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I
»Freddie, Freddie«, fragte Mama sorgenerfüllt, »wann wirst du endlich eine Seele bekommen?«
Man saß am Frühstücktisch. Freddie sollte am nächsten Dienstag vierzehn Jahre alt werden. Mama litt darunter, daß ihr einziger Sohn ungelenke Glieder besaß, an vorzeitigem Stimmbruch laborierte, die wertvollen Bücher, die sie ihn zu lesen beschwor, nicht einmal aufschlug, und seine Freunde unter der Hefe der Gesellschaft und der Intelligenz wählte. Mama hingegen war Präsidentin des ›Damenklubs zur Verbreitung östlicher Weisheit im Abendlande‹.
»Was liest du da eigentlich in der Zeitung, Freddie?« fragte Papa, wie immer voll der charakterlosesten Bereitschaft, Mama gefällig zu sein. Papa stand im industriellen Leben. Da er sich in seinen verwegeneren Tagen als Zweiter Tenor eines Herrenquartetts betätigt hatte, fühlte er sich legitimerweise der musikalischen Kultur zugehörig. Er zählte zu den Gründern und Förderern des städtischen Konzertvereins. Das verstärkte seine Position Mama und Buddha gegenüber.
Freddie versteckte sein Erröten hinter dem umfangreichen Morgenjournal. Er hatte soeben den hochdramatischen Bericht über das gestrige Fußballmatch verschlungen. Seine mutierende Stimme rutschte unvermittelt und verräterisch in die Tiefe, als er log: »Geheimnisvoller Mord an zwei Greisinnen.«
So lautete die Überschrift, an der unvorsichtigerweise sein Blick hängengeblieben war.
»Immer nur Mord- und Gangstergeschichten«, seufzte Mama.
Papa aber trieb jetzt seine entschlossene Charakterlosigkeit auf die Spitze:
»Liest du niemals die Kunst-, Musik- und Bücherrubrik in der Zeitung, Freddie?« fragte er leichthin und doch mit Nachdruck.
Freddie zog es vor, diese Frage unbeantwortet zu lassen.
»Hast du jemals den Namen Géza de Varsany gehört?« setzte Papa in dunklerem und wärmerem Tone die peinliche Inquisition fort.
Freddie fühlte in seiner Kehle einen gummigen Klumpen aufsteigen, weil er niemals den Namen Géza de Varsany gehört hatte. Schon der Klang dieses Namens traf ihn jäh ins Herz, wie das Vorgefühl einer unentrinnbaren Katastrophe.
»Géza de Varsany ist zwölf Jahre alt«, schwärmte Papa. »Er ist also um zwei volle Jahre jünger als du, Freddie«, fügte er mit unnachsichtiger Arithmetik hinzu, an der sich nichts mehr gutmachen ließ.
Freddie senkte den Kopf hinter der Zeitung. Sein Leben war wahrscheinlich verpfuscht. Er hörte Papas Stimme wie etwa ein Taucher Stimmen vom Ufer hört: »Und Géza de Varsany ist einer der größten Geiger unserer Zeit. So sagen einhellig die Kritiker, selbst Samuel Poritzky. Und ich habe mich gestern abend beim Konzert selbst davon überzeugt.«
Freddie dachte daran, daß er selbst einer der schlechtesten Geiger unserer Zeit sein müßte, wenn nicht gar der schlechteste. Sein Violinlehrer, Professor Angelo Fiori, hatte ihn nach einem Jahr gegenseitiger Quälerei mit den Worten aufgegeben: »Es ist völlig hoffnungslos, mein gutes Kind! Es ist die reinste Vivisektion!«
Papa aber schloß jetzt, um das Maß vollzumachen:
»Hättest du nur das geringste Interesse gezeigt, Freddie, so würde ich dich gestern abend mitgenommen haben, wirklich. Es war ein Erlebnis, das man nicht leicht vergißt. Dieses Mendelssohnkonzert! Eine echte, feurige Künstlerseele steckt in dem Jungen. Und welche Feinheit und welche Sicherheit des Auftretens, wenn er das Podium betritt, wenn er sich verbeugt ...«
»Könnten wir nicht, Thomas ...« fragte Mama, ohne den Satz zu vollenden, und sah träumerisch und ein bißchen gierig drein.
»Ich hab's schon arrangiert, Melanie«, lächelte Papa und schloß die Lider, was bei ihm ein Zeichen der Zufriedenheit und des Überlegenheitsgefühls war. »Zuerst hab ich den Dienstagabend vorgeschlagen, um Freddie eine besondere Geburtstagsfreude zu bereiten, aber die de Varsanys sind erst am Donnerstag zum Diner frei. Der Professor, Gézas Vater, hat versprochen, daß Géza seine Stradivarius mitbringen wird. Was sagst du nun, Freddie? Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß unser kleines Fest erst zwei Tage nach deinem Geburtstag stattfindet?«
»Nein«, sagte Freddie.
Papa reichte Mama einen Zettel.
»Hier sind die Leute, die ich einladen möchte, wenn du damit einverstanden bist, Melanie ...«
Mama begann die Liste zu studieren, unterbrach sich aber sogleich:
»Wenn Freddie bei Tisch sitzen soll, muß er einen Smoking haben ...«
»Gut«, nickte Papa großmutvoll, »er soll den ersten Smoking seines Lebens bekommen zu dieser Gelegenheit. Ich werde den Schneider Czermak sofort anrufen ...«
Freddie hatte sich ein schwarzes Festkleid dieser Art schon lange gewünscht. Dennoch erfüllte ihn jetzt die unerwartete Verwirklichung seines Begehrens, die im Zusammenhang stand mit Géza de Varsany, dem größten Geiger unserer Zeit, mit einer völlig unbegründeten Bitterkeit.
