

Eveline bemerkte nicht das tiefe Aufatmen ihres Zuhörers, dem mit diesen Worten eine Last von der Brust zu weichen schien; sie fuhr ruhig fort:

»Aber ich wollte doch wenigstens den Mann kennen lernen, der meine Kleine dereinst durch das Leben geleiten soll, und im nächsten Frühjahr – möchte ich keine Zeit mehr dazu haben.«

»Das sind krankhafte Einbildungen,« fuhr Heinz heftig, beinahe zornig auf. »Und schädliche Einbildungen dazu, denn sie verschlimmern nur Ihr Leiden.«

Die junge Frau schüttelte leise aber entschieden das Haupt.

»Meine ganze Umgebung täuscht mich in dieser Beziehung, ich weiß es, und ich habe mich auch lange genug täuschen lassen, aber endlich muß man doch der Wahrheit in das Auge sehen. Ich habe heute meine Kräfte prüfen wollen und bin deshalb allein gegangen, sie reichten nicht einmal mehr für diese kleine Anhöhe aus, ich kam halb ohnmächtig hier oben an.«

»Aber wer sagte Ihnen denn, daß Ihr Leiden hoffnungslos ist? Die Aerzte –«

»Zucken die Achseln und vertrösten mich auf den Sommer, auf den Süden, ich weiß, was das bedeutet. Es ist ja nicht leicht, zu sterben, wenn man noch jung ist und noch kein Glück genossen hat. Man will es nicht begreifen, daß nur dem einen das Leben genommen wird, wo so viele andre sich des Daseins freuen dürfen. Ich habe auch meinen Kampf gekämpft, jetzt ist er überwunden und ich beuge mich dem Geschick.«

Der junge Mann wollte antworten, aber sie unterbrach ihn schon beim ersten Worte.

»Nein, Heinrich, mir brauchen Sie keine Trostgründe zu sagen, aber glauben Sie mir, das Leben ist ein kostbares Gut, viel zu kostbar, um verschleudert zu werden, und Sie verschleudern es in dem übermütigen, leichtsinnigen Treiben, das Sie unmöglich befriedigen kann. Sie haben Jugend und Gesundheit, haben vollen überschäumenden Lebensmut – gibt es denn für all dies kecke Wagen und Ringen nicht bessere Ziele als die Laune eines Augenblicks, für die Sie heute das Leben einsetzten? Sind Ihr Mut und Ihre Energie nur für eine Blume da, die Sie von der Felsenklippe losreißen, nicht auch für höhere Aufgaben? Sie haben bisher förmlich etwas darin gesucht, gerade vor mir sich als leichtsinnig und oberflächlich zu zeigen. Vielleicht war das auch nur eine Laune – jetzt glaube ich es beinahe.«

Es war im Grunde auch eine Strafpredigt, die dem jungen Manne gehalten wurde, aber sie klang anders als von den väterlichen Lippen und hatte auch eine andre Wirkung. Es lag nichts mehr von Zurechtweisung in dieser leisen, süßen Stimme, wohl aber eine ernste, vorwurfsvolle Bitte und der kecke Leichtsinn stand da, das Auge auf den Boden geheftet, und hörte geduldig zu, wie man ihm den Text las.

»Es steht ja für meinen Vater und all die andern fest, daß ich ein unverbesserlicher Taugenichts bin!« sagte er endlich mit verschleiertem Tone. »Ich habe es bisher noch gar nicht gewagt, an diesem Dogma zu rütteln. Glauben Sie denn, daß es der Mühe lohnt, etwas Besseres aus mir zu machen?«

»Seit heute – ja!« erklärte Eveline.

Da fühlte sie zwei warme Lippen auf ihrer Hand, die so fest und so lange darauf ruhten, daß sie fast verlegen die Hand zurückziehen wollte. Aber vergebens. Heinz hielt sie fest und mit einem hellen Aufleuchten in seinen braunen Augen sagte er:

»Ich will es versuchen!«

»So nehme ich die Blume als Unterpfand Ihres Versprechens. Wer weiß, vielleicht war es die Blume des Glückes, die Sie heute eroberten.«

»Und die Sie in der Hand tragen!« fiel er so leidenschaftlich ein, daß die junge Frau mit einer raschen Bewegung ihre Hand aus der seinigen zog.

»Es fängt bereits an zu dämmern,« sagte sie gepreßt. »Wir müssen an die Rückkehr denken, lassen Sie uns gehen.«

Heinz nahm schweigend das Tuch von dem Felsstück und wollte es um ihre Schultern legen, sie lehnte mit einer dankenden Bewegung ab, aber den Arm, den er ihr bot, konnte sie nicht ablehnen, denn sie bedurfte der Stütze. Langsam schritten sie bergabwärts durch den stillen Abend, ringsum Frühlingsatem und -Leben. Durch die ganze Natur ging es wie ein Hauch von ahnungsvollem Hoffen, von sehnendem Erwarten und in der weichen Dämmerung, die jetzt Thäler und Höhen umspann, schienen all die Frühlingsgeisterchen lebendig zu werden und sich zu regen mit ihrem lautlosen, lieblichen Wirken, sie schwebten und flüsterten auch in dem Duft der Blume, welche die junge Frau in der Hand trug.

Und wer sie findet
Zur rechten Stund',
Dem wird das Walten
Des Zaubers kund.


Eine halbe Stunde von der Rehfeldschen Villa entfernt, an der andern Seite des Thales, lag ein kleines Landhaus von bescheidenem Aussehen. Es war im Schweizerstil erbaut, von einem Gärtchen umgeben, und wurde, da der Eigentümer es schon seit längerer Zeit nicht mehr bewohnte, für den Sommer an Fremde vermietet.

In diesem Jahre hatte es schon sehr frühzeitig Gäste erhalten. Ein alter Herr, von dem man nur wußte, daß er ein Doktor der Medizin sei, war mit einem gleichfalls alten Diener, einem jungen Assistenten und einer Menge von Büchern angelangt. Er lebte mit seinen Begleitern in völliger Abgeschlossenheit, war aber bereits in den Ruf eines Sonderlings und eines Grobians gekommen, denn er hatte einige Bauern, die bei ihm Hilfe suchten, in ebenso drastischer Weise heimgeschickt wie den Geheimrat Kroneck, und die alte Wirtschafterin, die das Haus verwaltete und jetzt die Küche für die Fremden besorgte, bekreuzte sich jedesmal, wenn sie in seine Nähe kam.

Das geräumigste Zimmer des Hauses war zum Arbeits- und Bibliothekzimmer für den Doktor eingerichtet worden. Es war ein großes, dreifenstriges Gemach, mit einem riesigen Kachelofen und altmodischen Möbeln, das, wenn auch keinen eleganten, doch immerhin einen behaglichen Eindruck machte. Jetzt freilich war es vollgepfropft mit Büchern, die jeden nur irgendwie verfügbaren Raum füllten und selbst auf Schränken und Tischen aufgeschichtet lagen, während der Schreibtisch mit Manuskripten und medizinischen Werken förmlich belastet war.

Es war in den Vormittagsstunden und ein alter grauhaariger griesgrämiger Diener war soeben beschäftigt, die Gläser und Instrumente zu ordnen, die auf dem großen Tisch am Mittelfenster standen und augenscheinlich chemischen Experimenten dienten, während sein Herr am Fenster stand und in die sonnige Landschaft hinausblickte.

Doktor Eberhard, der wohl schon am Ende der Fünfzig stehen mochte, war eine stattliche, aber keineswegs anziehende Erscheinung. Das Gesicht zeigte scharfe geistreiche Züge, aber es lag ein Zug herber Ironie um die schmalen Lippen, der sich oft genug zum verletzenden Hohn steigerte, und Haltung und Sprache verrieten die ganze Schroffheit eines Mannes, der gewohnt ist, überall nur seiner eigenen Willkür zu folgen, und niemals Widerstand bei seiner Umgebung findet.

»Martin,« sagte er, ohne sich umzuwenden. »Sobald die Person, welche sich angemeldet hat, erscheint, führst du sie zu mir.«

»Hieher? In die Bibliothek?« fragte Martin, indem er sich mit einem Rucke emporrichtete.

»Was fällt dir ein! Selbstverständlich in das Empfangszimmer.«

»Selbstverständlich!« brummte der alte Diener. »Es wäre auch das erste Mal, daß ein Frauenzimmer in unsre Bibliothek kommt. Wenn ich überhaupt wüßte, was sie bei uns zu suchen hat – das Frauenzimmer!«

»Ich kann es mir beinahe denken!« grollte der Doktor. »Das Haus soll ja verkauft werden. Der Besitzer hat es auch mir angeboten, und da will diese Person – Katharina Rehfeld nennt sie sich – es wahrscheinlich besichtigen, aber daraus wird nichts. Ich habe die ganze Besitzung gemietet, bis zum nächsten Frühjahr bin ich hier Herr und Meister und schlage ungebetenen Gästen die Thür vor der Nase zu.«

»Vor der Nase zu!« wiederholte Martin, dem diese Prozedur ein ganz besondres Vergnügen zu gewähren schien. »Rehfeld heißen die Besitzer der großen Villa da oben, es soll eine Witwe mit ihrer Tochter sein.«

»Meinetwegen eine Großmutter mit sechs Enkeln. Was kümmert es mich!« rief Eberhard ärgerlich. »Empfangen muß ich sie allerdings, vielleicht hat sie das Haus schon hinterrücks gekauft und will nun anfangen zu bauen, aber ich lasse keinen Stein anrühren, solange ich hier bin. Ich werde sie schon heimschicken, wie vorgestern diesen langweiligen Geheimrat, der mir mit seinem Titel und seinen Orden zu imponieren dachte.«

»Der kommt gewiß nicht wieder,« sagte Martin. »Sie waren furchtbar grob, Herr Doktor, noch gröber als sonst.«

Er wollte seinem Herrn offenbar ein Kompliment damit machen und dieser nahm es auch als ein solches, denn er nickte mit dem Ausdruck großer Befriedigung.

»Ja, ich verstehe es, mir die Leute vom Halse zu halten! Jetzt geh' und rufe mir den Doktor Gilbert.«

Martin gehorchte, aber im Hinausgehen brummte er halblaut:

»Das Haus kaufen – uns hier vertreiben – sie soll es nur versuchen – das Frauenzimmer!«

Der mit so feindseligen Gefühlen erwartete Besuch ließ vorläufig noch nichts von sich sehen und hören, und der Doktor schritt in übelster Laune im Zimmer auf und nieder, als der Gerufene eintrat. Es war ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren, eine hohe schmächtige Gestalt mit einem sehr hübschen, aber ziemlich blassen Gesicht und fast mädchenhaft weichen Zügen, in denen ein unverkennbarer Ausdruck von Schüchternheit und Gedrücktheit lag.

In sehr bescheidenem Tone grüßte er den Doktor, der ihm nur mit einem kurzen Kopfnicken antwortete.

»Gut, daß Sie kommen, Gilbert! Wir wollen das Experiment versuchen, von dem ich mit Ihnen heute morgen sprach. Haben Sie Ihren Spaziergang gemacht?«

»Ich hatte heute noch keine Zeit,« versetzte Gilbert schüchtern, »und die Arbeit, die ich gerade unter den Händen habe –«

»Spazieren sollen Sie gehen!« fuhr ihn Eberhard an. »Das Stubensitzen hat Ihre Nerven verdorben, Sie brauchen Luft und Bewegung. Sie sehen ja jämmerlich aus.«

»Ich habe allerdings in der letzten Zeit etwas angestrengt gearbeitet. Mein Examen –«

»Ist glänzend bestanden! Und Ihre Dissertation ist auch so tüchtig ausgefallen, daß sie Aufsehen machen wird. Die Herren Kollegen werden sich nicht wenig ärgern, daß es mein Schüler ist, der so etwas in die Welt hinausschickt. Kann ihnen nichts schaden, der Aerger. Aber ebendeshalb müssen Sie sich jetzt Ruhe gönnen, solch ein Jammermensch können Sie nicht bleiben – ich bitte mir aus, daß meine Anordnungen künftig besser befolgt werden.«

Der junge Assistent schien an diesen Kommandoton bereits gewöhnt zu sein, denn er trat, ohne ein Wort zu erwidern, an den Tisch, auf dem sich die Instrumente befanden, Eberhard folgte ihm und sagte unwirsch, während er sich niederließ:

»Hoffentlich werden wir nicht gestört. Ich erwarte allerdings später Besuch.«

»Vermutlich den Kreisarzt,« bemerkte Gilbert. »Er hatte Sie neulich nicht angetroffen und es würde den Herrn Kollegen sicherlich interessieren, wenn er von unsern Experimenten –«

»Unsinn! Es ist ja ein Frauenzimmer!« unterbrach ihn der Doktor.

»Ah!« machte der junge Assistent, dem vor Erstaunen der Mund offen blieb. »Ah! ein Frauenzimmer!«

»Das Sie gar nichts angeht!« rief Eberhard erbost. »Bilden Sie sich nur nicht ein, daß es eine junge Dame ist. Eine Großmutter ist es mit sechs Enkeln!«

»Und die kommen alle sechs hieher?« fragte Gilbert in starrem Entsetzen, denn er kannte seinen Chef als ausgemachten Kinderfeind.

»Nein,« brummte dieser, der sich so in seinen Voraussetzungen verrannt hatte, daß er sie für Gewißheit nahm. »Die Alte kommt allein, Katharina Rehfeld heißt sie und will das Haus besichtigen, um es zu kaufen, aber ich werde ihr die Wege weisen! So, nun wissen Sie Bescheid und nun lassen Sie uns anfangen.«

Das Experimentieren nahm in der That seinen Anfang, und Meister und Schüler waren so eifrig bei der Sache, daß sie das Vorfahren eines Wagens draußen vor der Gartenthür vollständig überhörten. Eberhard betrachtete soeben aufmerksam einen sich bildenden Niederschlag, während sein Assistent eine Glasplatte in der Hand hielt, die er mit einer Flüssigkeit benetzte, als urplötzlich ein seltsamer Ton heraufklang. Es war ein Lachen, so jugendlich, so silberhell und übermütig, wie es nur von den Lippen eines Kindes oder eines jungen Mädchens kommen konnte. Gilbert horchte gespannt auf.

»Die Dame – die Großmutter scheint eins ihrer Enkelinder mitgebracht zu haben,« bemerkte er.

»Das fehlte noch!« rief der Doktor, aber in diesem Augenblicke öffnete Martin die Thür und meldete:

»Herr Doktor –«

Weiter kam er nicht, denn bereits schwebte eine leichte zierliche Gestalt an ihm vorüber, und noch ehe der alte Diener Zeit fand, über diesen Einbruch in das Allerheiligste seines Herrn in Entrüstung zu geraten, folgte ein junger Herr, der gleichfalls in die Bibliothek trat. Die beiden mochten das Oeffnen der Thür für eine Aufforderung zum Eintritt angesehen haben, und die junge Dame, die eine helle, sehr elegante Frühjahrstoilette trug, wandte sich mit einer anmutigen Verneigung an Eberhard.

»Ich hoffe, wir stören nicht, Herr Doktor. Wir haben uns bereits brieflich angemeldet, mein Name ist Katharina Rehfeld.«

Ein lautes Klirren unterbrach sie. Die Glasplatte war den Händen Gilberts entglitten und endete ihr präpariertes Dasein auf dem Boden, wo sie in Scherben zersprang, der junge Mann aber stand da wie eine Salzsäule und starrte mit großen Augen auf das anmutige Wesen, das wie ein glänzender Falter in die düstere Bibliothek hineingeflattert war. Käthchen, durch den Ton aufmerksam gemacht, wendete den blonden Kopf, auf dem ein Hütchen mit Rosenknospen saß, nach jener Richtung, und ein Lächeln, bei dem die beiden Grübchen reizend zum Vorschein kamen, flog über ihr Gesicht. So jung diese Tochter Evas auch war, sie bemerkte doch sehr gut, daß sie die Ursache dieser Fassungslosigkeit sei.

Aber auch Eberhard sah das, und wenn irgend etwas seine üble Laune noch steigern konnte, so war es diese Bemerkung. Er machte eine Bewegung mit dem Kopfe, die wahrscheinlich eine Erwiderung des Grußes bedeuten sollte, und sagte dann gebieterisch:

»Gilbert – gehen Sie spazieren.«

»Jetzt gleich?« fragte dieser, noch ganz verwirrt.

»Auf der Stelle! Es ist unbedingt notwendig für Ihre Gesundheit. Vor einer Stunde kommen Sie nicht zurück.«

Gegen diesen Befehl ließ sich schlechterdings nichts einwenden und Gilbert gehorchte auch, aber an der Thür wandte er sich noch einmal um und sandte einen langen Blick zurück. Da begegnete er wieder den blauen schelmischen Augen und dem rosigen Antlitz, in dem es jetzt zuckte wie mühsam verhaltenes Lachen, aber Martin schlug ihm plötzlich die Thür vor der Nase zu.

»Martin,« sagte der junge Mann eifrig, »lieber Martin, wer sind diese Herrschaften, und was will die junge Dame eigentlich bei uns?«

Martin zog die Stirn kraus und sah den Fragenden mit strengen Blicken an, dann erwiderte er, statt aller Antwort, im düstern Warnungstone:

»Herr Doktor – nehmen Sie sich in acht!«

»Ich? Vor wem?«

»Vor dem Irrwisch.«

»Irrwisch? Meinen Sie etwa das junge Fräulein?«

»Ein Irrwisch ist es, und kein Fräulein!« brach Martin wütend aus. »Da kommt die Person angefahren, springt aus dem Wagen mit einem Satze wie ein Grashüpfer und reicht mir eine Karte, auf der Katharina Rehfeld steht. Ich mag wohl ein kurioses Gesicht gemacht haben, denn plötzlich fängt sie an zu lachen – über mich, Herr Doktor! Mich hat sie ausgelacht und er, ihr Begleiter, stimmte mit ein. Sie müssen es ja gehört haben, dies tolle, unvernünftige Lachen.«

»Ich – nein – wir waren beschäftigt!« log Gilbert, dem jener silberhelle Ton immer noch wie Musik in den Ohren klang.

»Nun, jetzt sind sie bei dem Herrn Doktor und da wird ihnen das Lachen schon vergehen!« fuhr Martin mit grimmiger Genugthuung fort. »Hier im Hause wird nicht gelacht!«

»Ja, das weiß Gott!« seufzte Gilbert und der alte Diener sah ihn darob vernichtend an.

»Gehen Sie spazieren, Herr Doktor,« sagte er nachdrücklich, »und nehmen Sie sich in acht, denn es ist ein Irrwisch und ein Frauenzimmer!«

Mit dieser erschöpfenden Beweisführung zog er sich zurück, und dem jungen Manne blieb nichts übrig, als dem so vielfach geäußerten Wunsche nachzukommen und in der That – spazieren zu gehen.

Er zog es jedoch vor, den anbefohlenen Spaziergang auf den Garten zu beschränken, und behielt dabei fortwährend den Eingang des Hauses im Auge, einmal mußte die liebliche Erscheinung doch noch sichtbar werden.

Der junge Arzt war bisher noch wenig oder gar nicht mit Frauen in Berührung gekommen, die alten Haushälterinnen seines Chefs ausgenommen, die dieser regelmäßig alle Vierteljahre zu wechseln pflegte, weil er sich mit keiner vertrug. Doktor Eberhard gehörte zu den Menschen, die mit großer persönlicher Begabung einen so schroffen Charakter und ein so galliges Temperament verbinden, daß sie in keinem Lebenskreise aushalten. Er hatte sich in der Residenz eine Praxis gründen wollen, und infolge einer glücklichen Kur, die Aufsehen erregte, waren ihm auch die Patienten zugelaufen, aber sie liefen sämtlich wieder davon, denn mit der Grobheit dieses Aeskulap war nicht auszukommen. Er hatte sich als Dozent an einer Universität niedergelassen, sich aber schon im ersten Jahre mit seinen sämtlichen Kollegen dermaßen überworfen, daß er der Stadt grollend den Rücken kehrte. Seitdem lebte er, da sein Vermögen ihn unabhängig machte, als Privatgelehrter und schrieb wissenschaftliche Werke, die um so bereitwilliger anerkannt wurden, als man nicht mehr Gefahr lief, mit dem Verfasser verkehren zu müssen, der sich gänzlich von der Welt zurückgezogen hatte.

Gilbert war der Sohn eines ehemaligen Jugend- und Universitätsfreundes, den der Vater ganz verwaist und mittellos zurückgelassen, aber vor seinem Tode noch dem Doktor Eberhard empfohlen hatte. Dieser ließ sich denn auch in der That herbei, den jungen Mann, der soeben die Schule verlassen hatte, in sein Haus zu nehmen und für ihn zu sorgen, aber diese anscheinende Großmut war im Grunde auch nur ein Ausfluß seines Egoismus, denn er hatte mit seinen Assistenten dasselbe Unglück wie mit seinen Haushälterinnen.

Der letzte war ihm soeben in voller Empörung auf und davon gegangen und doch brauchte er einen wissenschaftlich gebildeten Haussklaven, dem er alles bieten konnte und der gänzlich abhängig von ihm war.

Es wurde dem Doktor nicht schwer, diese schüchterne, nachgiebige Natur völlig zu unterjochen. Während er einerseits freigebig für die Bedürfnisse des jungen Mannes sorgte und seine Studien in jeder Weise förderte, schloß er ihn anderseits von jedem Verkehr ab, was sich um so leichter ausführen ließ, als weder er noch Gilbert eine Praxis ausübten. Den Rest von Selbständigkeit, den er auf diese Weise noch übrig ließ, vernichtete Martin, der sich des neuen Hausgenossen in ebenso tyrannischer Weise annahm, und bald genug war das arme Opfer zu jedem Widerstande unfähig geworden.

Dies Verhältnis änderte sich auch nicht, als der junge Arzt seine Studien beendigt hatte und den Doktortitel erwarb. Eberhard kündigte ihm an, daß er von jetzt an einen Gehalt beziehen werde, und fand es im übrigen ganz selbstverständlich, daß alles beim alten blieb. Gilbert fand das auch, er fühlte sich lebenslang dem Manne verpflichtet, der ihm einige Jahre hindurch Obdach und Unterhalt gegeben und ihn dafür nach Kräften ausgenützt hatte. Martin ließ sich allerdings herab, dem Hausgenossen fortan seinen Titel zu geben; das hinderte ihn aber nicht, den Herrn Doktor zu malträtieren wie einst den jungen Studenten, und dieser machte keinen Versuch, die Ketten zu brechen, an deren Druck er sich allmählich gewöhnt hatte.

Für diesmal machte sich der junge Arzt allerdings eines indirekten Ungehorsams schuldig, denn anstatt eine Stunde weit zu gehen, wie sein Tyrann es befohlen, umkreiste er in allen möglichen Schlangenlinien das Haus und fand dabei, daß diese Bewegung seiner Gesundheit äußerst zuträglich sei. Die Unterredung dort oben dauerte in der That nicht lange; nach kaum zehn Minuten erschien die junge Dame wieder in der Hausthür, aber allein, ohne ihren Begleiter, und man sah es auf den ersten Blick, daß die ärztliche Konsultation nicht nach Wunsch ausgefallen war.

Käthchens Gesicht war dunkelrot vor Erregung, die Grübchen in den Wangen waren verschwunden, ebenso das Lächeln, statt dessen lag ein bitterböser Ausdruck um den kleinen Mund. Die vorhin so schelmisch blickenden Augen sprühten jetzt zornig, und stürmisch, als gelte es einer Gefahr zu entrinnen, eilte das kleine Fräulein, ohne rechts oder links zu blicken, zu dem Wagen, der draußen auf der Landstraße wartete.

Plötzlich aber stieß sie auf Gilbert, der ihren Weg kreuzte. Das sollte natürlich als ganz zufällig erscheinen, der unglückliche Spaziergänger führte dies Manöver aber so ungeschickt aus, daß er auf einmal wie ein Baum vor der jungen Dame stand und ihr vollständig den Weg verlegte; sie wich mit einem Ausruf des Schreckens und der Entrüstung zurück:

»Mein Herr –!«

Gilbert wurde purpurrot vor Verlegenheit und trat schleunigst seitwärts.

»Mein Fräulein!« stammelte er, so ängstlich und demütig, daß Käthchens Zorn zu weichen begann, aber ihre Stimme klang immer noch gereizt, als sie fragte:

»Mein Herr, sind Sie vielleicht der Sohn dieses – dieses Doktor Eberhard?«

»Nein, nur sein Assistent.«

»Das freut mich um Ihretwillen! Es wäre sehr traurig, wenn Sie ein solches Ungetüm zum Vater hätten.«

»O mein Fräulein, – der Herr Doktor ist eine Leuchte der Wissenschaft!« wandte der junge Mann ein, ganz entsetzt über diesen respektwidrigen Ausdruck. Käthchen aber sagte verächtlich:

»Dann bedaure ich die Wissenschaft, wenn sie sich mit solchen Leuchten behelfen muß. Ihr Herr Doktor ist ja ein Bär, der die Leute am liebsten mit Haut und Haar verschlingen möchte, wenn sie seinen ärztlichen Rat erbitten, und er hätte mich auch verschlungen, wenn Heinz nicht dazwischen getreten wäre. So bin ich noch niemals in meinem Leben behandelt worden – o, es ist abscheulich!«

Und jetzt stürzten die Thränen unaufhaltsam aus den blauen Augen, und Käthchen schluchzte laut vor Zorn und Empörung.

Gilbert kannte nun freilich die unendliche Grobheit seines Herrn und Meisters, die weder Alter noch Geschlecht schonte; er hatte bisher nie gewagt, Kritik darüber zu üben, als er aber dies holdselige Wesen so bitterlich weinen sah und sich sagen mußte, daß der Doktor kaltblütig, ja, unzweifelhaft mit boshaftem Behagen jene Thränen ausgepreßt hatte, nahm er zum erstenmal Partei gegen ihn und wiederholte entrüstet:

»Es ist abscheulich!«

Die Thränen der jungen Dame versiegten sofort, als sie Zustimmung fand, sie trocknete sich die Augen und sah sich den Herrn Assistenten etwas genauer an.

»Sie sind gleichfalls Arzt, Herr –?«

»Doktor Gilbert!« ergänzte dieser.

»Herr Doktor Gilbert – ich habe Vertrauen zu Ihnen!«

Der junge Mann verbeugte sich. Die Ankündigung war ihm sehr schmeichelhaft, wenn sie ihn auch einigermaßen überraschte, aber er sah erschrocken auf, als Käthchen fortfuhr:

»Wie wäre es, wenn Sie die Behandlung meiner Mama übernähmen?«

»Ich? Aber ich habe ja bisher noch gar keine Praxis ausgeübt.«

»Das thut nichts, Sie verstehen jedenfalls viel mehr als das Ungetüm da oben!« sagte die junge Dame mit einem vernichtenden Blick nach den Fenstern. »Denken Sie den ganzen Sommer hier zu bleiben?«

Gilbert bejahte, und damit kam eine Unterhaltung in Gang, die von der einen Seite sehr lebhaft, von der andern sehr verlegen und stockend geführt wurde, aber schließlich doch beide Teile befriedigte.

Heinz war inzwischen in der »Bärenhöhle« zurückgeblieben und zwar mit der Absicht, den Bewohner derselben zu bändigen, was allerdings keine leichte Aufgabe war. Der Doktor hatte in der That kaum den Zweck des Besuches erfahren, als er die vorgestrige Szene mit dem Geheimrat wiederholte. Ihn rührte weder die Jugend noch die Anmut der Bittenden und er ließ seiner Grobheit dermaßen den Zügel schießen, daß Heinz dem armen, ganz betäubten Käthchen den Arm bot und sie hinaus führte. Er bat sie, im Wagen auf ihn zu warten, kehrte dann in das Zimmer zurück, schloß die Thür hinter sich und sagte ruhig:

»So, Herr Doktor – nun lassen Sie uns vernünftig reden!«

Eberhard, der triumphierend das Feld behauptete, sah höchst erstaunt auf.

»Was wollen Sie denn noch?«

»Ich sagte es Ihnen ja bereits, vernünftig mit Ihnen reden. Die junge Dame habe ich vor Ihrer Grobheit flüchten müssen, ich werde sie aushalten, denn ich habe bereits gehört, daß Sie ein Original sind, dem man nichts übelnehmen darf, und es freut mich, solche Naturen kennen zu lernen.«

»Herr, glauben Sie etwa, daß ich für Ihr Vergnügen da bin?« rief der Doktor, von neuem in Zorn geratend. »Wer sind Sie denn eigentlich? Vermutlich der Bruder dieser Katharina Rehfeld.«

»Nein, nur ihr Verwandter, mein Name ist Heinz Kroneck.« Der Doktor fuhr mit einem Ruck in die Höhe, doch der junge Mann sprach ruhig weiter: »Aber da mein Vater bereits vorgestern Ihre Liebenswürdigkeit kennen gelernt hat, so hielt ich es für besser, wenn meine Cousine sich allein bei Ihnen anmeldete. Mich hätten Sie auf meinen Namen hin vermutlich gar nicht vorgelassen.«

»Da haben Sie ganz recht vermutet! Also Sie sind der Sohn dieses geistreichen Geheimrats mit dem großen Orden! Hat Ihnen Ihr Vater denn nicht erzählt, wie ich ihn heimgeschickt habe?«

»Gewiß, und das gerade erweckte in mir die Lust, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Eberhard sah den Sprechenden an, als zweifle er an seinem Verstande. Er wußte, daß man ihn wegen seiner Grobheit und Rücksichtslosigkeit fürchtete und floh, und war stolz darauf; daß ihn aber jemand dieser Eigenschaften wegen aufsuchte, das war ihm neu und imponierte ihm, und als Heinz nun mit der größten Unbefangenheit fortfuhr: »Erlauben Sie, daß ich mich setze?« ließ er ein Gebrumm hören, das allenfalls als eine Bejahung gedeutet werden konnte.

Der junge Mann nahm unbefangen Platz und musterte das Zimmer.

»Merkwürdig, daß Sie in einer solchen Zurückgezogenheit leben, Herr Doktor. Sie haben ja doch in der ärztlichen Welt den Ruf einer Autorität; man spricht in der Residenz noch heute von Ihrer ersten glücklichen Kur, deren Erfolg an das Wunderbare grenzte. Freilich behaupten Ihre sämtlichen Kollegen, daß Sie ein unverbesserlicher Sonderling und Menschenfeind seien.«

»So? Das freut mich!« sagte Eberhard, der das Kompliment allein wahrscheinlich wieder mit einer Grobheit beantwortet hätte, den aber der Zusatz einigermaßen versöhnte. »Grüßen Sie die Herren Kollegen von mir, wenn Sie wieder nach der Residenz kommen! Uebrigens geht es niemand etwas an, wo ich lebe und was ich treibe.«

»Doch, die leidende Menschheit geht es an, die ein Recht auf Ihre Hilfe hat.«

»Oho! Recht – Hilfe!« rief der Doktor höhnisch. »Die Menschheit soll mich gefälligst in Ruhe lassen, ich kümmere mich schon lange nicht mehr um sie.«

»Aber Sie haben sich doch früher darum gekümmert. Warum kündigen Sie ihr jetzt den Vertrag?«

Die Frage wurde in einem förmlichen Inquisitionstone gestellt, und Eberhard war so verblüfft über die Keckheit dieses jungen Menschen, ihn in dieser Weise zur Rede zu stellen, daß er vergaß zornig zu werden. Er ging im Gegenteil auf das Gespräch ein.

»Warum? Das will ich Ihnen sagen, mein junger Herr! Weil ich es satt habe, immer und ewig jammervolle Krankheitsgeschichten zu hören und meine ganze Wissenschaft daran zu setzen, ein so armseliges Ding zu erhalten, wie das Dasein ist. Jeder Patient bildet sich ja ein, sein bißchen Leben sei der Mittelpunkt des Weltalls und man müßte Himmel und Erde dafür in Bewegung setzen. Gar nichts wert ist das Leben, und je eher man damit fertig ist, um so besser! Und die Menschen sind es nun vollends nicht wert, daß man auch nur einen Finger für sie rührt.

Da hört und liest man den ganzen Tag schöne Redensarten von Ideal, Menschenliebe, Hingebung, Aufopferung, und wenn man sich in der Welt umsieht, gibt es nichts als Lug und Trug, Heuchelei und Egoismus. Einer ist dem andern im Wege. Einer gönnt dem andern nicht das bißchen Luft zum Atmen, und das nennen sie dann Menschenliebe!«

»Aber, Herr Doktor –« warf der junge Mann ein, doch Eberhard ließ ihn nicht zu Worte kommen, er fuhr immer heftiger fort:

»Ja, Sie haben wahrscheinlich auch den Kopf voll von verrückten Idealen und bilden sich ein, daß die Paradiese nur so auf der Straße liegen. Sie sehen mir ganz danach aus. Aber wenn Sie erst einige Dutzend Male von den guten Freunden und lieben Nächsten getäuscht, betrogen, verraten worden sind, dann werden Sie auch dahin kommen, wo ich jetzt bin. Ich belüge mich und andre nicht mit albernen Redensarten und sage es gerade heraus, daß ich mich den Kuckuck um Menschheit und Menschenliebe schere. Ich thue, was mir gefällt, und wenn mir einer im Wege steht, so stoße ich ihn beiseite, das ist das einzig Vernünftige im Leben! So, nun wissen Sie Bescheid und damit – Gott befohlen!«

Er hatte sich in eine immer größere Erregung hineingesprochen, all die Galle und Bitterkeit, die er in seiner Einsamkeit angesammelt hatte, kam jetzt zum Ausbruch, und dabei sah er seinen jungen Zuhörer mit so wütenden Blicken an, als wolle er ihn bei dem geringsten Widerspruch beim Kragen nehmen. Aber Heinz nickte nur bestätigend mit dem Kopfe und entgegnete mit vollkommen ernsthafter Miene:

»Im Grunde haben Sie recht! Mir ist es auch schon klar geworden, daß das Leben ein erbärmliches Ding ist und die Menschen eine höchst nichtsnutzige Gesellschaft. Ich stimme darin ganz mit Ihnen überein.«

»Hm, dazu sind Sie eigentlich noch zu jung!« brummte Eberhard, den diese Zustimmung weit mehr zu ärgern als zu erfreuen schien.

»Man kann nie früh genug mit der Lebensklugheit anfangen. Da sind wir gerade bei dem Punkte, um dessentwillen ich Sie aufgesucht habe. Nach dem Einblick, den Sie mir soeben in Ihre Lebensanschauungen gegeben haben, darf ich nicht mehr fürchten, von Ihnen mißverstanden zu werden, ich bitte aber um Schweigen, denn es ist eine Vertrauenssache.«

»Schweigen? Meinetwegen, aber wo will denn das hinaus?«

»Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit einer ›jammervollen Krankheitsgeschichte‹ langweile. Es handelt sich zwar auch hier um einen Krankheitsfall, aber es stehen sehr reale Interessen dabei auf dem Spiele. Die junge Dame, welche Sie vorhin sahen, ist mir zur Braut bestimmt. Sie ist die einzige Erbin eines bedeutenden Vermögens, das sich für jetzt noch in den Händen ihrer Stiefmutter befindet. Leider ist diese Dame leidend, so leidend, daß das Schlimmste zu befürchten steht.«

»Zu Ihrem großen Bedauern!« schaltete der Doktor höhnisch ein.

»Natürlich, zu unsrem Bedauern, aber wir müssen uns in das Unabwendbare fügen. Frau Rehfeld ist allerdings noch jung, doch die Aerzte behaupten, daß ihr Zustand hoffnungslos ist und daß sie nicht das nächste Frühjahr erleben werde. Vermutlich werden Sie der gleichen Meinung sein wie Ihre Herren Kollegen, indessen –«

»Ich bin immer andrer Meinung wie meine Kollegen!« unterbrach ihn der Doktor, indem er aufsprang. »Ja, die Herren sind unfehlbar und können Stunde und Minute des Todes bestimmen – und dann macht ihnen der Patient einen Strich durch die Rechnung und lebt noch zwanzig Jahre.«

»Gewiß, und ebendeshalb möchte ich Ihr Urteil erbitten. Sie begreifen wohl, daß es mir wünschenswert ist –«

»So bald als möglich die Erbschaft zu bekommen – ja, das begreife ich!«

»Bitte, verkennen Sie mich nicht!« widersprach Heinz, der sich gleichfalls erhoben hatte und jede Bewegung des aufgeregten Mannes verfolgte, während es ganz eigentümlich um seine Lippen zuckte. »Ich beklage den Fall außerordentlich, da er aber nun einmal unabwendbar zu sein scheint, und da hier, wie gesagt, sehr reale Interessen auf dem Spiele stehen, so möchte ich wenigstens Gewißheit darüber haben. Allerdings meint Professor Mertens – Sie haben ja wohl eine erbitterte litterarische Fehde mit ihm, ich hörte davon, aber Sie müssen doch zugeben, daß er eine Autorität ersten Ranges und eine Zierde der Wissenschaft ist – also Professor Mertens hat erklärt, daß seine ärztliche Kunst nichts mehr vermöge.«

Eberhard, der es in der That nicht merkte, wie meisterhaft er gehetzt wurde, schlug auf den Tisch, daß dieser in all seinen Fugen krachte.

»So, Mertens hat das gesagt? Also die große Autorität, diese Zierde der Wissenschaft ist mit ihrer Weisheit zu Ende! – Da müßte man sich die Frau Schwiegermutter doch einmal ansehen!«

In den Augen des jungen Mannes blitzte es triumphierend auf, aber er entgegnete mit vollster Gelassenheit:

»Das wollten wir ja von Ihnen erbitten. Freilich, wenn ein Mann wie Professor Mertens –«

»Hören Sie auf mit Ihrem Mertens – ich komme morgen!« schrie der Doktor wütend.

»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, aber noch eins. Ich habe ja Ihr Wort – die Einzelheiten unsrer Unterredung – nicht wahr, die bleiben unter uns?«

»Ja, die bleiben unter uns!« wiederholte Eberhard grimmig. »Aber ganz unter uns möchte ich Ihnen auch sagen, daß Sie ein wahres Prachtexemplar von einem Schwiegersohn sind! Sie können es weit bringen mit Ihrer sogenannten Lebensklugheit!«

»Aber, Herr Doktor, das ist doch nur die einfache Konsequenz der Ansichten, die Sie vorhin als die Ihrigen aufstellten, es sind auch die meinen,« versetzte Heinz, das Auge fest auf ihn richtend.

Die Bemerkung war so schlagend, daß der Doktor nichts erwiderte, er hatte ein Buch ergriffen und hämmerte damit auf den Tisch los, aber er sah den jungen Mann an, als wolle er ihn mit den Blicken spießen.

»Wie alt sind Sie denn eigentlich?«

»Siebenundzwanzig Jahre.«

»Da sind Sie freilich schon recht hübsch verständig. Ich war in Ihrem Alter noch ein gutmütiger Dummkopf, der an alle möglichen Ideale glaubte. Aber Sie haben ganz recht, und es freut mich, daß ich die Menschen wieder einmal richtig beurteilt habe, ganz außerordentlich freut mich das! Adieu, Herr Heinz Kroneck!«

Die Entlassung klang sehr ungnädig, aber Heinz schien das nicht zu fühlen, denn er verabschiedete sich mit der liebenswürdigsten Höflichkeit. Kaum war er fort, so schleuderte der Doktor das Buch in die Ecke.

»Das ist ja eine ganz schändliche Berechnung! Schämt sich denn dieser Mensch nicht, mir das offen anzudeuten! Und dabei hat er ein Gesicht und ein Paar Augen, daß es einem ganz warm wird, wenn man hineinschaut! Aber gnade dir Gott, wenn bei der Frau Schwiegermutter noch ein Funke von Hoffnung ist! Ich stelle sie wieder her und wenn ich sie ein Jahr lang behandeln müßte – du sollst auf die Erbschaft warten!«

Inzwischen stieg Heinz die Treppe hinunter. Er unterdrückte mühsam das Lachen, denn oben stand Martin und sah ihm nach, aber er murmelte halblaut:

»Habe ich dich, alter Menschenfeind! Also bist du doch in die Falle gegangen!«

Damit trat er aus dem Hause und war einigermaßen überrascht, Käthchen nicht im Wagen zu finden, wie verabredet war. Sie war im Garten und zwar in Begleitung des jungen Mannes, der sich vorhin im Bibliothekzimmer des Doktors befand und dann so plötzlich spazieren geschickt wurde. Bei dem Erscheinen ihres Vetters wandte sie sich um und rief:

»Kommst du endlich, Heinz? Ich begreife nicht, wo du den Mut hergenommen hast, so lange in der Bärenhöhle zu bleiben.«

»Der Bär ist gezähmt!« sagte Heinz lachend. »Er hat für morgen seinen ärztlichen Besuch zugesagt.«

»Unmöglich! Wie hast du das zustande gebracht?«

»Doktor Eberhard hat Ihnen seinen Besuch zugesagt?« fragte nun auch Gilbert, ganz starr vor Erstaunen.

»Allerdings, und ich bin überzeugt, er wird Wort halten.«

»Herr Doktor Gilbert, der Assistent dieses – dieses Herrn da oben,« stellte Käthchen vor. »Wie er das aushält, begreife ich nicht, denn er hat mir bereits zugegeben, daß sein Herr und Meister ein Ungetüm ist.«

»O nein, mein Fräulein, das habe ich nicht zugegeben,« widersprach Gilbert. »Ich fand es nur unverzeihlich, daß er auch Ihnen so entgegentrat.«

Er legte einen solchen Nachdruck auf das Wort, daß Heinz stutzte und die beiden scharf ansah.

