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Des ersten Aktes erster Teil

Die Waschküche des Hotels ›Mon Repos et de la Rose‹. Die Waschküche dient als Luftschutzkeller. – Beim Aufgehen des Vorhangs läßt sich im ersten Augenblick die Befürchtung nicht ganz abweisen, man werde einem pathetischen, unangenehmen und schwer verständlichen Drama beiwohnen müssen, denn die Bühne ist in ein magisch blaues Licht getaucht, aus dem sich in gespenstischer Erstarrung einige menschliche Gestalten losringen, die regungslos entlang der Wände auf Holzbänken sitzen. Nicht genug damit, es erschallt zu Häupten der blau beleuchteten Gespenster die überlebensgroße Grabesstimme eines unheilverkündenden griechischen Gottes. – Zum Glück stellt es sich jedoch sofort heraus, daß die Stimme keinem Deus ex machina angehört, der aus den Wolken spricht, sondern einem französischen Ministerpräsidenten im Radio, daß ferner das magische Licht von einigen nackten Glühbirnen ausgesendet wird, die man nach Vorschrift des französischen Luftschutzes blau angestrichen hat, und daß schließlich die regungslosen Gestalten keine symbolische Bedeutung haben, sondern Hotelgäste sind, die der nächtliche Angriff auf Paris um ein Uhr nachts aus den Betten gescheucht und in dieser Waschküche zusammengetrieben hat.

Stimme des Ministerpräsidenten Reynaud La situation est grave mais pas désespérée ... Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. An der Somme verteidigen unsere braven Truppen jeden Zoll des heimatlichen Bodens mit der größten Tapferkeit. Die Übermacht des Feindes an Mannschaft und Material aber ist so groß, daß damit gerechnet werden muß ...

Das Radio schnappt jäh mit einem erschrockenen Schnalzer ab. Noch kann man die Gestalten der Anwesenden nicht deutlich unterscheiden.

Stimme des tragischen Herrn Bei uns darf man sich nicht einmal mehr auf die Unzuverlässigkeit verlassen. Jetzt schalten sie wirklich das Radio aus, wie es bei Luftangriffen vorgeschrieben ist ...

Knabenstimme Wer hat da im Radio gesprochen?

Stimme des tragischen Herrn Der kleine Mann einer großen Stunde, mein Sohn! Er spricht von Bordeaux und verfügt über die passende Grabesstimme: »La situation est grave.« Der Ministerpräsident Reynaud.

Die alte Dame aus Arras mit der klagenden hohlen Stimme eines Käuzchens Wie?! Das war Monsieur Reynaud selbst, o Gott, o Gott! Monsieur Reynaud steht sehr links. Alle die Herren stehen sehr links. Monsieur Léon Blum duldet nicht, daß in der Woche mehr als vierzig Stunden gearbeitet wird. So sagt meine Tochter. Meine Tochter ist Professor am Lycée Jean Bodel. Da haben wirs nun! Den letzten Krieg hab ich verstanden. Diesen Krieg versteh ich nicht. Warum für Danzig sterben, fragt meine Tochter täglich. Wo Danzig liegt, das wissen doch nur die Gelehrten ... Heilige Mutter Gottes, war das eine Bombe? ...

Der tragische Herr Keine Bomben, Madame, das sind die Abwehrbatterien beim Bahnhof Saint Lazare. Ein Wunder, daß diese Batterien nicht von einem unserer Minister gestohlen und an die Boches verkauft worden sind ...

Die alte Dame aus Arras Ja, ja, Monsieur! Meine Tochter sagt immer, Demokratie, das ist, wenn die Politiker gute Geschäfte machen und die Geschäftsleute schlechte Politik ...

Der tragische Herr Demokratie, meine Beste, sie ist wie das Leben selbst: die Korruption der einen dividiert durch die Korruption der andern!

Stimme des jungen Mädchens unterdrückt Gehen Sie ... Das ist doch ...

Männerstimme Was gibt es da?

Stimme des jungen Mädchens verlegen Ach, ich habe meine Mascotte verloren ... Ein kleiner süßer Elephant aus Elfenbein mit einem Türmchen drauf und einem winzigen Maharadscha ... Einige der Gäste lassen ihre Taschenlampen aufblitzen, um den Boden nach dem Elephanten abzusuchen.

Der tragische Herr Vermeiden Sie das gefälligst, meine Herrschaften! Dies hier ist kein bombensicherer Abri, sondern nur die Waschküche unseres lieben muffigen Hotels ›Mon Repos et de la Rose.‹ Dort die Luken gehen auf die Straße, und die Vorhänge sind nicht dicht. Und unser Chef d'Ilot ist ein Esel ...

Männerstimme Nein! Ein räudiger Hund! Wie der gebrüllt hat bei der letzten Alerte!

Der tragische Herr Er wäre idiotisch genug zu glauben, jemand von uns gibt den deutschen Fliegern geheime Signale ...

Die alte Dame aus Arras Könnte das nicht wirklich vorkommen? Es wohnen so viel Ausländer in diesem Haus ... Mit einem leisen Schrei Aber das war bestimmt eine Bombe ...

Der tragische Herr Noch immer die Abwehrbatterien. Gute Frau, Sie gleichen einem Kraftwerk zur Erzeugung von Panik ... Da kommt Madame Bouffier, und sie bringt uns sogar ein bißchen Licht mit ...