II
Der Knabe Géza de Varsany wurde im Vorraum aus Seide und Wolle herausgewickelt, als sei er selbst eine köstliche und hochgefährdete Stradivarius, wie jene im großen schwarzen Geigenkasten, die ihm sein Vater nachtrug. Papa titulierte diesen Vater geflissentlich »Professor«, obwohl er heute in Freddies Gegenwart die unvorsichtige Bemerkung gemacht hatte, Herr Ladislaus de Varsany komme ihm vor wie die Kreuzung zwischen einem Jesuiten und einem Zirkusartisten, Bauchredner etwa. Freddie jedoch erfüllte die schmale, gewandte Erscheinung dieses Professors mit eindeutiger Ehrfurcht. Zweifellos glich Ladislaus de Varsany auffällig einem Priester. Er war jedoch der Priester seines Sohnes Géza. Auch trug er sein gebleichtes seidenfeines Haar sehr lang. Wahrscheinlich, so meinte Freddie, trägt er lange Haare, weil sein Kind einer der größten Künstler unserer Zeit ist.
Ladislaus de Varsany hatte eine unnachahmliche Art, mit seinem Sohn zu sprechen. Es waren in dieser Art drei Tonfälle zu einer harmonischen Einheit prächtig verschmolzen. Der erste Tonfall: er sprach nicht eigentlich mit Géza, sondern richtete das Wort an ihn. So etwa richtet der stellvertretende Regent väterlich und formvollendet und ein wenig geniert das Wort an das königliche Kind, das den Thron einnimmt. Der zweite Tonfall verriet scheue Zärtlichkeit und dumpfe Sorge des Herzens, die auszudrücken schien: ist es möglich, daß mir, gerade mir diese verkörperte Gnade in die Wiege gelegt worden ist? Lauert nicht überall das grausame Schicksal in Gestalt von Masern, Scharlach, Diphtherie und bösartigen Kritikern, das Licht auszulöschen, das meine bescheidene Hütte erfüllt? Der dritte Tonfall schließlich war der eines kundigen und energischen Weltmannes, eine Kadenz der Autorität, die nicht vorzeitig abzudanken gesonnen war, sondern die Erziehung und Führung dieses gebenedeiten und darum um so umdräuteren Knaben fest in der Hand behielt. – Der Rest, die körperliche Fürsorge für einen schwächlichen, nervösen Zwölfjährigen, war Gézas Mutter anvertraut, einer dicken kleinen Frau im prallen jetteglitzernden Abendkleid. Sie trug die dunklen Haare in der Mitte gescheitelt und öffnete nur selten den Mund.
Bei Tisch hatte es der Hausherr leicht dieses Mal. Er mußte sich nicht, wie bei den meisten Gesellschaften sonst, Mühe geben, die holprige Konversation mit mattem Witz in Gang zu halten. Obwohl sich zwölf Personen zum Diner versammelt hatten, führte Ladislaus de Varsany beinahe allein das Wort. Er begann damit, daß er Mamas wohlberechnete Tischordnung mit ebenso höflichem wie bestimmtem Anspruch umstürzte. Die Mutter des Wunderknaben mußte unbedingt neben diesem sitzen, um dessen Mahlzeit treulich zu überwachen. Mit bewundernswerter Umsicht wußte der Professor die Unterhaltung von Beginn an so zu lenken, daß sie niemals von dem einzigen Gegenstande abirrte, der ungeteilt der allgemeinsten Aufmerksamkeit würdig war. Er nahm vorerst eines nach dem anderen die begeisterten Komplimente über Gézas Konzert entgegen. Das tat er offen lauschenden Ohres, das feine bleiche Haupt mit dem seidigen Haar ein wenig gesenkt, den Atem zurückhaltend, damit dieser der inneren Verarbeitung der Lobsprüche nicht im Wege stehe. Er schien all diese Rühmungen, indem er zuhörte, gewissermaßen in die Ausschnittsammlung seines Gedächtnisses einzukleben. Trotz der leicht beschämten Demütigung seines Zuhörens jedoch, taten Ladislaus de Varsanys dunkle Augen eine nicht völlig verhehlte Nachsicht kund, die aus leiser Langeweile und Ungeduld über die Abgedroschenheit des bürgerlichen Kunst-Urteiles leidend gemischt war. Nachdem er mit vollendeter Bescheidenheit rundum den Ruhm seines Kindes entgegengenommen hatte, quirlte er die bräunlichen, leberfleckbesäten Hände aus den tadellosen Manschetten seines Hemdes hervor, als habe er ein Kartenspiel zusammengeschoben und schicke sich an, ein Kunststück zum besten zu geben. Und wirklich, er legte die soeben vernommenen Lobsprüche nachdrücklich wie Atouts auf den Tisch und machte zu jedem einzelnen belehrende Bemerkungen. Es sei wahr, sagte er zum Beispiel mit einer Kopfneigung gegen Papa hin, daß eine der erstaunlichsten Leistungen Gézas das berühmte Mendelssohnkonzert sei. Niemand spiele es ihm nach heute. Und von den Meistern der Vergangenheit hatten nur drei in ihren reifen Jahren Gézas Interpretation erreicht und – so fügte er mit unbestechlicher Objektivität hinzu – in manchem Punkte übertroffen: Sarasate, Hubay und vielleicht Kubelik. Er, Ladislaus de Varsany, ziehe freilich diesem ebenso klassischen wie dankbaren Glanzstück eher Gézas Wiedergabe einer Bachschen Solosonate vor. Hier komme, ohne die hilfreiche Unterstützung des Orchesters oder eines akkompagnierenden Klaviers, die echte Musikernatur des Kindes zur wundersamen Geltung. Er selbst, Gézas unerbittlichster, ja erbarmungslosester Kritiker, könne niemals genug staunen über die klare Polyphonie, die der Junge aus der so homophonen Geige hervorzaubere, über die Markigkeit seiner Doppelgriffe und die geradezu attackierende Energie der Bogenführung:
»Johann Sebastian ist eben der Größte unter allen«, nickte er, »und wer an ihm nicht zuschanden wird, den macht er ebenfalls groß ...«
Hier wagte eine Dame in Unschuld zu bemerken, daß auch sie Bach – Gézas Solosonate, einem Seiltänzerstück wie Paganinis Tarantella vorziehe, mit dem der Knabe den Reigen seiner Zugaben eröffnet hatte.