»Nun, wir wollen es gemeinschaftlich versuchen, ihn zu zähmen,« entgegnete er. »Sie werden Ihren Chef doch begleiten, wenn er nach der Villa Rehfeld kommt?«

»Natürlich werden Sie das,« fiel Käthchen mit großer Entschiedenheit ein. »Wie gesagt, Herr Doktor, ich habe Vertrauen zu Ihnen, großes Vertrauen, und werde Sie meiner Mama empfehlen. Nicht wahr, Heinz?«

Heinz schien von einem ebenso plötzlichen Vertrauen ergriffen zu werden, denn er faßte die Hand des jungen Arztes und schüttelte sie freundschaftlich.

»Sie werden willkommen sein. Aber jetzt komm, Käthchen, wir müssen nach Hause.«

Er bot ihr den Arm und führte sie zum Wagen. Gilbert, der an Aufmerksamkeit gegen Damen nicht gewöhnt war, dachte nicht daran, sie bis dorthin zu begleiten, sondern blieb wie festgewurzelt stehen. Das kleine Fräulein warf schmollend die Lippe auf über diese vermeintliche Unhöflichkeit und stieg rasch ein. Als sie aber noch einmal aus dem Wagen blickte und den jungen Mann dastehen sah in völliger Selbstvergessenheit, die Augen unverwandt auf sie gerichtet, da flog jenes reizend schelmische Lächeln wieder über ihr Gesicht, und eine leise Bewegung des Köpfchens zeigte dem Ungeschickten, daß man ihm nicht zürne.

Heinz hatte das alles sehr genau beobachtet, jetzt gab er dem Kutscher das Zeichen zum Fortfahren und sagte dabei gleichgültig: »Eine recht angenehme Erscheinung, dieser Doktor Gilbert!«

»Findest du das auch?« rief Käthchen hocherfreut.

»Gewiß, er scheint liebenswürdig und bescheiden zu sein, vielleicht findet ihr einen angenehmen Umgang an dem jungen Manne, denn es wird sehr einsam in der Villa werden, wenn Guido und ich fort sind. Es wäre mir eine rechte Beruhigung, zu wissen, daß du doch wenigstens bisweilen Gesellschaft hast.«

»Du bist so gut, Heinz,« sagte Käthchen dankbar, während sie nochmals den Kopf zum Wagenfenster hinaussteckte. Heinz aber brach in ein übermütiges Lachen aus.

»Natürlich, ich bin der uneigennützigste aller Menschen, frage nur den Doktor Eberhard, der wird es dir bestätigen. Aber im Grunde hat er recht – es läuft doch alles auf den Egoismus hinaus!«


Die Abreise Kronecks und seines Sohnes war in der That auf den Anfang der nächsten Woche festgesetzt, und Hellmar konnte füglich nicht allein die Gastfreundschaft Evelines in Anspruch nehmen, obgleich er Lust dazu zu haben schien. Er rüstete sich gleichfalls zum Abschiede.

Es war in den Vormittagsstunden. Im Salon hatte man die Vorhänge herabgelassen und nur die Balkonthür zur Hälfte geöffnet, so daß eine milde Dämmerung dort herrschte. Frau Rehfeld befand sich schlimmer als sonst, sie hatte den Spaziergang nach der Anhöhe und den längeren Aufenthalt in der Abendluft mit einem Leidenstage büßen müssen und war gestern für keinen ihrer Gäste sichtbar gewesen. Heute lag sie matt und angegriffen auf dem Sofa und neben ihr saß Hellmar, der allein seinen Platz behauptete, als die andern sich nach dem Frühstück zurückzogen, um der Leidenden Ruhe zu gönnen.

Er sprach mit weicher, gedämpfter Stimme von dem Kummer, den der gestrige Tag auch ihm gebracht habe, von seiner Sorge und Angst um sie, von dem Glücke, sie heute wiedersehen zu dürfen, und ging endlich auf den nahen Abschied über, der ihm jede Freude an der Gegenwart verkümmere. Die junge Frau hörte mit einem matten Lächeln zu, aber Guido bemerkte es bald, daß sie zerstreut war. Ihr Auge schweifte immer wieder hinaus in den Garten, aus dem fernes Lachen und Sprechen herüberklang. Dort drüben, auf dem großen Rasenplatze, spielten Heinz und Käthchen Krocket, wobei sie wie gewöhnlich sich neckten und tollten. Hellmar machte noch einige Versuche, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin zu fesseln, und als ihm das nicht gelang, brach er plötzlich ab, stand auf und schloß die Balkonthür.

»Das ist wieder einmal eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit von Heinz,« sagte er. »Er weiß es, wie leidend und angegriffen Sie sind, und dennoch vollführt er einen solchen Lärm in Ihrer unmittelbaren Nähe.«

Die Stimmen waren weder in unmittelbarer Nähe noch vollführten sie Lärm, denn die Entfernung dämpfte sie bedeutend, trotzdem schien die junge Frau dadurch gepeinigt zu werden, sie erwiderte mit unverkennbarer Bitterkeit:

»Lassen Sie ihn doch! Ihm wird der Abschied nicht so schwer wie Ihnen, und doch bleibt Käthchen hier zurück.«

Hellmar zuckte mit einem vielsagenden Lächeln die Achseln.

»Es ist eben ein Schmetterling, von dem man nichts andres verlangen kann als dies leichte lustige Flattern. Sie wissen, wie lieb mir Heinz ist, und wie gern ich seine Fehler entschuldige, aber hier handelt es sich nicht um einen Fehler, sondern um einen Mangel seines Charakters. Er kann nun einmal nicht tief und ernst empfinden.«

»Ich glaube, er kann es, wenn er will,« sagte Eveline halblaut. »Aber er lacht und spottet ja jede tiefe Empfindung fort, als schäme er sich ihrer.«

Es war das erste Mal, daß sie die Partei ihres jungen Verwandten nahm, und Guido schien etwas befremdet darüber, aber er antwortete mit voller Liebenswürdigkeit:

»Vielleicht haben Sie recht, gnädige Frau! Ich freilich kenne Heinz nicht von dieser Seite, und ich glaube ihn doch ziemlich genau zu kennen, aber Frauen pflegen in solchen Dingen schärfer und tiefer zu blicken. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie in der That recht gesehen hätten. Sie ahnen nicht, wie es auf mir lastet, daß gerade ich Ihnen Dinge mitteilen mußte, die ich so gern verschwiegen hätte und die ja auch von keiner Bedeutung sind! Es handelt sich ja hier nur um jugendlichen Leichtsinn. Aber Sie forderten die volle Wahrheit, und ich durfte sie Ihnen nicht verschweigen – und doch quält es mich, daß ich damit einen Schatten auf meinen lieben Heinz werfen mußte.«

»Sie thaten ja alles mögliche, ihn zu entlasten, er konnte keinen besseren Anwalt finden,« sagte Eveline. »Ich bin übrigens geneigt, Ihnen recht zu geben, seit –«

Sie brach plötzlich ab. Sie hatte jene Unterredung auf der Waldhöhe und das Versprechen erwähnen wollen, das Heinz ihr gegeben. Es war so natürlich, daß Hellmar, der die Veranlassung zu jenem Gespräch gab, auch dessen Ausgang erfuhr, und doch brachte die junge Frau keine Silbe über die Lippen. Die Erinnerung jenes dämmernden Frühlingsabends lag in ihrer Seele wie etwas Traumhaftes, Unnahbares, sie hatte ein dunkles Gefühl, als zerrinne ihr selbst ein duftiger Frühlingstraum, wenn sie auch nur mit einem Worte daran rührte.

Hellmar achtete diesmal nicht auf ihr Verstummen, er hatte andre Gedanken im Kopfe. Ein Blick durch das Fenster zeigte ihm, daß Heinz und Käthchen noch ganz in das Spiel vertieft waren, der Geheimrat befand sich in seinem Zimmer, um Briefe zu schreiben und eine anderweitige Störung war nicht zu befürchten. Der junge Dichter, der nicht umsonst dieses Alleinsein gesucht hatte, zog deshalb ein Manuskript hervor und bat um die Erlaubnis, ein Gedicht vorzulesen, das er an dem gestrigen »Leidenstage« verfaßt habe.

Evelines matte Züge belebten sich, eine Dichtung Guido Hellmars hatte immer Anspruch auf ihr Interesse und sie richtete sich halb empor, als die Vorlesung begann. Es waren tadellos schöne Verse, wenn die Schönheit sich auch mehr in den Worten als in dem Inhalt zeigte, aber von dieser sanften, wohllautenden Stimme vorgetragen, schmeichelten sie sich wie Musik dem Ohre ein und die weiche, schwermutsvolle Stimmung, welche sich darin aussprach, fand einen Widerhall in dem Herzen der jungen Frau. Sie lauschte mit einer Thräne im Auge, und dabei haftete dies Auge auf einer Blumenvase, die dicht neben ihr auf dem Kaminsims stand. Sie trug nur einen einzigen blütenschweren Zweig, der, obgleich schon vorgestern gebrochen, doch noch seine ganze Frische bewahrt hatte. Die tiefblauen Blumen, mit dem purpurnen Kelche und dem goldigen Krönchen im Grunde desselben, hatten sich noch voller und kräftiger erschlossen, sie hingen schwer herab und neigten sich wie grüßend zu dem bleichen, zarten Antlitz, das zu ihnen aufblickte.

Guido las mit steigender Empfindung. Er hatte das Thema von der holden Grabesblume, die sich noch einmal der Sonne zuwendet, sehr poetisch behandelt und sich dabei selbst die Rolle der Sonne zuerteilt. Jetzt endigte er und legte das Blatt, das die Ueberschrift: »Einer welkenden Rose« trug, in die Hand der jungen Frau, deren dunkles, thränenumschleiertes Auge dem seinigen begegnete.

»Ich habe Sie verstanden,« sagte sie leise, »und auch Sie verstehen mich so ganz! Sie allein begreifen, daß es mir wehe thut, wenn meine Umgebung es versucht, mich jetzt noch mit Hoffnungen zu täuschen – ich danke Ihnen.«

Sie reichte ihm die Hand, die er schwärmerisch an seine Lippen drückte.

»O nicht so, gnädige Frau! Wenn Sie wüßten, was Ihre Nähe, Ihr Anblick mir gewesen ist, so würden Sie begreifen, daß ich zu danken habe, nicht Sie!«

Eveline ließ ihm ohne Widerstreben ihre Hand. Die »Huldigung des Minnesängers«, wie Heinz es spottweise nannte, that ihr unendlich wohl, und sie nahm sie in voller Unbefangenheit hin.

Dieser Freundschaftsbund mit dem jungen Dichter war ja so ideal, so rein, daß ihm auch nicht einmal der Schatten eines irdischen Wunsches anhaftete. Hellmar wußte es so gut wie sie, daß ihre Tage gezählt waren und daß seine Schwärmerei einer Sterbenden galt. Aber sie fuhr erschrocken zusammen, als er jetzt plötzlich auf die Kniee sank und eine Liebeserklärung im hochromantischen Stile begann, die so leidenschaftlich und dabei so siegesgewiß klang, als sei er der Erhörung sicher, und welche schließlich mit einer förmlichen Werbung endigte.

»Hellmar, um Gottes willen, was soll das?« rief die junge Frau, mühsam ihre Erregung bemeisternd. »Sie sprechen von Liebe, von Glück und Vereinigung und Sie wissen es doch, daß das alles für mich zu Ende ist, daß mir vielleicht nur noch Monate gegönnt sind –«

»Was frage ich danach!« unterbrach sie Guido stürmisch. »Ich weiß nichts, will nichts wissen, als daß ich Sie liebe, Eveline, und daß Sie die Meine werden müssen, wäre es auch selbst im Angesichte des Todes. Was ist denn ein ganzes Leben voll qualvollen, ruhelosen Sehnens gegen das Glück eines einzigen Jahres, wo der Traum dieses Lebens sich erfüllt. Und wenn uns wirklich nur ein Jahr solcher Seligkeit gegönnt wäre, wir hätten sie doch genossen! Ich will meine zarte Blume behüten vor jedem rauhen Hauche, will sie auf meinen Armen durch das Dasein tragen, mag es uns lang oder kurz bestimmt sein. Sprechen Sie das ›Ja‹ aus, Eveline, werden Sie mein Weib und machen Sie mich zum glücklichsten der Menschen!«

Eveline hörte halb betäubt zu, es war ihr nie in den Sinn gekommen, daß Hellmar sie in solcher Weise lieben, daß er dem Verhängnis trotzen könne, das über ihr schwebte. Sie sagte sich selbst, daß es Wahnsinn, Vermessenheit sei, und doch umspann sie das Bewußtsein, so leidenschaftlich angebetet zu werden, mit seinem ganzen, gefährlichen Zauber. Sie hatte ja nie Liebe und Glück gekannt, nach einer trüben, entsagungsreichen Jugend war ihre Ehe als Gefährtin und Pflegerin eines alten Mannes nur eine neue Kette von schweren Pflichten gewesen, und als der Tod des Gatten ihr noch in vollster Jugend die Freiheit zurückgab, da trat auch an sie die ernste Mahnung heran, Abschied zu nehmen von dem Leben, das sich ihr eben erst zu öffnen schien. Mußte sie denn wirklich das letzte Glück von sich stoßen, das sich ihr so spät und doch so verlockend bot?

Wohl fuhr die junge Frau fort, abzuwehren, aber ihre Stimme erstickte in Thränen, und durch den Thränenschleier sah sie Guidos schöne dunkle Augen, die in vollster Schwärmerei zu ihr aufblickten, hörte sie seine weiche, flehende Stimme. Ihr Widerstand begann zu weichen vor diesen glühenden Bitten und Beteuerungen, langsam, zögernd neigte sie sich zu dem Knieenden, um ihn aufzuheben, und schon drängte sich das entscheidende »Ja? auf ihre Lippen.

Da streifte auf einmal etwas ihre Stirn, leise und kühl, wie eine Berührung von Geisterhand und in ihren Schoß' sank ein duftender Blütenzweig. Die jetzt voll erschlossenen Blumen mochten wohl durch ihre eigene Schwere den zarten Stengel niedergezogen haben, aber vor Evelines Augen schimmerte plötzlich das tiefe Blau, wie eine Mahnung, eine Warnung, wie – ein Vorwurf.

Hellmar wollte sich schleunigst der Blume bemächtigen, um irgend ein poetisch zärtliches Wort an den Zufall zu knüpfen, aber die Hand der jungen Frau schloß sich mit einer beinahe angstvollen Bewegung um den Zweig, und mit einem tiefen Atemzuge richtete sie sich empor.

»Nein, Hellmar, das wäre Vermessenheit!« sagte sie gepreßt. »Das hieße Leben und Tod herausfordern! Wenn Sie die Besinnung verlieren, so muß ich sie für uns beide haben – es ist unmöglich!«

»Seien Sie nicht so grausam, Eveline!« flehte Guido, noch immer auf den Knieen. »Sehen Sie, das Schicksal ist barmherziger als Sie, das Zeichen sprach für uns. Geben Sie mir die Blume als Unterpfand meines Glückes.«

Er wollte wieder danach greifen, aber Eveline machte eine ganz entschieden verneinende Bewegung. Seltsam, der Schleier von Sentimentalität und Romantik, in den der junge Dichter ihre und seine Gefühle so meisterhaft zu hüllen wußte, schien plötzlich zerrissen zu sein, ihre Stimme klang ruhig, fast kühl, als sie erwiderte:

»Ich habe das Zeichen anders verstanden. Ein Bund, wie Sie ihn fordern, wird für das Leben geschlossen, und das habe ich nicht mehr zu geben. Sie werden es mir einst danken, wenn ich Ihnen jetzt ein unwiderrufliches ›Nein‹ sage.«

In Guidos Zügen malte sich eine herbe Enttäuschung, während er sich langsam erhob.

»Sie sprechen mein Todesurteil aus!« sagte er tragisch; aber auch das that nicht die gehoffte Wirkung, Eveline schien auf einmal ganz unzugänglich geworden zu sein für diese Sprache.

»Sie werden den Schmerz überwinden,« erwiderte sie freundlich, aber mit voller Bestimmtheit. »Ein Mann wie Sie gehört in die Welt, in das Leben und nicht an das Krankenbett einer dahinwelkenden Gattin. Lassen Sie uns Freunde bleiben wie bisher, das ist das einzig mögliche Band zwischen uns.«

Guido schwieg, ebenso verletzt als betroffen durch die Wendung. Er zweifelte zwar nicht an seiner Unwiderstehlichkeit, aber es wurde ihm doch klar, daß er hier einen weit schwereren Stand haben werde, als er es in seiner Siegesgewißheit geträumt hatte. Für den Augenblick war jedes weitere Drängen unmöglich, denn soeben trat Kroneck ein und rief noch auf der Schwelle:

»Der Heinz ist wahrhaftig ein Hexenmeister! Eben kommt der Doktor Eberhard angefahren, ich sah es vom Fenster aus.«

Eveline erhob sich überrascht; obgleich der ärztliche Besuch ihr angekündigt war, hatte sie doch noch daran gezweifelt, jetzt aber stürzte auch Käthchen herein.

»Heinz hat es wirklich durchgesetzt, Doktor Eberhard ist da mit seinem Assistenten,« meldete sie triumphierend. »Aber auf eine unendliche Grobheit mußt du dich gefaßt machen, Mama. Er wird dich allerdings schonen, weil du krank bist, aber ich fürchte, seine Bärennatur bricht doch durch.«

Heinz hatte inzwischen den Gefürchteten und doch sehnlich Erwarteten draußen im Garten empfangen und geleitete ihn nun in den Salon. Der Doktor machte übrigens seinem Rufe alle Ehre. Er ließ sich allerdings zu einem Gruße herab, nahm aber im übrigen so gut wie gar keine Notiz von den Anwesenden, sondern bemächtigte sich sofort der Patientin und hielt sich auch bei ihr nicht lange mit der Einleitung auf. Schon nach wenigen Minuten erklärte er im Tone eines Befehlshabers:

»Jetzt aber bitte ich die Herren, sich zurückzuziehen. Gilbert, Sie bleiben, und auch die Kleine kann einstweilen hier bleiben.«

Käthchen wurde purpurrot vor Entrüstung, zum Glück begegnete ihr Auge dem des Doktors Gilbert, in dem sie las, daß auch er das Himmelschreiende dieser Beleidigung empfand, und das tröstete die junge Dame einigermaßen. Sie begnügte sich mit schweigender Verachtung und stellte sich ergeben an die Seite ihrer Mutter.

Die Herren hatten sich inzwischen in eins der andern Zimmer zurückgezogen. Der Geheimrat und Hellmar gingen im Gespräche auf und nieder, während Heinz am Fenster stand und ein Blatt Papier hervorzog, das er vorhin im Salon vom Boden aufgenommen hatte. Es war wohl auf den Teppich geglitten und dort unbeachtet liegen geblieben, aber die Lippen des jungen Mannes zuckten spöttisch und bitter beim Lesen.

»Schon wieder eine verwelkende Rose! Und wie dringend es ihr ans Herz gelegt wird, sich dem ›Sonnenstrahl‹ zuzuwenden, der natürlich Herr Guido Hellmar in eigener Person ist. Das wird ja immer rührender, und der Schluß schwimmt ja nun vollends in Thränen! Wenn sie nicht krank und überreizt wäre – wahrhaftig, ich begreife nicht, wie sie das Gewinsel aushält!«

»Was hast du denn da?« fragte Guido, der sich jetzt dem Fenster näherte und zum Glück nicht ahnte, daß man soeben den Hochverrat begangen hatte, eins seiner zartesten Gedichte »Gewinsel« zu nennen.

»Eine von deinen Poesien – sie ist wahrscheinlich für Frau Eveline bestimmt,« sagte Heinz kurz, indem er ihm das Blatt reichte.

Hellmar griff hastig danach.

»Gewiß, aber es war zunächst nur für sie allein bestimmt,« entgegnete er ärgerlich. »Ich finde es sehr rücksichtslos, daß du das Gedicht so ohne weiteres von ihrem Tische genommen hast.«

»Bitte, ich nahm es vom Boden auf. Es lag auf dem Teppich, und möglicherweise hätte der prosaische Doktor Eberhard deine ganze Poesie zertreten.«

Guido biß sich auf die Lippen und steckte das Blatt zu sich, als auf einmal Käthchen erschien, in Thränen und Empörung und schluchzend sich in einen Sessel warf.

»O Heinz, was haben wir angerichtet! Wärst du doch nie auf die Idee gekommen, diesen Eberhard zu einem Besuch zu zwingen. Die arme Mama liegt fast in Krämpfen und er, das Ungetüm, hat seine boshafte Freude daran.«

»Was gibt es denn? Was ist geschehen?« fragten Kroneck und Hellmar zugleich. Das junge Mädchen wies nach dem Salon hinüber.

»Wie ein Wüterich hat er da drinnen gehaust, wie ein Vandale! Die sämtlichen Vorhänge hat er aufgezogen, die Fenster aufgerissen, trotzdem die Mama ihm erklärte, sie könne das grelle Sonnenlicht und die scharfe Luft nicht ertragen. Als sie vor Schreck und Erregung zu weinen anfing und ich mit ihr, schrie er uns an, dergleichen Dummheiten verbitte er sich, er sei nicht gekommen, um unsre Thränendrüsen in Bewegung zu setzen. Dann schickte er mich hinaus, und nun ist die arme Mama allein in seinen Händen. Wäre nicht der Doktor Gilbert dabei, zu dem ich ein unbedingtes Vertrauen habe, ich würde das Schlimmste fürchten.«

»Das war zu erwarten!« brach Guido aus, der die Gelegenheit ergriff, seiner Gereiztheit Luft zu machen. »Ich bin von Anfang an dagegen gewesen, diesen Mann herzurufen, der sich durch seine Rücksichtslosigkeit für die Praxis wie für den Lehrstuhl unmöglich gemacht hat, und ihm eine so zarte, schonungsbedürftige Kranke anzuvertrauen. Aber Heinz wollte ja nicht auf mich hören und folgte nur seinem eigenen Kopfe!«

»Ja, ich habe diese Rücksichtslosigkeit auch kennen gelernt, ich war gleichfalls dagegen, daß ein zweiter Versuch gemacht werde!« fiel Kroneck ein. »Du hast dich übereilt, Heinz, du warst viel zu hastig.«

Heinz, der zum Dank für seine so glücklich gelungene Mission nur Vorwürfe erntete, nahm das sehr gelassen hin.

»Wir haben es ja gewußt, daß wir uns bei dem Sonderling auf alles mögliche gefaßt machen mußten,« entgegnete er. »Er scheint allerdings seine Patienten bei den Haaren aus dem Wasser zu ziehen. Warten wir zunächst den Ausgang dieses Besuches ab.«

»Bei den Haaren aus dem Wasser ziehen! welch ein haarsträubender Ausdruck! Du scheinst eine gewisse Verwandtschaft mit dem Herrn Doktor Eberhard zu besitzen,« bemerkte Guido beißend.

Käthchen dagegen zog es vor, den Ausgang im Garten abzuwarten.Vielleicht hegte sie eine geheime Hoffnung, daß der junge Assistent wieder spazieren geschickt werde, das geschah aber für diesmal nicht, statt dessen gesellte sich Heinz zu ihr, der aber so schweigsam und zerstreut war, daß das Gespräch nicht in Gang kommen wollte.

Doktor Eberhard schien trotz alledem die Sache sehr gründlich zu nehmen, denn er blieb fast eine Stunde lang bei seiner Patientin.

Als er sie endlich verließ, erwarteten ihn der Geheimrat und Guido im Vorzimmer. Der letztere trat ihm entgegen mit dem ganzen Selbstbewußtsein des berühmten Mannes, der es gewohnt ist, überall Aufmerksamkeit und Entgegenkommen zu finden. Sein Name war ja vorhin bei der Vorstellung genannt worden, man mußte doch den Dichter Hellmar kennen.

»Sie haben uns auf eine harte Probe gestellt, Herr Doktor,« sagte er. »Wir vergingen fast vor Ungeduld und Unruhe. Sprechen Sie, wie steht es um die teure Frau? Was haben wir zu hoffen oder zu fürchten?«

Eberhard sprach keineswegs, sondern sah den Fragenden von oben bis unten an. Ihm imponierte weder der schöne Kopf mit dem wallenden Haar noch die weiche Stimme, und die selbstbewußte Haltung des jungen Herrn ärgerte ihn nun vollends. Er schnaubte den gefeierten Dichter gerade so an, wie jedes andre Menschenkind, das ihm störend in den Weg kam.

»Das ist meine Sache, das geht Sie gar nichts an! Denken Sie, ich werde das Ergebnis meiner Beobachtungen dem ersten besten auf die Nase binden? Die ›teure Frau‹ ist eine nervöse, überspannte Dame, der man erst den Kopf zurechtsetzen muß. Ich habe ihr heute die erste Dosis Vernunft eingegeben, und das weitere wird sich finden.«

Damit ließ er den ganz erstarrten Hellmar stehen und wandte sich zu dem Geheimrat, augenscheinlich in der Absicht, auch über ihn herzufallen. Der alte Herr war aber so vollständig eingeschüchtert, daß er nur eine ängstliche Verbeugung machte und drei Schritte zurücktrat. Das besänftigte den Doktor einigermaßen, er sah mit Genugthuung, wie demütig der »Mann mit dem großen Orden« geworden war. Er beehrte ihn deshalb mit einem gnädigen Kopfnicken und schritt davon, während Gilbert durch eine unendlich höfliche Verneigung die Grobheit seines Chefs einigermaßen gut zu machen suchte.

Draußen im Garten trat Heinz dem grimmigen Aeskulap entgegen, auf dessen Zügen sich eine unverkennbare Schadenfreude ausprägte, als er den jungen Mann erblickte.

»Ah, da sind Sie ja, Herr Heinz Kroneck! Sie sind wohl sehr neugierig, das Ergebnis meines Besuches zu erfahren? Wie?«

»Ja und nein,« versetzte Heinz, indem er sich ihm anschloß.

»Im Grunde kann ich mir denken, daß Sie gleicher Meinung mit Ihren Kollegen sind und in diesem Punkte wenigstens dem Professor Mertens beistimmen.«

»Meinen Sie?« fragte Eberhard, grinsend vor Vergnügen. »Ich bin nicht so schnell fertig mit meinem Urteil wie der Herr Kollege Mertens, die große Autorität! Sehr komplizierter Zustand – höchst interessantes Objekt der Wissenschaft – werde das eingehend studieren. Ich übernehme die Behandlung der Frau Rehfeld.«

In den Augen des jungen Mannes blitzte es auf wie damals, als ihm der ärztliche Besuch zugesichert wurde, aber er erwiderte in einem Tone, durch den fast ein leiser Verdruß klang:

»O, das ist viel mehr, als wir erwarteten. Wir können es wirklich nicht wagen, Ihre kostbare Zeit so in Anspruch zu nehmen.«

»Wagen Sie es getrost!« fiel der Doktor ein, dessen Augen vor Bosheit förmlich leuchteten. »Ich komme in drei Tagen wieder, komme alle Tage, wenn es nötig ist, nur Ihnen zu Gefallen. Gilbert, was zum Kuckuck haben Sie denn da drüben zu suchen?«

Gilbert hatte das lebhafte Gespräch der beiden Herren benutzt, um ganz harmlos einen kleinen Umweg zu machen, und da Käthchen sich gleichfalls auf einem Umwege dem Hause näherte, so waren sie im Begriff zusammenzutreffen, als der Doktor mit seiner Donnerstimme dazwischen fuhr. Der junge Mann erschrak und eilte an die Seite seines Chefs. Dieser aber, dem die Erinnerung an die zersprungene Glasplatte auftauchen mochte, warf dem jungen Mädchen einen wütenden Blick zu, packte dann schleunigst seinen Assistenten am Arm und ließ ihn nicht wieder los, bis sie beide im Wagen saßen. Heinz verabschiedete sich mit der größten Artigkeit von ihnen, als er aber in das Haus zurückkehrte, sagte er triumphierend:

»Er hat Hoffnung – ich wußte es ja!«

Im Salon herrschte indessen hochgradige Empörung. Allerdings sah man es auf den ersten Blick, wie der Doktor hier gehaust hatte. Die trauliche, träumerische Dämmerung war verschwunden, freilich auch die dumpfe, drückende Luft. Durch die weit offenstehenden Fenster flutete das volle Sonnenlicht herein und dabei lag Eveline halb ohnmächtig auf dem Sofa, während das Kammermädchen ihr Stirn und Schläfe kühlte. Guido, der es nicht vergessen konnte, daß man ihn den ersten besten genannt, schwur hoch und teuer, er werde es nicht dulden, daß ein solcher Mensch wieder den Fuß über die Schwelle des Hauses setze. Der Geheimrat unterstützte ihn nach Kräften und jetzt erschien auch Käthchen und erzählte die schreckliche Geschichte, wie dieser Wüterich von Doktor seinen Assistenten, diesen bescheidenen, liebenswürdigen jungen Mann gepackt und wie ein Opferlamm durch den Garten geschleift habe – nur weil er einige Schritte vom Wege abgewichen sei.


Der Berghof, das Besitztum des alten Ambros, entsprach seinem Namen, denn er lag hoch im Gebirge. Man brauchte vom Thal aus fast zwei Stunden, um das kleine Anwesen zu erreichen, das zwar nicht gerade dürftig, aber auch keineswegs einträglich war. Indessen nährte es den Besitzer, der, seit er Witwer geworden war, mit einer alten Magd und dem Viehbuben hier hauste. Daß der Verkehr mit dem Thale sehr beschränkt war und im Winter zeitweise ganz aufhörte, schien bei der einsamen Lage des Hofes natürlich, und keiner verargte es dem Berghofer, wenn er fast wie ein Einsiedler dort oben lebte und nur an Festtagen zur Kirche und in das Thalwirtshaus kam. Er war überhaupt nicht beliebt, seines schroffen Wesens halber, respektieren aber that ihn jeder, denn er galt für den besten Bergsteiger weit und breit, und wenn es irgend etwas Gefahrvolles gab, das gemeinsam unternommen wurde, war der Ambros sicher dabei.

Augenblicklich stand er vor seinem Hause im Gespräch mit einem jungen Bauer, der, den Bergstock in der Hand, den Rucksack über der Schulter, zum Aufbruch gerüstet schien. Es war ein hübscher kräftiger Bursche, aber er schaute ziemlich finster drein, jetzt warf er einen Blick nach der schon sinkenden Sonne und sagte kurz:

»Behüt' Gott! Ich muß fort.«

»Eilt es denn so sehr?« fragte Ambros. »Du hast ja kaum ausgeruht, bleib doch noch eine Weil'.«

»Ich kann nicht! Muß vor Nacht noch drunten im Thal sein, ich hab's versprochen.«

»Wohl der Gundel vom Thalwirt? Wie steht's denn eigentlich mit euch zweien, Vinzenz?«

Vinzenz wandte sich ab und sein Gesicht wurde noch finsterer, während er halblaut sagte:

»Weiß ich's? Es wird wohl die längste Zeit gewährt haben!«

»Was? Ich hab' gedacht, ihr seid einig miteinander.«

»Ich hab' es auch gedacht, aber da ist mir ein andrer in den Weg gekommen. So ein Lump, der nicht einmal daher gehört! Der hat sich an das Mädel gemacht mit Schwatzen und Schönthun und ihr den Kopf verdreht, schon seit Wochen. Und ich« – Vinzenz stampfte mit dem Fuße und stieß einen kräftigen Fluch aus – »ich sitz' derweil droben auf der Alm und weiß nichts von der Geschicht'. Erst am letzten Kirchtag hab' ich es gehört von den andern.«

»Nun, hast du denn nicht geredet mit der Gundel?«

»Das schon, aber sie wollt' mir nicht Rede stehen. Das Mädel ist wie ausgetauscht, es fehlte nicht viel, so hätt' sie mir den ganzen Handel aufgesagt. Aber sie soll's nur versuchen! Narren lass' ich mich nicht und ihren Vater hab' ich ohnehin auf meiner Seite.«

»Glaub's schon,« nickte Ambros. »Dem Thalwirt wird der reiche Bauersohn, der Vinzenz Ortler, schon lieber sein als ein hergelaufener Lump. Hast ihn denn schon gesehen, den Burschen?«

»Nur einmal und aus der Fern', aber doch nah genug, um ihn wieder zu kennen. Gnad' ihm Gott, wenn ich ihn einmal erwisch' mit dem Mädel – er soll's spüren!«

»Recht so!« sagte der Berghofer hart. »Schick ihn heim und zeig der Gundel, daß du Schneid hast. So muß man es halten mit den Weibsleuten. Behüt Gott, Vinzenz!«

Sie trennten sich. Der junge Bauer trat den Weg in das Thal an. Eine Viertelstunde etwa war er bergabwärts gestiegen, als er auf einmal stehen blieb und scharf hinunterspähte auf den Felspfad, der sich dicht unter ihm emporwand. Dort zeigte sich ein Wandrer, eine jugendliche, schlanke Gestalt in der kleidsamen Bergtracht, wie sie Touristen zu tragen pflegen. Er stieg so rasch und mühelos, als sei ihm der steile Weg ein Spiel, und jetzt hob er den Kopf und blickte empor zu der Höhe, auf welcher der Berghof lag.

Vinzenz stand da mit angehaltenem Atem wie ein Jäger, der ein Wild erblickt. Eine Minute lang schien er ungewiß zu sein, dann aber flog es wie eine wilde Genugthuung über seine Züge und er pflanzte sich gerade in der Mitte des Weges hin, auf dem der Fremde jetzt heranschritt.

Heinz Kroneck war in der That auf dem Wege nach dem Berghofe. Er hatte für morgen, an dem letzten Tage, der ihm noch zur Verfügung stand, den Aufstieg zur Schneespitze mit Ambros verabredet und wollte bei diesem übernachten, um morgen bei Tagesgrauen mit seinem Führer aufzubrechen. Er blickte etwas verwundert auf den Bauern, der ihm den Weg verlegte, aber es fiel ihm nicht ein, bei dem ihm ganz Unbekannten eine feindselige Absicht vorauszusetzen.

»Grüß Gott!« sagte er heiter, der Gruß der Bergbewohner war auch ihm in den letzten Wochen geläufig geworden, und blieb stehen, als erwarte er, daß Vincenz ausweichen werde, dieser behauptete seinen Platz und fragte mit einem feindseligen Blick:

»Wohin will denn der Herr?«

»Nach dem Berghofe.«

»Daher komm' ich eben.«

»So? Ist der Ambros daheim?«

»Das schon, und auch die alte Kreszenz ist daheim. Wenn der Herr die anschauen will – das lohnt freilich nicht.«

Heinz lachte laut auf.

»Nein, das lohnt in der That nicht. Uebrigens steht die alte Kreszenz hoch in meiner Achtung, da sie einen vortrefflichen Schmarrn zu backen versteht. Zum ›Anschauen‹ suche ich mir allerdings eine andre aus – aber nun geben Sie Raum, daß ich vorüber kann!«

Vinzenz lehnte sich auf seinen Bergstock und blickte finster auf den Lachenden.

»Eilt es so sehr damit? Erst hab' ich mit Ihnen zu reden, Herr.«

»Mit mir?«

»Ja, Sie kennen mich nicht? Glaub's schon! Aber ich kenne Sie!«

»Das ist mir sehr schmeichelhaft,« sagte Heinz, den dies störrische Wesen zu belustigen anfing. »Und wer sind Sie denn?«

»Ich heiß' Vinzenz Ortler und hab' Ihnen etwas auszurichten. Kennen Sie die Gundel vom Thalwirtshaus?«

»Nun, wer kennt die hübsche Tochter des Thalwirtes nicht,« sagte Heinz unbefangen. »Die also schickt Sie zu mir?«

»Die Gundel!« fuhr Vinzenz mit wilder Heftigkeit auf. »Sind Sie schon so weit mit ihr, daß sie Ihnen Botschaft sendet? Ich dacht' es mir!«

Er trat mit drohender Gebärde dicht an den jungen Mann heran, aber dieser blieb ruhig stehen und die Arme kreuzend, sagte er kaltblütig:

»Nehmen Sie sich in acht, Vinzenz Ortler! Sie kommen mir zu nahe mit Ihrem Bergstock und das ist mir unangenehm.«

Der kalte überlegene Ton verfehlte nicht seine Wirkung auf den Bauern, dieser biß die Zähne zusammen, aber er trat langsam zurück.

»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte Heinz nach einem kurzen Stillschweigen.

Vinzenz antwortete nicht sogleich, er musterte stumm den Gegner, als wolle er dessen Kraft abschätzen.

»Ich hab' das Mädel gern,« sagte er endlich, aber das Geständnis hatte keine Spur von Weichheit, es klang herb und drohend.

»Gut! Und was weiter?«

»Was weiter? Ich leid' es nicht, daß sie mit den Stadtherren schwatzt und schön thut.«

»So verbieten Sie es ihr.«

Vinzenz lachte bitter auf.

»Das würd' was helfen! Was die Gundel will, das thut sie, und wenn sie weiß, daß es mich kränkt, dann thut sie es grad.«

»Das ist ja ein recht liebevolles Verhältnis,« spottete Heinz.

»Aber welches Recht haben Sie denn eigentlich auf das Mädchen? Ist es Ihre Braut?«

Aus den Augen des jungen Bauern schoß wieder jener feindselige Blick, und mit ausbrechendem Grimm entgegnete er:

»Wenn Sie nicht daher gekommen wären, dann wär's längst so weit, aber seit der Zeit ist mit der Gundel nichts anzufangen. Kurz und gut – wie weit sind Sie mit ihr?«

Die Frage klang so seltsam, so herausfordernd, daß ein andrer wahrscheinlich die Achseln gezuckt und dem groben Burschen den Rücken gewandt hätte. Heinz aber schien im Gegenteil ein Interesse für ihn zu fassen, um seine Lippen spielte ein halbes Lächeln, als er erwiderte:

»Vinzenz Ortler, es ist eigentlich sehr unverschämt von Ihnen, mich so ohne weiteres hier auf dem Wege zu überfallen und zur Rede zu stellen, aber es ist originell. So unbequem mir Ihre ganze Art und Weise auch ist – Sie gefallen mir trotzdem.«

»Was frag' ich danach!« grollte Vinzenz. »Werd' ich Antwort bekommen?«

»Wenn Sie mich in solcher Weise fragen – nein.«

»Besinnen Sie sich, Herr. Wenn wir zwei nicht im guten auseinander gehen, dann –«

»Was dann?«

»Dann könnt' es ein Unglück geben!«

»Was soll die Drohung?« fragte Heinz, dessen Uebermut und Gelassenheit diesem Tone denn doch nicht standhielt. »Zwingen lasse ich mich nicht.«

Vinzenz umfaßte mit beiden Händen seinen Bergstock, als wollte er damit zum Schlage ausholen, es kam nicht dazu, aber seine Stimme klang dumpf und heiser.

»Das braucht's auch nicht mehr – ich merk' schon, wie es steht. Hab' es ja selbst mit angesehen vor ein paar Tagen, wie Sie mit der Gundel vom Kirchberg kamen, und wie des Lachens und Schwatzens kein Ende war. Damals hab' ich freilich noch nicht Bescheid gewußt, aber wieder erkannt hab' ich Sie auf der Stell'. Find' ich Sie noch einmal beisammen mit dem Mädel, dann ist's aus. Ich hab' daheim einen Stutzen, und ich treff' zur Not auch andres als das Wild – denken Sie an den Vinzenz Ortler!«

Und ohne dem jungen Manne Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, ging er, hart an ihm vorbeistreifend. Heinz schüttelte den Kopf und sah ihm nach.

»Das war kurz und bündig!« sagte er. »Ein rabiater Bursche! Dem imponiert unsre Stadtherrlichkeit nicht im mindesten, der geht geradeswegs vor die rechte Schmiede und stellt mich zur Rede wie seinesgleichen. Wenn ich nur wüßte, was er eigentlich meint – ich werde die Gundel fragen.«

Und unbekümmert und sorglos, als sei die ganze bedrohliche Begegnung nur ein Scherz gewesen, schritt er weiter und erreichte bald darauf den Berghof.

Ambros saß vor der Thür seines Hauses und war eben dabei, seine Axt mit einem neuen Stiel zu versehen, aber durch seine braunen verwitterten Züge ging ein freudiges Aufleuchten, als er den jungen Gast erblickte, der ihm schon von fern zuwinkte und dann rasch über die Bergwiese schritt. Mit einem frohen Gruße streckte er dem Alten die Hand hin.