Madame Bouffier, die Hotelwirtin, ist mit einer oben abgedeckten Laterne eingetreten. Sie ist eine dicke Fünfzigerin mit flammend rot gefärbtem Haar. Ihr folgt Salomon, der Concierge des Hotels, ein sehr kleiner, melancholischer, etwas verwachsener junger Mann. – Nun erkennt man in dem bescheidenen Licht den kahlen Raum mit den Bänken an der Wand und einigen Stühlen, auf denen die frierenden Hotelgäste sitzen, die meisten in Schlafanzügen mit übergeworfenen Mänteln.

Madame Bouffier Kontrollieren Sie die Vorhänge, Salomon, damit wir keinen Anstand mit dem Chef d'Ilot haben wie gestern ...

Salomon Jawohl, Madame Bouffier ... Er holt eine Leiter zu den hochgelegenen Luken und sieht nach, ob die blauen Vorhänge gut schließen.

Die alte Dame aus Arras trägt unter ihrem dürftigen Straßenmantel ein Nachtjäckchen im Stil des vorigen Jahrhunderts. Neben ihr sitzt Clémentine, ihre Enkelin, ein vierzehnjähriges Mädchen mit naschhaften Augen und einem Nachtjäckchen desselben Stils.

Die alte Dame aus Arras Wie lange wird die Alerte heute dauern? Wir haben bereits die siebente Nacht nicht geschlafen. Und ich bin schon dreiundsiebzig alt und die Kleine ist erst vierzehn ...

Der tragische Herr Frankreich hat zu viel und zu komfortabel geschlafen, Madame, und jetzt stirbt es ... Bei diesen Worten erhebt er sich, ein großer Mann, dunkel gekleidet, in einem havelockartigen Mantel. Mit seiner abgeeckten, von weißem Haar umrahmten Stirn macht er den Eindruck eines jener Boulevardiers, wie man ihnen dann und wann bei den Bücherständen des Quai Voltaire begegnet. Die Taschen seines Mantels sind auch voll von Büchern.

Die alte Dame aus Arras Daß ich das noch erleben mußte. Wissen Sie, ich bin aus der Provinz, aus Arras ... Es war der schönste Maimorgen, und wir wußten nichts, absolut nichts! Ich sage zu meiner Tochter: Die Eier sind teurer geworden. Und meine Tochter sagt, dieser Krieg ist das größte Verbrechen der Weltgeschichte. Meine Tochter unterrichtet nämlich Geographie und Weltgeschichte ... Sie fängt zu schluchzen an Leih mir dein Taschentuch, Clémentine ma petite ...

Clementine Hier, Großmama ...

Salomon von der Leiter steigend In Ordnung, Madame Bouffier! Heut muß er das Maul halten, der Chef d'Ilot ...

Die alte Dame aus Arras Die Ärmste ist vielleicht schon eine Waise ... Ihr Vater, mein Sohn, steht als Leutnant der Festungsartillerie in der Maginot-Linie ... Nicht wahr, Clémentine?

Clementine Ja, Großmama ...

Madame Bouffier das Lamento der alten Dame abschneidend Ich habe die Rede des Ministerpräsidenten nicht gehört. Was hat Monsieur Reynaud gesagt?

Szabuniewicz, der schläfrige Pole, ein stiernackig athletischer Mann, der gegen die Wand gelehnt, zu schlafen schien, öffnet die Augen zu einem Blinzeln. Sein harter, slawischer Akzent erregt sofort Aufmerksamkeit.

Szabuniewicz Der Herr hat gesagt: »Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos.« Vielleicht hat der Herr auch gesagt umgekehrt: »Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Ich bin schon lang genug in Frankreich. Aber eine fremde Sprache ist immer leichter zu sprechen als zu verstehn ...

Madame Bouffier die Hände faltend Möge Gott unsere Generäle inspirieren: Maréchal Pétain und Général Weygand!

Der tragische Herr So alte Männer, Madame, pflegt Gott nicht gerne zu inspirieren ...

Szabuniewicz reicht dem jungen Mädchen neben ihm die Mascotte, ohne die Augen zu öffnen Hier ist Ihr Elephant, Mademoiselle ...

Das junge Mädchen Ah! Wie haben Sie ihn gefunden, Monsieur? Sie haben ja geschlafen.

Szabuniewicz Szabuniewicz ist einer, der alles im Schlaf findet, sagt der Oberst ... Gähnt und schläft weiter.

Die alte Dame aus Arras Helfen Sie doch meinem armen Kopf! Demnach ... Es ist demnach möglich, daß die Deutschen siegen ... O Gott, o Gott ...

Der tragische Herr Der alte Gott wird sie daran nicht hindern, Madame, und der alte Pétain noch weniger. Ich fürchte, daß diese beiden reifen und verehrungswürdigen Persönlichkeiten der Fünften Kolonne angehören ...

Madame Bouffier Halt, meine Freunde, das ist ja der reinste Defaitismus! Ich bin das Oberhaupt dieses Hauses. Sie haben mir zu gehorchen wie die Passagiere des Schiffes ihrem Kapitän! Als Kapitän dulde ich keinen Defaitismus. Die Deutschen sind noch mehr als hundert Meilen von Paris entfernt. Ein Wunder kann geschehen, wie es 1914 geschehen ist, als die Boches noch viel näher waren als heute und Gott den General Galieni inspirierte, alle Taxis von Paris, mit Truppen beladen, dem Feinde entgegen zu werfen. Glauben wir doch an Wunder! Damals haben wir gezittert wie heute und wurden gerettet. Also ein wenig Zuversicht und Heiterkeit, wenn ich bitten darf! Ich habe meine Gäste immer als meine Familie betrachtet ... Zum Concierge Lieber Salomon, holen Sie doch das Grammophon aus dem Salon ...