Sogleich runzelte Ladislaus de Varsany seine eckige Abbé-Stirn, ließ ein wenig verstört die Suppe stehen und faltete seine Hände:
»Sagen Sie nichts gegen Paganini, meine Gnädigste, Paganini war der größte Hexenmeister seines Jahrhunderts. Er konnte auf einen Bogenstrich vier verschiedene Hs greifen. Seine Musik mit ihren stupenden technischen Schwierigkeiten mag für ungeübte Ohren heute formalistisch klingen. Unter gottbegnadeten Fingern aber (er nannte Gézas Namen nicht) spiegelt sie die dämonische Seele ihres Autors wie eh und je ... Der römische ›Messaggero‹ hat das in einer Ausführung von zwei Spalten anerkannt.«
Papa brachte das gestörte Gleichgewicht wieder in Ordnung, indem er die treffende Frage stellte:
»Sagen Sie, lieber Professor, wann und wie kommt es den glücklichen Eltern das erstemal zum Bewußtsein, daß sie solch ein musikalisches Genie in die Welt gesetzt haben?«
»Dies, mein Verehrter«, lächelte Ladislaus de Varsany mit behaglicher Bereitwilligkeit, »läßt sich nicht ganz ohne Umschweife beantworten. Wir Varsanys sind eine alte Musikerfamilie. Bitte das recht zu verstehen. Die Varsanys gehören zum sogenannten kleinen magyarischen Adel, was Ihnen schon das Ypsilon unseres Namens beweist. Aber in welchem Ungarn steckt nicht klingendes und singendes Zigeunertum? Ich selbst bin ein hinreichender Pianist, ohne das Konservatorium besucht zu haben. Ich war selbstverständlich Ministerialbeamter, wie es bei den Varsanys die Regel ist ...«
Freddie schloß bei diesen Worten für eine Sekunde enttäuscht die Augen. Warum ist Ministerialbeamter besser als Zirkusartist?
»Die Herkunft mag einiges beitragen«, setzte der Professor seine gelenken Ausführungen fort, »und trotzdem möchte ich ihr das Wesentlichste nicht zuschreiben. Sehen Sie, das ist ja das geradezu göttliche Geheimnis der Individualität. Ein männliches und ein weibliches Individuum stoßen zusammen und aus ihnen entsteht eine dritte Persönlichkeit, keine Mischung und kein Absud der respektiven Eigenschaften, sondern ein ganz unabhängiges, selbstbestimmtes Wesen, das den Paß seiner eigenen Unsterblichkeit in der Tasche trägt; so möchte ich das, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, auszudrücken ...«
Ladislaus de Varsany unterbrach den Redestrom nicht, während er sich mit sicherer Hand vom Braten bediente:
»Und dann ist solch ein selbstbestimmtes Wesen da, ein Säugling zuerst, später, sagen wir, ein Kind von acht Monaten, von einem Jahr, von anderthalb Jahren. Da bemerke ich ... was glauben die Herrschaften, daß ich bemerke ...?«
»Eine Vorliebe für Töne«, wagte jemand zu erraten.
»Das genaue Gegenteil, wenn ich bitten darf«, sagte der Professor. »Eine Abneigung gegen Geräusche, Töne, ja Wohlklänge! Was sage ich Abneigung – mehr, ein Leiden, eine schreckenerfüllte Angst vor Geräuschen, Tönen, Wohlklängen und so weiter. Das Kind wird bleich, beginnt zu zittern, zu weinen, wenn ein Hahn kräht, zum Beispiel auf dem Lande. So kündigt sich das absolute Gehör an, ehe noch das Händchen die ersten Ammenweisen auf dem Klaviere nachstammelt ...«
Jetzt meldete sich die Mutter mit dem gescheitelten Schwarzhaar: »Aber Ladislaus, du vergißt, daß Géza, als er klein war, stundenlang unserem Kanarienvogel zugehört hat!«
»Meine Beste, es wäre gut, du würdest deinem Sohn das Fleisch vorschneiden«, sagte darauf Ladislaus de Varsany, und sein Gesicht wurde so scharf gespannt wie seine Stimme. Hatte ihn der Widerspruch beleidigt, die Widerlegung seiner Theorie durch eine Kronzeugin oder die blanke Erwähnung eines Kanarienvogels, dieses Koloraturkünstlers der kleinen Leute? Die Mutter beugte tieferschrocken den Kopf, als habe sie wieder einmal ihre Schande ausgeplaudert, nahm Gézas Teller und begann das Fleisch zu zerkleinern. Ein beklommener Augenblick ging vorüber, der bewies, daß Ladislaus de Varsany ein Familienoberhaupt war, mit dem sich nicht spaßen ließ. Doch im nächsten Augenblick verwandelte er sich wieder in den belehrend liebenswürdigen Gesellschafter.