»Da bin ich! Ich hoffe, wir werden morgen zu unsrer Bergfahrt einen schönen Tag haben, die Wetterzeichen sind günstig.«

»Ich glaub's auch,« versetzte Ambros, indem er prüfend nach dem Himmel blickte. »Es würd' auch nicht lohnen, wenn der Tag nicht klar wär', denn der Weg ist schlimm. Sobald wir die Schart' hinter uns haben, geht es stundenlang durch Geklüft und über Eis und Schnee. Mit jedem würde ich es nicht versuchen, mit Ihnen wag' ich's, Herr Heinz. Man sollt' nicht glauben, daß Sie im Flachland daheim sind, wenn man Sie so in den Bergen herumsteigen sieht.«

»Ja, ich habe so etwas von einer Gemsennatur!« sagte Heinz lachend. »Und darum halte ich es auch nicht aus in den dumpfen Schreibstuben unsres Bureaus. Mich überfällt schon die Angst, wenn ich nur daran denke. Weiß Gott, Ambros, ich bliebe am liebsten hier oben bei Ihnen und lernte mit Axt und Stutzen hantieren, wie Sie.«

»Mir wär's schon recht,« meinte Berghofer mit einem wohlgefälligen Blick auf die schlanke und doch nervige Gestalt des jungen Mannes. »Aber Ihnen wird das Bauernleben wenig behagen und im Winter hielten Sie es nimmer aus.«

»Mag sein! Die Welt hält uns ja mit tausend Banden, vielleicht zöge es auch mich bald wieder zu den Menschen zurück. Aber lassen Sie sich nicht stören in Ihrer Arbeit, ich sehe mir dabei den Sonnenuntergang an, er macht sich prachtvoll in dieser Höhe.«

Damit ließ sich Heinz gleichfalls auf die roh gezimmerte Bank nieder, die vor dem Hause stand. Ambros nahm ruhig seine Arbeit wieder auf. Er war es gewohnt, daß der Gast ihn nicht störte und that, als ob er zu Hause sei.

Seit dem Tage, wo Heinz, der von einer größeren Tour zurückkehrte, müde und hungrig im Berghofe einsprach und von dem Besitzer aufgenommen wurde, hatte sich eine Art von Freundschaft zwischen den beiden entsponnen, die vielleicht gerade in ihrer grenzenlosen Verschiedenheit wurzelte. Der alte finstere Bauer, der einem Fremden kaum das Wort gönnte und selbst gegen seinesgleichen rauh und abstoßend war, faßte eine entschiedene Vorliebe für den jungen, lebensfrohen Städter, der mit seinem Uebermut und seiner Liebenswürdigkeit alle gewann. Es war, als ob etwas von dem Sonnenschein, der so hell aus den Augen und dem ganzen Wesen des jungen Mannes hervorleuchtete, diese herbe verschlossene Natur erwärmte. Der Herr Heinz hatte es ihm »angethan«, wie Ambros selbst zu sagen pflegte, und er durfte sich schlechterdings alles bei ihm erlauben.

Der Berghof lag auf weiter grüner Matte, am Fuße jenes mächtigen Felskegels, der fast das ganze Jahr hindurch mit Schnee bedeckt war und daher wohl auch seinen Namen führte. In der Mitte gespalten, ragte er schroff und scheinbar unzugänglich empor, und aus jener Spalte schimmerte ein breites Eisfeld – die Schneegruben – mit leuchtendem Glanze herüber. Das niedrige Haus mit den kleinen Fenstern und dem steinbeschwerten Dache nahm sich winzig und armselig genug aus in dieser mächtigen Umgebung, und dennoch war es so fest gefügt, daß kein Schnee und kein Windsturm ihm etwas anhaben konnte. Wie viele solcher Stürme waren schon darüber hingezogen, es stand noch immer so altersgrau und wetterhart da, wie sein Herr, den die Jahre und das Alter auch nicht zu beugen vermochten.

Schön war es allerdings in dieser Einsamkeit, hoch über all den Wäldern und Triften, über den Thälern und Schluchten, in denen die Dämmerung schon ihr schattenhaftes Spiel zu treiben begann. Hier aber war noch alles Licht und Glanz; warm und goldig lagen die letzten Strahlen der sinkenden Sonne auf den grünen Matten. Von dem lichten Himmel schien nur tiefe Abendstille niederzusinken und rote Abendglut legte sich auf die Berggipfel ringsum. Man vernahm nichts als das Rauschen und Rieseln all der Wasseradern, die die Frühlingswärme der letzten Tage gelöst hatte, und die nun von der Schneespitze niederrannen, um sich weiter unten als Wildbäche in die Thäler hinabzustürzen, und dazwischen klang bisweilen halb verweht das Herdengeläut von der nahen Alm.

Heinz saß schweigend, ganz verloren in dem Anblick der Bergwelt. Er fuhr wie aus einem Traume empor, als Ambros ihn nach einer Weile anredete:

»Also in drei Tagen geht's fort – und wann kommen Sie wieder?«

»Wahrscheinlich erst im nächsten Jahre. Bis dahin heißt es, sich gedulden – ich werde mich oft genug zurücksehnen.«

»Nun, ob gerade die Berge daran schuld sind!« meinte der Alte mit dem Anfluge eines bei ihm äußerst seltenen Humors. »Ich glaub' fast, Herr Heinz, Sie haben was Liebes da drunten? Sie kommen mir so merkwürdig vor.«

Ueber die Wangen des jungen Mannes floß eine verräterische Glut, aber er schüttelte lachend den Kopf.

»Was fällt Ihnen ein, Ambros! Wollen Sie mich etwa zur Rede stellen wie vorhin dieser tolle Bursche, der mich auf offenem Wege überfiel und mir auf den Kopf zusagte, ich sei in seine Gundel verliebt.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Ambros, aufmerksam werdend.

»Ein Mensch, den ich zum erstenmal in meinem Leben sah, als ich ihm dort unten begegnete. Vinzenz Ortler nannte er sich. Sie müssen ihn ja kennen, denn er behauptete geradeswegs vom Berghofe zu kommen.«

Das Gesicht des alten Bauern verfinsterte sich, und er hielt mit seiner Arbeit inne.

»Der Vinzenz! Ja, der ist hier gewesen! Also Sie hat er gemeint mit seiner Red'. Herr Heinz, ich rat' es Ihnen im guten, lassen Sie das Mädel in Ruh', mit dem Ortler ist nicht zu spaßen.«

»Will ich ihm denn etwa sein Mädchen nehmen? Ich denke nicht daran!«

»Nun, wenn Sie es nicht thun, dann denkt die Gundel daran. Der Vinzenz ist fuchswild, weil sie drauf und dran war, ihm den Handel aufzusagen.«

»Um meinetwillen?«

»Um eines Fremden willen, der ihr auf Schritt und Tritt nachgeht und mit ihr schön thut – das sind Sie doch wohl? Aber ich sag' es Ihnen noch einmal, lassen Sie von dem Mädel, sonst nimmt's ein schlimmes End'!«

Es grollte in der Stimme des Alten, als er diese Warnung aussprach, aber Heinz sah ihn völlig verständnislos an. Auf einmal jedoch schien ihm ein Gedanke zu kommen, und ein verächtlicher Ausdruck flog über seine Züge.

»Ah so,« murmelte er. »Jetzt fange ich an zu begreifen! Darum also studiert man das Volksleben im Thalwirtshaus und fühlt sich angewidert' von den rohen Elementen. Sehen Sie mich nicht so finster an, Ambros, Sie sind im Irrtum. Ich kenne die hübsche Gundel allerdings und habe bisweilen im Wirtshause mit ihr gelacht und geplaudert, wie das jeder Gast thut. Vor einigen Tagen habe ich sie zufällig auf dem Wege getroffen und begleitet, und da muß dieser Othello in Bergschuhen uns gesehen haben; jetzt verstehe ich erst seine Drohungen und seine Wut auf mich. Er soll sich aber damit gefälligst an einen andern wenden, es liegt eine Verwechselung der Person vor. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß zwischen dem Mädchen und mir auch nicht die geringste engere Vertraulichkeit herrscht.«

Diese Worte klangen so bestimmt und der junge Mann sah so ehrlich und offen dem alten Bauern in die Augen, daß dessen finsteres Gesicht sich aufhellte.

»Wenn Sie es sagen, wird's schon recht sein,« nickte er. »Aber dann thun Sie es auch dem Vinzenz zu wissen, daß er sich irrt. Es könnt' sonst doch was Schlimmes abgeben.«

»Soll ich ihm etwa nachlaufen und ihm gute Worte geben?« rief Heinz ärgerlich. »Dazu war der Bursche denn doch zu grob. Wenn die Eifersucht ihn so toll und blind macht, daß er auf den ersten besten losstürzt, ohne zu fragen, ob er auch den rechten vor sich hat, so mag er die Folgen tragen. Wenn ihn die Gundel nicht aufklärt, ich thue es gewiß nicht.«

Er lehnte sich zurück und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Bergen zu. Die umliegenden Gipfel standen jetzt in voller Abendglut, und der höchste von allen, die Schneespitze, begann sich auch zu färben. Das Eisfeld in der Scharte des Felskolosses, das wie ein erstarrter Strom aussah, der sich in das Thal ergießen wollte, und dem eine höhere Macht Halt geboten, schimmerte in einem wahren Rosenglanze, aber die Farben wurden dunkler mit jeder Minute.

Berghofer hatte seine Arbeit wieder aufgenommen, aber er schüttelte den Kopf.

»Der Vinzenz hat Ihnen gedroht, sagen Sie? Da gilt's sich in acht zu nehmen. Der droht nicht bloß – der schlägt zu!«

»Nun, dann wird er erfahren, daß ich auch nicht mit mir scherzen lasse. Für diesmal hat mir die Sache noch Spaß gemacht, ich wußte ja auch gar nicht, was er eigentlich meinte. Kommt er mir aber noch einmal in den Weg und will keine Vernunft annehmen, so werde ich ihm zeigen, daß ich weder ihn noch seinen Stutzen fürchte.«

»Wenn's noch Zeit ist,« warf Ambros trocken ein. »Die Kugel kann sitzen, eh' Sie ihn zu Gesicht bekommen.«

»Wie? Glauben Sie etwa, er könnte aus dem Hinterhalt auf mich schießen?«

»Warum nicht, das wär' nur sein Recht.«

»Sein Recht!« fuhr der junge Mann empört auf. »Ambros, sind Sie von Sinnen?«

»Nun, gegen Sie nicht, Herr Heinz, das versteht sich, aber gegen den andern, der ihm sein Mädel abwendig macht. Wenn er den niederschießt –«

»So wäre es gleichfalls ein Mord, ein Meuchelmord!«

Ambros ließ ein kurzes, heiseres Lachen hören.

»Eine Rache wär's, nichts weiter,« sagte er mit unbeugsamer Härte, »und ich würd' dem Vinzenz nicht gram sein darum. Was soll man denn thun, wenn das Mädel keinen Verstand hat, mit offenen Augen ins Unglück rennt und die ehrliche Liebe zurückstößt.«

»Dann soll man offen und ehrlich kämpfen um seine Liebe,« erklärte Heinz mit Nachdruck. »Und wenn man dennoch weichen und einem Schlechteren das Feld räumen muß – nun dann war die Liebste nicht viel wert und man muß es verschmerzen.«

»So, muß man das?« brach der Alte mit bitterem Hohne aus. »Ich sag' Ihnen aber, man verschmerzt's nicht, und man braucht's auch nicht. Das Mädel gibt sich schon, wenn man nur die rechte Schneid' hat und der andre aus dem Wege ist. Aber aus dem Wege muß er, sonst gibt's keine Ruh'.«

Heinz sah ihn betroffen an, er gewahrte zum erstenmal in dem Gesicht Berghofers diesen seltsamen Ausdruck, diesen Zug kalter, wilder Grausamkeit. Dabei waren die weißen Brauen drohend zusammengezogen und die braune, sehnige Faust spannte sich fest um den Stiel der Axt, als sei es eine Waffe. Freilich, diese Bergbewohner waren in manchen Punkten noch ganz ungebändigte Naturen, und ihre Begriffe von Recht und Unrecht verwischten sich oft in bedenklicher Weise. Ambros fand es offenbar ganz in der Ordnung, daß man seinen Nebenbuhler aus dem Wege schaffte und wenn es zur Not auch eine Kugel kosten sollte.

»Sie sprechen, als hätten Sie selbst die Eifersucht gekannt,« sagte der junge Mann endlich. »Haben Sie in Ihrer Jugend auch Liebe und Leid erfahren?«

Ambros lachte wieder. Es war derselbe heisere Ton, der so unheimlich klang.

»Nun, lang' hat es nicht gewährt mit dem Leid,« entgegnete er. »Ich hab' beizeiten ein End' gemacht. Als ich um mein Weib freite und wir schon Brautleut' waren, da ist auch so ein Lump daher gekommen mit Schwatzen und Scherwenzeln und hat dem Mädel den Kopf verdreht. Die Stadtherren verstehen das ja aus dem Grund, ein Fremder ist's gewesen.«

Heinz stutzte und richtete sich rasch empor.

»Ein Fremder?« wiederholte er, mit einem seltsam forschenden Ausdruck. »Wohl einer von den Touristen, die im Sommer in das Thal kommen?«

»Ja, aber ich hab' ihn heimgeschickt – daß er das Wiederkommen vergaß!«

Der junge Mann erhob sich plötzlich und trat einen Schritt seitwärts. Er war nicht furchtsam, aber es wurde ihm eisig kalt unter dem Blick, der jene Worte begleitete, es lag etwas darin von der gesättigten Blutgier eines Raubtieres und jener wilde, grausame Zug trat jetzt in so furchtbarer Deutlichkeit hervor, daß er das Antlitz förmlich entstellte.

»Und wohin haben Sie ihn denn geschickt?« fragte Heinz nach einer Pause.

»Wohin? Nun, nach Haus – wohin denn sonst?« murrte Ambros.

Heinz schwieg, aber sein Auge suchte unwillkürlich die Schneespitze, die immer dunkler aufglühte, während die andern Berge ringsum schon zu erblassen begannen. Das Eismeer der Schneegruben vollends leuchtete blutrot zwischen den schroffen Felswänden der beiden Gipfel. Es war ein unheimlich schöner Anblick.

»Sehen Sie nur diese seltsame Beleuchtung,« sagte der junge Mann endlich, das lange Stillschweigen unterbrechend, das eingetreten war. »Es sieht wahrhaftig aus, als fließe ein Blutstrom von den Schneegruben in das Thal hinab – schauen Sie doch hin, Ambros!«

Aber der Alte schaute nicht auf. Er hämmerte an dem Stiele seiner Axt und erwiderte rauh:

»Der Widerschein ist's! Da oben gibt's kein Blut, nur Eis und Schnee.«

»Freilich, aber auch das kann unter Umständen den Tod geben. Ist nicht schon ein Mensch in den Schneegruben verunglückt? Ich glaube doch davon gehört zu haben.«

Ambros beugte sich tiefer auf seine Arbeit, aber seine Stimme klang kalt und fest, als er antwortete:

»Nein. Hier in der Gegend ist nichts geschehen seit dreißig Jahren. Wird wohl anderswo gewesen sein.«

»Ich rede auch von einer alten, halbvergessenen Geschichte, die viel weiter zurück liegt. Es mögen wohl an fünfzig Jahre her sein. Der Fremde, der damals die Schneespitze besteigen wollte, wurde während eines ausbrechenden Wetters von seinem Führer verlassen und geriet in die Schneegruben, wo er den Tod fand.«

Diesmal gab Ambros keine Antwort, aber er ergriff seine Axt und führte, wie um sie zu proben, einen gewaltigen Hieb in den Boden. Es wohnte noch eine eiserne Kraft in den Armen des Alten, das ganze Erdreich zitterte von dem Schlage.

»Ein grausiges Ende!« fuhr Heinz fort. »Wie mag der Unglückliche nach Hilfe gerufen und gefleht haben! Er ist vermutlich stundenlang umhergeirrt in der Eiswüste, ehe er niedersank. Wahrhaftig, da ist ja eine Kugel, die mitten in das Herz trifft, barmherziger als solch ein endloser Todeskampf. – Sie müssen ja damals ein junger Bursche gewesen sein, Ambros, erinnern Sie sich der Sache wirklich nicht mehr?«

Ambros zuckte zusammen bei der Frage. Es schien ihm jetzt erst klar zu werden, daß nicht der Zufall seinem jungen Gaste diese Worte in den Mund legte. Langsam hob er das Auge, und der Blick hätte Heinz warnen sollen, es drohte unheilverkündend darin.

Aber jene klaren braunen Augen konnten auch furchtbar ernst blicken, sie wichen nicht einen Moment von dem Gesichte des alten Bauern, und dieser schien sie nicht ertragen zu können, denn er wandte sich plötzlich ab.

»Was kümmert's mich – ich weiß nichts davon,« stieß er dumpf hervor. »Aber Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Herr Heinz, wir geraten nicht in die Schneegruben, und Sie kommen frisch und gesund wieder heim, dafür sorg' ich.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der junge Mann, indem er den Hut wieder auf die krausen Locken drückte und nach seinem Bergstocke griff. »Aber ich habe mich anders besonnen – ich gebe die Bergfahrt auf.«

Ambros fuhr zurück, als habe er einen Schlag erhalten.

»Was? Sie wollen nicht nach der Schneespitz'?«

»Nein – gute Nacht, Ambros!«

»Nun, dann bleiben Sie doch zur Nacht hier, wie es ausgemacht war.«

»Auch das nicht. Ich will sofort wieder in das Thal hinunter – gute Nacht!«

Er wollte gehen, aber Berghofer vertrat ihm den Weg und nahm eine drohende Haltung an.

»Das geht nicht, Herr Heinz, das lass' ich nicht zu. In einer halben Stund' ist's dunkel, Sie könnten stürzen – könnten dem Vinzenz begegnen – bleiben Sie hier, nur bis morgen früh.«

»Unter Ihrem Dache – nimmermehr!« rief der junge Mann, sich mit vollster Energie aufrichtend. »Geben Sie Raum, Ambros, und sorgen Sie nicht wegen des Vinzenz. Ich bin gewarnt, ich gehe nicht mit ihm – in die Schneegruben!«

Das unvorsichtige Wort war heraus und von den Lippen des alten Bauern brach ein Schrei, so heiser und wild, wie das Kreischen des Geiers. Die Art blitzte in seiner Hand und hob sich zum tödlichen Schlage, aber blitzschnell war Heinz zurückgesprungen und hielt seinen Bergstock wie eine Lanze vor. Der Hieb traf nur das Holz, das krachend zersplitterte.

Die rasche That schien Berghofer doch einigermaßen zur Besinnung zu bringen. Er wiederholte den Angriff nicht, aber er bot einen furchtbaren Anblick dar, als er keuchend auf seinen Gegner starrte, der jetzt waffenlos war. Doch Heinz fühlte instinktmäßig, daß er in seinem Auge eine Waffe hatte, die hier allein Rettung schaffte. Groß und furchtlos schaute er den Rasenden an, ohne zu sprechen, ohne sich zu regen. Einige Sekunden lang standen sie so, Auge in Auge, dann sank die Axt mit schwerem dumpfem Fall zu Boden, und Ambros senkte das Haupt stumm und scheu wie ein Raubtier, das der Blick des Bändigers bezwungen hat.

Es folgte eine lange, schwere Pause, dann sagte der junge Mann mit einer Ruhe, die freilich erzwungen war:

»Sie lassen mich jetzt wohl gehen, Ambros. Fürchten Sie nichts! Was heute zwischen uns vorfiel, das bleibt auch unter uns, über meine Lippen kommt kein Wort davon, wenn wir uns auch schwerlich wiedersehen werden im Leben.«

Aus der Brust Berghofers brach ein Stöhnen hervor. Er hatte seinen jungen Gast niederschlagen wollen, hätte ihn um ein Haar tödlich getroffen, aber er schien die Verachtung nicht ertragen zu können, die aus jenen Worten sprach.

»Herr Heinz,« murmelte er, und es klang wie bittrer Schmerz in seiner Stimme. »Wollen Sie so – so von mir gehen?«

Heinz sah auf den alten Mann, der vor einer Minute noch so furchtbar, jetzt wie gebrochen vor ihm stand.

»Leben Sie wohl, Ambros!« sagte er leise.

Der Alte streckte die Hand aus, langsam, zögernd, aber es lag etwas Flehendes in dieser Bewegung und in seinen Zügen, doch Heinz, der dem Angriff auf sein Leben so furchtlos standgehalten, wich zurück vor dieser Berührung.

»Leben Sie wohl!« wiederholte er, und sich rasch umwendend, schritt er über die Bergwiese dahin, ohne zurückzublicken. Ambros verharrte regungslos an seinem Platze, nur sein Blick folgte der schlanken Gestalt, die sich immer weiter entfernte, und jetzt, wo der Weg sich senkte, ganz aus seinem Gesichtskreis verschwand.

Die Dämmerung brach schnell herein, auch die unheimliche Purpurglut der Schneespitze war längst geschwunden, nur ein matter, rötlicher Schimmer weilte noch auf ihrem höchsten Gipfel. Jetzt erlosch auch dieser, und kalt und weiß schimmerten die Schneegruben in der Felsenscharte – die Eiswüste, die kein Strahl mehr erwärmte.


Der Tag der Abreise war gekommen, die Gäste der Rehfeldschen Villa sollten heute noch bis zur Bahnstation fahren und morgen von dort aus nach der Residenz zurückkehren. Geheimrat Kroneck war in etwas gedrückter Stimmung; er hatte zuversichtlich gehofft, sein Sohn werde als erklärter Bräutigam Käthchens abreisen, aber diese Hoffnung verwirklichte sich nicht. Eveline hatte ihm freundlich, aber bestimmt erklärt, ihre Tochter sei doch noch zu jung, um sich jetzt schon durch eine Verlobung zu binden, man müsse ihr Zeit bis zum nächsten Jahr lassen. Kroneck konnte füglich dagegen nichts einwenden. Das junge Mädchen war ja eben erst sechzehn Jahre alt geworden, aber es machte ihn doch stutzig, daß Eveline, die sich anfangs einer Beschleunigung so geneigt zeigte, jetzt Aufschub verlangte, und er maß die Schuld davon einzig und allein seinem Sohne bei.

Dieser Heinz, dieser Taugenichts, war imstande, sich all die glänzenden Aussichten zu verscherzen; hatte er sich doch allen Ermahnungen zum Trotze gerade hier von der leichtsinnigsten Seite gezeigt, und wenn man nach der Residenz zurückkehrte, so fing natürlich das alte Treiben wieder an. Die künftige Schwiegermutter schien, Gott weiß auf welche Weise, irgend etwas davon erfahren zu haben, und wenn sie sich eingehender danach erkundigte, konnte der ganze Plan scheitern. Dem Heinz war das in zahlreichen Predigten zu Gemüte geführt worden, aber ohne jeden Erfolg. Er brachte seinen Vater fast zur Verzweiflung mit seinem fortgesetzten Widerstande gegen das »Ehejoch«.

Es war in der That unbegreiflich, wie ein so pünktlicher und gewissenhafter Mann, ein so mustergültiger Geheimrat zu diesem mißratenen Sprößling kam, der es sicher niemals zum Geheimrat brachte. Ja, wer das Glück gehabt hätte, einen so gefeierten, idealen Sohn wie Guido Hellmar zu besitzen! Der alte Herr zog oft genug in Gedanken diesen Vergleich, den er dann regelmäßig mit einem Seufzer über die Ungerechtigkeit des Schicksals abschloß.

Man war zum Abschiede noch einmal im Salon versammelt. Heinz zeigte wieder einmal seine bekannte Herzlosigkeit, denn er trieb, ganz unbekümmert um die bevorstehende Trennung, allerlei Possen mit Käthchen, die auch ihrerseits den Abschied sehr leicht zu nehmen schien und in seinen Uebermut einstimmte.

Um so wehmütiger war die Gruppe an dem Armsessel Evelines. Der Geheimrat sah ernst und traurig aus, in dieser Stunde traten alle eigennützigen Berechnungen zurück vor dem Gedanken, daß er die junge Frau schwerlich wiedersehen werde. Sie erlebte sicher nicht den nächsten Sommer, wo man ein Wiedersehen plante, man brauchte nur einen Blick in ihr Antlitz zu werfen, das heute so unendlich leidend und bleich erschien. Sie versuchte das zwar mit einer schlaflosen Nacht zu erklären, aber man bemerkte doch deutlich die Spuren vergossener Thränen, die sich nicht so schnell beseitigen ließen.

Hellmar nahm mit großer Genugthuung diese Spuren wahr, die natürlich nur seinem Scheiden galten. Das »Nein«, welches er erhalten, beirrte ihn nicht im geringsten. Eveline hatte es ja ausgesprochen, daß sie ihn und seinen Dichterruhm zu hoch stelle, um ihn an das Krankenbett einer leidenden Gattin zu fesseln. Sie hielt sein Glück höher als das ihrige und wandte sich mit blutendem Herzen ab von dem »Sonnenstrahl«. Dieser aber war keineswegs gewillt zu verzichten. Er sprach soeben seine Absicht aus, nach einigen Monaten in das ihm so teuer gewordene Thal zurückzukehren und hier einen längeren Herbstaufenthalt zu nehmen. Merkwürdigerweise erheiterte auch das die junge Frau nicht, sie lächelte wohl flüchtig, aber ihr Auge blieb trübe und streifte bisweilen, wie vorwurfsvoll, das übermütige, junge Paar am Fenster.

Hellmar hatte natürlich seine Abschiedsempfindungen in einem Gedichte ausgeströmt, das er ebenso natürlich vorlas, ehe er es Frau Rehfeld überreichte, daraufhin verließ auch Käthchen ihren Platz, um an der allgemeinen Rührung teilzunehmen. Heinz dagegen zeigte sich wieder unglaublich rücksichtslos. Sobald das Manuskript zum Vorschein kam, erklärte er, er müsse noch einmal nach seinem Zimmer, um etwas Vergessenes in seinen Koffer zu legen, übrigens kenne er das Gedicht schon, da Guido es ihm gestern abend vorgelesen habe.

»Als ob man dergleichen nicht zweimal hören könnte!« rief der Geheimrat, gereizt über den Aerger, der ihm noch im letzten Moment bereitet wurde, aber Guido legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

»Lassen Sie ihn, Papa Kroneck! Er hat nun einmal keine Empfindung für die Poesie, das ist wirklich nicht seine Schuld.«

»Und er scheint auch keine Empfindung für Abschiedsstimmungen zu haben,« fiel Eveline mit kaum verhaltener Bitterkeit ein. »Ich glaube, Heinrich kann kaum die Zeit erwarten, bis er im Wagen sitzt.«

Heinz war längst zur Thür hinaus. Guido begann nun vor seinen andächtig lauschenden Zuhörern die Verse zu lesen, die in Schwermut und Trennungsweh förmlich zerflossen, und auch sofort Thränen in die Augen der Damen lockten; sogar der alte Herr zog sein Taschentuch hervor, und schließlich wurden dem Dichter selbst die Augen feucht.

Heinz schien inzwischen sehr wenig Eile mit seinem Koffer zu haben, denn anstatt die Treppe nach dem Fremdenzimmer hinaufzusteigen, schritt er durch den Korridor und öffnete am Ende desselben eine Thür.

Es war ein kleines trauliches Gemach, in welches der junge Mann jetzt eintrat. Das einzige breite Fenster gewährte zwar nicht jene weite Aussicht, wie sie der Salon und die Terrasse boten, es war nur ein Blick in stille Waldes- und Bergeseinsamkeit, ganz ähnlich wie von jener Waldhöhe. Auch hier blinkte fern der Spiegel des Sees auf, aber heute glänzte er im vollen Sonnenschein, und helles, goldiges Mittagslicht lag auf den grünen Baumwipfeln.

In dem kleinen Zimmer dagegen war es schattig und kühl. Die matten, gedämpften Farben der Tapeten, der grüne Seidenstoff der Möbel und Vorhänge und die Blumen am Fenster und in den Vasen gaben dem Zimmer etwas ungemein Anheimelndes. Ueber dem Sofa hing ein Gemälde, ein allerliebstes Kinderbild; Heinz kannte das zierliche Geschöpfchen in dem weißen Kleide mit dem kurzen lockigen Haar, das heute noch ebenso schelmisch blickte und ebenso herzlich lachen konnte wie damals, aber sein Blick glitt nur ganz flüchtig über das Bild seiner künftigen Braut und blieb an einem Aquarell hängen, das unmittelbar darunter seinen Platz gefunden hatte.

Es war die junge Stiefmutter, wohl zu der Zeit gemalt, als sie dem Vater Käthchens die Hand reichte. Das schlanke achtzehnjährige Mädchen war kaum lieblicher gewesen als die dreiundzwanzigjährige Frau, nur der Leidenszug fehlte in dem zarten Antlitz, und die großen dunklen Augen, die jetzt so müde und verschleiert aussahen, hatten noch die ganze hoffnungsfreudige Schwärmerei der Jugend. Ob sie wohl jemals wieder so blicken konnten?

Der junge Mann stand minutenlang im Anschauen des Bildes versunken, aber auf einmal richtete er sich mit einer halb unwilligen Bewegung auf.

»Ich werde wahrhaftig noch ganz und gar zum Träumer, und muß doch die Zeit benutzen, wo Guido dort drüben alles mit seinen Abschiedsthränen überschwemmt. Gestern war es nicht möglich, den Raub auszuführen, vielleicht gelingt es noch in der letzten Minute.«

Er trat zu dem Schreibtisch am Fenster und überflog mit einem raschen Blick das elegante Schreibgerät und die Bücher. Die Gedichte Guido Hellmars, im Prachteinbande mit Goldschnitt und einer eigenhändigen poetischen Widmung des Dichters, nahmen selbstverständlich den Ehrenplatz ein; Heinz schob sie ungeduldig beiseite.

»Gott sei Dank, daß meine schöne Alpenfee hier nicht ihren Ruheplatz gefunden hat,« sagte er spöttisch. »Es war ein andres Buch, irgend ein altes vorsündflutliches Exemplar, ich sah deutlich die vergilbten Blätter. Wo mag es nur hingekommen sein? Ah, dort!«

Damit zog er ein altes, ziemlich unscheinbares Buch unter dem Briefbeschwerer hervor, das offenbar als Pflanzenpresse benutzt worden war, denn als der junge Mann es öffnete, schimmerte ihm das tiefe Blau seiner »Alpenfee« von dem vergilbten Papier entgegen.

Die Blume war augenscheinlich mit der größten Sorgfalt und Vorsicht getrocknet worden, weder Farbe noch Form hatten gelitten, nur der Purpur des Kelches war zum dunklen Violett geworden, aber das goldige Krönchen zeigte noch unverändert seine zierliche Gestalt. Daneben lag ein beschriebenes Blatt, auf dem Heinz seine eigene Handschrift erkannte, der Spruch, der die alte Sage von der Blume des Glückes enthielt.

»Eigentlich ist es doch Diebstahl!« murmelte der junge Mann unentschlossen. »Bah, im Grunde stehle ich doch nur mein Eigentum; was ich verschenke, kann ich auch wieder zurücknehmen, und ich brauche dies Unterpfand notwendiger als sie.«

Er streckte die Hand aus und war eben im Begriff, die Blume aus dem Buche zu nehmen, als plötzlich eine Stimme hinter ihm sagte:

»Heinrich – Sie hier?«

Heinz schrak zusammen, als sei er wirklich auf einem Diebstahl ergriffen worden. Wie ein ertappter Verbrecher stand er da, flammendrot im ganzen Gesicht, während Eveline mit dem äußersten Befremden hinzufügte:

»Ich glaubte, Sie seien droben in den Fremdenzimmern.«

»Und nun fragen Sie natürlich, was der Eindringling in Ihrem Boudoir und an Ihrem Schreibtische zu suchen hat,« sagte Heinz, sich rasch fassend.

Die junge Frau schwieg, aber die Frage stand deutlich genug in ihren Augen geschrieben, sie konnte sich offenbar das Hiersein nicht erklären.

»Nun denn – ich wollte stehlen!«

»Stehlen?«

»Ja, leugnen kann ich es leider nicht, denn hier liegt ja das corpus delicti, und Sie müssen es gesehen haben, wie ich die Hand danach ausstreckte.«

»Die Blume wollten Sie nehmen? Weshalb forderten Sie nicht offen Ihr Eigentum zurück? Sie haben es ja mit Lebensgefahr erobert.«

»Bah, deshalb lege ich keinen Wert darauf, ich habe wohl ein Dutzend solcher Bergfahrten gemacht,« erklärte Heinz. »Aber ich wollte – nun ja, ich wollte ein Andenken an jenen Abend, wo mir so eindringlich der Text gelesen wurde, und schämte mich, das einzugestehen.«

Er sah in der That aus, als gestehe er ein Unrecht zu. Eveline war langsam näher getreten, und in ihrer Stimme klang ein Vorwurf, als sie erwiderte:

»Und da ließen Sie mich glauben, daß Sie in der Abschiedsstunde nur Possen im Kopfe hätten? Ihre Gleichgültigkeit gegen die Trennung von uns hat mir recht – wehe gethan.«

»Haben Sie denn das überhaupt bemerkt?« fragte der junge Mann bitter. »Guido nahm Sie ja so vollständig in Anspruch, daß ich gar nicht für Sie vorhanden zu sein schien.«

Eveline gab keine Antwort; drüben im Salon triumphierte Hellmar, weil sie beim Schluß seines Gedichtes, das in einem schmelzenden »Lebewohl!« ausklang, mit ausbrechendem Weinen das Zimmer verlassen hatte. Die Thränen galten allerdings einem Abschiede, und doch waren sie jetzt versiegt, und ein leises, glückliches Lächeln dämmerte in den blassen Zügen auf.

»Heinrich –« begann sie, aber er fiel ihr beinahe ungestüm in das Wort.

»O, gnädige Frau, noch eine Bitte! Den ›Heinrich‹ bekomme ich von dem Papa nur bei seiner allerhöchsten Ungnade zu hören, und von Ihren Lippen habe ich ihn stets gehört, weil ich bei Ihnen immer in Ungnade stand. Begnadigen Sie mich jetzt zum Abschiede und nennen Sie mich auch einmal Heinz, wie die andern.«

Die junge Frau zögerte einige Sekunden. Der vertrauliche Name schien nicht über ihre Lippen zu wollen, aber die Augen des Bittenden unterstützten so beredt seine Worte, daß sie sich endlich zu der Gewährung herbeiließ.

»Bisweilen sind Sie mir ganz unverständlich – Heinz. So nehmen Sie denn die Blume, Ihr Versprechen aber behalte ich.«

»Bis ich es bei Ihnen einlöse!« fiel er mit leuchtenden Augen ein.

»Bei mir?« Der alte trübe Schatten glitt wieder über Evelines Antlitz. »Bei Käthchen sollen Sie es einlösen, ich habe schwerlich Zeit, darauf zu warten.«

»Sie fühlen sich schlimmer seit einigen Tagen,« sagte Heinz mit gedämpfter Stimme, indem er zu ihr an das Fenster trat.

»Ich weiß es, aber ich hoffe viel, hoffe alles von der Behandlung des Doktors Eberhard. Mein Vater und Guido machen es mir freilich zum Vorwurf, daß ich diesen rücksichtslosen Arzt herbeirief. Muß ich das auch bei Ihnen büßen?«

»Nein – Heinz,« – der Name wurde immer noch mit einer leisen Zögerung ausgesprochen – »ich weiß, Sie haben es gut gemeint und danke Ihnen dafür, aber Sie werden doch nicht im Ernste verlangen, daß ich mich der Behandlung eines Mannes unterwerfe, dessen gewaltsames, ja geradezu rohes Wesen mir jenen Nervenanfall zugezogen hat, an dem ich noch leide.«

»Wie? Sie wollen den Doktor Eberhard nicht als Arzt annehmen?«

»Nun und nimmermehr! Ich habe genug an diesem ersten Besuch und an dieser Probe seiner Heilmethode, die mir in acht Tagen den Tod geben würde.«

»Und wenn sie Ihnen nun statt dessen das Leben wiedergibt? Wenn Ihre Rettung der Preis ist?«

Eveline sah halb betroffen, halb ungläubig zu dem jungen Mann empor.

»Hat er Ihnen etwa Hoffnung gegeben in Bezug auf meinen Zustand?«

»Er wird sich hüten! Ich wäre der letzte, den er in sein Vertrauen zieht, aber zwischen mir und dem Herrn Doktor besteht so eine Art Freimaurerei, wir verstehen uns durch bloße Zeichen, und ich weiß auf das allerbestimmteste, daß er Hoffnung hat. Dieser alte Egoist, der mit der ganzen medizinischen Welt im Kriege lebt und sich mit Händen und Füßen gegen jede Praxis sträubt, würde um keinen Preis eine aussichtslose Kur übernehmen, und ein Kranker, dem nicht mehr zu helfen ist, hätte gar keinen Anspruch auf die Ehre seiner Behandlung. Aber die Diagnose seiner berühmten Kollegen über den Haufen werfen, dem Professor Mertens beweisen, daß er sich geirrt hat, und durch eine triumphierende Darlegung des Falles den sämtlichen Herren einen unendlichen Aerger bereiten – das ist so recht nach seinem Geschmack, das reizt ihn. Er hat sich freiwillig erboten, Ihre Behandlung zu übernehmen, also hofft er auch, Sie herzustellen, und Sie dürfen überzeugt sein, daß er seine ganze Wissenschaft und Energie daran setzen wird.«

Die junge Frau hatte schweigend zugehört; jetzt schüttelte sie ruhig, aber entschieden das Haupt.

»Sie täuschen sich, oder vielmehr Sie setzen ein blindes Vertrauen in diesen Eberhard. Ich thue das nicht, sondern halte mich an die Aussprüche seiner Kollegen. Wenn er in der That eine solche Autorität wäre, so würde er nicht hier in der Einsamkeit, wie in einer Verbannung leben.«

»Er ist eben ein Sonderling, der sich mit keinem der Berufsgenossen verträgt, ein Menschenfeind –«

»Um so weniger werde ich mich ihm anvertrauen. Wenn er wirklich wiederkommt, so werde ich in aller Höflichkeit für seinen Besuch danken lassen. Ihr Vater ist darin ganz auf meiner Seite, und Hellmar hat es geradezu von mir verlangt; auch er findet es unverantwortlich,‚ wenn ich mich noch einmal von den Launen eines Arztes mißhandeln lasse, der statt der Heilmittel nur Grobheiten für seine Patienten hat.«

Die ganze nervöse Gereiztheit einer Kranken sprach aus diesen Worten; man sah es, Doktor Eberhard hatte mit seiner Grobheit hier gründlich verspielt. Heinz schwieg. Er nahm die Blume und legte sie sorgfältig zwischen die Blätter seiner Brieftasche, dann trat er wieder zu der jungen Frau, die sich abgewendet hatte, als wolle sie dem Gespräche ein Ende machen.

»Eveline!«

Sie zuckte zusammen und eine tiefe Röte stieg langsam in ihrem Antlitz auf. Es war das erste Mal, daß sie ihren Namen von diesen Lippen hörte.

»Guido verlangt die Weigerung von Ihnen,« fuhr Heinz fort, »und ich bitte Sie, sich dem Doktor Eberhard anzuvertrauen. Werde ich vergebens bitten?«

Die Glut in Evelines Gesicht wurde noch tiefer, aber sie machte eine abwehrende Bewegung.

»Nein, Heinz, muten Sie mir das nicht zu, ich kann nicht! Meine ganze Natur sträubt sich gegen die Art und Weise dieses Mannes; ich habe nun einmal kein Vertrauen zu ihm.«

»Nun, dann thun Sie es – um meinetwillen!«

Die junge Frau schwieg; sie stand am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt und sah nicht auf, aber jetzt beugte sich Heinz zu ihr nieder, und leise, mit verschleierter Stimme, wiederholte er:

»Eveline – Evi – um meinetwillen!«

Jetzt endlich hob sie das Auge, das einige Sekunden lang in dem seinigen ruhte, dann reichte sie ihm die Hand, und er zog sie an seine Lippen. Das Versprechen war ebenso wortlos, wie der Dank dafür.

Der junge Mann behielt die Hand in der seinigen, und so standen sie nebeneinander und blickten hinaus in die sonnige Landschaft, wie lange, das wußten sie selbst nicht, bis draußen auf dem Korridor die Stimme des Geheimrats ertönte:

»Heinz, wo steckst du denn? Der Wagen ist bereits vorgefahren!«

Und Hellmar fügte in scharfem Tone hinzu:

»Ja, der Heinz ist wieder unpünktlich, wie gewöhnlich!«

Der Gerufene fuhr empor. Er gab die schmale Hand frei, die noch in der seinigen ruhte und durch die jetzt ein leichtes Beben rieselte.

»Ich baue auf Ihr Versprechen, bauen Sie auf das meinige und – leben Sie wohl, Eveline!«

In der nächsten Minute hatte er das Gemach verlassen und schritt durch die anstoßenden Zimmer nach dem Salon. Die junge Frau blieb allein, aber gleich darauf erschien Käthchen bei ihr und meldete:

»Mama, Herr Hellmar wünscht dich noch einen Augenblick allein zu sprechen. Er möchte dir nochmals lebewohl sagen.«

Eveline sah auf, als werde sie jählings und rauh aus einem Traume geweckt.

»Wozu das? Wir haben ja bereits Abschied genommen!«

»Du willst ihn nicht sehen?« fragte Käthchen, erstaunt über den gleichgültigen Ton.

»Nein. Sage ihm, ich sei zu angegriffen, ich bedarf jetzt ungestörter Ruhe.«

Das junge Mädchen entfernte sich gehorsam. Hellmar empfing die Nachricht zwar mit Bedauern, aber doch mit geheimer Befriedigung. Er sah in dieser Angegriffenheit nur die tiefe Wirkung seines Gedichts und des Abschieds.