Das junge Mädchen Ja, lieber Salomon, das Grammophon aus dem Salon! Und die neue Platte von Chevalier ...

Der tragische Herr stöhnend Auch das noch! Dieser heisere Gigolo ist mir auch ohne Bombenbegleitung ein Greuel!

Salomon Also vielleicht etwas klassische Musik?

Das junge Mädchen Nur keine klassische Musik, Salomon! Die ist so schrecklich lang, selbst wenn sie kurz ist ...

Salomon Also vielleicht etwas Jazz?

Der tragische Herr Ich würde Sie in diesem Falle ermorden, Salomon, und von jedem französischen Gericht freigesprochen werden!

Salomon Also vielleicht ... Achselzuckend Wem kann man es recht machen auf der Welt? Will abgehn

Madame Bouffier Warten Sie, Salomon! Sie zählt mit einem Feldherrnblick die Häupter ihrer Gäste Irgendwer fehlt mir. Irgendwer scheint im Bett liegen geblieben zu sein. Dieser Leichtsinn ist unerhört! Wenn der Chef d'Ilot dahinterkommt! Wenn ein Unglück geschieht! Ich fühle mich verantwortlich für die Familie meiner Gäste ... Ich habs! Monsieur Jacobowsky ist abwesend. Monsieur Jacobowsky hat sich wieder einmal gedrückt, die liebe leichtsinnige Seele ...

Der tragische Herr Für diesen Monsieur Jacobowsky scheinen Sie sich ja besonders verantwortlich zu fühlen, beste Bouffier ...

Madame Bouffier Das will ich meinen. Er ist eine sonnige Natur. Und ich ziehe sonnige Naturen allen Schwarzsehern vor.

Der tragische Herr Dieser Ausspruch richtet sich gegen mich. Und ich habe seit zwanzig Jahren Ihr kleines Hotel zum Hauptquartier meiner Lebens-Irrfahrt erkoren ...

Madame Bouffier Monsieur Jacobowsky hat mein kleines Hotel zwar erst seit zwei Jahren zum Hauptquartier erkoren, aber er ist noch keine einzige Wochenrechnung schuldig geblieben. Im Gegenteil! Er irrt sich oft zu seinen Ungunsten! Welch ein Wunder! Ein Mann und kein Egoist! Zu Salomon Gehen Sie hinauf und holen Sie ihn aus dem Bett!

Jacobowsky der unversehens eingetreten ist Nicht nötig, Madame Bouffier ... Sie brauchen sich nicht zu echauffieren, mein lieber Salomon ... lch habe nur einen kleinen Weg gemacht, in die Rue Royale ... Jacobowsky ist ein untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem rosig rundlichen Gesicht und schönen langbewimperten Augen. Er ist peinlich adrett gekleidet, in einem etwas altmodischen, von Seidenborten umsäumten Cutaway. Er zeichnet sich, diesem Anzug entsprechend, durch ein höfliches, ja oft feierliches Gehaben aus. Seine Ausdrucksweise ist wohlüberlegt, formvollendet, manchmal bis zur Gewundenheit. Er spricht gewissermaßen ›wie gedruckt‹. Nur manchmal durchbricht das Magma der Nervosität seine modellierten Sätze und man erkennt, daß dieser Mann seine Haltung dem Schicksal abgerungen hat.

Madame Bouffier schlägt die Hände zusammen In die Rue Royale? Und das während eines Bombardements? Wenn die Polizei Sie erwischt hätte, oder der Chef d'Ilot, dieser Bösewicht, oder gar eine Bombe, ein zusammenstürzendes Haus ...

Das junge Mädchen Jacobowsky kokett betrachtend Monsieur Jacobowsky ist eben sehr mutig!

Jacobowsky Nicht die Bohne, mein liebes Fräulein! Mut beruht auf der Unfähigkeit, sich in die Seele des Gegners versetzen zu können. Am mutigsten sind Säuglinge, denn sie greifen sogar ins Feuer. Ich beurteile die Gefahr nur mit Vernunft!

Der tragische Herr hämisch Sie glauben wohl, die Bombe, die Sie treffen könnte, sei noch nicht gegossen ... Sie ist gegossen, mein Herr, bei Krupp oder Skoda!

Jacobowsky Ich glaube an die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mein Herr, denn ich bin ein Liebhaber der Mathematik und Logik. Warum, so frage ich mich, warum sollte unter vier Millionen Parisern gerade ich, S. L. Jacobowsky, einer Bombe zum Opfer fallen? Der mathematische Bruchteil dieser Wahrscheinlichkeit ist doch verschwindend klein ...

Madame Bouffier Was, bei allen Heiligen, haben Sie in der Rue Royale zu suchen, wenn es Bomben regnet?

Jacobowsky Ich dachte mir, die Damen würden an ein paar Marrons glacés Vergnügen finden. Die Damen leiden am meisten unter den aufregenden Ereignissen der letzten Wochen. Die Nacht ist lang, und die Marrons glacés sind ganz frisch ... Er bietet ringsum den weiblichen Gästen an. Bitte sich ungeniert zu bedienen. Ich habe eine vorzügliche Quelle in der Rue Royale, die mir sogar nachts offen steht ...