»Sie wundern sich wohl, meine Herrschaften, daß ich es nicht zulasse, daß ein großer Junge sein Fleisch selbst schneidet. Doch, bitte sehr zu beachten, da ist das zweite Glied des Zeigefingers der rechten Hand, mit welchem man auf das Messer drückt. Dieses Mittelglied des Zeigefingers der rechten Hand drückt auch auf den Geigenbogen. Die linke Hand, lieber Gott, da hab ich weniger Angst – unberufen –, die linke Hand ist die Griffhand. Sie ist die Hand der Aktivität, der Tatkraft. Die Bogenhand aber ist die Hand der Seele. Und die Seele steckt im Mittelglied des Zeigefingers. Darum soll dieses Glied nicht übermäßig bemüht werden ...«
»Sie sind ja ein Philosoph, lieber Professor de Varsany«, meinte Mama, »Sie machen sich über alles so genau Gedanken. Man kann viel von Ihnen lernen. Es scheint doch kein Zufall zu sein, daß Ihr Sohn ein musikalisches Genie ist ...«
»Es stimmt, Gnädigste«, erwiderte Varsany. »Mein Lebensweg war nicht so leicht, als daß ich ein Geschenk Gottes hätte ohne Spekulation darüber entgegennehmen dürfen. Das Wort ›Genie‹ aber möchte ich im eigenen Namen und im Namen der Familie ganz ergebenst ablehnen. Genie ist Fleiß, hat ein großer Mann gesagt, vielleicht Goethe, vielleicht Maurus Jokai.«
Und er richtete plötzlich im Tonfall des stellvertretenden Regenten das Wort an Géza, das königliche Kind, das appetitlos in seinem Teller herumstocherte.
»Mein lieber guter Sohn, wie lange hast du heute die Ševčikschen Aufgaben geübt?«
»Drei Stunden vormittag und drei Stunden nachmittag«, antwortete versonnen Géza.
»Nun, was sagst du dazu, Freddie?« fragte Papa, und ein durchbohrender Blick traf den bereits Vierzehnjährigen.
III
Freddie ließ diesen Blick von sich abgleiten.
Er hatte sogar Papas Frage und den furchtbaren Vorwurf in ihr überhört, denn sein ganzes Sein war damit beschäftigt, Géza de Varsany anzuschauen, der um zwei Jahre jünger war als er und einer der größten Künstler unserer Zeit. Der Anblick des Wunderkindes – er konnte gar nicht fertig werden mit der Aufgabe – bewies die ganze heilige Wahrheit dieser Tatsache. Es war für Freddie ein unbekannter, schmerzhafter Genuß, Géza anzuschauen und anzuschauen, nein, sich vollzuatmen mit dem Bilde dieses himmelhoch überlegenen Wesens.
Die bewundernde Betrachtung begann schon beim Anzug. Während die Firma Czermak ihm, Freddie, in Papas Auftrag einen gewöhnlichen Abendrock zurechtgeschneidert hatte, der die etwas verkleinerte Ausgabe aller Herrensmokings der Welt war, trug Géza de Varsany ein ganz besonderes Kleid, welches er vermutlich dem fürsorglichen Feinsinn und der spekulativen Liebe seines Vaters verdankte: ein Röckchen von schwarzem Samt mit einem sehr breiten glänzenden Seidenrevers, der das Licht spiegelte. Das gefaltete Batisthemd darunter blühte in einem matten Schneeglöckchenweiß und lugte in der Form gebauschter, jabotartiger Manschetten aus den Ärmeln hervor. Ein breiter Umlegkragen im Etonstil und unter ihm eine ganz schmale seidene Binde vervollständigten das Bild, das Freddie gebannt hielt wie ein Schauspiel. Der ganze Anzug schien aufs trefflichste auszudrücken: der, welcher mich trägt, steht über aller Konvention, denn er wandelt mit den wenigen Namentlichen auf der Menschheit Höhen. Doch der, welcher mich trägt, ist auch ein Kind und ein kindliches Kind dazu. Komm, laß uns spielen!
In der Tat, Géza war sehr klein für sein Alter und sah gebrechlich aus. Neben ihm hatte Freddie das zerknirschte Körpergefühl eines plumpen Bierknechtes etwa in Gegenwart eines Heiligen. Er, der sonst immer mit seinen Muskeln prahlte und der strotzenden Kraft hörig war, wurde plötzlich von dem brennenden Wunsche angewandelt, so schmal und hinfällig und edel zu sein wie Géza de Varsany. Es wuchs in ihm eine beinah perverse Sehnsucht groß, krank zu werden und durchscheinend wie Wachs ...