Wenn er geahnt hätte, daß auch nicht ein einziger jener schönen, rührenden Verse mehr in dem Gedächtnis Evelines haftete. All die Poesie, womit er sie wochenlang so reichlich überströmt hatte, all die Huldigungen und sogar seine romantische Liebeserklärung waren vergessen, ausgelöscht von einem einzigen kleinen Worte, das ein andrer ausgesprochen hatte:

»Evi – um meinetwillen!«


Ein Jahr war vergangen, wieder war der Mai gekommen, aber diesmal brachte er Wärme und Sonnenschein; und das schöne Frühjahr lockte manchen Touristen zeitiger als sonst in die Berge.

Doktor Eberhard bewohnte noch immer das kleine Landhäuschen, das er jetzt gekauft hatte, nur um ungebetene Gäste hinauswerfen zu können, wie er erklärte. Die Besitzung war im Laufe des Sommers von verschiedenen Kauflustigen besichtigt, oder vielmehr, es war der Versuch dazu gemacht worden, denn Martin schlug ihnen auf Befehl seines Herrn die Thür vor der Nase zu. Da aber schritt der Besitzer ein, der energisch auf seinem Rechte bestand, und das Ende war, daß der Doktor das Haus Hals über Kopf kaufte, nur um Ruhe zu haben.

Jetzt war er freilich vor Störungen sicher. Die Art, wie er die Kauflustigen hinausgeworfen, blieb kein Geheimnis und schützte ihn vor dem Besuche jedes Fremden, von den Einheimischen aber wagte sich ihm schon längst keiner mehr zu nahen. Diese Ruhe behagte ihm so, daß er beschloß, auch den ganzen Winter hier zu bleiben, um so mehr, als er ein größeres wissenschaftliches Werk unter der Feder hatte. Martin, der ebenso menschenfeindlich war wie sein Herr und deshalb auch bei diesem sehr viel galt, war ganz damit einverstanden. Doktor Gilbert hatte zwar keine Stimme im Hause, zeigte sich aber auch zufrieden, sehr zufrieden sogar, denn auf den bestimmten Befehl Eberhards hatte Eveline Rehfeld die für den Herbst geplante Reise nach Italien aufgegeben und war hier geblieben.

Es war im Grunde eine furchtbare Zumutung für die junge Frau, die seit zwei Jahren nur in dem milden sonnigen Winter des Südens Linderung suchte, hier im Hochgebirge auszuhalten, mitten in Eis und Schnee, aber ihr Arzt forderte nun einmal unbedingten Gehorsam und fand ihn auch.

Allerdings nahm er sich andrerseits seiner Patientin mit der größten Sorgfalt an. In der ersten Zeit war er beinahe täglich gekommen, um »die arme Mama zu mißhandeln«, wie Käthchen sich ausdrückte, die oft genug versuchte, ihre Stiefmutter zur Rebellion anzustiften, aber vergebens. Eveline, die nervöse, reizbare Eveline, die durch die übertriebene Schonung ihrer Umgebung im höchsten Grade verwöhnt war, zeigte jetzt eine so geduldige Fügsamkeit, einen so unbedingten Gehorsam, daß sogar der Doktor ein menschliches Rühren empfand und anfing, das »Objekt der Wissenschaft« etwas rücksichtsvoller zu behandeln. Es bildete sich zwischen ihm und seiner Patientin nach und nach ein ganz erträgliches Verhältnis, während er mit Käthchen nach wie vor auf dem Kriegsfuße stand.

Von einem sonstigen Verkehr war freilich nicht die Rede; und die Hoffnung, die Heinz so bestimmt ausgesprochen hatte, daß die Damen an dem Doktor Gilbert einen angenehmen Umgang finden würden, bestätigte sich nicht. Eberhard kam stets angefahren wie ein Sturmwind, fegte wie ein solcher mit Fragen, Befehlen und Anordnungen durch den Salon und fuhr ebenso stürmisch wieder davon. Seinen Assistenten brachte er überhaupt nur selten mit, und wenn es geschah, ließ er ihn nicht einen Moment von seiner Seite, so daß der junge Mann, dessen Schüchternheit ihn meist zu einer stummen Rolle verdammte, den Damen noch ebenso fremd gegenüberstand, wie im Anfange der Bekanntschaft.

 

Es war am Spätnachmittage. Eberhard saß an seinem Schreibtische, ganz vergraben in Büchern und Manuskripten, als Martin eintrat, um die Postsachen in Empfang zu nehmen, die er meist um diese Zeit beförderte. Sein Herr schob ihm einige Briefe hin und fragte dabei:

»Ist Doktor Gilbert schon zurück?«

»Nein – noch auf dem Spaziergange!« erklärte Martin trocken, indem er die Briefe an sich nahm.

»Nun, darin wenigstens ist er jetzt pünktlich geworden,« sagte der Doktor, »sonst aber macht er mir Sorge genug. Er behauptet fortwährend, daß ihm nichts fehle; dabei sieht er aus, wie ein bleichsüchtiges Mädchen, und trägt eine wahre Leichenbittermiene zur Schau. Er hat sich damals beim Examen überarbeitet, seit der Zeit datiert die Geschichte. Ich fürchte, es ist etwas nicht in Ordnung in seinem Gehirn.«

»Nun, ob es gerade im Gehirn steckt –!« ließ sich der alte Diener mit sehr zweifelhafter Miene vernehmen, sein Herr aber fiel ihm ärgerlich in das Wort:

»Was verstehst du davon? Ich sage dir, die Symptome sind sehr bedenklich und deuten auf eine beginnende Hirnkrankheit. Er ist ganz stumpf und gleichgültig bei den interessantesten wissenschaftlichen Erörterungen, bisweilen versteht er meine Fragen gar nicht und gibt verkehrte Antworten, bei den Experimenten macht er eine Dummheit über die andre, so daß ich ihm die Sachen aus den Händen reißen muß, und neulich, als ich ihm eine Abhandlung über die Infektionskrankheiten diktierte, hat er ganz verwirrtes Zeug hingeschrieben; das Manuskript war vollständig unbrauchbar. Ich werde ihn noch ganz vom Arbeiten entbinden müssen, und er soll mir noch mehr hinaus ins Freie.«

»Das ist gar nicht nötig,« brummte Martin. »Er läuft so schon den halben Tag um die Villa Rehfeld herum.«

»Um die Villa Rehfeld? Was hat er denn dort zu thun?«

»Das weiß ich nicht, aber seit Wochen geht er bei seinen sogenannten Spaziergängen geradeswegs nach der Villa, schaut sich die Fenster an, läuft dreimal um den Park und läuft dann schnurstracks wieder nach Hause.«

»Da haben wir es! Da haben wir den Anfang einer fixen Idee! Das ist doch offenbar Verrücktheit.«

»Je nachdem – es kann auch Verliebtheit sein.«

Der Doktor fuhr von seinem Stuhl in die Höhe und starrte den Sprechenden an, als traue er seinen Ohren nicht.

»Martin, ich glaube, du hast selbst den Verstand verloren. Mein Assistent?«

»Unser Assistent – ja, Herr Doktor! Verliebt ist er bis über beide Ohren. Ich habe es ja gesagt, daß mit dem Frauenzimmer das Unheil in das Haus kommen würde! Ich habe es ihm gleich angesehen, dem Irrwisch, der so naseweis in unsre Bibliothek hineingeschossen kam, ohne um Erlaubnis zu fragen.«

»Was?« schrie Eberhard wütend. »Diese Katharina Rehfeld? Dieses winzige Geschöpf? Dieses kleine Ding, das noch in die Kinderstube gehört?«

»Dieser Irrwisch, der mich ausgelacht hat!« schrie Martin, ebenso wütend. »Ja, es ist himmelschreiend!«

Der Doktor stieß den Stuhl zurück und begann wie ein gereizter Löwe im Zimmer auf und nieder zu gehen. Er hatte allerdings Verdacht geschöpft damals, als Gilbert die Glasplatte fallen ließ, und ihn infolgedessen wie ein Argus gehütet, wenn er ihn mit nach der Villa nahm, damit aber war, seiner Ansicht nach, jedem weiteren Unheil vorgebeugt und schließlich hatte er die ganze Sache vergessen. Die Enthüllung seines alten Vertrauten über die vermeintliche Gehirnkrankheit traf ihn daher wie ein Donnerschlag, aber er zweifelte noch immer daran.

»Es ist unmöglich!« erklärte er. »Rein unmöglich! Gilbert ist ja ein vernünftiger Mensch.«

»Das nützt nichts,« warf Martin ein. »Sobald ein Frauenzimmer in das Spiel kommt, werden die Mannsleute allesamt verrückt, und unser Doktor Gilbert ist gerade in dem Alter zum Verrücktwerden.«

»Aber er hat sie ja kaum gesehen und gar nicht gesprochen. Ich habe ihn nicht von meiner Seite gelassen, wie kann er sich denn da verlieben?«

»Ja, so etwas fliegt durch die Luft!« belehrte der alte Diener, der noch einige Erinnerungen aus der Jugendzeit zu bewahren schien, seinen Herrn. »Das packt den Menschen, wie eine von Ihren Infektionskrankheiten, und dann liegt er da und ist fertig.«

»Er soll sich nicht unterstehen!« brauste der Doktor von neuem auf. »Wozu habe ich mir diesen Menschen denn erzogen? Mein Assistent sollte er sein, zeitlebens aber einen Verliebten kann ich nicht gebrauchen. Ich drehe ihm den Hals um und seiner Katharina ebenfalls.«

»Nützt gar nichts, Herr Doktor,« beharrte Martin. »Bei unsrem Assistenten nützt überhaupt nichts mehr. Der ist bis aufs Aeußerste, der macht schon Gedichte.«

»Was macht er?« rief Eberhard, der heute von einem Entsetzen in das andre fiel. Martin zog ein beschriebenes Blatt hervor, das er ihm mit düsterer Feierlichkeit überreichte.

»Das habe ich vorhin auf seinem Schreibtisch gefunden. Es ist die Abhandlung – Ihre Abhandlung, Herr Doktor! Sehen Sie sich nur die Rückseite an, das hat er im Kopfe gehabt beim Niederschreiben.«

Es war in der That die Abhandlung über die Infektionskrankheiten. Der junge Arzt hatte die Rückseite des unbrauchbar gewordenen Manuskripts zu einem poetischen Versuche benutzt, der zwar in Bezug auf Reim und Versmaß noch viel zu wünschen übrig ließ, aber doch zweifellos ein Gedicht sein sollte, und zum Ueberfluß kam der Name Katharina dreimal darin vor.

»Wahrhaftig, es sind Verse!« sagte Eberhard vernichtet.

»Jetzt ist's aus!«

»Rein aus!« bestätigte Martin in einem Grabestone, und die beiden sahen sich an, als sei nun der Stab über den unglücklichen Assistenten gebrochen.

Der Doktor schien sehr geneigt, die Infektionskrankheiten samt ihrem poetischen Anhängsel zu zerreißen, als ihm plötzlich einfiel, daß sich beides als Anklagematerial verwerten ließe; er warf es daher auf den Schreibtisch und brach in ein grimmiges Gelächter aus.

»Nun, wir werden ja sehen! Sobald Gilbert zurückkehrt, bringst du ihn zu mir. Ich werde ihn ins Gebet nehmen und gnade ihm Gott, wenn du recht hast. Er soll mich kennen lernen!«

»Ja, er soll uns kennen lernen!« wiederholte Martin, indem er triumphierend das Zimmer verließ. »Verlieben – verloben, vielleicht am Ende gar heiraten! Er soll uns kennen lernen!«

 

Doktor Gilbert, der keine Ahnung hatte von dem Unwetter, das sich über seinem Haupte zusammenzog, war inzwischen auf seinem gewohnten Spaziergange begriffen, das heißt, er umkreiste die Villa Rehfeld mit einer Ausdauer und Regelmäßigkeit, die die Annahme einer fixen Idee allerdings gerechtfertigt erscheinen ließ. Zum Glück waren die Anlagen so ausgedehnt, daß der Weg um das Parkgitter immerhin für einen Spaziergang gelten konnte, den man wegen der Aussicht auf das Thal unternahm.

Heute jedoch schien der junge Doktor etwas Besonderes im Schilde zu führen, denn er hatte an der Rückseite des Parkes Posto gefaßt und beobachtete angelegentlich eine kleine Laube, die sich an das Gitter lehnte und schon von lichtem Grün umrankt war. Sie war augenblicklich leer, aber das Arbeitskörbchen auf dem Tisch und die darüber hingeworfene Stickerei verrieten, daß jemand dagewesen sei und auch vermutlich zurückkehren werde.

Neben der Handarbeit lag ein zierliches Bändchen mit Goldschnitt, selbstverständlich die neuesten Gedichte Guido Hellmars, die soeben erschienen waren, und die er selbst aus der Residenz mitgebracht hatte, denn die Villa beherbergte seit einigen Wochen wieder den berühmten Gast. Er hatte sein Versprechen, im Herbste zurückzukehren, nicht halten können, dringender Arbeiten wegen, wie er Frau Rehfeld schrieb, dafür war er jetzt gekommen und hatte seinen Platz als Freund des Hauses und »Minnesänger« ebenso unbestritten und zuversichtlich eingenommen wie im vergangenen Jahre.

Doktor Gilbert lugte vorsichtig und ängstlich umher, und als sich kein menschliches Wesen zeigte, begann er allerhand wundersame Experimente zu machen.

Zunächst kam ein Blatt Papier zum Vorschein, das er auf seinem Herzen getragen zu haben schien, dann versuchte er den Arm durch das Gitter zu zwängen und besagtes Blatt in das Arbeitskörbchen zu legen, aber vergebens. Wie er sich auch drehte und wendete, das Körbchen stand zu fern, und die Absicht war nur auszuführen, wenn man die Laube selbst betrat.

Einige Minuten lang stand der junge Mann ratlos, dann aber schien er einen Entschluß zu fassen, noch ein scheuer Blick vorwärts, und er machte Anstalt, das Parkgitter zu erklettern.

»Halt! Auf diese Weise steigt man nicht in fremde Gärten!« rief plötzlich eine Stimme hinter ihm und ein kräftiger Arm faßte ihn an der Schulter. Gilbert erschrak dermaßen, daß er schleunigst wieder herunterglitt, dabei entfiel ihm das Blatt und flatterte auf den Boden; er selbst aber stand ganz fassungslos da und starrte auf den Angreifer, der jetzt in ein lautes, fröhliches Gelächter ausbrach.

»Herr Doktor Gilbert! Sie sind es?«

»Herr Kroneck!« stammelte Gilbert in höchster Verlegenheit.

»Ich freue mich sehr – Ihre Bekanntschaft – auf diesem Wege –«

»Ja, auf diesem Wege hätte ich Sie beinahe als Vagabund abgefaßt!« fiel Heinz ein. »Ich bitte um Entschuldigung, aber wozu denn diese verdächtigen Turnkünste? Weshalb benutzen Sie nicht den Eingang?«

Gilbert suchte vergebens nach einer Antwort und ebenso vergebens nach seinem Papier, dessen Verlust er jetzt bemerkte. Heinz, zu dessen Füßen es lag, hob es unbefangen auf, warf einen Blick darauf, stutzte und trat einige Schritte zurück.

»Es ist mein Eigentum – ich bitte!« rief der Doktor angstvoll und streckte die Hand danach aus; der junge Kroneck aber erwiderte ruhig:

»Erlauben Sie nur einen Augenblick; mir scheint, daß ich nicht ganz unbeteiligt daran bin,« und begann zu lesen.

Gilbert stand wie vernichtet da. Es war die Abschrift jenes Gedichtes, das seinen Chef in solche Empörung gebracht, es trug die Ueberschrift: »An Katharina!« und nicht genug, daß dieser Name dreimal darin vorkam, der angehende Dichter hatte auch ein höchst geistreiches Wortspiel von dem schlanken Reh auf blumigem Feld angebracht, so daß ein Mißverstehen gar nicht möglich war.

Und dies unglückliche Blatt fiel gerade dem Manne in die Hände, dem Käthchen als Braut bestimmt war. Schreckliches Verhängnis!

Der beleidigte Bräutigam sah zwar für den Augenblick noch nicht schrecklich aus, er kämpfte vielmehr mit einem unwiderstehlichen Lachreiz; so sehr er sich auch Mühe gab, ernst zu bleiben, es ging nicht, er brach los.

»Also sind Sie auch Poet, Herr Doktor! Wahrhaftig, Sie machen ja unsrem berühmten Hellmar Konkurrenz! Was für Verse!«

»Herr Kroneck,« sagte Gilbert mit bebender Stimme, »Sie sind beleidigt – und mit Recht – aber dieser Hohn –«

»Gott bewahre!« rief Heinz, noch immer lachend. »Ich bin gar nicht beleidigt, im Gegenteil! Hätte ich gewußt, warum Sie mit solcher Todesverachtung über das Gitter zu klettern versuchten, ich hätte Sie gewiß nicht gestört.«

»Mein Herr!« Gilbert richtete sich mit einem Anfall von Heroismus empor. »Sie scheinen mich für einen Feigling zu halten, den man ungestraft mit Hohn und Spott überschütten darf, aber Sie täuschen sich. Ich nehme Ihre Forderung an – wir werden uns schlagen!«

»Von Herzen gern, wenn es Ihnen Vergnügen macht! Aber erstens habe ich Sie noch gar nicht gefordert, und zweitens würden Sie dabei den kürzeren ziehen, denn ich verstehe jedenfalls besser mit den Waffen umzugehen als Sie. Kommen Sie, Herr Doktor, wir wollen die Sache freundschaftlich abmachen. Ich bin gleichfalls inkognito hier, da ich eine Ueberraschung beabsichtige. Also lassen Sie uns gemeinschaftlich über das Gitter klettern und uns in die Laube setzen, das weitere wird sich finden.«

Gilbert blickte noch immer halb betäubt auf den Sprechenden, der in der That zu Fuß gekommen war. Er trug einen Reiseanzug, eine leichte Tasche über die Schulter und schwang sich jetzt gewandt wie ein Turner auf das Parkgitter. In der nächsten Minute stand er drüben und streckte die Hand empor, als erwarte er, daß Gilbert folge.

»Ich soll –?« fragte dieser zögernd.

»Herüberkommen, gewiß! Nehmen Sie sich vor den Spitzen in acht! So, da wären wir!«

Sie standen in der That im Parke und betraten die Laube, wo sich Heinz in aller Gemütsruhe niederließ.

»Und nun, mein bester Doktor und Nebenbuhler, lassen Sie uns vor allen Dingen ins klare kommen. Sie lieben also Käthchen Rehfeld?«

»Ja!« seufzte Gilbert aus Herzensgrunde. »Aber ich weiß, in welchen Beziehungen Sie zu dem Fräulein stehen. Sie –«

»Ich gebe Ihnen meinen Segen!« unterbrach ihn Heinz feierlich. Das Gesicht des jungen Arztes begann sich förmlich zu verklären.

»Wie? Sie lieben Käthchen nicht?«

»Ich habe meine kleine Cousine von Herzen gern und wünsche ihr alles Gute. Heiraten aber werde ich sie nicht, und da sie das möglicherweise übelnehmen könnte, so habe ich gar nichts dagegen, wenn ein andrer meine Stelle einnimmt. Sie sehen, wir haben keinen Grund, Feinde zu sein.«

»Feinde!« rief Gilbert im Uebermaß des Entzückens. »O, wir wollen Freunde sein, Freunde für ewig!«

»Warum nicht? Das ist jedenfalls besser, als wenn wir uns schießen, aber nun zu der Hauptsache! Wie stehen Sie mit Käthen?«

Der strahlende Ausdruck in Gilberts Zügen verschwand, er sah niedergeschlagen zu Boden.

»Ich? Eigentlich stehe ich gar nicht mit ihr.«

»Soll das heißen, daß sie Ihre Gefühle nicht erwidert?«

»Mein Gott, sie weiß ja nichts davon! Ich habe bisher nicht gewagt, ihr meine Empfindungen zu verraten. Heute, zum erstenmal, wollte ich versuchen, ihr durch dies Blatt zu sagen, daß ich sie seit einem Jahre anbete, wortlos – hoffnungslos!«

»Ein ganzes Jahr haben Sie so aus der Ferne angebetet?« sagte Heinz kopfschüttelnd. »Das hätte ich beim besten Willen nicht fertig gebracht. Warum sind Sie denn nicht längst draufgegangen und haben die Festung mit Sturm genommen?«

»Ach, ich habe noch niemals etwas mit Sturm genommen,« gestand der Doktor wehmütig. »Wie oft schon nahm ich mir vor, ein Alleinsein mit Käthchen zu suchen und von ihren Lippen mein Urteil zu hören, aber meine unselige Schüchternheit hinderte mich stets daran. Ich fand niemals den Mut zum Reden.«

»Nun, so finden Sie ihn heute! Schicken Sie das Gedicht als Plänkler voran, und dann rücken Sie sofort nach in das Treffen.«

»Meine Verse?« fragte Gilbert ängstlich. »Es ist mein erster Versuch, und ich glaube, ich bin nicht besonders beanlagt dafür – sind sie sehr schlecht?«

»Nun, jedenfalls sind sie gut gemeint,« tröstete Heinz, der wieder mit einem Lachreiz kämpfte. »Bei einer jungen Dame von siebzehn Jahren kommt es ja auch nur darauf an, daß sie überhaupt angesungen wird, das Wie ist Nebensache, und ich bin sogar überzeugt, daß das schlanke Reh auf blumigem Feld ihr sehr gefallen wird – also vorwärts!«

»Ja, Sie haben recht!« rief der junge Arzt, sich energisch aufrichtend. »Einmal muß es zur Erklärung kommen, so sei es denn heute! Ich werde Käthchen hier erwarten, werde zu ihr sprechen, ihr sagen – um Gottes willen, da kommt sie! Lassen Sie mich, Herr Kroneck!«

»Wohin denn?« rief Heinz, indem er den Flüchtenden bei den Rockschößen ergriff und festhielt.

»Fort! Ich kann nicht – ich kann wahrhaftig nicht.«

»Nichts da! Sie bleiben und machen die Liebeserklärung, ich stehe inzwischen Wache, damit Sie nicht gestört werden.«

»Aber ich bringe kein Wort über die Lippen,« klagte Gilbert.

»Vorwärts! Zur Attacke!« kommandierte Heinz, indem er den Zaghaften auf die Bank niederdrückte, ihm das Gedicht in die Hand schob, und dann schleunigst seitwärts in den Gebüschen verschwand. Es war die höchste Zeit, denn soeben bog Käthchen um den Rasenplatz, und einige Minuten später trat sie in die Laube.

Der junge Mann, der mit so rührender Aufopferung Wache stand, damit ein andrer seiner Braut ungestört eine Liebeserklärung machen konnte, hatte seinen Posten ziemlich fern gewählt. Er konnte weder sehen noch hören, was in der Laube vorging, und dort schien man sehr leise zu sprechen. Nach etwa zehn Minuten erschien Gilbert wieder, aber allein und mit einer Miene, die keineswegs auf einen glücklichen Bräutigam schließen ließ. In voller Hast strebte er der andern Seite des Parkes zu, wo der Ausgang lag, als Heinz ihn erwischte.

»Nun, wie steht es?« fragte er rasch. »Was machen Sie denn für ein Gesicht – haben Sie einen Korb erhalten?«

»Nein, nein!« stammelte der Doktor, während er im Sturmschritt vorwärts ging, und Heinz dadurch nötigte, sich ihm im gleichen Schritt anzuschließen.

»Also ein ›Ja‹? So reden Sie doch wenigstens!«

»Ich bin wieder nicht dazu gekommen!« brach Gilbert verzweiflungsvoll aus. »O Gott, ich glaube, ich komme niemals dazu!«

»Ja, das scheint mir nachgerade auch so. Und Ihr Gedicht?«

»Das ist in Käthchens Händen, sie liest es soeben.«

»Nun, das ist wenigstens ein Fortschritt. Wollen Sie denn nicht den Erfolg abwarten?«

»Um Gottes willen nicht! Aber Sie, Herr Kroneck, Sie verstehen sich jedenfalls besser auf dergleichen. Wenn Sie mir einen Freundesdienst erweisen und es übernehmen wollten –«

»Eine Liebeserklärung per procura?« sagte Heinz lachend. »Nein, Herr Doktor, das geht wirklich nicht, denn damit hätten Sie bei Käthchen von vornherein verspielt. Dergleichen will sie aus dem eigenen Mund des Freiers hören und womöglich einen Fußfall erleben. Ich kenne meine kleine Cousine. Nun sehen Sie nur nicht so trostlos aus, vielleicht geht es ein andermal besser.«

»Ja, ein andermal!« wiederholte Gilbert aufatmend, denn sie hatten jetzt das Parkthor erreicht, und der Rückzug stand ihm offen, aber er mochte wohl in den Zügen seines Begleiters etwas lesen, das ihn verletzte, denn er blieb plötzlich stehen.

»Denken Sie nicht schlimm von mir, Herr Kroneck. Ich bin kein Feigling, gewiß nicht. Ich habe während der Epidemie mit dem Doktor Eberhard tagelang in den Spitälern geweilt, wo jeder Atemzug verpestet war, ich wäre auch Ihnen mit der Waffe gegenüber getreten, wenn wir uns wirklich geschlagen hätten, aber eine Liebeserklärung machen – das bringe ich nicht zustande.«

Er sah mit so rührender Hilflosigkeit zu Heinz empor, daß dieser all seine Spottlust fahren ließ und ihm herzlich die Hand schüttelte.

»Nun, das werden Sie auch noch lernen. Ich fürchte, in dem Punkte haben Doktor Eberhard und sein Faktotum Sie auf dem Gewissen. Sie werden da eine kleine Empörung anstiften müssen, wenn Sie erst mit Käthchen im reinen sind. Auf Wiedersehen also!«

Gilbert verabschiedete sich einigermaßen getröstet, und Heinz schlug die Richtung nach dem Hause ein, während er halblaut sagte:

»Was man doch für Mühe hat, seine Braut zu verloben! Nun, hoffentlich thun die Verse meines Herrn Nebenbuhlers ihre Schuldigkeit, wenn sie auch vom dichterischen Standpunkte aus haarsträubend sind.«

Er täuschte sich in der That nicht. Käthchen saß mit glühenden Wangen in der Laube und las und las, bis sie jedes Wort auswendig wußte. Was waren die sämtlichen Werke Guido Hellmars mit ihren tadellosen Versen und wundervollen Reimen gegen dies Gedicht: An Katharina! Ein unendliches Hochgefühl durchwogte die Brust der jungen Dame, jetzt hatte sie auch ihren Dichter, wie Mama ihren Minnesänger. Es war doch erhebend, in solcher Weise angesungen zu werden.

Die Glasthüren des Salons standen weit offen, dort saß Eveline Rehfeld und ihr gegenüber Hellmar, der aus einem Buche vorlas, das diesmal ausnahmsweise nicht von Guido Hellmar, sondern von Friedrich Schiller war. Der junge Dichter wählte zum Vorlesen stets nur seine eigenen oder klassische Werke – was übrigens auf eins herauskam – aber er las schön und ausdrucksvoll, und die Dichterworte kamen zur vollen Geltung in seinem Munde. Eveline fühlte das auch, denn sie lauschte in höchster Aufmerksamkeit, während sie einige Blumen, die vor ihr auf dem Tischchen lagen, zu einem Strauße zusammenfügte.

»Grüß Gott!« sagte auf einmal eine helle Stimme, und eine schlanke Gestalt stand, überflutet von dem goldigen Schein der Nachmittagssonne, mitten in der Balkonthür.

»Heinz – wo in aller Welt kommst du denn her?« rief Hellmar, indem er in höchster Ueberraschung das Buch sinken ließ, aber die Ueberraschung schien gar nicht so besonders freudig zu sein.

Heinz blieb die Antwort schuldig, denn seine Aufmerksamkeit war nach einer andern Seite gerichtet. Er hatte es deutlich gesehen, wie Eveline beim Klang seiner Stimme zusammenzuckte und wie eine helle Röte ihr immer noch so bleiches Antlitz übergoß. Jetzt sah sie auf und begegnete den leuchtenden braunen Augen, die so glückselig und so verräterisch aufstrahlten in der Freude des Wiedersehens. Die Glut in dem Gesicht der jungen Frau wurde noch tiefer, sie beugte sich verwirrt zu ihren Blumen nieder, aber diese entglitten ihren bebenden Händen und fielen zu Boden. Hellmar bückte sich sofort danach, aber Heinz war ihm schon zuvorgekommen und hatte den Strauß aufgehoben.

»Bitte, Guido – das fiel mir zu!« sagte er rasch. »Ein glückverheißendes Omen!«

»Das du nur dem Schreck der gnädigen Frau verdankst,« ergänzte Hellmar. »Freilich, ich war auch erschrocken. Du tauchst ja urplötzlich wie aus einer Versenkung empor, so daß man einen Geist zu sehen glaubt. Mein lieber Heinz, kannst du es noch immer nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die Nerven haben?«

Diese Worte sollten scherzhaft sein, aber es klang doch eine gewisse Gereiztheit hindurch, Heinz beachtete das nicht, sondern wandte sich an Eveline.

»Habe ich Sie in der That erschreckt, gnädige Frau? Dann bitte ich um Verzeihung.«

»Nein, ich war nur überrascht,« entgegnete Eveline, die sich schnell gefaßt hatte. »Aber Sie scheinen diese Ueberraschung beabsichtigt zu haben.«

Ihr Blick begegnete wie mit einem Vorwurf dem seinigen, aber er hatte nur ein strahlendes Lächeln darauf.

»Ja, sie war beabsichtigt – und sie ist gelungen!«

Hellmar schloß das Buch und erhob sich etwas geräuschvoll. Er kam erst jetzt dazu, seine Freude über dies unvermutete Wiedersehen mit seinem lieben Heinz auszusprechen, aber es war unverkennbar, daß ihm der liebe Heinz diesmal sehr ungelegen kam.


Auf der Terrasse war der Frühstückstisch hergerichtet und die kleine Gesellschaft hatte sich um denselben versammelt. Die Kur des Doktors Eberhard schien doch nicht wirkungslos gewesen zu sein, denn Eveline waltete wieder ihres Amtes als Wirtin. Sie ruhte nicht mehr in ihrem Armstuhl, halb vergraben in Kissen und Decken und ängstlich behütet vor jedem Lufthauch, jedem Lichtstrahl. Sie saß nur leicht zurückgelehnt und schien die Kühle der köstlich frischen Bergluft gar nicht zu empfinden.

Wohl war die junge Frau noch immer zart, schlank und bleich wie eine Lilie, aber das Hinwelkende, Gebrochene, das sie im vergangenen Jahre zu einer förmlichen Leidensgestalt machte, war verschwunden. Das Antlitz erschien nicht mehr so völlig farblos, es zeigte sich sogar ein leiser Schimmer von Röte auf den Wangen, und die dunklen Augen hatten den müden, hoffnungslosen Ausdruck verloren. Selbst die Bewegungen verrieten nicht mehr die einstige tödliche Mattigkeit, nur der alte traurige Ernst weilte noch immer auf den lieblichen Zügen, von Lebensmut und Lebensfreude war nichts zu entdecken.

Man hatte soeben von dem Doktor Eberhard und seiner ärztlichen Behandlung gesprochen, und Hellmar, der die damalige Beleidigung noch immer nicht vergessen konnte, sagte:

»Nun ja, es ist nicht zu leugnen, daß er in diesem Falle das Richtige getroffen hat, aber ich bewundere trotz alledem den Heldenmut der gnädigen Frau, sich einer derartigen Kur auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Ich hätte das selbst um den Preis meiner Wiederherstellung nicht gethan.«

»Und wenn Sie erst wüßten, wie er die arme Mama gequält hat!« fiel Käthchen ein. »Er fing gleich damit an, daß er die Behandlungsart der Aerzte über den Haufen warf und das gerade Gegenteil verordnete, und wehe uns, wenn wir seine Befehle nicht buchstäblich befolgten! Ich denke noch mit Schrecken an die Szene, damals im Herbste, als die Mama darauf bestand, nach Italien zu gehen, während er verlangte, sie solle hier bleiben. Sie bat ihn mit Thränen, ihr doch nicht die Leiden aufzuerlegen, die der Winter in unsrem Klima jedem Brustkranken bringt, da schrie er sie an: ›Sie sind nicht brustkrank, nervenleidend sind Sie und werden sich gefälligst nicht in den italienischen Backofen setzen, um noch kränker zu werden! Sie bleiben hier, und wenn es tüchtig Eis und Schnee gibt, dann fahren Sie spazieren!‹ Und richtig, er jagte uns täglich hinaus, im Wagen oder im Schlitten, nur an Sturmtagen durften wir zu Hause bleiben. Ich wollte oft genug verzweifeln, aber die Mama ertrug das alles mit einer wahren Engelsgeduld, als hätte sie ein Gelübde gethan, sich widerstandslos mißhandeln zu lassen.«

Ueber Evelines Gesicht zog wieder eine fliegende Röte bei den letzten Worten. Sie sah nicht auf, denn sie fühlte den Blick, der auf ihr ruhte, sondern erwiderte hastig:

»Nicht doch, Käthchen, ich fühlte schon nach den ersten Wochen, daß die Behandlungsweise Eberhards, trotz ihrer Schonungslosigkeit, mir wohlthat, deshalb fügte ich mich seinen freilich sehr tyrannischen Befehlen, und jetzt habe ich mich beinahe an seine Art und Weise gewöhnt, so daß wir auf ganz gutem Fuße miteinander stehen.«

»Nun, wir nicht!« erklärte Käthchen gleichfalls diktatorisch. »Er und ich sind geschworene Feinde und werden es bleiben.«

Das Erscheinen des Dieners mit der Posttasche unterbrach das Gespräch. Es waren verschiedene Briefe und Zeitungen angekommen, die die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Eveline hatte ein Schreiben des Geheimrat Kroneck erhalten, sie durchlas es und blickte dann etwas befremdet zu seinem Sohn hinüber.

»Ihr Vater scheint von Ihrem Hiersein noch gar nichts zu wissen, Heinz. Er schreibt mir soeben aus Wildbad, seine Kur sei in der nächsten Woche beendigt, und er werde dann zu einem kurzen Besuche hier eintreffen. Sie dagegen würden erst im Juli Urlaub erhalten. Wie hängt denn das zusammen?«

»Sehr einfach,« erklärte der junge Mann, der nicht im geringsten aus der Fassung kam. »Ich habe mich um die hochweisen Bestimmungen des Ministeriums nicht gekümmert und bin durchgegangen.«

»Das wird dir übel bekommen,« sagte Hellmar, von der Zeitung aufblickend, die er in der Hand hielt. »Es kann dich deine Stellung kosten, und Papa Kroneck wird über eine solche Katastrophe nicht gerade erbaut sein. Wirklich, lieber Heinz, ich finde es etwas gewissenlos, daß du so unbekümmert die Pflicht deinem persönlichen Belieben unterordnest und deine ganze Laufbahn auf das Spiel setzest, um einer augenblicklichen Laune willen.«

»Schulmeistere nicht, Guido,« sagte Heinz unbekümmert, »du hast am wenigsten das Recht dazu. Du hast damals, als deine ersten Gedichte Erfolg hatten, nicht bloß eigenmächtigen Urlaub genommen, sondern bist deinem Schuldirektor auf und davon gegangen. Er bat dich inständigst, wenigstens zu warten, bis Ersatz geschafft wäre, aber du erklärtest ihm, es sei unter deiner Würde, noch ferner die schulpflichtigen Staatsbürger zu unterrichten, du könntest dich hinfort nur noch mit der Leier und den Lorbeeren abgeben.«

Hellmars Gesicht verfinsterte sich, er liebte es überhaupt nicht, an die Zeit erinnert zu werden, wo er als armer Lehrer eine untergeordnete Stellung am Gymnasium einnahm, und in einem Tone, der mitleidig sein sollte, aber in der That sehr hochmütig war, erwiderte er:

»Ich bitte dich, Heinz, wie kannst du einen derartigen Vergleich ziehen! Ein Dichtergenius hat das Recht, ja, die Pflicht, die beengenden Schranken niederzuwerfen und sich aus dem Banne der Alltäglichkeit emporzuschwingen in seine wahre Sphäre, aber du willst doch hoffentlich nicht dies unzweifelhafte Recht des Genies für all und jeden in Anspruch nehmen! Dir ist deine Laufbahn vorgezeichnet und du mußt darin ausharren.«

»Ja, Bauer, das ist ganz was andres!« spottete Heinz lachend. »Blicken Sie nicht so streng, gnädige Frau, die Sache ist nicht so schlimm, wie sie aussieht, das Durchgehen geschah mit voller Sanktion Seiner Exzellenz des Herrn Ministers, der mir persönlich den Urlaub bewilligte und die Verantwortung dafür auf sich nahm. Er hat mir sogar versprochen, es dem Papa mitzuteilen, da er gleichfalls zur Kur nach Wildbad geht.«

»Stehst du so gut mit dem Minister?« fragte Guido überrascht. »Exzellenz ist sonst sehr unzugänglich, und selbst der Geheimrat kann sich keiner Vertraulichkeit mit ihm rühmen.«

»Ja, meine Liebenswürdigkeit durchbricht alle Schranken, gerade wie dein Genie!« spottete Heinz. »Du siehst, meine Laufbahn steht diesmal nicht auf dem Spiel. Darf ich dich um die Zeitung bitten? Was schreibt man denn aus der Residenz?«

Hellmar reichte ihm mit einem Achselzucken das Blatt hinüber.

»Nichts Besonderes! Man kann sich noch immer nicht zufrieden geben über dies neue dramatische Genie, das eben erst entdeckt worden war, oder vielmehr entdeckt werden soll, da es sich noch immer hartnäckig hinter einem Pseudonym verbirgt. Es ist wahrhaftig lächerlich, welch einen Lärm die gesamte Presse um eines Stückes willen erhebt, das doch höchstens für mittelmäßig gelten kann. Ich sprach mit Ihnen ja bereits davon, gnädige Frau.«

»Sie meinen die ›Alpenfee‹?« fragte Eveline. »Was sagen Sie denn dazu, Heinz? Sie haben das Stück doch jedenfalls gesehen!«

»Gewiß, aber ich ordne mein Urteil ganz dem meines berühmten Freundes unter, und vor seinen Augen hat die ›Alpenfee‹ nun einmal keine Gnade gefunden, er bricht erbarmungslos den Stab über sie.«

»Mein Gott, ich behaupte ja nicht, daß das Ding ganz und gar talentlos ist,« sagte Hellmar sehr von oben herab. »Eine gewisse Spannung, gewisse Effekte sind ihm ja nicht abzusprechen, aber das überhastet, überstürzt sich alles; das stürmt vorwärts wie ein wildes Pferd, ohne Zaum und Zügel, ohne Maß und Ziel, rennt nieder, was ihm im Wege steht, und hetzt die Zuhörer atemlos von einem Akt zum andern. Es ist ein ganz unreifes Werk und dabei dieser unglaubliche Erfolg! Das Publikum war ja wie unsinnig bei der ersten Aufführung, und in den nächsten Tagen stieß die gesamte Presse in die Lobposaune und feierte das neu erstandene Genie. Es ist übrigens eine meisterhafte Reklame, dem Publikum und den Zeitschriften ein derartiges Rätsel aufzugeben. Seit drei Wochen zerbricht sich die ganze Residenz den Kopf darüber, rät bald auf diese, bald auf jene Berühmtheit, und möglicherweise entpuppt sich endlich ein ganz obskurer Mensch als Verfasser.«

»Warten wir es ab,« sagte Heinz kurz und wandte sich dann an Eveline.

»Wollen Sie das Schauspiel vielleicht lesen, gnädige Frau? Ich habe es zufällig mitgebracht mit einigen andern Büchern, weil ich voraussetzte, daß es – Käthchen interessieren würde.«

»O gewiß,« versicherte Käthchen, die kaum wußte, wovon die Rede war, da sie ganz andre Dinge im Kopfe hatte. Was kümmerte sie auch dieser Streit über ein neues Dichterwerk. Die Vorzüge jenes Gedichtes: »An Katharina!« erreichte es doch sicher nicht, das stand fest.

Eveline erhob sich jetzt; die andern folgten ihrem Beispiel. Käthchen erklärte, sie müsse schleunigst ihre Stickerei beendigen, natürlich in der Laube, die gestern so ereignisreich für sie geworden war. Heinz ging, seinen Hut zu holen, da er einen Spaziergang machen wollte, und nur Hellmar folgte der jungen Frau in den Salon. Er kam heute nicht zur vollen Entwickelung seiner Liebenswürdigkeit, das Gespräch hatte ihn offenbar verstimmt.

Es war auch in der That unerhört, daß man einen vielleicht ganz unbekannten Menschen mit solchem Jubelgeschrei auf den Schild hob, während er, Guido Hellmar, schon verschiedene vergebliche Versuche gemacht hatte, die Bühne zu erobern. Ihm hatten Publikum und Presse mehr oder weniger verblümt zu verstehen gegeben, dass er nur für die Lyrik, nicht für das Drama Talent habe und bei seinen Rosen und Nachtigallen bleiben solle.