Madame Bouffier Da sehen Sie's, meine Herrschaften, hab ich recht gehabt? Immer nur an andere denken ...

Jacobowsky irritiert unterbrechend Sie überschätzen mich, Madame Bouffier. Natürlich möchte ich, daß sich alle wohl fühlen, aber doch nur aus dem einzigen Grunde, damit ich mich selbst wohl fühlen kann.

Madame Bouffier Oh, daß gerade die besten Ehemänner unverheiratet sind! Sie sollten heiraten!

Jacobowsky Nein, das sollte ich nicht! Ich bin ein Troubadour. Die Schönheit der Damen bestürzt mich und macht mich beklommen ...

Das junge Mädchen Sie werden einsam sterben!

Jacobowsky Keine Sorge, mein schönes Kind! Man findet heute überall die üppigste Gelegenheit, in großer Gesellschaft zu sterben ... Bitte nur zuzugreifen, auch die Herren, es sind reichlich Reserven vorhanden ... Zur alten Dame aus Arras Madame, darf ich bitten ...

Die alte Dame aus Arras Oh, danke, Monsieur, danke! Ich bin so frei. Süßigkeiten trösten im Unglück. Der Herr bietet dir an, Clémentine. Du darfst dir ein Marron glacé nehmen ...

Jacobowsky Zwei, Mademoiselle, nehmen Sie ruhig zwei ...

Die alte Dame aus Arras Sie müssen nämlich wissen, wir sind geflohen, Hals über Kopf. Ich bin Witwe und aus Arras. Alles habe ich zurückgelassen, auch Frau Professor, meine Tochter. Sie hat gesagt: Ich bleibe auf dem Posten, wenn Hitler kommt ... O Gott, geflohen, geflohen, ich, eine Französin, wer kann das ausdenken?! Leih mir dein Taschentuch, Clémentine ...

Clementine Hier, Großmama ...

Salomon hat mittlerweile ein Grammophon gebracht und legt den Walzer von Strauß ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ auf die Scheibe.

Die alte Dame aus Arras schluchzt vor sich hin Geflohen in Frankreich, geflohen ...

Jacobowsky setzt sich freundlich neben die alte Dame und Clémentine. Seine Erzählung wird begleitet vom Straußwalzer und dem Geknatter und Gebombe draußen, das sich nähert. Sie wird unterbrochen von den Ausrufen einiger Gäste, die Karten zu spielen begonnen haben.

Jacobowsky Vielleicht, Madame, schafft es Ihnen Erleichterung, zu hören, daß meine Wenigkeit im Leben schon viermal geflohen ist, schlecht gerechnet. Das erstemal, als meine gute selige Mutter mit ihren fünf Kindern aus einem polnischen Städtchen nach Deutschland floh, da war ich nicht mehr und nicht weniger als drei Jahre alt. Wir mußten alles zurücklassen, damals, auch meinen frommen Vater, den die berühmten ›Schwarzen Hundert‹ des Zaren während eines netten kleinen Pogroms ums Leben gebracht hatten ...

Das junge Mädchen Mit drei Jahren! Wie schrecklich!

Jacobowsky Es war gar nicht schrecklich, Mademoiselle, denn in Deutschland wuchs ich auf, von der festen Überzeugung gewiegt, ein kleiner strammer Deutscher zu sein. Dieser begreifliche Irrtum wurde leider viel zu spät aufgeklärt, und zwar durch Hitlers ›Braune Millionen‹. Ich floh nach Wien, mit leichtem Gepäck, glücklich, daß es ohne Konzentrationslager abgegangen war ... Wien! Hören Sie nur: ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ ... Er summt zwei Takte der Musik mit Kaum hatte ich begonnen, ein waschechter Wiener zu sein und für neuen Wein und alte Walzer zu schwärmen, da holte mich das Schicksal wieder ein. Ich floh nach Prag, und diesmal ohne Gepäck ... Prag! Kennen Sie Prag? ... Er lächelt träumerisch Prag ist eine wunderschöne Stadt. Es tat mir aufrichtig leid, aus Prag fliehen zu müssen, und zwar zu Fuß, über die verschneite Grenze und ohne Winterrock ... Paris aber ist die Stadt aller Städte. Ich habe eine große Eignung zum französischen Patrioten, Madame. Frankreich ist Gottes Land, dachte ich, und Franzose wirst du bleiben bis an dein Lebensende. Und nun ...

Die alte Dame aus Arras Ich bin so unruhig, Monsieur ...

Jacobowsky Und nun? Flucht Nummer fünf steht vor mir, nachdem ich bereits viermal mein Leben aus dem puren Nichts habe aufbauen müssen. Und sehen Sie, Madame, meine Freundin Bouffier hält mich trotz allem für ein heiteres Naturell ...

Madame Bouffier Sonnig, unerschütterlich sonnig ...

Jacobowsky Wer weiß? Man bekommt Routine im Fliehen und Verlieren. Merken Sie sich, Madame: kein Unglück ist in der Wirklichkeit so groß wie in unserer Angst: ausgenommen vielleicht Zahnschmerzen ...

Die alte Dame aus Arras Ihr Fall läßt sich mit uns doch nicht vergleichen, Monsieur! Unsere Familie lebt seit Jahrhunderten in Arras ...

Jacobowsky Nein! Der Fall läßt sich wirklich nicht vergleichen ...

Die alte Dame aus Arras Hast du gehört, Clémentine? Wir werden auch noch aus Paris fliehen müssen ... Meine Tochter hat recht: auch Frankreich braucht einen Hitler ...