Géza war durchscheinend wie Wachs, aber durchaus nicht krank. Sein fahles Gesichtchen wurde von zwei schwarzen Augen beherrscht, die einander ein wenig zu nahe standen. Diese Augen wanderten unaufmerksam umher und verrieten manchmal die Müdigkeit eines Kindes, das eigentlich ins Bett gehört zu dieser Stunde. Sie schienen dem Tischgespräch, das sich einzig und allein um ihn drehte, gar keine Beachtung zu schenken. Sie kannten dieses Gespräch schon bis in jede Wendung und in jede Nuance der väterlichen Stimme hinein. Sie gaben sich keine Mühe, das unbehagliche Faktum zu verschleiern, daß man sich wieder einmal unter todfremden Leuten befand, an deren Gesichter man schon morgen sich nicht mehr werde erinnern können, und daß dies aus beruflichen Gründen geschah, immer wieder von Stadt zu Stadt. Der Vater, der unwidersprochen das Leben lenkte wie Gott selbst, setzte der Mutter bei jeder Gelegenheit auseinander, man habe Einladungen vermögender Musikgönner unbedingt anzunehmen, weil man sich eine Partei schaffen müsse, weil die Konkurrenz auf dem Gebiet der Geige sehr groß sei und der Preis nicht gedrückt werden dürfe, auf welch letzteres ja das ganze Sinnen und Trachten der Konzertunternehmungen hinauslaufe. Géza de Varsanys melancholische Augen zeigten ebenso geringes Interesse an der Gesellschaft ringsum wie an dem glänzenden Preis, der nur dadurch hochgehalten wurde, daß man diese besuchte. Das alles ging den Vater an und nicht ihn. Gott weiß, wofür sich seine Augen interessierten, in denen kein Bild zu haften schien. Sehr oft klopften die unverhältnismäßig muskulösen Finger seiner linken Kinderhand auf den Tisch, als spielten sie Klavier.
Wurde aber Gézas Zerstreutheit zu auffällig, so geriet in den breiten ungarischen Tonfall Ladislaus de Varsanys, mit wem immer er sprach, ein Nebenklang, ein achtungsvoll drohender Schatten, der Gézas Augen zur Ordnung rief. Diese kamen darauf sogleich zu Bewußtsein und füllten sich mit einer routinierten Geistesanwesenheit, um freilich so schnell wie möglich wieder in die frühere leichtbekümmerte Leere zurückzusinken. Nur wenige Sekunden aber blieb sich der Sohn selbst überlassen, denn mit einer schwachen Zügelstraffung seiner Stimme brachte der Vater ihn wieder auf den Weg zurück. In dieser unablässigen, ja leidenschaftlichen Aufmerksamkeit des Vaters, die den Sohn nicht freigab, lag etwas Großartiges und Schreckliches zugleich. Mochte Géza noch so meisterhaft auf seiner Stradivarius spielen, Ladislaus spielte nicht minder meisterhaft auf Géza.
Während der ganzen langen Mahlzeit wandte Freddie sich nicht ein einziges Mal von Géza ab. Es war eine Konzentration von solcher Gier, daß ihm die Wurzeln seiner Haare wehe taten. Er beobachtete fast atemlos, wie das Wunderkind, wenn es gefragt wurde, seine höflich gemessenen Antworten gab, wie es aß, das heißt, den Bissen beinahe unmanierlich träge mit der Gabel zum Munde führte, während die andere Hand wie lahm im Schoße lag. Er beobachtete den Schwung, mit dem Géza seine dichten Locken zurückzuwerfen pflegte, wenn sie ihm in die gelbliche Kinderstirn fielen. Jede dieser Gebärden dünkte ihm eine Offenbarung der unnachahmlichsten Noblesse, eine stolze Preisgabe des einzigartigsten Künstlertums, kurz alles dessen, was das fremdartige und unheimliche Wort »Genie« umfaßte, das der Professor, indem er es zurückwies, als rechtens für seinen Sohn in Anspruch genommen hatte. Freddie hatte bisher geglaubt, dieses Wort gebühre einzig und allein jenen Großen der Vergangenheit, von denen man in der Schule gelangweilt lernt; (was man in der Schule lernt, ist ja nicht wirklich). Und nun saß die wirkliche Verkörperung dieses Wortes ihm gegenüber. Er machte die ganze Zeit nicht den Mund auf, obwohl er an Mamas rügendem Blick den stumpfsinnigen Eindruck ablesen konnte, den er bei der Tafelrunde erweckte. Mamas Augensprache ermahnte ihn immer wieder, eine Konversation mit Géza anzuknüpfen. Aber lieber wäre er in die Erde versunken, als den Gast mit seiner widerwärtig mutierenden Stimme zu fragen: »Gehst du auch in die Schule?« Oder »Nimmst du zu Hause Unterricht?« Oder »Interessierst du dich für Fußball?« Nein! Alle diese Fragen wären ihm im Halse steckengeblieben als eine niedrige Entweihung und barbarische Herabwürdigung Gézas. Da er sich jedoch heimlich sehnte, mit diesem höheren Wesen in Berührung zu kommen, blieb ihm nichts anderes übrig, als immer wieder den Blick des schüchtern Bewunderten zu suchen.
Damit aber hatte Freddie kein Glück. Es gelang ihm nicht, die gleichgültig wandernden Augen des Meisterkindes festzuhalten. Er war für Géza Luft. Warum sollte er auch für Géza etwas anderes sein als Luft? Freddie fand das ganz in Ordnung so, obwohl stets der bittersüße Schmerz des Verschmähtseins diesen mißglückten Annäherungsversuchen folgte. Nur einmal – die Eisbombe wurde bereits serviert – fing Freddie Gézas Blick ab. Die nächtigen Augen des kleinen Varsany standen still.