Der Aufenthalt in der Villa Rehfeld, wohin er sich mit seinem Aerger zurückgezogen, verwirklichte auch nicht die Hoffnungen, die der junge Dichter darauf gesetzt hatte, denn er fühlte schon um ersten Tage, daß irgend etwas zwischen ihn und Eveline getreten war, irgend etwas Fremdes, das sich nicht nennen, nur fühlen ließ, und all seine Bemühungen, die frühere romantisch-sentimentale Vertraulichkeit wiederherzustellen, scheiterten an der leisen aber entschiedenen Abwehr der jungen Frau. Sie war freundlich und gütig gegen ihn und zeigte noch das alte Interesse für seine Dichtungen und Erfolge, aber er merkte das Bestreben, ihn in den Grenzen bloßer Freundschaft festzuhalten, und als er Miene machte, jene Liebeserklärung vom vergangenen Jahre zu wiederholen, ließ sie ihn gar nicht dazu kommen, sondern erklärte mit ruhiger Bestimmtheit, sie betrachte sich noch keineswegs als eine Genesene und fasse auch jetzt noch keine Lebens- und Zukunftspläne.

Heute mußte er nun vollends die Entdeckung machen, daß Eveline im höchsten Grade zerstreut und unaufmerksam war, und das verstimmte ihn noch mehr. Er war es nicht gewohnt, daß man bei seinen Unterhaltungsversuchen an andre Dinge dachte, und nach kaum zehn Minuten verabschiedete er sich unter dem Vorwande, daß er noch einige dringende Briefe zu erledigen habe.

Die junge Frau zog sich jetzt auch in ihr Boudoir zurück, in jenes kleine, trauliche Gemach mit den grünen Vorhängen. Sie stand am Fenster und blickte träumerisch hinaus auf das grüne Waldmeer, als eine Stimme von der Thür her sagte:

»Darf ich eintreten?«

Eveline wendete sich um; dort auf der Schwelle stand Heinz, zum Ausgehen fertig. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern war schon in der nächsten Minute neben ihr, während er fortfuhr:

»Ich wollte Ihnen doch meinen Dank sagen.«

»Dank? Wofür?« fragte Eveline mit einer Beklemmung, deren sie nicht Herr zu werden vermochte. Weshalb suchte er sie gerade hier auf, wo jene seltsame Abschiedsszene stattgefunden hatte. Sie waren seit seiner Ankunft gestern noch nicht einen Moment allein gewesen.

»Für das so tapfer gehaltene Versprechen. Es war nicht leicht zu halten, ich weiß es aus Käthchens Briefen, Doktor Eberhard ist ein etwas unbequemer Lebensretter.«

»Machen Sie sich keine Hoffnungen, Heinz,« sagte die junge Frau ernst. »Lebensretter? Ich bin dem Doktor dankbar, daß er mich von den oft recht schweren Leiden befreit und mir noch eine Lebensfrist ermöglicht hat, aber ich weiß, daß es nur eine Frist ist, die früher oder später abläuft, und täusche mich auch jetzt nicht über meinen Zustand.«

»Aber ist es denn möglich, daß Sie im Angesicht dieser Erfolge noch an den Todesgedanken hängen!« brach Heinz beinahe zornig aus. »Glauben Sie noch nicht an das Leben?«

»Nein!« war die leise aber entschiedene Antwort.

»Nun wohl, so glaube ich daran und ich bin eben auf dem Wege zu Eberhard, um mir die Gewißheit drüben zu holen.«

»Er wird Ihnen so wenig Rede stehen wie mir, sein Schweigen ist es ja, worauf sich meine Ueberzeugung gründet. Nie hat er mir irgend eine bestimmte Hoffnung gegeben, nie von meiner wirklichen Genesung gesprochen; er ist trotz aller seiner Sonderbarkeiten zu ehrlich, um zu täuschen.«

»Oder zu eigensinnig, um auch nur eine Minute früher zu sprechen, als es ihm beliebt. Aber ich weiß, wie diese spröde Natur zu fassen ist, mir muß er Rede stehen, ich wanke und weiche nicht eher. Hier sind die Bücher, gnädige Frau, die ich aus der Residenz mitgebracht habe; wir sprachen ja vorhin davon.«

»Ich danke,« sagte Eveline, befremdet über dies plötzliche Abbrechen des Gesprächs; sie warf einen flüchtigen Blick auf die Bücher, die der junge Mann soeben auf den Schreibtisch legte, und nahm eins derselben, ein broschiertes, sehr einfach ausgestattetes Bändchen, dessen Titel sie las:

»›Die Alpenfee‹! Ah, das neue Schauspiel, das Hellmar so ungünstig beurteilt! Mich hat bisher nur der Titel angezogen. Erinnern Sie sich, Heinz, den gleichen Namen gaben Sie jener schönen blauen Märchenblume, die Sie damals mit Lebensgefahr von den Felsen holten.«

»Nannte ich sie wirklich so?« fragte Heinz gleichgültig, während er sich niederbeugte, um die Bücher zu ordnen. »Nun, der Name ist ja ein Gemeingut, ich hatte es in der That vergessen.«

»Vergessen?« wiederholte Eveline, während ihre großen dunklen Augen sich vorwurfsvoll auf ihn richteten. »So ist wohl auch jenes Versprechen vergessen, das ich empfing? Ich glaubte damals, es sei Ihnen Ernst damit, aber es ist wahrscheinlich – bei dem Versuche geblieben.«

Heinz richtete sich empor und strich ungeduldig das lockige, braune Haar zurück, es mußte ihm heiß geworden sein bei dem Bücken, denn auf seiner Stirn lag eine dunkle Röte.

»Muß ich das Examen heute schon bestehen?« fragte er in leichtem Tone. »Gönnen Sie mir doch noch einige Tage der Vorbereitung.«

»Das heißt mit andern Worten, Sie haben kein gutes Gewissen.

Er lachte hell und übermütig wie gewöhnlich.

»Nein, in diesem Augenblick habe ich sogar ein sehr schlechtes Gewissen, zumal Ihnen gegenüber. Aber im Ernste, ich bitte noch um einige Tage Frist, wenigstens bis mein Papa anlangt. Ich empfange mein Urteil immer noch früh genug. Doch nun muß ich in die Bärenhöhle, um dem Bewohner derselben meine Aufwartung zu machen. Das wird wieder eine lustige Katzbalgerei zwischen mir und dem Doktor werden, aber ich zwinge ihn doch! Auf Wiedersehen, gnädige Frau!«

Er ging. Eveline blieb allein zurück, verletzt, gekränkt und bis in das Innerste erkältet.

War das noch derselbe Heinz, der damals so weich und innig gefleht hatte, dem so unendlich viel an ihrer Genesung zu liegen schien? Jetzt brach er das Gespräch darüber kurz ab, um von ganz gleichgültigen Dingen, von Büchern, zu sprechen. Ihre tiefernste Frage wurde mit einem Scherz beiseite geschoben, und nun ging er zu dem Doktor Eberhard, hauptsächlich um sich dort zu amüsieren und mit dem Sonderling zu »katzbalgen«. Welch ein empörendes Wort. Hellmar hätte sich sicher niemals eines solchen Ausdrucks schuldig gemacht und hatte überhaupt recht. Heinz war und blieb der alte, unverbesserliche Leichtsinn und Taugenichts, der es wahrscheinlich in der Residenz ärger als je getrieben hatte, und bei dem keine Empfindung haftete.

Mit einer heftigen Bewegung schob die junge Frau die Bücher beiseite. Sie hatte wohl das Recht, entrüstet zu sein, denn sie mußte ja hier als Mutter für die Zukunft ihrer Tochter eintreten. Um Käthchen allein handelte es sich, sie selbst kam gar nicht in Betracht, sie hatte längst mit dem Leben abgeschlossen. Während sie sich das immer von neuem wiederholte, kam leise, ganz leise die Erinnerung an das Wiedersehen gestern abend, an den leuchtenden Strahl, der aus den braunen Augen brach, als sie den ihrigen begegneten, und an den wortlosen und doch so beredten Gruß, den jene Augen ihr gespendet, und da wollten Bitterkeit und Anklage nicht standhalten.

 

Heinz hatte sich inzwischen nach dem Hause des Doktors Eberhard begeben. Er schritt durch den Garten, wo sich kein Mensch blicken ließ, und war eben im Begriff, die Klingel zu ziehen, als die Hausthür geöffnet wurde und der Doktor Gilbert auf der Schwelle erschien.

»Herr Kroneck – Gott sei Dank, daß Sie da sind! Ich sah Sie durch den Garten kommen.«

»Was gibt es denn? Ist etwas vorgefallen?« fragte Heinz, mit einem Blick auf das blasse, erregte Gesicht des jungen Arztes.

»Still!« flüsterte dieser, mit einem scheuen Blick nach der Treppe. »Kommen Sie in mein Zimmer; dort sind wir ungestört!« Damit bemächtigte er sich des Besuches und zog ihn in das kleine Studierzimmer, das er bewohnte und das im Erdgeschoß neben dem Eingange lag. Hier schloß er sorgfältig die Thür und kehrte dann zu seinem Gaste zurück.

»Sie haben es entdeckt!« sagte er.

»Was? Ihren Roman?« fragte Heinz, der sofort auf der Höhe der Sache war.

»Ja, das unglückselige Gedicht hat alles verraten; ich hatte den Entwurf auf die Rückseite einer medizinischen Abhandlung geschrieben, Martin fand es und brachte es seinem Herrn, und als ich abends nach Hause kam, gab es eine furchtbare Szene.«

»Bravo! Da haben wir ja den Anfang der Revolution, die unter allen Umständen notwendig ist. Sie haben doch hoffentlich Ihren Mann gestanden?«

Die Voraussetzung schien nicht ganz zuzutreffen, denn Gilbert sah zu Boden, aber seine Stimme ging doch allmählich von der Erregung zur Entrüstung über, als er fortfuhr:

»Ich mußte ein förmliches Verhör bestehen, wie ein Angeklagter bin ich ausgefragt und zur Rede gestellt worden. Mein Gott, ist es denn ein Verbrechen zu lieben?«

»Bei Ihrem Tyrannen allerdings! Aber urkomisch muß die Szene gewesen sein; schade, daß ich nicht dabei gewesen bin!«

Gilbert sah ganz entsetzt auf seinen Gast; ein derartiges Verlangen war ihm unbegreiflich, aber er sagte beinahe heftig:

»Nun, ich möchte sie nicht wieder erleben. Der Doktor drohte und lärmte, und Martin half ihm. Wie ein Schulknabe bin ich von den beiden behandelt worden!«

»Und das haben Sie sich gefallen lassen?« fragte Heinz, der sich indessen gemütlich auf das Sofa niedergelassen hatte.

»Was sollte ich denn thun?«

»Was Sie thun sollten? Wozu ist denn die Thür da? Hinausgehen und nicht wiederkommen.«

Der junge Arzt sah sehr betroffen aus, er hatte augenscheinlich an dies Auskunftsmittel noch gar nicht gedacht.

»Sie meinen, ich soll –«

»Durchgehen!« bestätigte Heinz. »Wenn man Sie halten will, so schlagen Sie Thüren und Fenster ein und machen dem Doktor genau eine solche Szene, wie er sie Ihnen gemacht hat, dann wird er schon Respekt bekommen.«

»Unmöglich! Eberhard ist mein Wohlthäter, er hat mir das Studium erst ermöglicht; ich verdanke ihm jede Förderung in der Wissenschaft.«

»Und dafür hat er Sie jahrelang in einer förmlichen Sklaverei gehalten. Der alte Egoist hat sich hundertfach bezahlt gemacht durch das, was Sie ihm leisten mußten.«

»Vielleicht – aber ich kann doch nicht – ich bringe es nicht über das Herz –«

»So lassen Sie es bleiben!« unterbrach ihn Heinz ungeduldig, »und verzichten Sie auf Käthchen! Was sehen Sie mich denn so entsetzt an? Sie müssen sich doch selbst sagen, daß eine derartige Trennung notwendig ist, wenn Sie Ernst mit Ihrer Bewerbung machen. Oder wollen Sie vielleicht Ihre Auserwählte dem Doktor als eine Art Pflegetochter zuführen?«

»Um Gottes willen nicht!« fuhr Gilbert auf, »das gäbe Mord und Totschlag im Hause.«

»Wahrscheinlich, denn meine kleine Cousine läßt sich nicht so geduldig mißhandeln wie Sie, aber sie wird auch nie einem Manne folgen, der nicht den Mut hat, sich von einer derartigen Bevormundung frei zu machen. Die Dankbarkeit in Ehren! Aber es ist eine Unvernunft, das ganze Leben, die ganze Zukunft eines Mannes zu beanspruchen, weil man ihm einige Wohlthaten erwiesen hat. Das muß dem Doktor Eberhard klar gemacht werden.«

»Ja, das muß ihm klar gemacht werden!« stimmte Gilbert bei.

Er unterbrach sich und horchte nach der Treppe. »Da kommt Martin, er hat es wahrscheinlich gesehen, daß Sie bei mir eingetreten sind, und kommt nun, um zu spionieren. Ich werde ja hier wie ein Gefangener gehalten, jedem Kinde läßt man mehr Freiheit als mir.«

»Gott sei Dank, das klang ja förmlich wütend!« sagte Heinz. »Nun wohl, so machen Sie mit Herrn Martin den Anfang, erklären Sie ihm, daß er in Ihrem Zimmer nichts zu suchen habe, und daß er sich zum Kuckuck scheren möge. Da ist es ja schon, dies Prachtexemplar von einem Diener!«

In der That öffnete sich jetzt die Thür und Martin stand breit und griesgrämig auf der Schwelle.

»Herr Doktor, Sie sollen augenblicklich hinaufkommen zu dem Herrn Doktor Eberhard,« sagte er in einem Tone, der dem jungen Arzt das Blut in die Wangen trieb; wie unselbständig er auch sein mochte, diese Behandlung in Gegenwart eines Fremden ertrug er nicht.

»Sie sehen ja, daß ich Besuch habe,« entgegnete er. »Melden Sie das dem Herrn Doktor.«

Martin schien das durchaus nicht für einen Entschuldigungsgrund zu erachten. Er streifte mit einem verächtlichen Blick den Gast, den er sofort wieder erkannte und als Verwandter des »Irrwisch« mit seiner Feindseligkeit beehrte, und wiederholte in dem gleichen Tone:

»Der Herr Doktor hat gesagt, Sie sollen sofort kommen.«

»Nun wohl, so sagen Sie ihm – ich käme nicht!«

Der alte Diener riß die Augen weit auf, er glaubte offenbar nicht recht gehört zu haben.

»Sie wollen nicht kommen?« fragte er noch einmal.

»Nein! Und jetzt gehen Sie, Martin, Sie stören uns.«

Martin sah von einem der jungen Männer zu dem andern, er sprach keine Silbe, aber plötzlich machte er kehrt und gleich darauf hörte man ihn die Treppe hinaufpoltern.

»Für den Anfang war das gar nicht übel!« lobte Heinz. »Aber das Haupttreffen mit dem Doktor steht noch bevor, und bei seiner Schroffheit wird es voraussichtlich zum Bruch kommen. Sind Sie im äußersten Falle bereit, das Haus zu verlassen?«

»Wenn es nicht anders geht – ja!« sagte Gilbert mit einem tiefen Atemzuge. »Aber wohin?«

»Zunächst in das Thalwirtshaus. Dort sind Sie vorläufig gut aufgehoben, und dann müssen Sie unverzüglich Schritte thun, um irgend eine Selbständigkeit zu erringen. Ihre Dissertationsschrift hat ja Aufsehen gemacht und Sie sind jahrelang der Assistent einer ärztlichen Autorität gewesen, das wird ins Gewicht fallen bei Ihrer Bewerbung um jede Stellung. Für den Augenblick steht Ihnen meine, freilich nur bescheidene Kasse zu Diensten.«

»Ich danke, Herr Kroneck, aber dessen bedarf es nicht. Ich besitze eine Summe – den Erlös aus der wertvollen Bibliothek meines Vaters, die nach seinem Tode verkauft wurde – sie ist nicht groß, aber sie wird für das erste Jahr ausreichen.«

»Um so besser! Aber nun rüsten Sie sich, denn ich höre da oben Thüren gehen und höchst verdächtige Schritte. Der Doktor scheint sich in höchsteigener Person zu bemühen, um dem widerspenstigen Schüler die Rute zu geben. Seien Sie standhaft; ich bleibe hier und decke Ihnen den Rücken. Denken Sie an Käthchen!«

»Ja – an Käthchen!« wiederholte Gilbert. »O, wenn ich sie jemals die Meine nennen dürfte!«

Heinz lächelte nur. Er hielt die Sache für abgemacht und hatte seine Gründe dazu. Das glühende Erröten seiner kleinen Cousine, als er heute morgen bei einem kurzen Alleinsein das Gespräch auf den Doktor Gilbert brachte, ihre leidenschaftliche Parteinahme bei einigen wohlberechneten Spöttereien hatten ihm gezeigt, wie es stand, aber zu Erklärungen blieb jetzt keine Zeit, denn der wuchtige Schritt des Doktors ließ sich wirklich draußen auf der Treppe hören. Gleich darauf trat er ein und hinter ihm Martin, der sich als Ankläger und zweiter Vormund des jungen Assistenten zur Teilnahme an der Exekution berechtigt glaubte.

»Guten Tag, Herr Doktor!« sagte Heinz, der es doch für nötig fand, sich zuerst in die Bresche zu werfen. Eberhard, der natürlich schon von seinem Hiersein unterrichtet war, sah ihn argwöhnisch an; er witterte so etwas wie ein Komplott.

»Herr Heinz Kroneck – sind Sie auch wieder da? Was thun Sie denn hier bei meinem Assistenten? Woher kennen Sie ihn überhaupt?«

»Der Herr Doktor begleitete Sie ja bei Ihrem ersten Besuche in der Villa Rehfeld; da habe ich ihn gesehen,« gab Heinz unbefangen zur Antwort.

»Richtig! Und gleich darauf sind Sie abgereist,« brummte Eberhard, der jetzt anfing an das Zufällige dieses Besuches zu glauben, und dem der junge Mann sehr gelegen kam. Er war ja der bestimmte Bräutigam dieser Katharina Rehfeld, und wenn er die Sachlage erfuhr, wandte er sich natürlich sofort gegen den Nebenbuhler. Der Doktor nahm daher auch keinen Anstand, den vermeintlichen Bundesgenossen zum Zeugen des Gesprächs zu machen, das ihn so nahe anging.

»Was soll das heißen, Gilbert?« begann er in einem Tone, der vorläufig wie ein Gewitter noch in der Ferne grollte. »Martin scheint Sie nicht recht verstanden zu haben. Was haben Sie mir eigentlich sagen lassen?«

Der junge Assistent war drei Schritt zurückgewichen; so tapfer er seine neu erwachte Selbständigkeit Martin gegenüber behauptet hatte, sie wollte nicht standhalten, als ihm sein »Tyrann« nun in eigener Person auf den Leib rückte. Zum Glück erkannte Heinz das Bedrohliche der Lage und stellte sich dicht hinter ihm auf; das schien seinen Schützling allerdings etwas zu ermutigen, denn dieser entgegnete in ziemlich festem Tone:

»Ich habe Besuch, wie Sie sehen, Herr Doktor, und Martin rief mich in einer Weise ab, die im höchsten Grade verletzend war.«

»Und da haben Sie erklärt, Sie wollten nicht kommen?«

»Ja – das habe ich erklärt!«

»Das ist ja etwas ganz Neues!« brach Eberhard jetzt in voller Wut aus. »Erst verlieben Sie sich ohne meine Erlaubnis und dann kündigen Sie mir den Gehorsam. Glauben Sie etwa, daß ich mir dergleichen gefallen lasse?«

»Herr Doktor, ich verbitte mir –« Gilbert stockte, die Stimme versagte ihm, ob vor Angst oder vor Empörung blieb unentschieden, aber jetzt soufflierte ihm Heinz, so leise, daß nur er es vernehmen konnte, doch vollkommen deutlich: »Diese unwürdige Behandlung.«

»Diese unwürdige Behandlung,« wiederholte Gilbert laut.

»Sie haben sich gar nichts zu verbitten,« schrie Eberhard. »Werden Sie jetzt in die Bibliothek kommen?«

»Nein, Herr Doktor, und wenn Sie fortfahren in diesem Tone zu sprechen, dann bleibt mir in der That nichts übrig –« Er stockte wieder.

»Als das Haus zu verlassen,« soufflierte Heinz von neuem.

»Als das Haus zu verlassen,« erklärte der junge Arzt, diesmal schon mit einem ganz energischen Tonfall.

»Unterstehen Sie sich nicht!« fuhr der Doktor auf, indem er seiner Gewohnheit nach auf den Tisch schlug, daß dieser krachte.

»Jetzt schlagen Sie auf den Stuhl!« befahl Heinz und war überrascht, wie schnell er Gehorsam fand. Gilbert schlug so nachdrücklich auf den vor ihm stehenden Stuhl, daß dieser mit lautem Gepolter umfiel. Das machte in der That Wirkung, denn jetzt war es der Doktor, der drei Schritt zurückwich.

»Gilbert, ich glaube, Sie sind verrückt geworden!« sagte er.

»Nein, ich bin nur zum Bewußtsein meiner Menschenwürde erwacht,« erklärte der junge Arzt und lieferte sofort den Beweis, indem er dem am Boden liegenden Stuhl noch einen kräftigen Fußtritt versetzte.

Eberhard sah ihn einige Sekunden lang starr an, dann wandte er sich zu seinem Martin, der sich an die Thür geflüchtet hatte.

»Sagte ich es dir nicht? Gehirnkrankheit! Die ganze Liebesgeschichte war nur ein Symptom davon, jetzt bricht es los.«

»Bitte, beleidigen Sie mich nicht durch solche Voraussetzungen!« rief Gilbert. »Ich habe jahrelang Ihre Tyrannei geduldig ertragen, weil Sie mein Wohlthäter waren, aber alles hat seine Grenze. Die Dankbarkeit in Ehren! Aber es ist eine Unvernunft, das ganze Leben, die ganze Zukunft eines Mannes zu beanspruchen, nur weil man ihm einige Wohlthaten erwiesen hat.«

»Gut memoriert!« flüsterte Heinz, der sich über das vortreffliche Gedächtnis seines Schülers freute, und dieser fuhr in voller Erregung fort:

»Aber ich werde jetzt meine Freiheit behaupten, und wenn Sie mich halten wollen, schlage ich Thüren und Fenster ein!«

»Herr Doktor, kommen Sie, jetzt wird es gefährlich,« bat Martin, indem er seinen Herrn fortzuziehen suchte; dieser aber konnte sich die plötzliche Veränderung seines sanften schüchternen Assistenten nur durch eine geistige Störung erklären, und da er als Arzt wußte, wie man mit solchen Kranken umgehen mußte, änderte er den Ton und sagte, so mild, als es ihm überhaupt möglich war:

»Gilbert, seien Sie vernünftig, das wird sich ja alles finden. Gehen Sie zu Bett; ich werde Ihnen etwas Niederschlagendes verschreiben und Martin wird –«

»Martin soll mir nicht mehr zu nah' kommen, und Rezepte kann ich mir selbst verschreiben!« rief Gilbert, der ganz außer sich geriet, als man ihn fortgesetzt wie einen Unzurechnungsfähigen behandelte. Wenn schüchterne und ängstliche Menschen einen Anfall von Heldenmut bekommen, so geraten sie gewöhnlich in das Extrem; das war auch hier der Fall. Alles, was der junge Mann in den letzten Jahren an Demütigung und Unterdrückung erlitten hatte, schien sich jetzt Luft machen zu wollen und er sagte es rücksichtslos seinen beiden Peinigern in das Gesicht.

Martin, der nur gegen Wehrlose tyrannisch war, hatte sich längst in den Hausflur geflüchtet, von wo aus er mit wahrem Entsetzen zuhörte. Eberhard versuchte einigemal, dazwischen zu fahren, aber auch er war ganz fassungslos, und so geschah das Unerhörte, daß sein Assistent ihn überschrie und das letzte Wort behielt.

»Herr Doktor, nun ist's aber genug! Nun hören Sie auf, sonst gibt es wirklich Mord und Totschlag,« sagte Heinz, indem er den völlig Ueberreizten am Arme faßte. Seine Stimme brachte Gilbert einigermaßen zur Besinnung, aber er fragte noch in sehr kampflustigem Tone:

»Meinen Sie wirklich, daß es genug ist?«

»Unbedingt! Und nun,« Heinz sprach wieder im Flüstertone, »nun fort aus dem Hause! Der Rückschlag kann nicht ausbleiben, verlassen Sie als Sieger das Feld.«

Gilbert folgte dem Rate, er nahm seinen Hut, der auf dem Tische lag, und schritt auf die offene Thür zu.

»Leben Sie wohl, Herr Doktor! Ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich Ihnen wiedererstatten kann, was Sie an meinen Unterhalt und meine Studien gewandt haben. Liebe brauche ich Ihnen nicht zurückzugeben, denn die habe ich nie erhalten; leben Sie wohl!«

»Martin, laß ihn nicht hinaus!« rief Eberhard, der jetzt erst merkte, daß es mit der Trennung ernst wurde, aber Martin stand im dunkelsten Winkel des Hausflurs, ohne sich zu rühren, und jetzt wurde der Doktor selbst durch Heinz zurückgehalten, der ihm in den Weg trat und seinem Schutzbefohlenen den Rücken deckte.

»Aber, Herr Doktor, Sie können Ihren Assistenten doch nicht mit Gewalt halten, wenn er fort will,« sagte er nachdrücklich. »Er ist doch kein niet- und nagelfestes Inventar Ihres Hauses, das sich nicht vom Platze rühren darf.«

»Wollen Sie etwa seine Partei nehmen?« rief der Doktor erbost. »Freilich, Sie wissen ja noch gar nicht, um wen es sich hierbei handelt, Sie ahnen nicht – diese kleine Person, diese Katharina Rehfeld ist es, in die sich Gilbert verliebt hat, und wenn Sie ihn gewähren lassen, verlieren Sie die Braut und die Erbschaft und alles!«

»So beruhigen Sie sich doch nur! Ich werde die Sache schon in Ordnung bringen, verlassen Sie sich ganz auf mich.«

»Ja, Sie sind der einzige Mensch, der hier helfen kann. Sie müssen schleunigst diese kleine Person heiraten – hören Sie auf der Stelle! Und dann nehmen Sie sie mit nach der Residenz. Wenn Gilbert nichts weiter von ihr sieht und hört, wird er schon wieder zur Vernunft kommen. Werden Sie heiraten?«

Er rückte dem jungen Manne förmlich drohend mit dieser Frage auf den Leib, aber Heinz erwiderte mit einem zuversichtlichen Lächeln:

»Gewiß! Ich bin ja einzig und allein deswegen hergekommen.«

»Gott sei Dank!« rief Eberhard aufatmend; ihm schwebte die Möglichkeit vor, seinen Assistenten, an dessen dauernde Entfernung er noch immer nicht glaubte, so lange einzusperren, bis jene Heirat vollzogen und die Gefahr vorüber sei. »Martin, du Hasenfuß, kommst du endlich zum Vorschein? Ich glaube, du bist davongelaufen.«

Martin erschien jetzt wirklich wieder in der Thür, aber er sagte mit einem nachträglichen Schauder:

»O, Herr Doktor, das war fürchterlich!«

»Ja, der Gilbert hat Mut! Wer hätte das geglaubt! Er war genau so grob wie ich selber,« meinte der Doktor mit einem Gemisch von Groll und Bewunderung. »Aber, jetzt laß uns allein, ich habe Wichtiges mit dem Herrn da zu besprechen.«

Martin, der sehr kleinlaut geworden war, gehorchte ohne Widerrede. Eberhard zog sein Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn, dann ließ er sich mit einem tiefen Atemzuge nieder und begann das Gespräch von neuem.

»Also geheiratet muß unter allen Umständen werden, das sehen Sie! Wann wollen Sie Hochzeit machen?«

»Sobald es nur irgend möglich ist! Jetzt aber erlauben Sie auch mir eine Frage. Sie erinnern sich des Gespräches, das wir vor Jahresfrist in Ihrem Bibliothekzimmer hatten. Sie gewährten damals meine Bitte, sich selbst von dem Zustande der Frau Rehfeld zu überzeugen, und hatten sogar die Güte, ihre Behandlung zu übernehmen. Sie begreifen wohl meinen Wunsch, jetzt etwas Bestimmtes darüber zu hören.«

Die Augen des Doktors glänzten wieder vor Schadenfreude und ein unendlich boshaftes Lächeln spielte um seine Lippen.

»Aha! Wegen der realen Interessen! Begreife ich vollkommen! Heiraten Sie in Gottes Namen und lassen Sie sich durch die anscheinende Besserung der Frau Schwiegermutter ja nicht irre machen. Letztes Aufflackern der Lebenskraft – kommt oft vor bei Schwindsüchtigen – es geht dann um so schneller zu Ende. Der Fall war hoffnungslos vom Anfang an, ganz hoffnungslos, was Sie natürlich sehr beklagen – wir verstehen uns ja.«

»Ja, wir verstehen uns vollkommen!« stimmte Heinz bei, der diesen Bescheid vorhergesehen und seine Waffen in Bereitschaft hatte. »In diesem einen Punkte also geben Sie doch Ihrem berühmten Kollegen Mertens recht.«

»Was, Mertens? Dem gebe ich niemals recht!« rief Eberhard, der schon wieder unruhig wurde, als er den gehaßten Namen hörte.

»Nun, Sie erklärten doch auch die Hoffnungslosigkeit des Falles und das hat der Professor schon vor Jahr und Tag gethan. Uebrigens wird er jetzt wohl die Behandlung wieder übernehmen, wenn Frau Rehfeld nach der Residenz zurückkehrt.«

Der Doktor fuhr auf, wie von einer Schlange gestochen.

»Nach der Residenz! Und da soll sie diesem Mertens in die Hände fallen? Daraus wird nichts, das leide ich nicht, das verbiete ich!«

»Das wird Ihnen nichts helfen, denn Frau Rehfeld muß unter allen Umständen nach der Residenz, wichtiger Angelegenheiten wegen,« log Heinz in größter Gemütsruhe. »Und da Sie die Dame dort nicht behandeln können, so ist es wohl natürlich, daß sie sich ihrem früheren Arzte wieder anvertraut.«

»Das wäre ja eine schöne Geschichte!« rief Eberhard, indem er aufsprang und wie besessen im Zimmer auf und nieder lief.

»Also, nachdem ich mich ein ganzes Jahr lang gequält und meine ganze Wissenschaft an diese Patientin gesetzt habe, soll der Herr Kollege Mertens mir den Erfolg vor der Nase fortnehmen. Jetzt, wo die Gefahr beseitigt ist, soll er meine Kur vollenden und es dann in alle Welt hinausschreien, daß er den Stein der Weisen gefunden, daß er die hoffnungslos Aufgegebene gesund gemacht hat – da werde ich denn doch ein energisches Veto einlegen!«

»Aber Sie sagten ja soeben –« warf der junge Mann ein, doch Eberhard ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Es gilt nicht, was ich gesagt habe! Ich wollte meine Erfolge nicht vorzeitig preisgeben, ich wollte – kurz und gut, Frau Rehfeld ist überhaupt nicht mehr in Lebensgefahr und sie wird ganz gesund werden, so gesund wie Sie und ich!«

Heinz hatte sich gleichfalls erhoben, und mit einer spöttischen Ueberlegenheit, die ihm meisterhaft gelang, entgegnete er:

»Herr Doktor, Sie werden mir doch nicht im Ernste zumuten, diesen Worten zu glauben, nachdem Sie mir eine Minute vorher das Gegenteil erklärt haben. Das Eingreifen des Professors Mertens mag Ihnen unangenehm sein, um so mehr, als er jetzt ein neues Heilverfahren zur Anwendung bringen soll. Wenn er damit trotz alledem noch einen Erfolg erzielt, so wäre das eben seine Sache, mir aber erlauben Sie wohl, mich an Ihren ersten Ausspruch zu halten.«

Er hatte gut berechnet; die Vorstellung, daß der tiefgehaßte Kollege seine Erfolge ernten und damit prunken könnte, wirkten auf Eberhard wie das rote Tuch, das dem Stier vorgehalten wird. Er ging blind und toll darauf los und vergaß Gilbert und alles übrige.

»Nun denn, mein Herr Erbschleicher, so erfahren Sie, daß ich eine Komödie mit Ihnen gespielt habe!« rief er, ganz bleich vor Wut. »Ich habe die Behandlung nur übernommen, um Ihnen einen Strich durch Ihre ganz schändliche Berechnung zu machen, und jetzt gebe ich Ihnen mein Ehrenwort als Arzt und Mensch, Frau Rehfeld ist nie schwindsüchtig gewesen. Ich habe die Diagnose von Anfang an auf ein Nervenleiden gestellt, das allerdings eine Zeit lang ihr Leben bedrohte, aber jetzt ist es gehoben, und was von Schwäche noch zurückbleibt, werde ich auch beiseite schaffen. Ich werde der jungen Frau heute noch erklären, daß ich mich für ihre völlige Herstellung verbürge und daß sie voraussichtlich noch fünfzig Jahre leben wird – wollen sehen, ob sie dann noch zu dem Mertens geht!«

Er stand im vollen Triumph vor dem vermeintlichen Erbschleicher, dem er einen tödlichen Schlag zu versetzen glaubte, aber das Antlitz des jungen Mannes strahlte plötzlich auf im leidenschaftlichen Entzücken und in seiner Stimme klang der ausbrechende Jubel: »Also ist es doch wahr? Ja, Ihrem Ehrenworte glaube ich! Eveline ist gerettet – Gott sei Dank!«

»Eveline? Wie? Was soll das heißen?« fragte Eberhard ganz verdutzt, aber Heinz fuhr in stürmischer Freude fort:

»Und nun, Herr Doktor, toben Sie, werfen Sie mich zur Thür hinaus, machen Sie mit mir, was Sie wollen – es ist mir alles gleich! Sie haben mir Evi gerettet, und dafür muß ich Ihnen Dank sagen, tausend Dank!« und damit überfiel er den Ahnungslosen mit einer Umarmung und drückte ihn an die Brust.

Eberhard war so verblüfft, daß er den Ueberfall ganz ruhig über sich ergehen ließ. Er konnte sich die Sache noch immer nicht erklären.

»Sie freuen sich? Aber nun entgeht Ihnen ja die Erbschaft und – Herr des Himmels, jetzt wird mir die Geschichte klar! Am Ende sind Sie selbst verliebt in Frau Eveline?«

Heinz schwieg und sah zu Boden, aber dem Doktor war dies Schweigen genug; er sank auf einen Stuhl, schlug sich vor die Stirn und rief:

»O, ich Esel!«

Es folgte ein etwas verlegenes Schweigen, dann trat der junge Mann zu dem Arzte und jetzt klang seine Stimme ernst, sogar ein wenig vorwurfsvoll.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, daß ich zu diesem Mittel griff, aber Sie hatten mir keine andre Wahl gelassen. Meine einzige, letzte Hoffnung ruhte auf Ihnen, denn ich wußte, daß Sie vor Jahren einen ganz ähnlichen Fall mit einem an Wunder grenzenden Erfolge behandelt hatten. Einer warmen herzlichen Bitte waren Sie nicht zugänglich, das mußten mein Vater und meine Cousine erfahren, da habe ich denn – verzeihen Sie – auf Ihre Menschenfeindlichkeit gerechnet. Ich wußte, Sie würden die Gelegenheit nicht vorbei lassen, dem vermeintlichen Erbschleicher und dem wissenschaftlichen Gegner einen empfindlichen Aerger zu bereiten, und der Erfolg hat mir recht gegeben.«

Die Stirn des Doktors hatte sich finster umwölkt und mit der alten Bitterkeit und Schroffheit entgegnete er:

»Nun, Herr Heinz Kroneck, schmeichelhaft ist das gerade nicht, was Sie mir da sagen. Also auf meine Bosheit haben Sie gerechnet, haben Ihr Spiel mit mir getrieben und machen sich jetzt lustig über den alten Dummkopf, der so blind in Ihre Falle gegangen ist.«

»Ueber den Mann, der ein Leben gerettet hat, das mir zehnfach teurer ist als mein eigenes – nein, Herr Doktor! Für den habe ich nur tiefe, heiße Dankbarkeit, der kann alles von mir fordern, und ich hoffe ihm zu beweisen, daß es doch noch etwas andres gibt in der Welt als Egoismus und Berechnung. Sie dürfen mir nicht zürnen – mir nicht, denn Sie haben mich ja so unendlich glücklich gemacht.«

Er hielt ihm die Hand hin, mit einem so sonnigen, glücklichen Lächeln, daß die Wolke von der Stirn Eberhards verschwand und er kräftig einschlug.

»Nun denn, meinetwegen! Im Grunde haben Sie recht, auf andrem Wege hätten Sie mich nicht zum Arzte bekommen. Sie junger Bursch, mit Ihren braunen Augen, wer lehrt Sie denn so in die Menschen hineinblicken, daß Sie uns Graubärten die Gedanken aus der Seele lesen? Lieb ist es mir aber doch, daß dies Gesicht und diese Augen nicht gelogen haben! Es wollte mir nicht in den Kopf, daß ein Schurke dahinter stecken sollte, ich ärgerte mich, so oft ich daran dachte!« Dabei schüttelte und drückte er die Hand des jungen Mannes und schien höchlich zufrieden mit dem Streich, den man ihm gespielt hatte.

Leider dauerte diese Zufriedenheit nicht lange, denn dem Doktor kam es plötzlich zum Bewußtsein, wie schlimm es bei dieser Lage der Sache mit seinen eigenen Interessen bestellt sei.

»Aber was wird nun aus der kleinen Person?« rief er. »Sie muß verheiratet werden, unter allen Umständen!«

»Gewiß,« versetzte Heinz ruhig, »sie wird voraussichtlich den Doktor Gilbert heiraten. Fahren Sie nicht wieder auf, Herr Doktor; Sie werden sich doch schließlich an den Gedanken gewöhnen müssen, denn Sie haben kein Einspruchsrecht. Und nun lassen Sie mich fort, ich will dem Flüchtlinge nach, er richtet sonst im Uebermaß seiner neu erwachten Menschenwürde noch irgend ein Unglück an.«

Er ging und der Doktor lief in voller Wut die Treppe hinauf, nach seinem Studierzimmer, wo Martin ihm begegnete.

»Ist der Herr Kroneck fort?« fragte dieser.

»Ja, Martin.« Eberhard schlug in Ermangelung eines Tisches dröhnend auf das Treppengeländer. »Aber der ist auch verliebt und noch dazu in seine Schwiegermutter.«

»Gott bewahre uns in Gnaden!« rief der alte Diener entsetzt. »So etwas ist noch nicht vorgekommen! Aber ich sagte es Ihnen ja, Herr Doktor, sobald ein Frauenzimmer in das Spiel kommt, werden die Männer allesamt verrückt.«


Gilbert hatte inzwischen den Rat seines neu gewonnenen Freundes befolgt und sich nach dem Thalwirtshause begeben, aber hier mußte er der Neugier des Thalwirtes standhalten, der natürlich höchst erstaunt war, daß der Assistent und unzertrennliche Gefährte des Doktors Eberhard auf einmal bei ihm wohnen wollte. Zum Glück erschien bald darauf Heinz und brachte die Sache in Ordnung. Er erfand in der Eile einen Vorwand, der freilich nur halb geglaubt wurde, aber der junge Arzt erhielt trotzdem das beste Zimmer des Hauses; ein Bote ward abgesandt, um seine unentbehrlichsten Sachen zu holen, und Heinz konnte seinen Schützling ohne weitere Sorge verlassen.

Er wollte jetzt nach Haus zurückkehren und wählte den kürzeren Weg durch den Garten, der fast nur von den Fremden besucht wurde, da die Bauern den Aufenthalt in der Wirtsstube vorzogen. Der junge Mann war deshalb überrascht, als er einen Burschen in Lodenjacke und Berghut gewahrte, der ganz allein unter dem großen Apfelbaume saß. Er hatte seinen Bierkrug noch unberührt vor sich stehen und starrte mit finsterem Gesichtsausdruck auf die Landstraße, die man von hier aus übersah. Beim Erscheinen des Fremden aber wurde er aufmerksam, sprang plötzlich auf und trat dicht vor ihn hin.

Heinz stutzte, er hatte diese Gestalt nur ein einziges Mal gesehen, und noch dazu in der Abenddämmerung, aber er erkannte sie sofort wieder und nahm eine kampfbereite Stellung an.

»Sieh da, Vinzenz Ortler! Wollen Sie mir auch hier den Weg verlegen, und sind Sie noch so rauflustig wie einst?«

Das finstere Gesicht des Burschen hellte sich nicht auf, aber er schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr Heinz, ich weiß Bescheid jetzt. Ich bin damals an den Unrechten gekommen – nichts für ungut – ich hab' mich halt geirrt.« Es klang eine Entschuldigung, fast eine Bitte aus den Worten, und der junge Mann lächelte.

»Nun, wenn es aus der Tonart geht, können wir weiter miteinander reden. Sie waren damals allzu grob, als daß ich mir die Mühe hätte geben sollen, Sie aufzuklären, das hat vermutlich die Gundel gethan.«

»Nein, der Ambros!«

»Ambros Berghofer – so?« sagte Heinz langsam.