Ausrufe der Gäste Das ist wirklich zu bunt ... So etwas anhören müssen ...

Der tragische Herr schreit mit geballten Fäusten Ihre Tochter und Frankreich hat ihn schon, den Hitler ...

Jacobowsky bietet, um abzulenken, Zigaretten an Ich habe noch einige echte Dimitrinos ...

Das junge Mädchen Sie wissen aber, was gut ist, Monsieur ...

Jacobowsky Ja, das weiß ich. Ich habe nämlich früh erfahren, was schlecht ist ...

Szabuniewicz öffnet die Augen Der Herr scheint die Lage sehr ruhig zu beurteilen, der Herr ...

Die fernen dumpfen Schläge folgen zahlreicher aufeinander.

Jacobowsky Nicht ruhiger als möglich und nicht unruhiger als nötig ...

Szabuniewicz eine Zigarette nehmend Der Herr hat nicht viel zu fürchten von den Boches, der Herr, vermutlich ...

Jacobowsky Es gibt ohne Zweifel einige, die noch mehr zu fürchten haben von den Nazis, als ich, aber nicht viele. Ich habe mich nämlich durch einige Verdienste mißliebig gemacht ...

Szabuniewicz Das glaub ich!

Jacobowsky Nicht so, wie Sie glauben. Als ich noch selbst ein Deutscher war, da nannte man mich Präsident und Generaldirektor und an meinem Tisch saßen Genies, Fürsten, Grafen, Botschafter, Minister, Filmstars ...

Das junge Mädchen Welche? Greta Garbo?

Jacobowsky Mindestens! ... Mein großes Verbrechen war die deutsche Kultur. Ich verehre sie glühend: Goethe, Mozart, Beethoven! Und so hab ich in Mannheim eine Schule für moderne Architektur gegründet, in Pforzheim einen Verein für Kammermusik und in Karlsruhe eine Arbeiterbibliothek. Das verzeihen mir die Nazis nicht. Darauf steht nicht Dachau. Darauf steht der Tod ...

Szabuniewicz Recht geschieht Ihnen ...

Jacobowsky nickt bestätigend Recht geschieht mir ...

Mehrere heftige Explosionen – Aufschrei der Frauen.

Die alte Dame aus Arras im Diskant War das im Haus? ... Laß uns gemeinsam sterben, Clémentine! Umklammert das Mädchen.

Clementine gleichgültig Ja, Großmama ...

Madame Bouffier Und wenn Sie jetzt auf der Straße wären, Monsieur Jacobowsky!

Salomon erbleichend Ich höre ihn ... Der Chef d'Ilot ...

Heftiges Klopfen. – Die Kellertür wird aufgestoßen. Wütend stürzt der für den Luftschutz des Bezirks verantwortliche Chef d'Ilot in den Raum. Ihm folgen zwei Gehilfen, alle in Lederjacken, mit Revolvern und Taschenlampen.

Chef d'Ilot Sind Sie wahnsinnig geworden, Madame Bouffier?! Immer nur Sie und Ihr Haus stören die Ordnung. Heute aber ist es das letzte Mal. Ich sollte Sie auf der Stelle verhaften. Das wäre mein Recht. Ihr Haus bringt ganz Paris in Gefahr. Ich lasse Ihr Haus morgen sperren! Dritter Stock, Straßenfront, viertes und fünftes Fenster von rechts hell erleuchtet, strahlend, festlich erleuchtet, nicht einmal die Gardinen vorgezogen, wie beim Nationalfest am vierzehnten Juli im tiefsten Frieden ... Sie sind verantwortlich, Madame Bouffier. Die Sache wird ein Nachspiel haben. Nur weil ich zu viel zu tun habe, verhafte ich Sie nicht ...

Madame Bouffier die ganz blaß geworden ist Mein Gott, das ist wahrscheinlich der polnische Oberst, der gestern von der Front gekommen ist ... Schnell, Salomon! Eiligst ab mit dem Concierge, dem Chef d'Ilot und seinen Leuten.

Der tragische Herr Haben Sie gehört? Dieser Chef d'Ilot schreit bereits wie ein Preuße. Aus seiner Tasche schaut das Verräterblatt ›Gringoire‹ heraus und aus seinen Augen das künftige ›Heil Hitler‹ ... O Frankreich!

Szabuniewicz reibt sich den Schlaf aus den Augen Das ist der Oberst mit dem Mädchen bestimmt ...

Das junge Mädchen Das Radio geht wieder ... Hören Sie ... das Signal des nationalen Senders ...

Aus dem Radio dringt plötzlich in kurzen, scharfen Intervallen wie ein Symbol der Verwirrung und Sinnlosigkeit die kriegerische Mittelphrase der Marseillaise. Alle blicken wie starr und von Grauen gepackt nach dem alten Kasten hin, dem sich die aufrührerische Fanfare in würgender Monotonie entringt.

Jacobowsky murmelt bitter den Text vor sich hin »Aux armes, citoyens, formez vos bataillons!« ...

Die alte Dame aus Arras weint laut Das ist ja der reinste Hohn ...

Der tragische Herr in einem Ausbruch von Qual Abstellen! Abstellen!