Zuerst war's nur der wohlerzogene Ausdruck freundlicher Dankespflicht, mit dem ein Umworbener den Beifall quittiert, wenn er sich auf dem Podium verneigt. In diesen Ausdruck aber mischte sich mehr und mehr die kleine Neugier. Diese kleine Neugier wurde plötzlich zum Blinzeln der Mitverschworenheit, der Mitverschworenheit des Knabenalters. Aus diesem Blinzeln der Mitverschworenheit entwickelte sich ein Lächeln, ein liebreizendes, spitzbübisches, beinahe schon kameradschaftlich. Und mehr als das noch, Géza spitzte auf einmal die Lippen, als wolle er dem Kameraden ein Signal über den Tisch hinüberpfeifen ... Freddies Herz begann entsetzlich zu klopfen. Auch er spitzte die Lippen.
Diesen Anfang eines Anfangs aber schnitt die tragende Stimme Ladislaus de Varsanys mitten entzwei. Er richtete nämlich in französischer Sprache eine Frage an seinen Sohn. Géza war sofort wieder bei der Sache. Er wußte genau, worum es ging und beantwortete in blendendem Französisch seines Vaters Frage. Der Professor setzte das einsame Gespräch mit seinem Sohne auf italienisch und zuletzt auf englisch fort, wobei er jedesmal im entsprechenden Idiom und in wohlgebauten Sätzen Erwiderung erhielt. Diese erstaunliche Prüfung aber ging keineswegs als radschlagende Zirkusnummer vor sich, sondern wie unabsichtlich und nebenbei, im Stile einer leichten Konversation, als sei es die gute alte Gewohnheit der Familie Varsany, sich alltags in mehreren Sprachen untereinander zu verständigen. Der Professor bot damit gewissermaßen der Tafelrunde das linguistische Dessert seiner Erziehungskunst an. Er hatte seine guten Gründe dazu. Niemand durfte ihm nachsagen, daß er, die einseitige Begabung über die Maßen fördernd, die allgemeine Ausbildung seines Sohnwunders vernachlässige, wie es in ähnlichen Fällen meist geschieht. Raunend wurde man sich einig darüber, daß nicht nur Géza ein in jeder Hinsicht überragendes Geschöpf sei, sondern sein Erzeuger ebenfalls ein bedeutender Mann.
Als später zur Krönung des wohlgelungenen Abends Ladislaus de Varsany das Heiligtum der Stradivarius vorsichtig aus Samt, Seide und Wolle wickelte, lehnte Freddie ganz gebrochen in einem Winkel des Klavierzimmers. Er sah, wie der kleine Gott die Geige ergriff, die viel zu mächtig für sein Maß zu sein schien, wie er sie mit frischem Entschluß unters Kinn klemmte und dann, tief sich beugend, mit energischen Doppelstrichen die Saiten zu stimmen begann. Géza aber war nicht mehr gebrechlich, sondern geradezu stämmig. Seine Füßchen in Lackpumps faßten kräftig Posto, so daß sein Körper auf ihnen sich frei hin und her wiegen konnte im Sturme der Musik. Er warf herrisch den Kopf zurück, womit er seinem Vater, der ihn begleitete, das Zeichen zum Anfang gab. Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich jäh verkehrt. Jetzt herrschte der königliche Knabe tyrannisch und unwidersprochen über den demütigen Fürsorger. Dieser hatte, das Programm galant entschuldigend, soeben verkündet:
»Nachdem man uns in diesem gastlichen Hause mit einem so köstlichen Souper bewirtet hat, beginnen wir mit keiner tiefen, aber dafür mit einer festlichen Musik. Polonaise von Wieniawski ...«
Géza schloß die Augen. Und dann fuhr das Unbekannte, das Unerhörte in ihn, das ihn niederzurennen trachtete. Der Satan des Rhythmus. Die Nüstern seines Näschens blähten sich, und sein Mund wurde brutal und alt. Er sog mit solcher Energie den Atem in sich, als wolle er mit ihm seine schmale Brust sprengen. Der in Jahrhunderten angesammelte Wohllaut der Cremonenser Geige brach los, zu groß und zu stolz für diesen Raum ...
Da aber Freddie von all dem Wohllaut nichts verstand, sondern nur die niederschmetternde Kraft fühlte, die diesen Wohllaut entfesselte, duckte er sich noch tiefer. Während die fülligen Passagen über die Saiten tollten und die graziösen Flageolets zum Steg hinaufglitten, dachte er an das so schnöde abgeschnittene Lächeln Gézas und an seine gespitzten Lippen. Am liebsten wäre er davongelaufen ...
IV
Nach dem Konzert wollte Mama Freddie die Gelegenheit geben, mit dem berühmten Gaste unter vier Augen zu sprechen, der Knabe mit dem Knaben. Sie versprach sich manches von dieser Unterhaltung für ihren ungelenken und unerweckten Sohn, der so wenig geistige Interessen verriet und jüngst fast eingeschlafen war, als sie ihm aus einem spannenden Buche über tibetanische Klöster vorgelesen hatte.