»Ja, er hat es mir arg gegeben, als ich auf dem Rückweg wieder am Berghof einsprach. Der Herr Heinz gäb' sich nicht mit schlimmen Dingen ab, hat er gesagt, dafür thät' er seine Hand ins Feuer legen. Ich wär' ein Esel und sollt' mich besser umschauen, bis ich den Rechten fänd'. Freilich, jetzt weiß ich's auch, daß der Hellmar heißt und nicht Kroneck. Ja, der Ambros hält viel von Ihnen, Sie werden doch wieder hinauf nach dem Berghof gehen?«

»Vielleicht – wenn ich Zeit habe,« sagte der junge Mann ausweichend; und hastig den Gegenstand wechselnd, fuhr er fort: »Aber wie steht es denn nun mit euch Liebesleuten? Ich habe die Gundel noch nicht gesehen, sie war vorhin nicht zur Hand, wie mir der Vater sagte.«

»Glaub's wohl!« lachte Vinzenz grimmig auf. »Sie wartet ja auf ihren Schatz, und da kann sie sich nicht mit den Gästen abgeben. Er ist wieder da, der Lump, das Herrchen, und jetzt ist die Sach' vollends in Ordnung mit ihnen.«

Heinz runzelte die Stirn und seine Lippen zuckten verächtlich.

»Also hat er wieder das alte Spiel angefangen? Ich glaubte, die Sache sei längst vergessen und begraben.«

»Ich hab' es auch gemeint und hab' es nicht begreifen können, daß die Gundel so spröd' und vornehm that wie eine Prinzessin und keinen mehr anschaute. Jetzt ist's heraus, die Eh' hat er ihr versprochen!«

»Der Tochter des Thalwirtes – Guido Hellmar?«

»Just der! Aber noch soll's keiner wissen. Er hat dem Mädel Wort und Eid abgenommen, weil er die Geschicht' erst in Ordnung bringen müßt' mit seiner vornehmen Familie; die Gundel hat auch stillgeschwiegen, nicht einmal der Vater weiß davon, aber vorhin, als ich aufbegehrte und zum letztenmal Bescheid haben wollt', ›ja‹ oder ›nein‹, da ist's herausgekommen. In der nächsten Zeit wird er mit dem Thalwirt reden und dann ist kein End' mit der Herrlichkeit, dann zieht sie in die Stadt mit ihm und wird gnädige Frau.«

»Und die Gundel glaubt das wirklich?«

»Glauben Sie es etwa nicht?« fragte der junge Bauer finster. »Nun, zu Tag wird es wohl kommen, denn erst haben wir zwei noch ein Wort zu reden. Ich wart' hier auf ihn und diesmal treff' ich ihn sicher, er soll's spüren!«

»Vinzenz, keine Gewaltthätigkeit! Die Sache ist auf andre Weise zu lösen,« sagte Heinz ernst. »Versprechen Sie mir, diesen – diesen Herrn in Frieden gehen zu lassen, ich gebe Ihnen mein Wort, daß die Gundel ihn noch heute mit Schimpf und Schande heimschickt.«

Vinzenz riß die Augen weit auf bei diesem Versprechen, dessen Erfüllung ihm unmöglich schien.

»Ja – wie wollen Sie denn das anfangen?« fragte er ganz verdutzt.

»Das ist meine Sache. Ich gehe sofort zu dem Mädchen und werde ihr die Augen öffnen. Aber noch einmal – keine Gewaltthätigkeit, ich kann mich doch darauf verlassen?«

Vinzenz nickte nur. Der junge Herr hatte etwas so Festes, Bestimmtes, daß man ihm wohl oder übel glauben mußte, vielleicht war er so eine Art Hexenmeister, denn ohne Hexerei konnte es bei einer solchen Sinnesänderung der Gundel füglich nicht abgehen.

Der Bursche kehrte nach einigem Zögern wieder an seinen Platz zurück, den er als Beobachtungsposten benutzte. Nach etwa einer Viertelstunde erschien auch wirklich der Gehaßte, im eleganten, halb malerischen Touristenkostüm, draußen auf der Landstraße, begrüßte herablassend den Thalwirt, der ihm entgegenkam, und trat dann in das Haus. Vinzenz gewann es wirklich über sich, vorläufig an seinem Platz zu bleiben, obwohl er die Fäuste ballte, er wollte doch erst abwarten, ob der Herr Heinz Wort hielt.

Dieser hatte inzwischen einen schweren Stand mit seiner Mission. Er hatte die Gundel in eins der unbenutzten Gastzimmer rufen lassen, wo er mit ihr allein war, und man sah es auf den ersten Blick, daß die Unterredung sehr stürmisch gewesen war. Die Wangen des Mädchens glühten, ihre Augen flammten und ihre Stimme klang in der heftigsten Erregung.

»Es ist nicht wahr! Nicht wahr ist's! Er hat es mir versprochen, hundertmal, Wort und Eid hat er mir darauf gegeben, ich werd' ihn fragen, wenn er kommt.«

»Das wird dir wenig helfen,« sagte Heinz nachdrücklich. »Er wird einen neuen Schwur zu den alten fügen, und erlogen sind sie alle.«

»Es ist nicht wahr!« beharrte Gundel. »Ich hab' mein Wort gehalten und stillgeschwiegen, leicht ist es mir nicht geworden, wenn der Vater immer wieder drängte, ich sollt' den Vinzenz heiraten, und that, als wär' das gar ein so großes Glück. Aber der Herr Hellmar hat es gewollt und ich hab' ihm gefolgt.«

»Warum hast du denn den Vinzenz zurückgestoßen?« fragte Heinz vorwurfsvoll. »Der liebte und freite ehrlich, und ich glaube, er liebt dich noch, so arg du ihm auch mitgespielt hast.«

Um die Lippen des Mädchens zuckte es wie unterdrücktes Weinen, dann aber brach wieder der alte Trotz hervor.

»Er hat seinen Kopf für sich und ich hab' den meinen auch, das hätt' eine schlimme Eh' gegeben. Warum hat er mich so gequält mit seiner Eifersucht und gethan, als ob mich kein andrer nur anschauen dürft', jetzt hab' ich es ihm heimgegeben.«

»So, also aus Trotz und Eigensinn bist du einem andern in die Arme gelaufen – schäme dich, Gundel!«

Das Mädchen wandte sich mit einer heftigen Bewegung ab.

»Lassen Sie mich in Ruh', Herr Kroneck, mit dem Vinzenz ist's lang zu End'. Ich werd' die Frau von dem Herrn Hellmar, ich werd' eine vornehme Dame und bekomme ein Haus und Dienstleut' und eine Equipage. Er hat es mir versprochen, aber warten muß ich noch ein' kleine Weil', weil er so grausam stolze Eltern hat, die es nicht leiden wollen, daß er ein Mädel vom Lande nimmt.«

»Und wenn ich dir nun sage, daß Hellmar überhaupt keine Eltern mehr hat, daß er auch nicht aus vornehmer Familie ist und keinen Reichtum besitzt, wie er dir vorgeredet hat. Im übrigen aber ist er vollkommen frei und Herr seines Willens, er konnte dich schon im vorigen Jahr zum Traualtar führen, wenn es ihm Ernst damit war. Aber zu der gleichen Zeit hat er sich um eine andre beworben, um eine reiche vornehme Dame –«

»Nein – nein!« stieß Gundel hervor. Die Glut ihrer Wangen erlosch, und sie wurde erschreckend bleich. »Ich glaub' Ihnen nicht – der ganzen Welt nicht – ich glaub' ihm allein.«

»Nun denn, so sollst du es aus seinem eigenen Munde hören! Ich greife wahrhaftig nicht gern zu diesem Mittel, aber hier gilt es, ein Unglück zu verhüten, du bist auf keine andre Weise zu überzeugen.«

Er warf einen Blick durch das Fenster und wandte sich wieder zu dem Mädchen.

»Da kommt dein ›Bräutigam‹! Ich werde ihn zum Reden bringen, und du sollst ungesehen Zeuge davon sein. Tritt in das Nebenzimmer, da kannst du jedes Wort hören, aber du verrätst dich mit keinem Wort, bis du volle Klarheit über die Sache hast.«

Es war seltsam, welche Macht der sonst so ausgelassene Heinz über andre hatte, wenn er einmal ernst war. Wie den störrischen Vinzenz, so zwang er auch jetzt Gundel zum Gehorsam, halb mechanisch folgte sie seiner Weisung und trat in das anstoßende Zimmer, dessen Thür er hinter sich schloß. Nach wenigen Minuten hörte man auch schon Hellmars Schritt auf der Treppe.

»Guten Tag, Heinz,« sagte er eintretend. »Der Wirt sagte mir, du seist hier oben und zwar mit der Gundel. Wo ist sie denn hingekommen?«

»Sie wurde abgerufen und wird wohl in der Küche sein.«

»Nun, da hätte ich es bequemer gehabt, wenn ich unten geblieben wäre. Aber du scheinst ja ein förmliches Tete-a-tete mit dem Mädchen gehabt zu haben; willst du mir etwa in das Gehege kommen?«

»Nein, aber eine Frage möchte ich an dich richten. Ist es wahr, daß du der Gundel versprochen hast, sie zu heiraten?«

»Hat das dumme Ding geplaudert?« fuhr Hellmar auf. »Ich habe ihr doch das Wort abgenommen, zu schweigen, und ich glaubte, sie werde es halten – weil –«

»Du so vornehme und stolze Eltern hast, die eine derartige Verbindung nicht zugeben. – Du siehst, ich weiß Bescheid.«

»Nun ja, womit soll man denn solch einem dummen Bauernmädel den Mund stopfen?« sagte Hellmar ärgerlich. »Sie hätte zweifellos geprahlt gegen ihresgleichen, wenn ich ihr nicht weisgemacht hätte, daß in solchem Falle die ganze Heirat auf dem Spiele stände. Aber traue einer solch ungebildetem Volk! Gegen dich hat sie doch nicht geschwiegen, vermutlich, weil du mein Freund bist und sie glaubte, du wüßtest um die Sache. In diesem Falle hat das nun gerade nichts auf sich, aber es hätte sehr unbequem werden können.«

»Du mußt dem Mädchen aber doch sehr bestimmte Zusicherungen gegeben haben, denn sie beruft sich darauf mit einer Sicherheit, daß auch ich an den Ernst der Sache zu glauben begann. Willst du eine von den Idyllen, die in deinen Gedichten spielen, in die Wirklichkeit übersetzen und ein Kind des Volkes ehelichen? –«

Hellmar brach in ein Gelächter aus, das zwar ebenso weich und musikalisch klang wie seine Stimme überhaupt, aber doch einen unendlich höhnischen Beigeschmack hatte.

»Aber Heinz, ich bitte dich! Hast du den Verstand verloren oder hat dich die Gundel mit ihrer Albernheit angesteckt? Ich, Guido Hellmar, ein Bauernmädchen heiraten! Das Wirtshaustöchterlein aus dem Dorfe, das jedem Bauern den Bierkrug bringt, als meine Frau in der Residenz und in den Salons meiner Verehrerinnen – das wäre in der That ein köstlicher Spaß!«

Er begann von neuem zu lachen, Heinz stimmte nicht ein in diese Lustigkeit, er blickte nach der Thür, die noch fest geschlossen blieb, und fragte:

»Nun, wenn du nie daran dachtest, Ernst zu machen, weshalb hast du denn die ganze Komödie in Szene gesetzt?«

»Warum? Mein Gott, weil auf andrem Wege nichts zu erreichen war. Die Gundel lacht und schäkert mit jedem, aber wenn man ihr näher kommt, als sie es für gut findet, dann ist sie wie eine wilde Katze. Die Sache fängt wirklich an, mir langweilig zu werden, ich muß ein Ende machen.«

»Die Müh' können S' sparen!« tönte plötzlich Gundels Stimme; die Thür flog auf und das Mädchen stand auf der Schwelle. Aus ihrem Gesicht schien alles Blut gewichen zu sein, aber die Hände waren geballt und die Augen blitzten drohend, als sie auf Hellmar zuschritt, der schleunigst bis an die Wand zurückwich.

»Die Müh' können S' sparen!« wiederholte sie, halb erstickt vor Grimm und Scham. »Das dumme Bauernmädchen macht selbst ein End', und wenn's auch zu schlecht ist zum Heiraten, so schlecht ist's noch lang' nicht wie der Herr Guido Hellmar – der Lump!«

»Gundel, du?« stammelte Hellmar ganz fassungslos. »Wie kommst du denn – es war ja nur Scherz, was wir sprachen.«

»Ja, aber mir ist's Ernst, und dir soll's auch Ernst werden, du sollst die wilde Katz' kennen lernen!« brach das erbitterte Mädchen aus, das augenscheinlich die Absicht hatte, sich an dem ungetreuen Liebhaber zu rächen. Dieser wußte keinen andern Rat, als sich hinter Heinz zu flüchten, der ihm denn auch Deckung gewährte.

»Um Gottes willen, halte sie mir vom Leibe, verhindere, daß sie Lärm macht!« raunte er jenem zu, und geschickt den Moment benutzend, wo der junge Mann wirklich dazwischen trat, glitt er an der Wand hin, gewann die Thür und verschwand in höchster Eile.

Gundel wollte ihm nachstürzen; wo eine Stadtdame in Ohnmacht gefallen wäre, ging das Dorfmädchen rücksichtslos darauf los, jetzt aber ergriff Heinz ihren Arm und hielt sie zurück.

»Sei vernünftig, Mädchen!« sagte er halblaut, aber eindringlich. »Wozu der Lärm? Der schadet dir am meisten. Bis jetzt weiß niemand, wie weit die Sache zwischen euch war, außer mir und dem Vinzenz, und es braucht's auch niemand zu wissen. Wir werden schweigen, schweig auch du.«

Diese Worte und der klägliche Rückzug ihres vermeintlichen Bräutigams brachte Gundel in der That zur Besinnung. Sie blieb stehen, dann auf einmal stürzten die Thränen aus ihren Augen, und die Hände vor das Gesicht schlagend, brach sie in lautes Weinen aus.

Vinzenz hatte inzwischen seinen Beobachtungsposten behauptet, gehorsam, aber doch mit dem stillen Vorbehalt, von seinen Fäusten Gebrauch zu machen, wenn ihm die Sache zu lange dauerte, sie dauerte jedoch nicht lange. Nach kaum zehn Minuten erschien das »Herrchen« wieder, aber sichtlich verstört, und schritt in höchster Eile davon, gleich darauf kam auch der Herr Heinz wieder zum Vorschein und trat in den Garten.

»Er ist fort!« sagte Vinzenz in atemloser Spannung.

»Ja, und er wird nicht wiederkommen! Die Gundel hat ihn in einer Weise heimgeschickt, daß ihm wohl ein für allemal die Lust vergangen ist, das Thalwirtshaus wieder zu betreten.«

»Und – die Gundel?«

»Die sitzt droben und weint, und vorläufig muß man ihr Ruhe gönnen. Später läßt sich vielleicht wieder mit ihr reden.«

»Herr Heinz, ich glaub', Sie können hexen!« brach Vinzenz stürmisch aus. »Herr Heinz, ich hab' Sie einmal niederschlagen wollen – das heißt eigentlich nicht Sie, sondern den andern – jetzt aber geh' ich durchs Feuer für Sie.«

Der junge Mann lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

»Durchs Feuer, das ist gerade nicht notwendig, aber wenn Sie mit mir durch den Schnee gehen wollen, so nehme ich Sie beim Wort. Ich will nächstens auf die Schneespitze und habe schon heute morgen deswegen mit dem Sebastian gesprochen, der mich führen soll. Er meint aber, zwei Führer wären besser als einer, weil der Aufstieg zum Gipfel nur mit Seilen möglich ist. Wollen Sie der zweite sein?«

»Gewiß will ich! Aber der Ambros, nehmen wir den nicht mit?«

»Nein,« sagte Heinz kurz, »wir gehen allein. Von dem Sebastian erfahren Sie Tag und Stunde. Adieu, Vinzenz!«

Er ging und der alte, übermütige Ausdruck spielte wieder um seine Lippen, als er sich zum Rückwege anschickte.

»Nun habe ich bei zwei Liebespaaren den Schutzgeist gespielt – ein saures Tagewerk, solch ein Schutzengel zu sein! Jetzt werde ich aber auch an mich selber denken.«


Heinz Kroneck hegte eine entschiedene Abneigung gegen die breite, bequeme Landstraße; er zog, wo es irgend möglich war, Wald- und Wiesenwege vor, wobei ihn gelegentliche Hecken und Gräben durchaus nicht hinderten. Er folgte auch heute dieser Neigung und so sah er denn die wohlbekannte Gestalt nicht, die auf der Landstraße dahin wanderte. Es war nicht Guido Hellmar, der sich längst in das rettende Asyl der Villa Rehfeld geflüchtet hatte, sondern Doktor Gilbert, der dem gleichen Ziele zustrebte.

Der junge Arzt hatte sich nach reiflicher Ueberlegung entschlossen, die Frage an sein Schicksal, die nun einmal unter allen Umständen gestellt werden mußte, sofort zu stellen. Doktor Eberhard war augenblicklich als erfolgreicher Arzt allmächtig bei Frau Rehfeld, und es stand zu fürchten, daß er diese Macht mißbrauchen werde, um das Lebensglück seines Assistenten zu vernichten oder wenigstens zu stören, überdies hatte Gilbert ein dunkles Vorgefühl, daß der Heldenmut, mit dem er die feindlichen Mächte heute so siegreich geschlagen, nicht allzulange vorhalten werde. Es galt also, die Zeit zu benutzen.

Er suchte natürlich die Rückseite des Parkes auf, wo sich eine gewisse Laube befand, und diesmal begünstigte ihn das Glück. Auf dem Tische stand wieder das Arbeitskörbchen mit der Stickerei, daneben aber lag ein wohlbekanntes Papier und auf der Bank saß Käthchen, in eigener lieblicher Person.

Sie las nicht mehr das Gedicht, aus dem einfachen Grunde, weil sie es auswendig wußte, aber sie zerbrach sich den Kopf darüber, warum der Verfasser gestern, nachdem er es in ihre Hände gelegt, so über Hals und Kopf davongelaufen war. Die Verse bedurften freilich keiner Erklärung, sie sprachen deutlich genug, aber man hätte doch erst die Antwort abwarten können.

Käthchen wußte sehr gut, daß Cousin Heinz ihr zum künftigen Gatten bestimmt war, und Heinz war ohne Frage viel hübscher, viel liebenswürdiger, viel glänzender und immer bereit, Possen mit der kleinen Cousine zu treiben, wenn sie Lust dazu bezeigte, trotzdem hatte ihm der stille schüchterne Gilbert vollständig den Rang abgelaufen. Die alte Erfahrung von der Sympathie, die oft ganz ungleichartige Naturen zu einander zieht, bestätigte dies auch hier.

Um den Cousin Heinz machte sich das junge Mädchen dabei wenig Sorge, der nahm es ja mit keinem Dinge ernst, also wohl auch nicht mit der Liebe, er paßte mit seinem Uebermute und seiner Ausgelassenheit überhaupt nicht zum Ehemann, und die Mama – nun die war leicht zu gewinnen, wenn man ihr das Herz ausschüttete. Käthchen war es längst gewohnt, in ihrer Stiefmutter nur die ältere Freundin zu sehen.

»Mein Fräulein!« tönte plötzlich eine Stimme sehr leise und schüchtern. Das junge Mädchen schrak zusammen und wurde dunkelrot, blieb aber regungslos sitzen.

»Mein Fräulein!« klang es von neuem und jetzt wurde auch die Gestalt Gilberts hinter dem Parkgitter und den Blättern der Laube sichtbar.

»Herr Doktor?« erwiderte Käthchen, ebenso schüchtern.

»Haben Sie mein Gedicht gelesen?« tönte es wieder hinter – dem Parkgitter hervor.

»Ja,« war die kaum hörbare Antwort.

»Und – und Sie zürnen mir nicht?«

Käthchen schüttelte nur das Haupt, ohne zu sprechen, aber Gilbert verstand die Bewegung und im Entzücken darüber vergaß er das trennende Gitter und fuhr so heftig gegen die Eisenstäbe, daß diese klirrten.

Käthchen erschrak und sprang auf, es kam ihr jetzt erst zum Bewußtsein, wie unfreundlich es sei, den jungen Mann draußen stehen zu lassen, und zaghaft fragte sie:

»Wollen Sie nicht hereinkommen, Herr Doktor?«

Sie meinte natürlich durch das Parkthor, aber Gilbert wählte den Weg, den er gestern erst mit Heinz gemacht hatte, und begann kühn das Gitter zu erklettern, zur größten Genugthuung Käthchens, die es hochromantisch fand, daß der Freier auf diesem Wege zu ihr kam. Das ersetzte vollkommen die in den Romanen übliche Strickleiter und Gilbert gewann unendlich in ihren Augen durch das Wagestück. Jetzt hatte er es glücklich überstanden und trat in die Laube.

Das junge Mädchen setzte sich wieder auf die Bank und erwartete mit niedergeschlagenen Augen und hochklopfendem Herzen die Liebeserklärung, die nun jedenfalls kommen mußte. Aber der Doktor setzte sich auf die andre Bank und schlug gleichfalls die Augen nieder. Seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht, es war vorbei mit seinem Heldenmut. Der Geliebten gegenüber kehrte die alte Schüchternheit mit verdoppelter Macht zurück, er brachte keine Silbe über die Lippen.

So saßen sie eine ganze Weile und schwiegen, die Pause wurde immer länger und drohte verhängnisvoll zu werden. Da hörte man draußen auf der Landstraße das Rollen eines Wagens. Das war unzweifelhaft Doktor Eberhard. Wenn er kam, stand alles in Frage, hier war keine Minute zu verlieren. Gilbert fuhr plötzlich auf und rief mit dem Mute der Verzweiflung:

»Fräulein Katharina, ich liebe Sie!«

Käthchen atmete auf. Gott sei Dank, jetzt endlich sprach er; sie erwartete nun wenigstens eine Motivierung dieses Geständnisses, womöglich in Versen, statt dessen fuhr der ungestüme Bewerber fort:

»Und ich halte hiermit um Ihre Hand an!«

Die junge Dame war höchst betroffen über die Plötzlichkeit dieses Antrages, nachdem er so lange hatte auf sich warten lassen. So kurz und bündig war die Sache denn doch nicht abzumachen und etwas verletzt entgegnete sie:

»Herr Doktor, das kommt in der That – sehr unerwartet.«

»Und ich liebe Sie doch schon so sehr lange!« sagte Gilbert wehmütig. »Seit einem Jahre bete ich Sie an, aber ich habe es niemals gewagt, meinen Empfindungen Worte zu leihen, Fräulein Katharina?« –

Er sprach den Namen mit so banger, angstvoller Frage aus, als hänge für ihn Leben oder Tod an der Antwort. Da glitt das alte schelmische Lächeln wieder über das Gesicht des jungen Mädchens, sie sah wohl ein, daß sie dem Ungeschickten zu Hilfe kommen müsse, und leise, ganz leise erwiderte sie:

»Ich heiße ja Käthchen!«

»Käthchen! Mein Käthchen!« rief Gilbert, alles um sich her vergessend. Jetzt bedurfte es keiner Einflüsterung und keiner Hilfe eines rettenden Freundes, das erlösende Wort war gesprochen, es hatte auch ihm die Lippen gelöst, und so ungelenk seine Verse gewesen waren, so beredt war jetzt die Prosa, in der er seine Liebe erklärte, sogar Käthchens hochgespannte Erwartungen wurden befriedigt dadurch.

Das Rollen des Wagens, der die Entscheidung hervorgerufen, der aber die Villa verließ, anstatt sich ihr zu nahen, erstarb in der Ferne und in der Laube saß ein glückliches Brautpaar und besiegelte seine Verlobung mit dem ersten Kusse.

 

Heinz war inzwischen auch zurückgekehrt, fand aber niemand im Hause. Die gnädige Frau war vor einer halben Stunde nach der Waldhöhe gegangen, wie der Diener ihm berichtete, und Herr Hellmar war gleichfalls vor einer halben Stunde nach dem benachbarten C. gefahren. Er hatte jedoch einen Brief für Herrn Kroneck zurückgelassen, mit der Bitte, ihn sofort nach dessen Rückkehr zu übergeben. Heinz nahm das Billet und öffnete es, während er gleichfalls den Weg nach der Waldhöhe einschlug. Es enthielt nur wenige Zeilen:

 

»Mein lieber Heinz!

Eine dringliche Angelegenheit ruft mich auf einige Tage nach C. Ich hoffe, daß der peinliche Vorfall sich inzwischen von selbst erledigt, und rechne auf Deine Freundschaft, die das möglichste thun wird, mir Unannehmlichkeiten zu ersparen. Handle ganz nach Deinem eigenen Ermessen, ich gebe Dir unbedingte Vollmacht dazu! Ende der Woche denke ich zurückzukehren. In alter Freundschaft

Dein Guido!«

 

»Schuft!« murmelte der junge Mann zwischen den Zähnen, während er das Papier in der Hand zerknitterte. »Da läuft er feig davon, weil er einen Racheakt des Mädchens fürchtet, und überläßt es mir, einem öffentlichen Skandale vorzubeugen. Das ist nun allerdings geschehen. Die Gundel hat Vernunft angenommen. In alter Freundschaft! Es ist wirklich hohe Zeit, daß diese Freundschaftskomödie zwischen uns ein Ende nimmt. Wenn es möglich ist, so erspare ich Evelinen die bittere Enttäuschung, ihren Dichter so von der geträumten Höhe herabsinken zu sehen; hat er aber auch sie schon 3umgarnt, so zerreiße ich rücksichtslos das Netz und sage ihr die volle Wahrheit.«

 

Eveline befand sich in der That auf der kleinen Waldhöhe.

Sie saß auf dem bemoosten Felsstück unter dem Baume und las. Es war ihr Lieblingsplatz geworden, und seit die zunehmenden Kräfte ihr weitere Spaziergänge gestatteten, suchte sie ihn so oft als möglich auf.

Der Frühling hatte diesmal auch im Hochgebirge seine volle Schuldigkeit gethan. Das war kein zögerndes Keimen und Sprießen, wie im vergangenen Jahre, im fortwährenden Kampf mit kalten Regengüssen und eisigen Winden, es war ein volles Erwachen der Natur zu sonnigem, blütenreichem Leben. Der wilde Apfelbaum trug freilich nicht mehr seinen weißen Blütenschmuck, er stand schon im lichtgrünen Kranze der jungen Blätter, an den Hecken und Gesträuchen drängte sich das Laub dicht und voll, und das grüne Waldmeer ringsum, der fern blinkende See, die blauen Linien der Berge, alles war überflutet von dem hellen goldigen Tageslicht, alles atmete Maienfrische und Maienglanz.

»Verzeihung, wenn ich störe,« sagte Heinz, als die junge Frau bei seinem Nahen wie erschreckt auffuhr. »Sie waren so vertieft, daß Sie mein Kommen nicht bemerkten.«

Das Antlitz, das Eveline ihm jetzt zuwendete, trug in der That den Ausdruck der tiefsten Erregung, die Wangen waren heiß gerötet, die Augen leuchteten wie in Begeisterung, sie schien alles um sich her vergessen zu haben. Der Blick des jungen Mannes fiel auf das Buch, das sie in der Hand hielt, und mit verhaltener Spannung fragte er:

»Waren Sie so ganz im Banne der ›Alpenfee‹? Da scheine ich wirklich gestört zu haben.«

»O nein, ich las die Dichtung schon zum zweitenmal,« sagte Eveline rasch, »aber sie hat mich noch mächtiger gefesselt als beim ersten Eindruck.«

»In der That? Dann stimmen Sie also nicht in Guidos Verdammungsurteil ein?«

Eveline schloß mit einer heftigen Bewegung das Buch.

»Ich begreife Hellmar nicht! Ist er wirklich blind gegen die Schönheiten dieses Werkes, oder will er es sein? Ich fürchte, die Eifersucht des Dichter auf einen Größeren spielt eine verhängnisvolle Rolle dabei.«

»Auf einen Größeren? Ziehen Sie diese immerhin etwas stürmische Dichtung wirklich den zarten Poesien Ihres ›Minnesängers‹ vor?«

»Sie spotten wieder, wie gewöhnlich,« sagte die junge Frau vorwurfsvoll. »Als ob sich zwei so verschiedene Dichternaturen je in eine Reihe stellen ließen! Hellmars weiche, schwärmerische Lyrik hat etwas vom Mondenglanz an sich, und in diesem Drama flammt und blitzt und leuchtet es, wie die Strahlen der aufgehenden Sonne. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, aber ich kann es nicht ändern, Hellmars Poesie verblaßt mir vor diesen Flammenworten, die unwiderstehlich fortreißen. Ich fürchte, in einem Punkte wenigstens behalten Sie recht mit Ihren Spöttereien, Heinz, habe ich es doch an mir selbst erfahren. Man hört nicht mehr auf die Laute des Sängers, wenn der volle mächtige Glockenklang ertönt.«

Sie hatte in steigender Erregung gesprochen, aber sie sah nicht den seltsamen Blick in den Augen ihres Zuhörers, ein Blitz stolzer, glühender Genugthuung flammte darin auf, und ein stürmisches, leidenschaftliches Wort schien sich auf seine Lippen zu drängen, aber es wurde niedergezwungen, und in halb scherzendem Tone entgegnete er:

»Lassen Sie das Guido nicht hören! Er würde es für eine tödliche Beleidigung halten, er ist mehr als empfindlich in diesem Punkte.«

»Ja, ich weiß, es ist seine Schwäche, vielleicht die einzige dieses Mannes, der in allem übrigen so rein und ideal dasteht. Das ist es ja eben, was ihm meine Bewunderung sichert, daß er so ganz die Ergänzung seiner Werke ist. Haben Sie von seiner Abreise gehört?«

»Ja,« sagte Heinz kurz.

»Er ist auf einige Tage nach C. zu einem Freunde gereist, der auf der Durchreise dort erkrankt ist. Der Bote mit der Depesche begegnete ihm auf seinem Spaziergange und er eilte sofort zurück, um sich von mir zu verabschieden und den Wagen zu bestellen. Ich fürchte, Heinz, Sie erkennen doch den Wert Ihres Freundes zu wenig, er beweist es eben wieder von neuem, wie weit seine Aufopferung geht, wo es sich um jemand handelt, der ihm nahe steht.«

Heinz lehnte an dem Stamm des Baumes und blickte schweigend nieder auf die junge Frau, die so beredt und ahnungslos den »idealen Dichter« verteidigte. Ob ihr Herz wirklich eine Wunde empfing, wenn man ihr den Wahn nahm? Es galt, darüber ins klare zu kommen.

»Ich möchte eine Frage an Sie richten,« begann er. »Eine Frage, zu der ich kein Recht habe, die Ihnen zudringlich, vielleicht verletzend erscheinen wird, und dennoch wage ich es, auf die Gefahr einer Abweisung hin – hat Ihnen Guido seine Hand angeboten?«

Eveline schlug die Augen nieder und wandte sich ab.

»Heinz, das ist –«

»Indiskret im höchsten Grade – ich weiß es! Aber mir liegt unendlich viel daran, Gewißheit darüber zu erhalten, von Ihnen zu erhalten – hat er um Ihre Hand geworben?«

»Ja,« war die leise Antwort.

»Und er wurde – zurückgewiesen?«

»Es war im vergangenen Jahre,« sagte Eveline ausweichend.

»Ich stand damals dicht am Rande des Grabes und wies ihn darauf hin, daß ich kein Leben und kein Glück mehr geben könne.«

»Und wenn er nun wieder kommt mit seiner Bitte? Und er wird wieder kommen! Eveline, wenden Sie sich nicht ab, verschanzen Sie sich nicht wieder hinter die alten Todesgedanken, ahnen Sie denn nicht, was hier für mich auf dem Spiele steht? Wenn Guido eines Tages um die Genesene, Gerettete wirbt – wird sie die Seine werden?«

»Nein,« erklärte die junge Frau mit voller, ruhiger Festigkeit, »niemals!«

Da fühlte sie zwei warme Lippen auf ihrer Hand, die sich so fest und innig darauf preßten wie damals vor einem Jahre, und wie damals versuchte sie vergebens, sich frei zu machen, aber jetzt kannte sie die Gefahr, und ihre Stimme bebte in angstvollem Flehen:

»Heinz, um Gottes willen, sprechen Sie jetzt nicht, ersparen Sie sich und mir eine qualvolle Stunde! Sie wissen, daß ich nicht an jene Möglichkeit glaube, daß ich mich nicht für genesen halte, und auf eine bloße Frist hin –«

»Nun, so glauben Sie dem Ausspruch Ihres Arztes,« unterbrach er sie. »Ich komme soeben von Eberhard; es hat Mühe genug gekostet, den alten Starrkopf zum Reden zu bringen, aber endlich sprach er doch. Ich habe sein Ehrenwort, daß nicht die geringste Gefahr mehr für Ihr Leben vorhanden ist, und daß er sich für Ihre völlige Herstellung verbürgt. Sie werden es noch heute aus seinem eigenen Munde hören.«

Eveline erbleichte; die Nachricht, so jäh und plötzlich ausgesprochen, betäubte sie fast. Sie hatte dem Gefühl wiedererwachender Kraft nicht glauben wollen, hatte sich förmlich gewehrt gegen die Hoffnung, die sich in der letzten Zeit so oft und so laut geregt, aus Furcht vor der unvermeidlichen Enttäuschung, sie wollte die schwer erkaufte Ruhe der Hoffnungslosigkeit behaupten. Und nun wurde ihr das Verlorengeglaubte zurückgegeben, die Welt im sonnigen Frühlingsglanze sollte wieder ihr gehören, sie sollte wieder teilhaben an dem Leben, an dem Glücke – sie preßte die Hand auf das Herz, das auf einmal so stürmisch zu klopfen begann, das neue Licht blendete sie noch im ersten Moment.

»Aber, nun schweige ich auch nicht mehr!« brach Heinz leidenschaftlich aus. »Lange genug hat der alte drohende Schatten zwischen uns gestanden, jetzt ist er gewichen, und jetzt muß es klar werden, auch zwischen uns. Ich habe Sie ja geliebt, Eveline, von dem ersten Momente an, wo ich Sie sah, ich habe mir den ganzen Verlobungsplan mit Käthchen ja nur gefallen lassen, weil er mir die Möglichkeit gab, in Ihrer Nähe zu bleiben, und wenn ich Ihnen die Hilfe Eberhards erst erkämpfen mußte, so kämpfte ich nur für mein eigenes Glück. Evi, zürnst du dem Ungestümen, der dir nicht einmal Zeit läßt, dich in dem neu gewonnenen Leben zurechtzufinden, sondern dies Leben an sich reißen will als sein ausschließliches Eigentum? Es hilft dir nichts, er läßt doch nicht von seinem Raub!«

»Ich kann nicht – darf nicht!« stammelte die junge Frau, kaum ihrer selbst mächtig. »Mein armes Kind – mein Käthchen!«

»Käthchen wird uns dankbar sein, wenn wir ihr die Notwendigkeit ersparen, mir in aller Form einen Korb zu geben. Sie und ich sind gute Kameraden gewesen und sind es noch, aber ihr Herz hat sich schon längst einem andern zugewendet, und ich bekenne mich schuldig, nach Kräften dabei geholfen zu haben, aus reinem Egoismus. Nein, Evi, jetzt keine Fragen und Erklärungen, erst will ich mein Schicksal entschieden sehen! Ich werbe nicht um dich mit schmelzenden Poesien, ich zeige dir nicht den Glanz eines gefeierten Dichternamens. Es ist nur der schlimme Heinz, mit all seinen Fehlern, dem du so oft den Text gelesen hast, und der dir doch jetzt zu Füßen liegt. Er hat nichts in die Wage zu werfen als sein heißes, volles Lieben, als ein Leben, in dem jeder Atemzug dir gehört. Willst du es trotz alledem mit mir wagen – beim ewigen Gott, du sollst es nicht bereuen!«

Er war vor ihr niedergesunken, und die braunen Augen strahlten wieder so leuchtend und glückselig wie gestern beim Wiedersehen, er las ja schon die Antwort in ihrem Blick, noch ehe sie sprach. Jetzt beugte sie sich nieder zu ihm und bebend zwar, aber mit dem vollen Ausdruck der Liebe kam die Antwort von ihren Lippen:

»Ja, du schlimmer, böser Heinz – ich will es mit dir wagen! Wenn du auch immer nur Spott und Uebermut auf den Lippen hast, ich glaube doch an dein Herz und deine Liebe!«

Mit einem Ausruf des Jubels sprang er auf und schloß sie in seine Arme, und jetzt überströmte seine Zärtlichkeit die Geliebte so leidenschaftlich, mit so heißen, innigen Worten, daß sie fast betroffen zu ihm emporblickte.

»Heinz, das klingt ja, als wärst du selbst zum Dichter geworden!«

»Ja, ich habe auch die blaue Märchenblume gefunden, die das Zauberreich der Romantik öffnet!« lachte er übermütig auf. »Du sagtest es mir schon damals, als ich dir schilderte, wie ich sie gewann: ›Das klingt wie ein Gedicht!‹«

»Hast du die Blume noch?« fragte Eveline leise. »Du nahmst sie mir ja wieder.«

Er lächelte, zog seine Brieftasche hervor und schob das dunkle Seidenfutter der einen Seite zurück. Der Raum mochte wohl ursprünglich für ein Bild bestimmt gewesen sein, das man nicht sofort fremden Augen preisgeben will, jetzt leuchtete von dem weißen Blatt das tiefe Blau jener Alpenblume, die auch heute, nach Jahresfrist, nur wenig verändert war in Farbe und Form, sie war mit größter Sorgfalt auf dem Blatt befestigt.

»Du siehst, wie sorgfältig ich meinen Talisman hüte,« scherzte Heinz. »Ich trage ihn immer bei mir, und er hat stets auf meinem Schreibtische gelegen, wenn ich arbeitete. War es mir doch oft, als diktierte mir die Blume die Worte in die Feder! Ein Aberglaube – und es war trotzdem doch ›die Blume des Glückes‹, die ich fand, ich habe den Zauber erprobt!«

Die junge Frau schwieg, sie dachte an jenen Moment, wo der blütenschwere Zweig ihre Stirn gestreift und sie vor dem übereilten Jawort behütet hatte. Wenn sie jetzt unwiderruflich an Hellmar gebunden wäre, mit dieser Liebe zu einem andern im Herzen!

»Hat die poetische Blume wirklich in deine trockenen Akten hineingesprochen?« fragte sie nach einer kurzen Pause. »Also hast du doch gearbeitet, Heinz? Jetzt kommt das gefürchtete Examen, dem du vorhin nicht standhalten wolltest. Wie steht es mit deinem Versprechen?«

Er beugte sich nieder und nahm das Buch auf, das vorhin unbeachtet zu Boden gefallen war.

»Das magst du selbst entscheiden, oder vielmehr, du hast schon entschieden. Ich traf dich ja ganz im Banne meiner ›Alpenfee‹.«

Eveline zuckte zusammen, und ihr Auge heftete sich fragend, fast erschrocken auf ihn.

»Deine ›Alpenfee‹? Was meinst du damit? Was hast du mit dem Werke zu schaffen?«

»Nur eine Kleinigkeit – ich habe es gedichtet! Ich glaube, Evi, du erschrickst darüber! Hat dich denn der Name nicht auf die Spur geleitet? Ich fürchtete, er würde dir wenigstens mein Geheimnis verraten, jetzt freilich sehe ich, daß du keine Ahnung davon hattest.«

Die großen, dunklen Augen Evelines hafteten noch immer mit halb ungläubigem Staunen auf den Zügen des Mannes, der ihr plötzlich zu einer so ungeahnten Größe emporwuchs.

»Heinz, ist das Wahrheit? Du – du bist –?«

»Der unbekannte Dichter, über den sich die ganze Residenz den Kopf zerbricht, und den Hellmar bereits mit seiner höchsten Ungnade beehrt. Nun, du brauchst dich nicht zu scheuen, Evi, du hast ihn begeistert genug gelobt, den Unbekannten.«

»Und du hattest das Herz, auch gegen mich zu schweigen, selbst da noch, als du mir deine Liebe gestandest?«

»Gerade da schwieg ich, denn da ging es um mein Lebensglück! Der Dichter, dessen Werk dich entzückte, dem die Welt schon den ersten Ruhmeskranz gereicht, hätte leichtes Spiel gehabt bei meiner romantischen Eveline, aber ich wollte kein leichtes Spiel haben. Ich wollte wissen, ob der schlichte Heinz, den noch kein poetischer Glanz und Schimmer umfloß, den man so oft bei dir verleumdet hat, deine Liebe erringen konnte. Gott sei Dank, er hat sie errungen, und nun nimm auch den Dichter hin, sie gehören dir beide.«

Eveline schmiegte sich an seine Brust, sie blickte noch mit einer gewissen Scheu zu ihm auf, aber es war die Scheu der Bewunderung.