Das junge Mädchen schaltet das Radio aus. – Das tiefe Schweigen wird nur durch das Schluchzen der alten Frau unterbrochen. – Man hört die schimpfende Stimme des Chefs d'Ilot wieder, die sich entfernt. – Dann treten ein Madame Bouffier, Salomon, die leichte Person und Oberst Tadeusz Boleslav Stjerbinsky, ein hoher, sehr ausgemergelter Mann in Felduniform mit vielen Auszeichnungen. Seine Bewegungen sind federnd, achtlos und gemessen zugleich. Bis auf das Polnische spricht er jede Sprache gebrochen, doch weiß er in seinen harten und rauhen Akzent stets Eleganz und manchmal sogar eine eigene Melodie zu legen.

Madame Bouffier Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, mon Colonel?

Oberst Stjerbinsky Es tut mir nicht wenig leid, Madame ... Auf die leichte Person deutend Ich befürchte aber, daß Mademoiselle und ich die Alarmsirenen überhört haben, wir zusammen beide ...

Szabuniewicz ist kein schläfriger Pole mehr, sondern steht regungslos habtacht, eine Aktenmappe unterm Arm.

Die leichte Person sich an den Oberst schmiegend Nur ich bin schuld, Madame Bouffier, nur ich allein. Der Colonel kommt aus der Bataille de France. Er hat gekämpft wie ein Löwe. Er hat einen Streifschuß und fiebert ...

Oberst Stjerbinsky Wozu reden von so etwas? Ein Schmarren! Eine Schramme!

Die leichte Person Gestiefelt und gespornt hat er geschlafen wie ein Sack, der müde Arme! Da wollt ich mich nicht rühren, um ihn nicht zu wecken. Das ist alles ...

Oberst Stjerbinsky Ich danke Ihnen, ma petite, daß Sie auf sich nehmen die Schuld ... Die Männer Frankreichs – na, am besten man schweigt über die Männer – die Frauen Frankreichs aber sind sehr großmütig noch immer ...

Madame Bouffier Ja, und mich zeigt der Chef d'Ilot an, und die Polizei sperrt morgen mein Hotel ...

Der tragische Herr Sehr wahrscheinlich! Adieu, fahr wohl, Mon Repos et de la Rose ...

Oberst Stjerbinsky Befürchten Sie nichts! Die Pariser Polizei wird keine Zeit mehr haben, Ihr Hotel zu sperren. Die Boches arbeiten viel schneller als die Pariser Polizei ...

Der tragische Herr mit eingekniffenen Lippen Soll das heißen, Monsieur, daß die Boches keinen Widerstand mehr finden?

Oberst Stjerbinsky Ich war der Chef eines polnischen Regiments ... Ich kann nur sagen, was ich weiß ...

Der tragische Herr Es wäre sehr gütig von Ihnen, Colonel, wenn Sie uns sagen wollten, was Sie wissen ...

Oberst Stjerbinsky Ich weiß, daß mein Regiment stark war dreitausend Mann. Ich weiß, daß wir zu verteidigen hatten an der Somme einen Brückenkopf mit für jedes Gewehr nur acht Patronen. Ich weiß, daß die Stukas verfinsterten den Himmel und kein einziger Flieger uns zu Hilfe kam. Ich weiß, daß die französischen Divisionen rechts und links fortwarfen die Gewehre und mit Spazierstöcken davonliefen wie Sonntagsausflügler bei einem Gewitter. Sie ließen stehn ihre Geschütze und Tanks. Und ich weiß, daß von meinen dreitausend Polen nur übrig geblieben sind fünfzehn Polen. Der Fünfzehnte bin ich!

Der tragische Herr totenbleich Demnach ist ... Paris verloren ...

Oberst Stjerbinsky Ich befürchte sehr ...

Madame Bouffier mit versagender Stimme Und wann ...

Oberst Stjerbinsky Morgen, übermorgen, oder so ...

Die Gäste springen auf und schreien durcheinander Man muß sofort einpacken ... Sauf-conduit auf der Polizei holen ... Haben Sie ein Kursbuch der Eisenbahnen ... Vielleicht geht noch der Schnellzug sieben fünfzig nach Lyon ... Auch die Strecke nach Bordeaux ist frei ... Bordeaux ist überfüllt ... Nur schnell ... Es ist schon zwei Uhr ... Wir haben keine Zeit zu verlieren ...

Alles stürzt zur Ausgangstür.

Madame Bouffier mit Kapitäns-Stimme Niemand verläßt den Raum ... Salomon, den Ausgang bewachen!

Salomon stellt sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tür.

Die alte Dame aus Arras Oh, verzeihen Sie mir, Messieurs-Dames, ich glaube, mir ist nicht besonders gut ... Sie fällt in Ohnmacht, und zwar in Jacobowskys Arme.

Clementine an ihrem zweiten Marron glacé kauend Stirbt Großmama?

Jacobowsky Man stirbt nicht so leicht, mein Kind ... Es ist nichts als Angst. Er bettet mit Hilfe des jungen Mädchens und Madame Bouffiers die Ohnmächtige auf eine Bank. Die Gäste bilden eine dichte Gruppe um die alte Dame.

Oberst Stjerbinsky zieht eine Flasche hervor und reicht sie der leichten Person Meine charmante Freundin! Wollen Sie der erschöpften Dame dort einflößen ein paar Tropfen von diesem Cognac ... Die leichte Person gehorcht Szabuniewicz!

Szabuniewicz militärisch Hier!

Der nachfolgende Dialog schnell und leise.

Oberst Stjerbinsky Ist Zweifelkopf gekommen, der Agent, dein Freund?

Szabuniewicz Heute abend! Mitten durch die deutschen Linien!