Freddie und Géza saßen somit allein in Mamas Ecksalon. Wiederum wanderten die schwermütigen Augen des Wunderkindes von einem Gegenstand zum andern, ohne sich mit dem Haussohne zu beschäftigen. Versunken für immer schien jene leise, mitverschworene Berührung zu sein, jener Anfang eines Anfangs. Géza de Varsany war nicht mehr müde und routiniert freundlich wie bei Tische. Die halbe Stunde Geigenspiels hatte ihn zweifellos aufgewühlt. Sein rechter Fuß klopfte nervös den Takt zu einer inneren Musik, die er nicht halten konnte, wie ein durchgehendes Pferd, so sehr sie ihn auch anstrengte. Über sein elfenbeinfarbenes Gesichtchen zuckte gequälte Ungeduld und Launenhaftigkeit. Er sprach kein Wort.
Auch Freddie sprach kein Wort. Er wußte genau, daß es sich jetzt gehört hätte, ein paar begeisterte Bemerkungen über Géza de Varsanys Spiel zu machen und dem Gaste seinen Dank abzustatten für das Konzert, das er seinem Vaterhause zu Ehren seines vierzehnten Geburtstages gewidmet hatte. Wie sehr Freddie sich aber auch sehnte, Géza die demütig wehe Verehrung verraten zu dürfen, die ihm seit Stunden den Atem nahm, er fand keinen Weg. Sollte er sich etwa über Musik im allgemeinen auslassen und über Gézas Kunst? Was verstand er davon? Es wäre gewiß der dümmste Kohl dabei herausgekommen. Professor Fiori hatte ihn als hoffnungslosen Fall aufgegeben. Nein, er wollte nicht zugleich lügen und sich blamieren! So ballte er krampfhaft seine Fäuste zusammen und schwieg mit wilder Tapferkeit zwei andere Minuten. Dann aber ließ sich die Stille nicht länger ertragen, und er mußte zurückweichen. Auch im Schweigen war Géza ihm überlegen, besaß er doch den Vorteil einer unermeßlichen, achtlos in sich selbst versunkenen Gleichgültigkeit.
Freddie räusperte sich also, holte Atem und seine Stimme brach häßlich mitten in dem nichtigen Fragesatz:
»Üben Sie jeden Tag sechs Stunden?«
Géza de Varsany betrachtete, während er antwortete, ein asiatisches Fabelwesen aus goldener Bronze, das auf dem Kamin zu schaukeln schien:
»Nein, nicht jeden Tag«, sagte er. »Sonntag vormittag fällt aus wegen der Messe, Mittwoch und Samstag nachmittag sind frei. Während einer Tournee arbeite ich natürlich so viel wie möglich.«
Géza vermied das Wort »üben«, weil es schülerhaft war. Das Wort »arbeiten« hingegen klang kalt und alt und abweisend sachlich für Freddies Ohren.
»Arbeiten Sie immer Ševčik?« fügte er nach einer Weile, das Gespräch weiterschleppend, hinzu, und weil Fiori selbst mit den ausgetüftelten Finger- und Bogenstrichübungen Śevćiks ihn ein ganzes Jahr lang gemartert hatte. »Ist das nicht sehr langweilig?«
Géza verfiel in den dozierenden Tonfall seines Vaters, sich tief ins Fauteuil zurücksetzend, so daß seine Beinchen den Boden nicht mehr berührten.
»Ševčik«, sagte er, »stellt in seinen fortgeschrittenen Übungen sehr komplizierte Probleme. Er versteht das Instrument wie kein anderer. Mir macht es viel Spaß, Probleme zu lösen ...«
Freddie sollte damit auf das hochmütigste belehrt werden, daß die männliche Überwindung technischer Schwierigkeiten das Um und Auf der Kunst sei. Ihre sentimentale Seite, die Glorie und das Mirakel, vom Pöbel angestaunt, ergebe sich als eine Nebenfolge der teils hartnäckig, teils spaßhaft gelösten »Probleme«. Freddie begriff nichts von diesem Snobismus des Eiskastens, der damals gerade in Mode war. Er begriff nur die hochmütige Zurückweisung durch einen ewig Überlegenen, und wiederum durchflutete ihn der bittere Schmerz des Verschmähtseins.
»Und Sie spielen alles auswendig?« sagte er leise.
Géza sah sein Gegenüber noch immer nicht an, sondern machte eine wegwerfende Geste, als bekomme er die lästige Verständnislosigkeit der Laienwelt langsam satt:
»Auswendig?« wiederholte er. »Man kann doch nicht anders musizieren als auswendig, außer bei Kammermusik. Auswendig ist doch selbstverständlich. Es bedeutet gar nichts. In meinem Alter lernt man sehr leicht ...«
Géza de Varsany distanzierte sich mit diesen Worten auf das nachdrücklichste von seinem Jugendalter, auf dem der größere Teil seines Erfolges beruhte. Er sprach vollbewußt wie ein reifer Mann, bei dem nur der Körper eines Wunderkindes angestellt ist. Freddie aber hatte alle seine Patronen verschossen. Er sagte nichts mehr. Neues Schweigen. Da aber wandte Géza seinem Gastgeber den Kopf zu und musterte ihn nicht ohne Strenge:
»Und was tun Sie?« fragte er mit leichter Schärfe.
»Ich ... ich ...« stammelte Freddie, und es war ihm, als hätte er mit den Lippen eine elektrische Leitung berührt. Es schmeckte sauer bis an die Zungenwurzel.
»Ja, Sie, ich frage, was Sie tun ...«
Freddies Kopf wurde sehr schwer, als er entgegnete:
»Ich ... Ich tue nichts ...«
Er war überzeugt, die volle Wahrheit zu sprechen. Denn in die Schule gehn, als rechter Flügelstürmer Fußball spielen, eislaufen, schwimmen, Marken sammeln und Detektivgeschichten lesen, das ist doch nichts, ärger als nichts!