»Heinz, du hast ja im Sturme gesiegt mit deinem ersten Werke! Ist es wirklich erst im letzten Jahre entstanden? Man wird doch nicht so über Nacht ein gefeierter Dichter!«

»Nein, Evi, so über Nacht kommt das freilich nicht,« entgegnete er lächelnd. »Auch in mir hat es jahrelang gegärt und gerungen, aber ich verstand mich selbst nicht. Du zeigtest mir erst den Weg, an den ich bis dahin kaum gedacht, und nahmst mir die Binde von den Augen. Ich stürmte im wilden Jugendübermut durch das Leben, bis zu der Stunde, wo deine Stimme mich so mahnend und ernst emporriß, wo ich es dir gelobte, etwas aus mir zu machen. Du hattest ja recht, das Leben ist ein zu kostbares Gut, um verschleudert zu werden, und es gibt bessere Ziele als eine Blume, die man vom Felsen losreißt. Nun, da habe ich mir eine andre ›Alpenfee‹ gewählt, die auch hoch auf schroffer Felsklippe thront, nach der so viele vergeblich ringen, und die manchem zur verderbenbringenden Lorelei wird. Ich fand den Weg zu ihr, und ich fand auch das Zauberwort, das mir die Herzen der Menschen öffnete. Du kennst ihn ja, den alten Märchenspruch:

Und wer es ausspricht
Das rechte Wort,
Der wird erringen
Den goldnen Hort!«


Ueber das Thal war ein Gewittersturm hingezogen, so wild und verheerend, wie man ihn seit Jahren nicht erlebt hatte. Aus den tief niederhängenden Wolken flammte und blitzte es unaufhörlich. Der Donner rollte in hundertfachem Echo an den Felswänden hin, und der Regen stürzte wolkenbruchartig nieder. Kaum eine Stunde hatte das gewährt, und doch waren überall die Spuren des Wetters sichtbar. Die Wasser tobten hochangeschwellt, Bäume waren niedergeworfen, Stege fortgerissen, und noch immer füllte das Thal ein dichtes Wolkenmeer, aus dem der Regen fortgesetzt niederströmte.

Hoch oben in den Bergen hatte das Unwetter noch weit schlimmer gehaust, denn hier war es zum Schneesturm geworden, der mit eisig vernichtender Gewalt dahinbrauste, und dessen Gebiet sich weit hinunter erstreckte, bis auf die Wälder und Matten. Auch die Umgebung des Berghofes war in eine vollständige Winterlandschaft verwandelt, frisch gefallener Schnee deckte die grüne Matte, und eine Schneelast lag auf dem Dache des kleinen altersgrauen Hauses, das auch diesem Sturme Trotz geboten hatte wie so vielen andern. Der Sturm war jetzt längst vorüber, aber die Flocken wirbelten noch unaufhörlich aus dem Gewölk, das an den Berggipfeln wogte und wallte, und der Nebel wurde bisweilen so dicht, daß man kaum einige Schritt weit zu sehen vermochte.

In dem kleinen niedrigen Hauptgemach des Berghofes saß Ambros mit seinen Hausgenossen bei der Mahlzeit. Der alte Bauer war unverändert, ebenso eisgrau und eisern wie im vergangenen Jahre, nur schienen seine Züge noch härter und finsterer geworden zu sein. Des Wetters wegen hatte er sich wenig Sorge gemacht. Kurz vor dem Ausbruch desselben hatte er mit der Magd und dem Buben das Vieh geborgen, es war alles sicher und wohlverwahrt, und sein Haus stand fest, das wußte er, das fegte kein Sturm weg.

»War das ein Wetter!« sagte die alte Kreszenz, indem sie noch nachträglich ein Kreuz schlug. »Ich hab' geglaubt, diesmal bleibt auch der Berghof nimmer stehn.«

»Dem Berghof thut's nichts, der steht so fest wie die Schneespitz' selber,« versetzte Ambros gleichmütig, während er aus der dampfenden Schüssel löffelte. Der Bube aber, der dicht am Fenster saß und zufällig einen Blick hinauswarf, rief plötzlich:

»Schaut, Berghofer, da kommt was – da kommen Leut'.«

»In dem Wetter?« brummte Ambros, der jetzt auch aufmerksam wurde und scharf hinausspähte. In der That vernahm man draußen Stimmen und sah einzelne dunkle Gestalten in dem Nebel auftauchen. Es schien ein ganzer Trupp Menschen zu sein, der gerade auf das Haus loskam.

»Also, das ist der Berghof!« ließ sich eine kräftige Stimme auf Hochdeutsch vernehmen. »Man merkt es, daß er schon im Gebiet dieser verwünschten Schneespitze liegt, es ist ja alles weiß ringsum, wie mitten im Winter. Uebrigens war es der schändlichste Weg, den ich in meinem ganzen Leben gemacht habe, und wahrscheinlich umsonst. Ich sage euch, sie sitzen ruhig drinnen bei dem alten Berghofer und lachen die Hilfsmannschaften aus, die aus dem Thal heraufklettern, um sie aus dem Schnee zu graben.«

»Gott geb' es, ich glaub's nicht!« klang eine andre Stimme.

Jetzt aber öffnete Ambros, der wohl merkte, daß irgend etwas Besonderes geschehen sei, die Thür seines Hauses. Sein Blick fiel zunächst auf die breitschulterige Gestalt des Thalwirtes, neben diesem stand der Doktor Eberhard, der sich in dem rasch übergeworfenen Bergmantel eines der Bauern wunderlich genug ausnahm und gleichfalls gänzlich durchnäßt war, und hinter den beiden wurden noch vier oder fünf andre Männer sichtbar.

»Grüß Gott, Ambros,« begann der Thalwirt, »du wunderst dich wohl, daß wir gerade heut' daherkommen? Hast hoffentlich schon andre Gäst' im Haus.«

»Nein, ich hab' niemand, wer soll denn hier sein?« fragte Berghofer, indem er zurücktrat, um den Ankömmlingen Raum zu geben.

»Ein Fremder, der mit zwei Führern auf der Schneespitz' gewesen ist. Wir dachten, sie wären bei dir eingekehrt. Hast wirklich keinen gesehen?«

»Keine Seel' – ich sag's ja!« versetzte Ambros bestimmt.

»Nun, so sitzen sie droben in der Schutzhütte!« rief Doktor Eberhard mit einem Tone, der grimmig sein sollte, und durch den doch eine unverkennbare Angst hindurchklang. »Aber das kommt davon! Das kommt von der unsinnigen Gewohnheit, auf die Berge zu klettern und den Eisgipfeln Besuche abzustatten. Kann man sich nicht ebensogut auf der Erde den Hals brechen? Da hat man wenigstens festen Boden unter den Füßen! Es ist eine Tollheit, eine Unvernunft! Aber die Menschheit ist ja immer unvernünftig, und die Jugend ist es erst recht.«

»Das ist der berühmte Doktor drunten, der so furchtbar grob ist und jeden zur Thür hinauswirft,« sagte der Thalwirt leise zu Ambros. »So hat er den ganzen Weg lang geschimpft, aber mitgegangen ist er aus freien Stücken und gestiegen ist er wie unsereins, durch Wind und Regen.«

Inzwischen waren alle in das Gemach getreten, wo Kreszenz und der Bube die unerwarteten Gäste mit offenem Munde anstarrten; diese ließen sich zum Ausruhen nieder und während des Hin- und Herredens erfuhr Ambros den Zusammenhang genauer.

Gestern nachmittag war ein Fremder mit zwei Führern beim schönsten Wetter aufgebrochen, um die Schneespitze zu besteigen. Sie wollten in der Schutzhütte übernachten und beim ersten Morgengrauen den Weg nach dem Gipfel antreten. Sie hatten auch jedenfalls die Absicht ausgeführt, denn der Morgen war klar und sonnig gewesen, und mußten längst auf dem Rückwege sein, als das Unwetter ausbrach. Hatte es sie im Freien überrascht, so stand allerdings das Schlimmste zu befürchten, und deshalb war im Thal alles in Bewegung geraten.

Die Verwandten des jungen Fremden hatten alles aufgeboten, um sich Nachricht zu verschaffen und, wenn nötig, Hilfe zu bringen; es fand sich denn auch bald eine Anzahl unerschrockener Männer, die trotz des strömenden Regens die Bergfahrt unternahmen. Der Thalwirt, der gleichfalls für einen tüchtigen Bergsteiger galt, hatte sich an die Spitze gestellt und Doktor Eberhard sich freiwillig angeschlossen. Man wollte zuerst im Berghofe anfragen, ob die Vermißten sich etwa dorthin geflüchtet hätten, und dann womöglich bis zu der Schutzhütte vordringen.

»Werden wir hinaufkommen bis zur Hütte?« fragte der Thalwirt, aber Ambros schüttelte bedenklich den Kopf.

»Ich glaub's nicht! Das Wetter hat zu arg gehaust hier oben und gerad' in der Richtung ist eine Lahn niedergegangen, ich hab' es donnern gehört. Es wär' auch unnütz. Entweder sie sitzen sicher in der Hütte, dann hat es keine Gefahr, sie können ruhig aushalten bis morgen, das Ding ist fest und aus dem Schnee schaufeln wir sie schon heraus – oder sie sind nicht drinnen und dann gnad' ihnen Gott! Dann schaffen wir es auch nicht mit der Hilfe.«

Der Thalwirt nickte beistimmend und die andern sahen sich schweigend an. Der Berghofer galt als eine Autorität in solchen Dingen. Wenn er erklärte, es sei nicht zu schaffen, so war es eben nicht zu schaffen, da mußte man sich fügen. Nur der Doktor Eberhard, der überhaupt keine Autorität anerkannte, brach zornig aus:

»So, also wir sollen hier ruhig im Berghof sitzen, und inzwischen liegen die drei da oben vielleicht unter der Lawine und sprechen das letzte Stoßgebet! Das wird ein schöner Lärm werden, wenn wir mit der Nachricht wieder hinunter kommen! Der Frau Eveline kostet die Geschichte das Leben, das steht fest. Wenn sie wenigstens noch geweint und geschrieen hätte! Aber diese stumme, thränenlose Angst, mit der sie mich anschaute, als ich ihr Wort und Handschlag gab, mitzugehen, die bringt ihr den Tod, und dann habe ich mich ein ganzes Jahr lang umsonst gequält, und der Mertens behauptet triumphierend, daß er recht gehabt hätte, und ich muß schweigen dazu! O, hätte ich diesen Heinz Kroneck nur erst wieder unter meinen Händen, ich wollte ihm den Text lesen, ich wollte ihn lehren, was es heißt, die Leute bis aufs Blut zu ängstigen.«

Ambros zuckte zusammen, als der Name ausgesprochen wurde, und wandte sich mit einer jähen Bewegung um.

»Wer, sagten Sie? Wer ist da droben?«

»Der junge Herr Kroneck,« fiel der Thalwirt ein. »Du kennst ihn ja gut, Ambros, er ist ja oft im Berghof gewesen im letzten Jahr. Ja, der ist droben, und den Vinzenz Ortler und den Sebastian hat er mitgenommen.«

Ueber das Gesicht des alten Bauers ging es wie Wetterleuchten, es zeigte sich ein Ausdruck dort, den die braunen verwitterten Züge wohl seit Jahren nicht gekannt hatten, der Ausdruck einer tiefen Herzensangst. Und mit halberstickter Stimme stieß er hervor:

»Er ist wieder da? Das hab' ich nicht gewußt – da muß Hilf' geschafft werden – es muß!«

Er trat rasch an das Fenster und blickte einige Sekunden lang hinaus, die andern warteten in atemlosem Schweigen, endlich fragte der Thalwirt:

»Wie ist's? Werden wir den Weg zwingen bis zur Hütte?«

»Vielleicht!« sagte Berghofer, indem er sich wieder umwandte.

Die weißen Brauen des Alten waren dicht zusammengezogen, und in seinen Augen glühte es seltsam, fast unheimlich. »Vielleicht,« wiederholte er, »aber es geht ums Leben bei dem Gang. Bleibt ihr zurück, ich geh' allein!«

Damit schritt er auf die Wand zu, wo sein Bergmantel hing und wo der Alpenstock lehnte. Der Thalwirt begann leise und eifrig mit seinen Gefährten zu reden, Doktor Eberhard aber brummte vor sich hin:

»Was dieser Heinz für ein unverschämtes Glück hat! Sobald es sich um den handelt, wird Kopf und Kragen gewagt. Es ist, als ob er es aller Welt angethan hätte. Freilich – ich habe es ja auch nicht besser gemacht!«

Ambros hatte sich inzwischen fertig gemacht und griff jetzt nach seinem Bergstock, als ihm der Thalwirt in den Weg trat.

»Wir gehen alle mit!« sagte er entschlossen, während die andern lebhaft beistimmten. »Zu sechs zwingen wir es vielleicht, nur der Herr Doktor bleibt hier auf dem Berghof.«

»Fällt ihm gar nicht ein,« erklärte Eberhard, indem er sich energisch an die Seite der Männer stellte, »der Doktor geht mit.«

»Sie halten's nicht aus!« sagte Ambros kurz. »Und Sie hören es ja, es geht um das Leben!«

»Das ist meine Sache, das geht Sie gar nichts an, was ich mit meinem Leben mache!« rief Eberhard zornig. »Und was das Aushalten betrifft, so nehme ich es noch mit euch allen auf. Fragen Sie nur den Thalwirt, der hat es gesehen auf dem Wege bis hierher. Ich gehe mit, Punktum! Wenn wir übrigens die drei wirklich finden, dann wird der Arzt wohl am notwendigsten dabei sein.«

Der letzte Grund war so schlagend, daß sich nichts dagegen einwenden ließ, sogar Ambros widersprach nicht mehr. Er stellte sich an die Spitze der kleinen Schar, die nun mutig hinauszog in das noch immer fortwährende Schneetreiben.

Der Weg nach der Schutzhütte war auch in gewöhnlichen Zeiten nicht ganz ungefährlich, selbst für geübte Bergsteiger, heute verzehnfachten der Nebel und der frischgefallene Schnee die Gefahr. Der Abgrund war zum Teil verschleiert, die Spalten und Klüfte verschneit, jeder Schritt mußte erst geprüft werden, oft fand der Fuß keinen Punkt, wo er haften konnte, und bisweilen wurde der Nebel so dicht, daß nicht einmal der nächste Aufstieg zu unterscheiden war. Bald galt es, sich aus einer Schneetiefe emporzuarbeiten, in die man bis an den Leib versunken war, bald sich gegen die lockeren Eismassen zu wehren, die von der Höhe herabstäubten. Eine einzige solcher Lawinen konnte die ganze Schar verschütten. Ambros Berghofer hatte recht, es ging mehr als einmal um das Leben bei dieser kühnen Bergfahrt, und die verhältnismäßig kurze Strecke bis zur Hütte schien sich endlos auszudehnen.

Es wurde wenig gesprochen auf dem Wege, aber es ging unaufhaltsam vorwärts. Die Männer waren hart gewöhnt, vertraut mit den Gefahren ihrer Berge, und es war nicht die erste Rettungsfahrt, die sie unternahmen. Aber sie blickten doch mit stummer Bewunderung auf den Doktor Eberhard, der mit jugendlicher Rüstigkeit, mit unglaublicher Ausdauer ihre Mühen teilte. Sie kannten ihn nur als einen Menschenfeind, der sich grollend von aller Welt zurückzog, als einen Egoisten, der die Hilfesuchenden von seiner Schwelle wies und sich hartnäckig weigerte, mit seiner ärztlichen Kunst einem Leidenden zu helfen, und nun teilte er freiwillig Mühe und Gefahr mit ihnen und gab rücksichtslos sein eigenes Leben preis, um ein fremdes zu retten. Wie auf Verabredung hatten sie ihn in die Mitte genommen und wetteiferten miteinander, jeden seiner Schritte zu behüten, jedes Hindernis aus dem Wege zu räumen. Sie schienen ihn als anvertrautes Gut zu betrachten, für dessen Sicherheit sie alle verantwortlich waren.

Endlich war der Weg bezwungen, die letzte Höhe erstiegen, und atemlos von den Mühen sahen die Männer das niedrige Dach der Schutzhütte aufragen. Waren die Gesuchten dort, so war alles gut, aber auf die lauten Rufe, die man jetzt schon erhob, kam kein froher Gegengruß zurück, und als man den Eingang erreichte und die Thür öffnete, zeigte es sich, daß der innere Raum leer war, nirgends ein menschliches Wesen, nirgends eine Spur von den Vermißten.

Es war eine bittere Enttäuschung für die Retter. Jetzt blieb kaum noch eine Hoffnung, die drei lebend wiederzufinden. Wenn sie auch in irgend einer Felskluft Schutz vor dem Unwetter gesucht und gefunden hatten, der Sturm war seit drei Stunden vorüber, sie hätten längst hier sein können, hier sein müssen, denn die beiden Führer mußten es wissen, daß eine Nacht im Freien bei diesem Schneefall verderbenbringend war.

Die Männer traten zu einer Beratung zusammen. Es handelte sich darum, ob man einstweilen hier bleiben oder den Rückweg nach dem Berghofe antreten sollte.

Die Stimmen waren geteilt, endlich gab Ambros den Ausschlag.

»Laßt uns noch das Letzte versuchen!« sagte er entschlossen.

»Der Weg führt eine Strecke an den Schneegruben hin und den zwingen wir noch bis zum Aufstieg. Finden wir auch da keine Spur, dann ist's zu End' für heut' mit dem Suchen, dann wollen wir umkehren.«

Der Vorschlag fand allseitige Zustimmung und nach kurzer Rast ging es wieder hinaus in das Freie. Die Schutzhütte, die für gewöhnlich den Alpensteigern als Nachtquartier diente und bei Elementarereignissen eine sichere Zuflucht bot, lag in der Scharte des mächtigen Berges, hier begann das Gletschermeer der Schneegruben und der Weg zum Gipfel führte in der That noch eine halbe Stunde lang am Rande derselben hin, ehe er sich durch das Geklüft steil emporwand. Bei hellem Wetter hatte das keine Gefahr, wer aber im Nebel oder Schneesturm die Richtung verlor und in jene stundenweiten Eisfelder geriet, der war auch verloren darin.

Ungefähr eine Viertelstunde war man auf dem Wege vorwärts gedrungen, der gegen den vorhergehenden fast gefahrlos genannt werden konnte, weil er in ziemlich ebener Richtung dahinführte, da endlich wurden die Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Man stieß auf ein dunkles Etwas, das, halb im Schnee vergraben, sich doch unzweifelhaft als ein menschlicher Körper kennzeichnete. Die mitgenommenen Werkzeuge waren zur Hand und die zwölf kräftigen Arme arbeiteten so schnell, daß man schon nach wenigen Minuten den Vinzenz Ortler ausgrub und emporhob, erstarrt, besinnungslos, aber noch lebend, wie Doktor Eberhard versicherte, der ihm die erste Hilfe leistete.

Während er sich mit dem Verunglückten beschäftigte, setzten die andern ihre Nachforschungen fort und nur einige Schritt entfernt wurde auch der zweite Führer, der Sebastian, gefunden, fast ganz vom Schnee bedeckt. Eine von den zahlreichen Rolllawinen mußte gerade auf die beiden niedergegangen sein und sie betäubt haben, denn wenn sie die Besinnung behalten hätten, so wäre es ihnen wohl möglich gewesen, sich aus dem losen Schnee wieder emporzuarbeiten. Sebastian gab freilich gar keine Lebenszeichen von sich und Doktor Eberhard schüttelte bedenklich den Kopf, als er ihn untersuchte.

Jetzt galt es, den dritten aufzufinden, aber umsonst suchte und forschte man nach Heinz Kroneck. Die ganze Schneemasse war durchwühlt, die ganze Umgebung des Weges durchforscht, die Rufe tönten nach allen Seiten hin, ohne daß eine Antwort erfolgte. Ambros wagte sich sogar allein noch eine ganze Strecke weit aufwärts, aber auch er fand keine Spur, der junge Mann war und blieb verschwunden. Das Schicksal seiner Gefährten hatte er nicht geteilt, das stand fest, so blieb nur die Annahme übrig, daß er entweder vorher oder nachher in irgend eine Tiefe gestürzt und dort verschwunden war.

Man mußte endlich Anstalt zur Rückkehr machen, um wenigstens die beiden Aufgefundenen zu retten, und die Bemühungen dazu konnten mit Erfolg nur in der Schutzhütte fortgesetzt werden.

Eben wurden die Körper aufgehoben, als Ambros zurückkehrte.

»Hast auch nichts gefunden? Ich dacht' es mir,« sagte der Thalwirt. »Faßt an, Leut', wir bringen sie nach der Hütte.«

Berghofer sah auf die Verunglückten nieder, aber er machte keine Miene, sich an der Hilfeleistung zu beteiligen.

»Schon recht!« sagte er ruhig. »Mich braucht ihr nicht dazu. Ich bleib', ich such' den Herrn Heinz.«

Die Männer schüttelten die Köpfe und von allen Seiten wurden Abmahnungen laut:

»Den findest du nimmer, der liegt wer weiß wie tief. Sei gescheit, Ambros, und komm mit uns. Wo willst denn jetzt noch suchen?«

»In den Schneegruben – dort ist er!« klang dumpf, aber fest die Antwort zurück.

»Jesus Maria!« riefen die andern entsetzt. In den Schneegruben, das war beinahe dasselbe, wie ein Sturz in die Tiefe. Nur Doktor Eberhard, der die Gefahr nicht in ihrem vollen Umfange kannte, fragte hastig:

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hab' ein Zeichen gefunden, ein sicheres – und dem geh' ich nach.«

»Ambros, bist du denn von Sinnen?« fuhr der Thalwirt auf. »In die Schneegruben bei diesem Wetter! Da kommt keiner lebendig zurück, du weißt's ja!«

Berghofer stand regungslos da, auf seinen Alpenstock gestützt, und blickte starr und unverwandt in den wogenden, garenden Dunst, der über dem Gletschermeer lag.

»Ja, ich weiß!« erwiderte er dumpf und eintönig.

»Und willst doch hinein? Willst du denn durchaus zu Grunde gehen? Nimm doch Vernunft an!«

Die andern schlossen sich dem Proteste des Thalwirts an, sie drängten sich um Ambros und versuchten, ihm das Vorhaben auszureden, das in ihren Augen der helle Wahnsinn war. Sie hatten sämtlich ihr Leben auf das Spiel gesetzt bei dieser Rettungsfahrt, aber sich in die Eisfelder der Schneegruben zu wagen, jetzt, wo die Spalten und Klüfte durch den frisch gefallenen Schnee unsichtbar geworden waren, daran dachte keiner und das führte auch keiner aus, das hieß ja Gott versuchen.

»Berghofer,« sagte Doktor Eberhard, indem er zu dem Alten trat, der noch immer in seiner unheimlichen Regungslosigkeit dastand und all die Warnungen gar nicht zu hören schien, »Berghofer, ist es denn möglich, was Sie da vorhaben? Ihre Gefährten scheinen es nicht für möglich zu halten.«

»Weiß nicht, ob es möglich ist – aber geschehen wird's,« erklärte Ambros ebenso eintönig wie vorhin.

Der Thalwirt wollte sich von neuem in das Mittel legen, jetzt aber richtete sich der Alte empor und befahl kurz und herrisch:

»Tragt die beiden fort und mich laßt in Ruh'. Ich geh', sag' ich, und wenn ich nicht zurückkomm', – behüt' Gott!«

»Nun, so laßt ihn!« sagte Eberhard. »Er muß am Ende wissen, was er wagt. Und nun fort mit den Verunglückten in die Hütte! Hier im Schnee kann ich ihnen nicht erfolgreich Hilfe leisten. Vorwärts, und Gott befohlen, Berghofer!« – –

 

Ueber den Schneegruben ballt sich das weißgraue Gewölk immer dichter zusammen, wie gefangen wogt es in der Scharte des Berges, bald sich anklammernd an die Felsenwände, bald sich tief herabsenkend auf das Gletschermeer. Es ist ein lautloses, unheimliches Leben darin, ein unruhiges Wallen und Kämpfen, wie von Schattengestalten, die entstehen und verschwinden und gespenstisch ihre Arme ausstrecken, um ein Opfer zu ergreifen – und das Opfer ist ihnen gewiß.

Durch die Eisfelder irrt ein junger Wanderer, allein, führerlos, ohne Plan und Richtung, die er längst verloren hat. Seit einer Stunde ist er so umhergeirrt, seit die Lawine vor seinen Augen die Gefährten verschüttete, und er, der noch einige Schritt zurück war, der augenblicklichen Gefahr entging, um einer schrecklicheren zu erliegen. Er hat vergebens alle Kräfte angestrengt, um die Verunglückten aus dem Schnee zu befreien, und endlich den Versuch gemacht, nach dem Berghofe vorzudringen, um von dort Hilfe zu holen, dabei hat er die Richtung verloren und ist in die Schneegruben geraten.

Es ist furchtbar, dies allmähliche Erkennen der Wahrheit, von dem Moment an, wo ihm die erste Ahnung aufdämmerte, bis zu dem klaren Bewußtsein, daß er sich in der pfadlosen Eiswüste befindet, daß er rettungslos verloren ist. Bis jetzt haben ihn Jugendkraft und Jugendmut noch aufrecht erhalten, er hat Klüfte übersprungen, Eisblöcke erklettert, hat sich hierhin und dorthin gewandt, und es ist ein Wunder, daß der Schnee nirgends nachgegeben, ihn nicht in die Tiefe gezogen hat, aber Rettung bringt ihm dies Wunder auch nicht, denn nirgends zeigt sich ein Ausweg, nirgends ein Ausblick in dem eisigen Nebel, der ihn dichter und dichter umfängt, und aus dem lautlos und unaufhörlich der Schnee niederrieselt.

Jetzt endlich macht die Erschöpfung ihr Recht geltend, auch gegen die äußerste Willenskraft. Heinz kann nicht weiter, seine Kraft bricht zusammen, und wenn er auch fühlt, daß mit diesem Zusammenbrechen sein Schicksal besiegelt ist, mit der Kraft versiegt auch der Mut zum Leben. Und doch hat er dies Leben so heiß geliebt, das ihm gerade jetzt so weit die Arme öffnete, ihn mit Ruhm, Glück, Liebe überschüttete, und das nun erstarren soll in der Todesnacht. Heut' morgen, als er hoch oben auf dem Gipfel des Berges stand, da lag die weite Welt wie ein Wunderreich zu seinen Füßen ausgebreitet, da schien die Sonne näher und leuchtender zu blitzen, und die Brust hob sich so stolz in dem Bewußtsein, das Ziel erreicht, den Gipfel bezwungen zu haben, und nun?

Verloren in der Eiswüste! Ringsum nur das blendend weiße Leichentuch, an dem der fallende Schnee unaufhörlich weiter webt und schafft. Kein Lichtstrahl, der durch den grauen Nebel, durch dies endlose Schneetreiben dringt, kein Laut in dieser gespenstischen Oede, nur das grauenhafte Schweigen des Todes. Eine Eiswelt hat sich zwischen den Verirrten und die schöne blühende Erde geschoben, kein Klang von dort dringt mehr zu ihm herüber, kein Gruß dessen, was er geliebt hat.

Heinz rafft noch einmal seine letzten Kräfte zusammen, um gegen die tödliche Müdigkeit anzukämpfen, gegen die Erstarrung, die sich wie Blei an seine Glieder hängt und ihn gewaltsam zu Boden zieht. Das Niedersinken ist der Tod, er weiß es und dennoch kann er nicht weiter. Noch ein paar Schritt, dann bricht er zusammen auf dem festgefrorenen Schnee und alles um ihn her verschwimmt in seltenen Bildern. Auf dem blendenden Weiß, das ihn von allen Seiten umgibt, leuchtet plötzlich das tiefe, märchenhafte Blau seiner »Alpenfee«. Es ist ihm, als schwebe er wie damals über dem Abgrund, und reiße sie los von der Felsenklippe. Der Sprühschaum des Wildbaches netzt ihm wieder die Stirn, das Brausen klingt in sein Ohr wie Orgelton und über ihm wölbt sich der strahlend blaue Himmel. Dann verschwindet und zerfließt das alles und über ihn neigt sich ein zartes, blasses Antlitz mit großen, dunklen Augen. Zwei warme Lippen drücken sich auf seine Stirn und doch fühlt er in demselben Momente, wie ein eisiger Schauer durch seine Glieder kriecht, immer höher hinauf, bis zum Herzen.

Lautlos und dicht rieselt der Schnee nieder, tief und tiefer senkt sich das Gewölk herab, und die Schattengestalten darin wehen und winken und strecken die Arme aus. Unser bist du! Was wagst du dich in unser Reich? Wir lassen nicht los, was uns verfallen ist.

Da auf einmal tönt ferne durch Schnee und Nebel ein Laut, der sich in kurzen Zwischenräumen wiederholt. Es ist eine Menschenstimme, die erst in weiter Entfernung, dann immer näher erklingt.

Jetzt schlägt sein eigener Name an das Ohr des schon halb Bewußtlosen und rüttelt ihn gewaltsam auf aus dem beginnenden Todesschlummer. Er will sich erheben, will antworten, aber die erstarrten Glieder versagen ihm den Dienst und nur ein matter, halberstickter Ruf kommt über seine Lippen.

»Heinz, Herr Heinz!« klingt es wieder in langgezogenen Tönen, aber schon ferner. Der Suchende scheint die Spur aufzugeben und sich wieder rückwärts zu wenden. Verliert er sie vollends, dann muß der Verirrte im Angesicht der Rettung verderben. Dieser Gedanke flammt wie mit Todesangst durch seine Seele, mit einer letzten, äußersten Anspannung aller Geistes- und Körperkräfte gelingt es ihm, die lähmende Erstarrung abzuschütteln, und laut und verzweiflungsvoll bricht der Hilferuf von seinen Lippen, der endlich das Ohr des Retters erreicht.

»Ich komme! – Wo? – Die Richtung angeben!« schallt es zu Heinz herüber und dieser rafft sich, neu belebt durch die Gewißheit von Menschennähe und Menschenhilfe, jetzt wieder empor und schwankt nach jener Richtung. Ruf und Gegenruf leitet die beiden, sie kommen sich entgegen und endlich taucht Ambros aus dem Nebel empor, erreicht den Wankenden und umfaßt ihn.

»Ambros – Gott sei Dank!« stammelte Heinz, indem er sich schwer auf die Schulter seines Retters stützt. Dieser spricht kein Wort, ein Blick zeigt ihm, wie es hier steht. Er zieht eine Flasche hervor, setzt sie dem Erschöpften an die Lippen und netzt ihm dann Stirn und Schläfe mit der Flüssigkeit. Wie Feuer fließt der Trank durch die erstarrten Adern, der dumpfe Druck weicht und mit einem tiefen Atemzuge kehrt dem jungen Manne das volle Bewußtsein zurück. Aber Ambros läßt ihm keine Zeit zur Erholung.

»Fort, fort!« drängt er. »Der Nebel wird dichter, in einer Stund' ist's Nacht, dann find' auch ich die Richtung nicht mehr – vorwärts.«

Er ergreift seinen Schützling am Arme und zieht ihn fort, und wieder geht es vorwärts durch die Eiswüste, aber diesmal zu zweien und diesmal dem rettenden Ziele entgegen, der Jüngere geführt, gestützt, oft halb getragen von dem Alten, der neben ihm herschreitet wie einer der Berggeister, von denen er so oft erzählt hat, vor denen sich die Elemente neigen. Und in der That scheint die Gefahr, die hier auf jedem Schritt lauert, zurückzuweichen vor ihm. Keine Spalte öffnet sich, kein Schnee weicht unter seinen Füßen, aber um die beiden wogt und gärt das Gewölk und unaufhörlich folgen ihnen die Nebelgestalten, die ihr Opfer nicht loslassen wollen.

Der größte Teil des Weges ist überwunden, da hält Heinz inne, atemlos, zu Tode erschöpft.

»Ich kann nicht weiter – lassen Sie mich ausruhen – nur eine Minute!«

Aber Ambros faßt ihn mit eisernem Griffe und reißt ihn wieder empor.

»Die Minute ist der Tod! Fort, sag' ich! Sie müssen aushalten!«

Diesmal ist die Mahnung vergebens, Heinz macht instinktmäßig einen Versuch, zu folgen, aber es gelingt nicht. Mit dem letzten Schimmer des Bewußtseins klammert er sich an seinen Führer und sinkt dann zusammen.

Ambros steht einige Sekunden regungslos und blickt auf ihn nieder. Es ist etwas Unheimliches in dieser dräuenden Gestalt, die noch allein aufrecht steht, mitten in dem wogenden, gärenden Dunst, und etwas Furchtbares in dem glühenden Blick, der es versucht, das Gewölk zu durchdringen. Ambros Berghofer kennt die Schatten, die seinem jungen Gefährten gestaltlos erschienen, er weiß, was sie von ihm wollen, weiß, daß sie hinter ihm gewesen sind bei dieser ganzen Fahrt auf Leben und Tod. Wenn er ihnen dies Opfer läßt, so ist er gerettet, und zum zweitenmal kehrt von den beiden Wandrern nur einer zurück aus den Schneegruben!

Aber wo das junge Leben erliegt, hält die eiserne Kraft des Alten stand. Dieser richtet sich empor, wie in wildem Trotze gegen das Geschick und die Elemente, er zwingt es doch, das Unmögliche! Er hebt den Bewußtlosen auf, ladet ihn auf die Schulter und tritt mit dieser Last den letzten Teil des Weges an.

 

Doktor Eberhard und seine Gefährten befanden sich in der Schutzhütte, die man ohne besondere Schwierigkeiten erreicht hatte. Die Verunglückten waren auf die vorhandenen Lagerstätten gebettet worden, und auf dem Herde brannte ein Feuer, denn draußen begann es schon zu dunkeln. Der Doktor, der sich beim Aufbruch mit einer kleinen Handapotheke versehen hatte, leitete die Wiederbelebungsversuche, er befahl und kommandierte wie ein Feldherr, zankte und polterte aber unaufhörlich dabei, während er zugleich unermüdlich von einem der Patienten zu dem andern lief und selbst mit Hand anlegte.

Vinzenz Ortler war bereits wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt und vermochte, wenn auch noch matt und abgebrochen, Bericht über das Geschehene zu geben. Sie waren heut' morgen beim schönsten Wetter auf dem Gipfel der Schneespitze gewesen und gerade auf dem Rückwege begriffen, als der Sturm heranzog. Sebastian, der als ein erprobter und umsichtiger Führer galt, hatte sie alle rechtzeitig in einer Felskluft geborgen, bis das Unwetter vorüber war, dann aber unverweilt zum Aufbruche gedrängt, damit man noch bei Tage irgend ein Obdach erreichte. Trotz unsäglicher Mühen und Gefahren, die der Schneefall schuf, war der Abstieg geglückt und die drei befanden sich in der Nähe der rettenden Hütte, als die Rolllawine niederging. Von dem Augenblicke an, wo die Schneemasse ihn betäubte, wußte Vinzenz nichts mehr, aber eine Minute vorher war Heinz Kroneck noch dicht hinter ihnen gewesen.

»Nun, der ist hin und der Ambros auch!« sagte der Thalwirt halblaut. »Gott sei Dank, daß wenigstens du davon gekommen bist, Vinzenz. Ich glaub', mein Mädel wär' mir auch sonst zu Grunde gegangen.«

Vinzenz zuckte leicht zusammen und richtete sich auf.

»Die Gundel?« fragte er.

»Nun ja, wer denn sonst? Was ist das eigentlich mit euch zweien? Du sagst mir, es wär' zu End' mit euch, du gingst auf und davon, kämst nimmer wieder, weil dich das Mädel nicht wollt', und sie hat dich ja auch nicht gewollt. Und heut', wie es laut wird, daß du mit droben bist im Schneesturm, thut die Gundel wie unsinnig. Hat fast auf den Knieen vor mir gelegen und geweint und gefleht, daß ich mitgehen sollt', um dir Hilf' zu bringen. Sie wollte absolut mit hinauf, ich hab' es ihr derb klar machen müssen, daß Frauensleut' hier nicht am Platz sind. Aber gejammert hat es mich doch, als sie schrie: ›Vater, wenn der Vinzenz nimmer wiederkommt, wenn er stirbt mit dem Haß gegen mich, dann geh' ich in die Ache!‹ Ich glaub', sie wär' imstand' dazu gewesen.«

Vinzenz hatte in atemloser Spannung zugehört, sein noch so bleiches Gesicht begann sich zu röten und jetzt brach er aus:

»Ich wußt' es ja! Sie hat mich immer gern gehabt, jetzt laß ich nimmer von ihr!«

»Nun, warum habt ihr euch denn nicht längst genommen? Ihr seid alle beid' verrückt!« sagte der Thalwirt ärgerlich und doch befriedigt, denn der Starrkopf seiner Gundel hatte ihm Not genug gemacht.

»Was gibt es denn da?« fragte Doktor Eberhard, der soeben herantrat und die letzten Worte gehört hatte. »Ich glaube, der Bursche hat schon wieder Liebesgedanken im Kopf, nachdem wir ihn kaum aus dem Schnee gegraben haben. Bist du noch nicht zur Vernunft gekommen durch die Ohrfeige, die die Lawine dir gegeben hat? Mußt du gleich wieder mit den Dummheiten, mit Liebe und dergleichen anfangen? O, diese verliebten Menschen!« Und der Doktor ballte grimmig die Hand, denn er dachte an seinen Assistenten und die kleine Person.

Vinzenz ließ die Scheltworte geduldig über sich ergehen, er wußte am besten, wie energisch und aufopfernd jener ihm Hilfe geleistet hatte.

»Wie steht es denn mit dem Sebastian?« forschte er. »Wird er davon kommen?«

Eberhard zuckte die Achseln.

»Vielleicht! Vorläufig rührt er sich noch nicht, ich habe schon alle möglichen Mittel versucht und angewendet.«

»Gott lohn' es Ihnen, Herr Doktor,« sagte der Thalwirt. »Es ist ein armer Mann und wenn er drauf geht, dann müssen die Frau und die sieben Kinder hungern – es fehlt schon jetzt am Nötigsten.«

»Was?« schrie Eberhard wütend. »Sieben Kinder? Schämt sich denn dieser Mensch gar nicht? Hat kaum selbst das liebe Brot und läßt sieben Elendswürmer in die Welt hineinspazieren! Das ist unverschämt!«

Damit stürzte er noch in voller Wut zu dem Bewußtlosen und begann ihn zu reiben und zu kneten, bis ihm der Schweiß von der Stirn rann, und der arme Sebastian wirklich das erste Lebenszeichen von sich gab.

Inzwischen waren zwei von den Männern zurückgekehrt, die man von Zeit zu Zeit auf Kundschaft hinaussandte, aber ihr trübes Achselzucken zeigte, daß sich noch immer keine Spur von den beiden Vermißten fand. Vorläufig wandte sich jetzt die Sorgfalt dem Sebastian zu, der sich unter den allseitigen Hilfeleistungen denn auch allmählich erholte.

»Der kommt auch davon,« erklärte der Arzt nach Verlauf einer Viertelstunde. »Aber wie steht es mit den beiden da draußen? Glaubt ihr, daß sie zurückkehren werden?«

Niemand antwortete, die Männer sahen schweigend zu Boden.

Endlich sagte der Thalwirt halblaut, aber mit aller Bestimmtheit:

»Nein, Herr Doktor.«

»Ich glaubte es auch nicht,« grollte Eberhard, aber es bebte dabei in seiner Stimme wie unterdrückter Schmerz. »Warum bin ich denn hinaufgeklettert auf diese verwünschte Schneespitze? Doch nur um den Heinz Kroneck zu retten und gerade der muß zu Grunde gehen. Aber das Schicksal ist ja immer niederträchtig, immer –«

Er hielt plötzlich inne und horchte auf, und auch die andern fuhren empor, denn draußen ließ sich ein seltsames Geräusch vernehmen. Es klang wie schweres Stampfen, wie das atemlose Keuchen eines Menschen. Der Thalwirt sprang zur Thür, riß sie auf und ein Ausruf des Schreckens und der Freude zugleich tönte von aller Lippen.

»Jesus Maria – der Ambros!«

Es war wirklich der Ambros, der mühsam hereinschwankte; alles sprang herbei, um ihm zu helfen und ihm seine Last abzunehmen und Doktor Eberhard war der erste dabei.

»Gott sei Dank, der atmet ja, der regt sich ja noch!« rief er triumphierend, während er sich des jungen Mannes bemächtigte und ihn sorgfältig auf eine der Lagerstätten betten half. Es war in der That nur die Ohnmacht tiefer Erschöpfung, die Heinz umfing. Er hatte nicht, wie seine beiden Gefährten, stundenlang in dem eisigen Schnee gelegen und erholte sich weit schneller als sie. Schon nach kurzer Zeit schlug er die Augen auf und der erste Blick, der erste Laut des wiederkehrenden Bewußtseins galt seinem Retter.

»Ambros! Wo ist der Ambros?«

»Berghofer, wo stecken Sie denn?« rief der Doktor.

»Ich glaube, er will sich nicht einmal bewundern lassen für seine Heldenthat, und die macht ihm doch keiner nach im ganzen Gebirge! Freilich, Sie werden wohl auch etwas mitgenommen sein – Mann, um Gottes willen, was haben Sie? was ist Ihnen?«

Die letzten Worte klangen in so jähem Schrecken, daß alle aufmerksam wurden. Sie hatten sich sämtlich um den jungen Kroneck gedrängt, der als der allein Gefährdete und Hilfsbedürftige erschien und darüber fast den Retter vergessen, der, ohne einen Laut von sich zu geben, auf die hölzerne Bank niedergesunken war. Jetzt saß er regungslos da, an die Wand gelehnt. Der flackernde Schein des Feuers beleuchtete nur ungewiß seine Züge, aber der Arzt, der zu ihm getreten war, sah doch sofort, wie es stand.