Oberst Stjerbinsky Gut! Hat er das Material gebracht, wie verabredet?

Szabuniewicz überreicht die Aktenmappe Die Adressen unserer Leute in Warschau, Lodz, Lwow, Krakau, die Pläne, das Netz der Verbindungen, alles in Code ...

Oberst Stjerbinsky Hat Zweifelkopf sonst mit jemand gesprochen von der Regierung, vom Militär?

Szabuniewicz Nein! Er ist zurückgefahren in die Schweiz. Nur der Oberst Stjerbinsky wird die Mappe sicher nach London bringen, sagt er. Aus drei Gründen, sagt er. Erschtens ...

Oberst Stjerbinsky Erschtens, weil es keinen besseren Mann gibt unter Pilsudskys Obersten ...

Szabuniewicz Erschtens nicht das! Sondern weil es keinen gibt unter Pilsudskys Obersten, der mehr Schwein hat als Stjerbinsky, sagt er ...

Oberst Stjerbinsky Und was sagt er zweitens?

Szabuniewicz Zweitens, sagt er, haben die Boches einen Preis gesetzt auf den Kopf vom Herrn Oberst. Ganze fünftausend Mark. Wegen der erschossenen Wachen im Königsberger Kriegsgefangenenlager. Da wird der Herr Oberst vorsichtig sein, sagt er ...

Oberst Stjerbinsky Sagt er ... Drittens ...

Szabuniewicz Drittens, weil ich den Herrn Oberst begleite und zuverlässig bin wie eine polnische Amme, sagt er ...

Oberst Stjerbinsky Und was noch?

Szabuniewicz Wenn alle Stricke reißen und wir nirgends durchkommen, sollen wir nach Saint Jean-de-Luz gehn. Dort wird etwas organisiert sein, sagt er ...

Oberst Stjerbinsky Wir werden kein Saint Jean-de-Luz brauchen.

Szabuniewicz Prosju Pane, Gutsherr mein, Vater und ewiger Wohltäter, nur diesmal, fleh ich untertänigst, nur diesmal keine Weiber ...

Oberst Stjerbinsky Ich geb dir mein Ehrenwort, Szabuniewicz: Diesmal keine Weiber! ... Marianne ist kein Weib, sondern meine Königin. Wir holen sie ab in Saint Cyrill ...

Szabuniewicz sich die Stirne wischend Königinnen sind schlimmer als Weiber ...

Die alte Dame aus Arras die sich inzwischen erholt hat Oh Messieurs-Dames, ich schäme mich ja so sehr ... Danke, danke, danke ... Hast du große Angst gelitten, meine arme Clémentine? ...

Clementine Ja, Großmama ...

Oberst Stjerbinsky laut, so daß ihn alle Gäste hören können, die nicht mehr um die alte Dame bemüht sind Szabuniewicz, geh hinauf in mein Zimmer. Dort liegt herum alles Mögliche. Die Photographie von Marianne. Die Andenken, die ich ihr mitbringe! Pack ein das alles! Nimm die Satteltaschen! Etwas leiser Und meinen Rosenkranz. Vergiß den Rosenkranz nicht!

Szabuniewicz schiebt Salomon zur Seite und geht ab.

Madame Bouffier Nur kein Licht machen, heilige Jungfrau!

Oberst Stjerbinsky Befürchten Sie nichts! Szabuniewicz ist einer, der alles im Finstern findet!

Jacobowsky tritt mit einer leichten Verbeugung vor den Oberst. Die Gäste bilden einen Halbkreis um beide.

Jacobowsky Mon Colonel! Mein Name ist Jacobowsky! S. L. Jacobowsky! Ein Landsmann gewissermaßen. Auch ich bin in Polen geboren ...

Oberst Stjerbinsky kehrt ihm brüsk den Rücken Dagegen läßt sich nichts machen ...

Jacobowsky unbeirrt Sie haben gekämpft, Colonel, Sie sind ein Held. Ich bin kein Held. Sie sind, wie ich fühle, ein starker Charakter. Ich bin nur ein nervöser Mensch. Starke Charaktere neigen zum Pessimismus. Ich bin ein Optimist. Frankreich ist mein fünftes und bestes Vaterland. Ich kann Frankreich nicht so schnell verloren geben. Frankreich hat die beste Armee der Welt. Der Heeresbericht spricht noch immer von Kämpfen, fern von Paris ... Ich trage stets eine militärische Karte bei mir ... Er breitet eine große Karte auf dem Fußboden aus. Haben Sie die Güte, Madame Bouffier, dieses matte Licht hierher zu stellen. Und nun, Colonel, helfen Sie uns. Erklären Sie die Lage! Lassen Sie uns die Stellungen der Armee betrachten ...

Oberst Stjerbinsky kehrt sich wütend um und tritt die Karte mit Füßen Das ist die Lage! Das sind die Stellungen! Herr ... Herr ... Wie heißen Sie?

Jacobowsky Jacobowsky, wenn Sie gestatten ...

Die Gäste senken die Köpfe tief und bewahren Todesschweigen.

Der tragische Herr der schon lange Zeit, ganz zusammengebrochen, abseits sitzt, murmelt vor sich hin Frankreich zertrampelt ... Zertrampelt Paris ... Paris ...

Jacobowsky Finden Sie nicht, daß es schade um die schöne Karte ist, mon Colonel?

Oberst Stjerbinsky Lieber sollten Sie sich die Karte vom Automobilklub anschaffen, Herr ...

Jacobowsky Meinen Sie?

Oberst Stjerbinsky Aber auch die wird Ihnen nichts nützen, denn es gibt kein Öl und keine Essence mehr in Frankreich ...

Jacobowsky greift feierlich in die Tasche Hier ist die Karte vom Automobilklub!

Oberst Stjerbinsky Haben Sie nicht zufällig ein Kaninchen bei sich, zwei Tauben, oder einen Hahn, der Eier legt?

Jacobowsky Sie irren, Colonel! Leider bin ich kein Zauberer, sondern nur ein besorgter Logiker. Unsereins muß Minen legen in die Zukunft ...

Szabuniewicz kommt zurück Alles in Ordnung ...

Oberst Stjerbinsky Der Alarm ist zu Ende. Ich spürs. Du wirst meine schöne Freundin hier nach Hause bringen, Szabuniewicz ...

Die leichte Person Muß es sein?

Oberst Stjerbinsky Die Pflicht ruft!

Die leichte Person Wollen Sie mich nicht bei sich behalten, heute, morgen, übermorgen ...

Oberst Stjerbinsky die Mappe hochhebend Ich befürchte, das hier wird die einzige Geliebte sein, die mich begleitet übers Meer ...

Jacobowsky in tiefen Gedanken Wer weiß, ob Hitler sich nicht zuerst auf England stürzt anstatt auf Paris? »Was im Leben auch geschieht, immer gibt es zwei Möglichkeiten.« Das pflegte meine selige Mutter zu sagen ...

Oberst Stjerbinsky das Mädchen abwehrend, betrachtet Jacobowsky, heimlich fasziniert Was für zwei Möglichkeiten?

Jacobowsky wie eine alte melancholische Melodie Entweder kommen die Boches nach Paris oder sie stürzen sich zuerst auf England und kommen nicht nach Paris. Kommen sie nicht nach Paris, das ist doch gut! Kommen sie nach Paris, da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie besetzen ganz Frankreich oder sie besetzen nur einen Teil Frankreichs. Besetzen sie nur einen Teil Frankreichs, das ist doch gut! Besetzen sie ganz Frankreich, da gibt es zwei Möglichkeiten ...

Oberst Stjerbinsky unterbricht ihn scharf Ihr Glaube ist falsch, Herr Wolfsohn ...

Jacobowsky S. L. Jacobowsky, wenn ich bitten darf ...

Oberst Stjerbinsky Einerlei! ... Ich weiß nicht, wie viele Möglichkeiten es im Leben gibt, zwei oder fünftausend. Für einen Mann aber, hören Sie, Wolfsohn, für einen wirklichen Mann gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit! Wie?

Jacobowsky Unsere Partie, Colonel, steht zwei zu eins!

Schon während der letzten Worte haben die Sirenen begonnen, das Ende des Alarms anzuzeigen.

Die Gäste während sie sich eilig durch die Ausgänge drängen Man hat vielleicht noch ein paar Stunden Schlaf ... Nein, ich werde nicht schlafen ... Ich werde sogleich an alle Bahnhöfe telephonieren ... Mein Onkel ist pensionierter General, er weiß alles ...

Die leichte Person von Szabuniewicz sanft hinausgedrängt, wendet sich noch einmal zu Stjerbinsky um Ich werde Sie nie vergessen ...

Oberst Stjerbinsky mit Kußhand Danke, danke, mein süßes Kind. Er hebt die Lampe auf, in deren Schein er den Inhalt der Mappe betrachtet.

Die alte Dame aus Arras geht als Letzte ab, gestützt von Clémentine und dem jungen Mädchen Wir sind eine alte Familie, Clémentine ... Wir müssen Haltung bewahren, Haltung ...

Clementine Ja, Großmama ...

Jacobowsky betrachtet kopfschüttelnd den tragischen Herrn, der mit starrem Wahnsinnsausdruck ein Streichholz nach dem andern anzündet und ausbläst Wollen Sie damit etwas beweisen?

Der tragische Herr vor sich hin träumend Was ist Paris? Was ist Frankreich? Was ist die Menschheit? In jeder von diesen kleinen Flammen entstehen und vergehen Weltsysteme, Sonne, Erden, Menschheiten, Millionen Kriege, Siege, Niederlagen ... Was ist Paris? Tränen laufen ihm über die Wangen.

Oberst Stjerbinsky die Mappe wieder unterm Arm, die Lampe in der Hand, eine Zigarette im Mund Erlauben Sie ... Er steckt die Zigarette an einem Streichholz des tragischen Herrn an.

Jacobowsky Sie haben Ihre Zigarette an einem Weltbrand entzündet, Colonel!

Oberst Stjerbinsky Warum nicht? Herr ... Ihm fällt der Name nicht ein. Er geht starken Schrittes ab, die Lampe mitnehmend.

Dasselbe blaue Licht wie zu Anfang der Szene. – Nur mehr Jacobowsky, Madame Bouffier und Salomon sind da.

Madame Bouffier Vielleicht ist doch ein Wunder geschehn ... Das Radio, Salomon ...

Salomon dreht das Radio auf.

Jacobowsky Ich werde auf jeden Fall ein Auto brauchen, Salomon ...

Madame Bouffier Hören Sie!

Das Radio ... übertragen den Hilferuf des französischen Ministerpräsidenten nach England und den Vereinigten Staaten ... Le Président du Conseil, Monsieur Reynaud ...

Stimme des Ministerpräsidenten La Situation est grave ...


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