»Hier steht es schlimm, viel schlimmer als mit den andern,« sagte er hastig. »Schnell die Tropfen her – die dunkle Flasche dort!«

Die Flasche war augenblicklich zur Hand, aber Ambros machte eine abwehrende Bewegung.

»Laßt – es geht zu End'!« stieß er mühsam hervor. »Ich möcht' nur noch – den Herrn Heinz sehen!«

Der Doktor hatte mit der Rechten den Puls des Alten gefaßt und ihm die Linke auf die Stirn gelegt, jetzt fragte er langsam:

»Können Sie sich erheben, Herr Kroneck? Berghofer kann nicht mehr zu Ihnen kommen.«

Heinz raffte sich auf, zwei von den Männern unterstützten ihn und in der nächsten Minute stand er vor seinem Retter. Er sah jetzt auch, was der geübte Blick des Arztes im ersten Augenblick erkannt hatte, die Züge des Todes, die sich unverkennbar in das Gesicht eingruben.

»Ambros, hier bin ich – erholen Sie sich! Nicht wahr, es ist nur die Erschöpfung?« fragte er, angstvoll zu dem Doktor aufblickend. Doch dieser schüttelte leise, aber entschieden verneinend den Kopf.

»Nein, es ist der Tod!« murmelte Ambros, kaum verständlich, während er nach der Brust tastete und etwas hervorzog, das dort verborgen war. »Nehmen Sie! Das hat mir die Spur angewiesen – am Boden lag's, halb verschneit – ohne das hätt' ich Sie nimmer gefunden.«

Der kleine Gegenstand entglitt seinen unsichern Händen und fiel zu Boden. Der Thalwirt hob ihn auf, aber Heinz hatte nicht einmal einen Blick darauf geworfen. Er faßte mit beiden Händen die Rechte des Sterbenden und beugte sich über ihn.

»Nein, nein, Ambros, Sie werden nicht sterben! Soll denn meine Rettung mit Ihrem Leben erkauft sein?«

Da blitzte es noch einmal auf in dem Auge des Alten. All das schwindende Leben schien sich in dem Blick zusammenzudrängen und es lag etwas wie wilder Triumph in seiner brechenden Stimme.

»Jetzt geben Sie mir doch die Hand! – Gelt, Herr Heinz, jetzt wenden Sie mir nimmer den Rücken – wegen den Schneegruben!«

Er sank schwer zurück, noch ein paar tiefe röchelnde Atemzüge und Ambros Berghofer hatte vollendet.

»Es ist vorbei!« sagte Doktor Eberhard ernst, während die andern in düsterem Schweigen umherstanden. »Diese unseligen Schneegruben haben doch ein Opfer gekostet!«

Der Thalwirt berührte leise den Arm des jungen Kroneck.

»Das gehört doch wohl Ihnen, Herr Heinz? Sie hörten es ja von dem Ambros, das hat ihm die Spur gewiesen, sonst hätt' er Sie nimmer gefunden.«

Halb mechanisch streckte Heinz die Hand aus nach dem kleinen dunklen Gegenstand, den jener ihm reichte, feucht vom Schnee, aber geschützt in seiner Lederhülle. Nur das Schloß schien gelitten zu haben, denn es gab nach, die Brieftasche fiel auseinander und von dem weißen Blatte schimmerte unversehrt eine tiefblaue Blume – die rettende Alpenfee.


Eine volle Woche war seit jenem Schneesturm vergangen, die Berge lagen wieder in hellem Sonnenschein und das Leben ging seinen altgewohnten Gang.

Ambros Berghofer hatte ein Leichenbegängnis gehabt, wie es seit Menschengedenken im Thale nicht erlebt worden war. Es strömte alles herbei von nah und fern und sogar Doktor Eberhard gab seine sonstige Zurückgezogenheit auf, um sich der ernsten Feier anzuschließen. Uebrigens war der Doktor jetzt fortgesetzt in der schlimmsten Laune, denn sein Assistent hatte seit jener eigenmächtigen Entfernung nichts von sich sehen und hören lassen und es war auch vorläufig keine Aussicht, ihn wieder einzufangen.

In der Villa Rehfeld erwartete man heute die Ankunft des Geheimrats Kroneck und gleichzeitig hatte Hellmar aus C. gemeldet, daß er im Laufe des Nachmittags eintreffen werde. Doktor Gilbert dagegen war schon seit vorgestern aus der Universitätsstadt zurück, wohin er sich begeben hatte, um unverzüglich Schritte zur Erlangung irgend einer Stellung zu thun. Dem jungen Arzt schien es ernst zu sein mit seiner Selbständigkeit und seiner Zukunft. Er hatte freilich mit dem Jawort Käthchens auch die Einwilligung ihrer Mutter erhalten und erst bei seiner Rückkehr erfuhr er von der Katastrophe, die sich inzwischen ereignet hatte.

In dem Zimmer des jungen Kroneck befand sich dieser mit Doktor Eberhard, der gekommen war, um nach seiner Patientin zu sehen. Bei Heinz hatte die überstandene Todesgefahr keine Spuren hinterlassen. Seine elastische Jugend überwand schnell die Folgen der Erschöpfung, er sah frisch und blühend aus wie sonst. Aber in diesem Moment lag ein tiefer Ernst auf seinen Zügen, denn man hatte soeben von Ambros Berghofer gesprochen.

»Ich sagte es Ihnen ja, es war eine innere Verletzung,« sprach der Doktor. »Solch einen Weg, mit solch einer Last auf den Schultern, das hält selbst eine Riesennatur, wie die Berghofers, nicht aus. Die Ueberanstrengung hat ihm den Tod gegeben. Ich begreife nur nicht, wie seine Kraft überhaupt so lange vorhalten konnte.«

»Es war ein eiserner Wille in einem eisernen Körper,« sagte Heinz. »Keine Macht sonst auf der Welt hätte ihn in die Schneegruben gebracht, das weiß ich! Um meinetwillen ging er hinein und holte sich den Tod.«

Es lag ein eigentümlich schwerer Klang auf den letzten Worten. Eberhard achtete nicht darauf, er brach das Thema kurz ab.

»Und nun quälen Sie sich nicht weiter damit. Freuen Sie sich lieber, daß Frau Eveline sich so tapfer dabei gezeigt hat. Zwölf Stunden der Todesangst sind keine Kleinigkeit für eine Rekonvaleszentin.«

Er hatte das rechte Mittel ergriffen, den jungen Mann abzulenken, dessen Stirn sich sofort entwölkte, als von seiner Braut die Rede war.

»Ja, so hat sich Ihre Vorhersagung glänzend bestätigt. Wäre sie noch krank, dann wäre diese Angst nicht ohne schlimme Folgen geblieben. Aber nun eine Frage, Herr Doktor! Geschah es wirklich auf Ihren Befehl, daß Martin den Vinzenz Ortler und den Sebastian abwies, als sie kamen, um Ihnen zu danken?«

»Natürlich habe ich es befohlen,« polterte Eberhard. »Sie sollen mich gefälligst in Ruhe lassen. Der Mann, der Sebastian, ist imstande, mir mit all seinen sieben Würmern auf den Leib zu rücken, aber Kinder sind mir ein Greuel, und Rührung und Dankbarkeit sind mir nun vollends ein Greuel. Sie sollen sich zum Kuckuck damit scheren. Ueber meine Schwelle kommt nichts dergleichen.«

»Das sieht Ihnen ähnlich,« sagte Heinz lächelnd, »deshalb habe ich Ihnen auch nicht von Dankbarkeit gesprochen. Aber wenn ich sie einmal mit der That beweisen kann – ich bin immer bereit.«

»So? Und wenn ich Sie nun gleich auf der Stelle beim Wort nehme?«

»Um so besser! Sprechen Sie nur.«

Der Doktor ließ ein unverständliches Gebrumme hören. Die Antwort schien ihm schwer zu werden, aber endlich brach er aus:

»Schaffen Sie mir den Gilbert wieder! Ich kann nicht leben ohne den Menschen!«

»Das wird in der That schwer sein. Nach der Art, wie er Ihr Haus verlassen hat, kann er nicht wieder zurückkehren, ohne ein Unrecht einzugestehen, das er nicht begangen hat. Er verteidigte nur seine Selbständigkeit und seine Liebe.«

»Gleichviel, er soll zurückkommen. Wenn es durchaus nicht anders geht, so will ich – ja, ich will ihm erlauben, die kleine Person zu lieben.«

»Sie werden ihm sogar erlauben müssen, sie zu heiraten, da er sich bereits mit ihr verlobt hat.«

Der Doktor sah sich nach irgend einem Möbel um, an dem er seine Wut auslassen konnte. In Ermangelung desselben ballte er nur die Hand.

»Was, mein Assistent?«

»Wird meine Cousine heiraten! Ja, Herr Doktor, das ist bereits eine ausgemachte Sache.«

»Schaffen Sie ihn mir zurück, verheiratet oder unverheiratet!« schrie Eberhard. »Sie sind mit im Komplott gewesen, ich weiß es! Der Gilbert hätte niemals gewagt, so aufzutreten, wenn Sie nicht hinter ihm gestanden hätten. Sie sind schuld daran, daß mir mein Assistent durchgegangen ist – jetzt holen Sie ihn wieder!«

Heinz unterdrückte mühsam das Lachen bei diesem verzweiflungsvollen Ausbruch.

»Nun, wenn Sie sich mit der Heirat aussöhnen wollen, so ließe sich die Sache vielleicht ermöglichen. Gilbert kann freilich nach der Behandlung, die er erfahren hat, nicht den ersten Schritt thun, der müßte von Ihnen ausgehen.«

»Von mir? Soll ich ihn etwa um Verzeihung bitten?«

»Durchaus nicht. Sie gratulieren ihm einfach zu seiner Verlobung. Im Grunde sind Sie ja doch sein Pflegevater und ich bin überzeugt, Sie würden an ihm und seiner Braut liebevolle Kinder finden.«

»Ich will aber keine Kinder!« rief der Doktor wütend. »Ich habe es Ihnen ja gesagt, daß ich das Gelichter nicht leiden kann. Und gratulieren soll ich auch noch! Ich soll meinem Assistenten zu seiner Verlobung gratulieren – den Martin trifft der Schlag, wenn er es erfährt.«

»Es steht ja bei Ihnen, was Sie thun wollen, aber da Gilbert augenblicklich hier ist –«

»Was, hier in der Villa?«

»Ja, bei seiner Braut.«

Der Doktor verzog den Mund, als ob man ihm etwas sehr Bitteres zu kosten gäbe, aber Heinz, der wohl einsah, daß man das Eisen schmieden müsse, solange es heiß war, fuhr eindringlich fort:

»Es wäre die beste Gelegenheit, vielleicht die einzige. Ein freundliches Wort von Ihrer Seite, ein kurzer Glückwunsch –«

»Lassen Sie mich,‚« brummte Eberhard.

Als der junge Mann sich aber nicht daran kehrte, sondern ihn ohne Umstände mit sich fortzog, widerstrebte er nicht und folgte unter fortwährendem Brummen, bis Heinz eine Thür öffnete und ihn hineinschob.

»Herr Doktor Gilbert, liebes Käthchen, hier ist jemand, der euch zu eurer Verlobung gratulieren will.« Das junge Brautpaar fuhr erschrocken auf, als es den Gratulanten erkannte. Käthchen, die eine feindselige Absicht fürchtete, nahm eine etwas kriegerische Stellung an, Gilbert dagegen hatte sich schon die ganze Woche lang mit Gewissensbissen herumgeschlagen, die ihm sein Benehmen als schwarzen Undank erscheinen ließen. Er stürzte in voller Freude auf seinen Chef zu, blieb aber dann wie ungewiß stehen.

»Ich gratuliere!« schnaubte der Doktor in einem Tone, in dem wohl noch niemals ein Glückwunsch ausgesprochen worden war. Weiter vernahm Heinz nichts, er schloß lächelnd die Thür, denn er sah, daß seine Einmischung nicht nötig war.

Soeben, als der junge Mann in den Garten trat, fuhr draußen ein Wagen vor. Guido Hellmar stieg aus und, seinen Freund erblickend, eilte er mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

»Mein lieber Heinz Gott sei Dank, daß ich dich gesund und unversehrt wiedersehe! In welcher Gefahr bist du gewesen! Du weißt nicht, wie ich mich um dich geängstigt habe.«

Heinz wich ruhig, aber entschieden der zugedachten Umarmung aus und fragte sehr kühl:

»Weißt du denn bereits davon?«

»Mein Gott, die ganze Umgegend ist ja voll von der Sache. Die Blätter von C. haben spaltenlange Berichte darüber gebracht. Du und Berghofer, ihr seid förmlich zu Helden geworden mit eurem Abenteuer in den Schneegruben. Der Alte hat dies Heldentum freilich mit seinem Leben bezahlen müssen, aber du bist doch wenigstens gerettet. Und nicht einmal eine Zeile hast du mir geschrieben! Ich wäre längst zu dir geeilt, wenn –«

»Wenn du dich nicht am Krankenbette eines Freundes hättest aufopfern müssen,« unterbrach ihn Heinz mit herbem Spott.

»Wozu denn die Komödie, Guido, du hast einfach gewartet, bis die Luft hier wieder rein ist.«

Hellmar warf einen Blick durch den Garten. Der Gärtner und sein Bursche, die in einiger Entfernung arbeiteten, schienen ihm unbequem zu sein.

»Komm einen Augenblick in das Gartenhaus, Heinz,« sagte er mit liebenswürdiger Bitte. »Ich möchte wirklich. gern erfahren, wie es hier steht, da du mich ganz ohne Nachricht gelassen hast.«

Heinz zuckte schweigend die Achseln, folgte aber und die beiden jungen Männer traten in das kleine zierliche Gebäude, wo bisweilen gespeist wurde. Es enthielt außer dem großen Gemach noch einen kleinen Nebenraum.

»Nun, was hast du ausgerichtet?« fragte Hellmar hastig. »Hat das alberne Ding, die Gundel, sich zufrieden gegeben? So sprich doch.«

»Die Gundel wird am nächsten Sonntag Verlöbnis mit dem Vinzenz Ortler halten. Du hast Glück in deinen Liebesabenteuern, wie gewöhnlich.«

Hellmar wollte gleichgültig thun, man sah aber doch, daß die Nachricht ihn sehr erleichterte. Er atmete auf dabei.

»Nun ja, die Sache war unangenehm,« gab er zu. »Das Mädchen gebärdete sich ja wie unsinnig an jenem Tage. Sie hätte mir mit ihren Ansprüchen höchst unbequem werden können. Vinzenz Ortler also, der ungeschlachte Bauer, der immer um sie herumging! Und das hat sich so in aller Eile gemacht?

»Ja, ich thäte es ihm nicht nach,« sagte Heinz trocken. »Mit einem Mädchen, das mich um eines andern willen aufgegeben, hätte ich nichts mehr zu schaffen. Aber diese Bergbewohner scheinen darin ganz anders zu empfinden. Der Besitz ist ihnen die Hauptsache, ob das Herz dabei ist, danach fragen sie meist gar nicht. Du brauchst dich übrigens keiner Täuschung hinzugeben. Das Herz der Gundel hat von jeher an dem Vinzenz gehangen, das zeigte sich, als er in Lebensgefahr war. Du verdankst deine Erfolge nur ihrer Eitelkeit. Freilich, wenn man einem Dorfmädchen die Möglichkeit vorspiegelt, gnädige Frau zu werden, wenn man ihr die Ehe verspricht –«

»So laß doch die Geschichte ruhen, ich bin froh, daß sie zu Ende ist,« unterbrach ihn Hellmar ärgerlich. »Und nun vor allen Dingen, wie geht es Frau Rehfeld? Ich habe keine Zeile von ihr erhalten, obgleich ich zweimal schrieb, und ich bin wirklich in Unruhe deswegen.«

»Ganz unnötigerweise! Eveline ist wohl. Aber, Guido, schämst du dich denn gar nicht, so unmittelbar nach deinem kläglichen Rückzuge bei der Gundel das alte Spiel bei einer andern wieder anzufangen?«

Hellmar biß sich auf die Lippen und seine Stirn faltete sich.

»Du bist bisweilen unglaublich rücksichtslos in deinen Ausdrücken. Die Possen, die man mit einem Bauernmädchen treibt, und die Bewerbung um eine Dame der Gesellschaft sind doch wohl zweierlei. Du zweifelst hoffentlich nicht daran –«

»Daß du die Absicht hast, Eveline mit deiner Hand zu beglücken – nein, daran zweifle ich nicht, aus dem einfachen Grunde, weil sie reich ist, und du bist ja längst auf der Jagd nach einer reichen Frau.«

»Heinz, ich verbitte mir dergleichen Moralpredigten,« sagte Guido in hohem Tone. »Du scheinst ganz zu vergessen, mit wem du sprichst.«

»Mit dem gefeierten Dichter Guido Hellmar, dem zarten Minnesänger der Frauen, dem idealen Manne, der so rein und lauter ist, wie seine Werke. Ich kenne freilich einen andern Hellmar, dessen Jugendfreundschaft für mich oft genug verhängnisvoll geworden ist. Du hast mich immer wieder in den Strudel gezogen, wenn ich mich emporarbeiten wollte. Durch dich allein habe ich den trüben Schlamm des Lebens kennen gelernt, und es gab eine Zeit, wo ich dein gelehriger Schüler war. Nur eins habe ich dir nicht abgelernt, die Heuchelei, mit der du es fertig brachtest, überall für einen Ausbund von Tugend und Vollkommenheit zu gelten, während ich für deine Sünden büßen mußte. Ich war immer der Taugenichts, der Unverbesserliche, aber ich habe wohl wilde Streiche gemacht, doch nicht einen einzigen von den schlechten Streichen, die du nach Dutzenden zählst.«

Heinz hatte sich in eine leidenschaftliche Erregung hineingesprochen, während er dem ehemaligen Freunde dies Sündenregister vorhielt, das ein andrer schwerlich so lange angehört hätte. Aber Guido Hellmar besaß die Eigenschaft, sich nie beleidigt zu fühlen, wenn er nicht beleidigt sein wollte. Er kreuzte auch jetzt ruhig die Arme und während er eine ernste, fast trauervolle Miene annahm, sagte er herablassend:

»Mein lieber Heinz, wenn du nur nicht fortwährend Vergleiche zwischen uns beiden ziehen wolltest, da existiert doch ein großer Unterschied. Ihr gewöhnlichen Menschen habt eben ein ganz andres Sittengesetz als wir. Ich bin mir dieses Zwiespaltes meiner Natur vollkommen bewußt, aber das sind eben die zwei Seelen in einer Dichterbrust, die sich fortwährend befehden. Das ist der ewige Kampf zwischen Engel Dämon, zwischen der Höhe des Ideals und der Tiefe des Abgrunds, gerade das Ringen und Kämpfen ist das Kennzeichen des Genies und auch ich –«

»Guido, jetzt hör' auf, jetzt ist es genug!« unterbrach ihn Heinz zornig. »Du beweisest mir sonst noch, daß man notgedrungen ein Lump sein muß, um ein Dichter zu sein. Verirrungen einer schöpferischen Natur lasse ich gelten, aber nicht die Gemeinheit und die Berechnung, und du hast berechnet, von dem Augenblicke an, wo du den Fuß hieher setztest. Als du in der Residenz erfuhrst, daß Käthchens Stiefmutter noch reicher als sie und anscheinend dem Tode verfallen sei, hast du beschlossen, sie zu heiraten, ohne sie auch nur gesehen zu haben. Du würdest freilich auch die Genesene heiraten, um sie dann grenzenlos unglücklich zu machen, wenn sie dich in deiner wahren Gestalt sieht. Allerdings hätte ich ihr in diesem Falle vorher die Augen geöffnet.«

»Was du doch hoffentlich nicht nachträglich thun wirst. Nimm dich in acht, Heinz, dann –«

»Würdest du dich herauslügen und endlose Verleumdungen auf mich häufen, darin bist du freilich Meister. Hier aber würde das umsonst sein, denn Eveline ist meine Braut und da glaubt sie selbstverständlich mir allein.«

Hellmar fuhr zurück. Der Schlag traf ihn so jäh und unerwartet, daß er anfangs ganz fassungslos war. Endlich brach er aus:

»Deine – deine Braut! Also war doch etwas an jenem seltsamen Auftritt bei eurem Wiedersehen. Du scheinst ja meine Abwesenheit vortrefflich benutzt zu haben, das ist –«

»Was?« fragte Heinz, indem er drohend an ihn herantrat. »Fühlst du dich etwa beleidigt? Ich bin zu jeder Art von Antwort bereit.«

»Ich bin kein Raufbold,« erklärte Hellmar, der mit großer Entschiedenheit zurückwich. »Dergleichen rohe Auseinandersetzungen überlasse ich untergeordneten Naturen. Mit unsrer Freundschaft ist es allerdings jetzt zu Ende.«

»Damit war es längst zu Ende! Du weißt, mit welcher Entschiedenheit ich mich von dir zurückgezogen habe, aber es beliebte dir, die Freundschaftskomödie aufrecht zu erhalten.«

»Ja, du bist ein rechter Philister geworden,« sagte Hellmar hämisch. »Seit dem Mai des vorigen Jahres war schlechterdings nichts mehr mit dir anzufangen. Nun, viel Glück zu deiner Heirat und zu dem Tugendleben an Evelines Seite. Für euch Alltagsmenschen ist das ja auch schließlich das beste.«

Und mit unglaublichem Hochmute den Kopf zurückwerfend, wandte er sich um und schritt davon.

Heinz fuhr mit der Hand über die Stirn. Ihm war heiß geworden bei der Erregung und er war im Begriff, gleichfalls das Gartenhaus zu verlassen, als ein Geräusch ihn veranlaßte, zurückzublicken.

»Eveline – du hier?« rief er erschrocken.

Auf der Schwelle des Nebengemaches stand die junge Frau, bleich, mit thränenerfüllten Augen und einem unendlich bittern Zug um die Lippen.

»Verzeih, Heinz, ich wollte nicht lauschen,« sagte sie mit bebender Stimme. »Ich war im Begriff, mich bemerklich zu machen, als ihr eintratet. Da bannten mich die ersten Worte an meinen Platz. Welch einen Einblick habe ich erhalten!«

»Ich wollte ihn dir ersparen,« entgegnete der junge Mann ernst. »Diesmal bin ich unschuldig an dieser Niederlage Guidos. Es hat dir weh gethan, deinen Dichter so zu verlieren? Ich weiß es, deshalb schwieg ich.«

Er war zu seiner Braut getreten und legte den Arm um sie. Ihre Augen waren noch feucht, aber sie lächelte.

»Nein, denn ich habe einen andern dafür gefunden und, gottlob, einen besseren!«

»Meinst du! Nun, als ich Guido seine Sünden vorhielt, habe ich auch die meinigen gebeichtet, du hast es ja gehört. Werde ich Verzeihung finden?«

»Wofür? Daß du dich so energisch losrissest von jenem verderblichen Einfluß? Heinz, du weißt es, ich habe trotz alledem an dich geglaubt.«

»Ja, das thatest du,« sagte er innig, »und nun wollen wir uns durch jenen Auftritt nicht den heutigen Tag verbittern lassen.

Du weißt es ja, wir erwarten den Vater und ich habe noch eine Mine gegen den Doktor Eberhard vorbereitet, die heute in die Luft gehen soll. Komm, Evi, ich erzähle dir inzwischen, wie ich ihn als Gratulant zu Gilbert und Käthchen geschickt habe.«

 

Die Gratulation mußte trotz alledem befriedigend verlaufen sein, denn die Zurückkehrenden fanden den Doktor und das Brautpaar ganz friedlich bei einander. Zwischen ihm und Käthchen schien vorläufig ein Waffenstillstand abgeschlossen zu sein und Gilbert war augenscheinlich glücklich über die Versöhnung. Man sprach eben von der Universitätsstadt, wo der junge Arzt sich zunächst niederlassen wollte, dem gewöhnlichen Wohnsitz Eberhards, und dieser war schon soweit menschlich geworden, daß er nur in ein sanftmütiges Brummen verfiel, als Eveline erwähnte, daß das junge Paar selbstverständlich seinen eigenen Haushalt haben werde. Ihm schien es schon genug zu sein, daß er Gilbert überhaupt in der Nähe behielt.

»Nun, wirst du mit dem Bären fertig werden?« flüsterte Heinz neckend seiner kleinen Cousine zu.

»Ich hoffe es, wir werden ihn nach und nach zum Menschen erziehen,« versetzte die junge Dame würdevoll.

»Ein löblicher Vorsatz, aber halte die Augen offen, damit Gilbert nicht später wieder in die alte Abhängigkeit zurückfällt.«

Käthchen hob den blonden Kopf, sah auf ihren Verlobten und entgegnete dann mit dem ganzen Selbstbewußtsein einer siebzehnjährigen Braut:

»Sei ohne Sorge, Heinz, dafür sorge ich!«

Doktor Eberhard war in der besten Stimmung, als Heinz seiner Braut verstohlen ein Zeichen gab und diese, die natürlich im Einverständnis war, begann:

»Wissen Sie, Herr Doktor, daß Sie den Leuten in unsrem Thal eine große Freude verdorben haben? Man beabsichtigte eine feierliche Handlung, man wollte Ihnen durch eine Abordnung den Dank für Ihren Mut und Ihre Aufopferung bei jener Rettungsfahrt aussprechen –«

»Man soll sich nicht unterstehn!« fuhr der Doktor auf, dessen gute Laune augenblicklich ein Ende nahm. »Ich lasse die Gesellschaft zur Thür hinauswerfen, Martin weiß Bescheid!«

»Ja, darauf ist er leider seit Jahren abgerichtet,« bemerkte Heinz. »Die Leute haben das auch eingesehen und uns mit der Uebermittelung ihres Dankes beauftragt. Ich habe die Verantwortung übernommen und möchte Ihnen jetzt dies Zeichen –«

»Oho, wohl gar eine Adresse, ein Geschenk!« rief Eberhard bitterböse. »Dergleichen verbitte ich mir! Dergleichen werfe ich zum Fenster hinaus. Sagen Sie das den Leuten!«

Heinz kehrte sich durchaus nicht an den Protest. Er war schon aus der Thür und kam nach wenigen Minuten mit einem etwa zweijährigen Knaben auf dem Arme zurück, einem allerliebsten Blondköpfchen, das sehr reinlich, aber freilich auch sehr ärmlich gekleidet war.

»Fürchte dich nicht, Wastl, wenn der Herr da grimmig ausschaut,« sagte er, mit dem Kinde zu dem ganz verblüfften Doktor tretend. »Er macht nur Spaß, es ist ein gar guter Mann und er wird sich freuen, wenn du ihm dein Sprüchlein sagst.«

Der Kleine gehorchte, er faltete die Hände und begann mit ernster Miene den kleinen Vers herzubeten, den man ihn gelehrt hatte, und der in schlichten Worten dem »guten Manne« für das Leben des Vaters dankte.

Eberhard hörte mit unendlich grimmiger Miene zu und ließ ein zorniges Schnauben hören. Aber Wastl, der sich wohl gemerkt hatte, daß alles das nur Spaß sei, betete seinen Spruch zu Ende und lachte den fremden Herrn ganz vergnügt an.

»Nun, Herr Doktor, wollen Sie das auch zum Fenster hinauswerfen? Nehmen Sie es lieber auf den Arm,« sagte Heinz, indem er ohne Umstände den Kleinen auf den Arm Eberhards setzte.

Dieser bot einen urkomischen Anblick, als er entsetzt und hilflos zugleich mit seiner Last dastand. Als aber Wastl, dem die Sache selbst jetzt Spaß machte, lustig zu zappeln begann, drückte er ihn schnell an sich und hielt den Wildfang fest.

»Ist das eins – von den sieben?« fragte er halblaut.

»Das jüngste, Herr Doktor! Und draußen stehen die andern sechs, mit Vater und Mutter, der Vinzenz mit der Gundel ist gleichfalls da, und der Thalwirt und der Ortsvorsteher auch – ja, ich kann Ihnen nicht helfen, ich lasse sie jetzt sämtlich herein!«

»Nun, denn in Kuckucks Namen, herein mit der ganzen Bande!« rief Eberhard. Der junge Mann ließ sich das nicht zweimal sagen, er sperrte die Thür weit auf. All die Harrenden strömten herein und der Doktor sah sich plötzlich als Mittelpunkt der so sehr gehaßten Danksagung.

Merkwürdigerweise ertrug er das mit unglaublicher Sanftmut. Er fuhr weder Sebastian noch Vinzenz an, als sie ihm ihren Dank aussprachen, ließ sich die sechs Geschwister des Wastl der Reihe nach vorstellen und hielt sogar still, als der Thalwirt ihm mit einer Rede zu Leibe ging. Für diesen feierlichen Anlaß sollte Wastl vom Arm des Herrn Doktor genommen werden, es gefiel ihm aber da, er sträubte sich energisch und behauptete seinen Platz.

»Laßt den Jungen hier!« sagte Eberhard entschieden. »Er hat die erste Rede gehalten und die war vortrefflich. Legen Sie los, Thalwirt!« Und der Thalwirt legte los und übertraf sich selbst in seiner Rednerleistung.

Damit war die feierliche Begrüßung zu Ende. Vinzenz und Gundel mußten sich jetzt den Damen als Brautpaar vorstellen. Heinz sprach mit den andern und der Doktor trat mit seinem Wastl auf dem Arme zu Gilbert.

»Der Junge will nicht fort von mir!« sagte er wohlgefällig.

»Der fürchtet sich nicht, gelt, Wastl?« Und der kleine Bube schlug die runden Aermchen um den Hals seines Trägers und strampelte vor Vergnügen mit den nackten Beinchen.

»Ein prächtiger Junge,« lobte Eberhard. »Hören Sie, Gilbert, solch einen Buben müssen Sie mir auch schaffen, wenn Sie erst verheiratet sind. Nun, was gibt es denn dabei zu schämen? Ist es etwa nicht in der Ordnung in einem christlichen Ehestand? Da sehen Sie sich den Sebastian an, der hat sieben von der Sorte und schämt sich gar nicht! Hat auch recht, der Mann, es ist eine ganz nette kleine Bande, nur etwas schwer satt zu machen, wie mir die Frau sagt, aber dafür wird sich auch Rat finden. Ich habe es ihr schon zugesagt, daß ich mich von Zeit zu Zeit nach dem Wastl umschauen werde, und da fällt auch für die andern sechs etwas ab.«

Die Mutter des Kleinen kam jetzt, um ihren Sprößling wieder in Empfang zu nehmen, was nicht ohne lebhaftes Sträuben von seiten desselben abging. Doktor Eberhard aber war seelenvergnügt geworden. Er schüttelte den sich verabschiedenden Leuten der Reihe nach die Hand und als schließlich Sebastian zu ihm trat, sagte er mit Nachdruck:

»Wenn einem von den sieben Würmern etwas zustößt, so kommen Sie nur zu mir, ich heile sie Ihnen allesamt. Und den Wastl können Sie mir überhaupt einmal bringen, der Junge gefällt mir!«

Die Abordnung verabschiedete sich, ganz entzückt von der Freundlichkeit des bisher so gefürchteten Doktors, und kaum war sie fort, so erschien Guido Hellmar.

Er hatte die Zwischenzeit benutzt, um seinen Wagen, der bereits fortgefahren war, schleunigst wieder zurückholen und den Koffer wieder aufladen zu lassen, da, wie er dem Diener erklärte, der Kutscher ihn mißverstanden habe. Es handle sich diesmal nur um einen kurzen Besuch und er sei in höchster Eile. Jetzt trat er mit vollster Liebenswürdigkeit und Unbefangenheit in den Salon. Auch nicht die leiseste Unsicherheit war in seinem Wesen zu bemerken, er baute auf die Verschwiegenheit des ehemaligen Freundes.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, wenn ich diesmal wie ein Sturmwind komme und gehe,« begann er mit seiner sanften einschmeichelnden Stimme. »Eine Depesche ruft mich ganz plötzlich nach der Residenz zurück. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit und ich habe eigentlich keine Minute zu verlieren, aber ich konnte es mir doch nicht versagen, auf dem Wege hier anzuhalten. Mein lieber Heinz hat mir geschrieben, welches erfreuliche Ereignis sich inzwischen vollzogen hat, und da darf der Glückwunsch eines Freundes nicht fehlen – ich spreche ihn von ganzem Herzen aus.«

»Ich danke dir, auch im Namen meiner Braut,« sagte Heinz, der an diese Komödie zu sehr gewöhnt war, als daß sie ihm hätte auffallen sollen, Eveline dagegen verstand es nicht, sich zu verstellen; ihre Hand zuckte unwillkürlich, als Hellmar sie ergriff und wie sonst seine Lippen darauf drückte. Er verstand das jedoch anders, er glaubte noch immer nicht, der jungen Frau gleichgültig zu sein, auch wenn sie ihm einen andern vorgezogen hatte. Schwermütig, mit vorwurfsvollem Ausdruck hob er die schönen dunklen Augen zu ihr empor, als wollte er fragen, wie sie es über das Herz gebracht habe, ihn, den Dichter, aufzugeben, um eines Alltagsmenschen willen.

Heinz wurde dunkelrot bis an die Stirn bei diesem Augenspiel, das er nur zu gut verstand. In diesem Punkte hörte seine Duldung und Rücksicht auf und mit scharfer Betonung sagte er:

»Mich wundert nur, daß wir deinen Wagen nicht kommen sahen. Wir waren vorhin im Gartenhaus. Auch Eveline befand sich dort, in dem kleinen Nebenzimmer, und man übersieht da den ganzen Weg.«

Jetzt war es Hellmar, dessen Hand zuckte, als er die Evelines fallen ließ. Zum zweitenmal war er sein eigener Ankläger geworden. Er sah den Ausdruck unverschleierter Verachtung in dem Antlitz der Frau, in deren Bewunderung er sich so oft gesonnt hatte, und fühlte, daß sein Spiel auch hier verloren sei.

Aber Guido Hellmar war jeder Lage gewachsen, auch diese fand ihn nicht fassungslos. Schon in der nächsten Minute wandte er sich an Käthchen, um sie zu begrüßen, erfuhr mit freudigem Erstaunen auch ihre Verlobung, gratulierte zum zweitenmal und machte dann dem Doktor Eberhard ein Kompliment über jene Rettungsfahrt, von der alle Zeitungen berichteten. Der Doktor nahm das in seiner jetzigen gehobenen Stimmung ziemlich gnädig hin, als draußen der Wagen vorfuhr, der den Geheimrat Kroneck brachte.

Heinz hatte seine Verlobung bereits brieflich dem Vater mitgeteilt, und dieser war zwar grenzenlos überrascht, aber ebenso erfreut über die Nachricht. Eveline war stets sein Liebling gewesen. Ihr traute er den entscheidenden Einfluß auf seinen Sohn zu, den, wie er wohl wußte, Käthchen niemals haben würde, und hinsichtlich des Vermögens war die Partie noch glänzender als die ursprünglich geplante. Der alte Herr befand sich zum erstenmal in der Lage, einer eigenmächtigen Handlung seines Sohnes rückhaltlos beizustimmen. Er kam jetzt mit offenen Armen, um seine Kinder zu begrüßen.

Der Geheimrat hatte aber noch etwas andres auf dem Herzen, und kaum befand er sich im Salon, so bemächtigte er sich wieder seines Sohnes.

»Mein Junge, mein Heinz! Ich sollte eigentlich böse auf dich sein, wenn ich nicht so grenzenlos stolz auf dich wäre. Warum hast du deinem Vater verschwiegen, was du dem Minister entdecktest? Ich traf in Wildbad mit Seiner Exzellenz zusammen. Er hat mich aufgesucht, er, der hohe Chef den Untergebenen, um mir zu gratulieren und mir zu sagen, daß ich ein beneidenswerter Vater sei, und das mußte ich erst von ihm erfahren!«

»Das hatte seine guten Gründe, Papa,« verteidigte sich Heinz. »Ich konnte es unmöglich länger aushalten, ohne Evi zu sehen. Ich mußte Urlaub haben, um jeden Preis, und da ich wußte, daß man um eines jungen unbedeutenden Beamten willen keine Ausnahme macht, kam ich auf den Einfall, meine nagelneue Berühmtheit zu verwenden. Ich wußte zufällig, daß der Minister mein Werk sehr günstig beurteilt.«

»Günstig beurteilt! Er ist begeistert davon, er verheißt dir die glänzendste Zukunft und hat mir so viel Schmeichelhaftes gesagt, daß ich ganz beschämt war. Mein Herz – mein Stolz, meine Freude!«

»Du hast den ›Taugenichts‹ vergessen, Papa,« erinnerte der junge Mann lachend. »Ich vermisse wirklich den altgewohnten Namen, ich habe ihn zu oft gehört.«

»Und was sagen Sie denn dazu, Guido?« fragte der Geheimrat, der von aller Welt Teilnahme an seiner Freude verlangte. »Sie sind doch jedenfalls sein Vertrauter gewesen, vielleicht der einzige, den er hatte, und Sie haben gleichfalls geschwiegen?«

»Wovon ist denn die Rede?« fragte Hellmar, mit seinem einnehmendsten Lächeln. »Heinz scheint irgend einen diplomatischen Erfolg errungen zu haben, der sich noch in tiefes Geheimnis hüllt. Hat er vielleicht ein staatswissenschaftliches Werk geschrieben und gleichfalls Aussicht, Geheimrat zu werden? Ich weiß keine Silbe davon!«

»Was? Auch Sie waren nicht im Geheimnis?« rief Kroneck. »Sie wissen nicht, wer der Verfasser jenes Schauspiels ist, das einen so unglaublichen Erfolg davongetragen hat, das Publikum und Presse einstimmig für ein Meisterwerk erklären?«

Hellmar wurde kreidebleich, denn jetzt dämmerte ihm eine Ahnung auf. »Sie scherzen, Papa Kroneck, der Dichter der ›Alpenfee‹?«

»Steht vor dir!« ergänzte Heinz ruhig.

Guido faßte nach der Lehne des Sessels, der vor ihm stand. Das war zu viel. Dieser Schlag fand ihn fassungslos. Er hatte ausgehalten beim Verluste der Braut, auf die er so sicher rechnete, bei der Niederlage, die er vor ihren Augen erlitt, aber der Gedanke, daß Heinz Kroneck sich fortan als Dichter neben, ja über ihn stellen könne, den ertrug er nicht. Seine Bestürzung war so grenzenlos, daß sie keinem der Anwesenden entging. Er brachte kein Wort über die Lippen.

Zum Glück legte sich Doktor Eberhard in das Mittel und füllte die Pause aus, indem er mit einer wahren Donnerstimme dem Geheimrat zu dem Erfolge seines Sohnes gratulierte. Der alte Herr blickte gerührt und dankbar zu ihm auf, aber er war fest überzeugt, daß nur der Zauber der »Alpenfee« diesen Wüterich so menschlich gestimmt hatte.

Hellmar hatte inzwischen versucht, sich zu fassen, was ihm freilich nur sehr unvollkommen gelang.

»Heinz, es war unverantwortlich von dir, mir das zu verschweigen!« erklärte er. »Also habe ich hinfort in dir einen Bruder in Apoll zu sehen?«

»Aber nur mit einer Seele!« sagte Heinz scharf. »Du willst das zwar nur für Alltagsmenschen gelten lassen, aber ich glaube, es ist schließlich das beste auch für uns Dichter.«

Hellmar biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten. Für uns Dichter! Das mußte er sich sagen lassen von Heinz Kroneck, den vor Monatsfrist noch niemand kannte, und der jetzt in einem einzigen Sturm- und Siegeslauf ihn überholt hatte.

»Nun, ich werde der Residenz die große Neuigkeit mitbringen,« sagte er. »Aber jetzt darf ich wirklich nicht länger säumen, wenn ich den Anschluß an den Eilzug erreichen will. Ich empfehle mich Ihnen, meine Damen! Leben Sie wohl, Papa Kroneck! Adieu, Heinz, wir bleiben ja die alten Freunde!« und damit trat er den Rückzug an.

»Jetzt geht er hin und schreibt die wütendsten Artikel, die kein gutes Haar an meiner ›Alpenfee‹ lassen,« sagte Heinz halblaut zu Eveline. »Meinetwegen, mir ist's recht, wenn wir von jetzt an offene Feinde sind.«

»Ja, das Herrchen erstickte beinahe vor Gift und Galle, man sah es,« fiel Doktor Eberhard ein. »Nehmen Sie sich in acht, Heinz, vor dem heimtückischen Neider, er wird Ihnen noch das Leben schwer machen.«

»So viel an ihm liegt, gewiß, und er wird nicht der einzige Widersacher sein, den ich finde. Der Weg empor führt ja stets über Klippen, das wird auch mir nicht erspart bleiben.«

»Und fürchtest du nie den Sturz?« fragte Eveline leise, sich an ihn schmiegend.

Heinz lächelte und seine braunen Augen strahlten auf in froher Zuversicht.

»Nein, Evi! Ich habe ihn ja auch damals nicht gefürchtet, als ich mir meine ›Alpenfee‹ vom Felsen holte. Dafür hat sie auch treu zu mir gehalten und ist mein Schutzgeist gewesen im Kampfe um Ruhm und Glück, wie in der pfadlosen Eiswüste. Ich zage nicht vor den Dornen, wo mir die ›Blume des Glückes‹ so voll erblüht und so berauschend duftet.

Ich brech' sie mutig,
Weich' nicht zurück,
Und mit der Blume
Halt' ich das Glück!«

* * *


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