»Nichts?« fragte Géza ziemlich spitz. »Und was tun Sie sonst?«
»Sonst tue ich auch nichts«, gestand Freddie, drückte die Fäuste auf die Magengrube und sah auf den Teppich.
»Das ist nicht viel«, meinte Géza de Varsany, und seine schwarzen Augen begannen wieder umherzuwandern und schienen nicht ohne Qual zu fragen: Warum muß ich meine Zeit in solchen Häusern und mit solchen Leuten verlieren?
»Entschuldigen Sie bitte«, schluckte Freddie und stand auf und ging hinaus ...
V
Freddie stand allein und gottverlassen in seinem Zimmerchen. Entsetzt blinzelte er in den Spiegel, aus dem ihm ein widerlicher Junge entgegenstierte; ein Junge mit breiten Schultern, einem viereckigen Kopf, niedriger Stirn, struppigem Haar und auseinanderstehenden Zähnen. Mit diesem häßlichen Burschen war er identisch, obwohl ihm das keineswegs natürlich und selbstverständlich vorkam, daß er mit sich selbst identisch war und in Zukunft identisch werde sein müssen. Es wäre ihm selbstverständlicher und willkommener gewesen, hätte er den Burschen im Spiegel entlassen können wie einen schlechten Dienstboten und sich selbst verwandeln in einen feinen schmalgesichtigen Jüngling, Géza de Varsany ähnlicher und würdiger. Das Spiegelbild wich aber nicht. Da half nichts. Man mußte sich selbst, diesen unangenehmen Fremden, gefaßt ertragen, eine ganze lange Existenz hindurch.
Was blieb ihm zu tun übrig? Man konnte sich töten, erstens! Dies aber war gar nicht so leicht, und Freddie empfand trotz seines Überdrusses an sich selbst kein Bedürfnis danach, sich zu töten. Man konnte zweitens der beste rechte Flügelstürmer Europas werden. Man würde der Champion der internationalen Wettspiele in Paris, Wien, Rom, Berlin und sogar in London sein.
Die Zeitungen berichteten über solche Wettspiele auf der ersten Seite in fetten Überschriften, und nicht auf der fünften und sechsten, kurz und versteckt, wie über die Konzerte von Geigenkünstlern. Doch ist es durchaus nicht leicht, ein großer rechter Flügelstürmer und Champion zu werden. Freddie weiß schon zuviel vom Sport, um sich billigen Illusionen hinzugeben. Er ist ein guter Naturläufer, gewiß! Aber an der Zielbewußtheit hapert's, wie der Trainer vor einiger Zeit festgestellt hat. Auch ist Philipp Moeller, sein Konkurrent, zwar nicht rascher als er, aber viel leichter gebaut und entschlußkräftiger im Kombinationsspiel. Und selbst wenn man der erste Flügelstürmer Europas werden sollte?! Wovon würde das Géza de Varsany überzeugen?!
Was blieb ihm sonst zu tun übrig? Da war der geheimnisvolle Mord an den beiden Greisinnen, die ein einsames Haus am Rande der Vorstadt bewohnten. Diesen Mord, mit dessen Enträtselung die Polizei vergeblich beschäftigt war, würde er, Freddie, ganz allein aufklären, zehn geeichten Detektiven von Scotland Yard zum Trotz. Mit höchster mathematischer Exaktheit würde er aus den dürftigen Spuren das große unbekannte X errechnen und den Täter – dieser, wer zweifelt daran, ist kein Raubmörder, sondern ein finsterer Rachegeist – auf seinen vielen phantastischen Winkelwegen durch all seine hundert Verkleidungen und Finten hindurch erbarmungslos verfolgen, um ihn schließlich, das letzte unerwartete Glied der Schlußkette im Triumph aufdeckend, vor den Augen einer erschauernden Welt mit eigener Hand zu verhaften.
Obwohl solche pathetische Wirrnis seinen Sinn durchwolkte, hatte aber Freddie nicht die geringste Lust, den geheimnisvollen Mord an zwei einsamen Greisinnen aufzuklären. Diese matten und unordentlichen Träume von einer bedeutenden Lebensrolle waren nur die Wiederholung dessen, was ihm meist vor dem Einschlafen durch den Kopf ging. Sie spiegelten keineswegs die Not, die ihn seit der Begegnung mit Geza de Varsany bis zum Kehlkopf erfüllte. Er war in Wirklichkeit gar nicht mit dem Sieg seines Ichs beschäftigt. Er wußte, daß er durch nichts seine eigene Größe und Gleichberechtigung werde beweisen können. Er war ja nicht groß und gleichberechtigt, sondern ganz im Gegenteil unterm Durchschnitt, und er wollte auch gar nichts beweisen; er wollte nicht einmal bemerkt werden von de Varsany, diesem unerreichbaren Genie, hocherhoben über alle Menschen, sondern ihm nur nahe sein dürfen und dienen. Ja, dienen!! Freddie fand den Einfall durchaus nicht absurd, der ihn mit einemmal bis in die Fingerspitzen durchglühte: ich werde jetzt zu Herrn Ladislaus de Varsany hinuntergehen und mich als Diener und Sekretär anbieten. Ich kann auf der Schreibmaschine Briefe schreiben. Papa verwendet mich manchmal dazu. Ich kann Schuhe putzen, Knöpfe annähen, Anzüge bügeln. Die Eisenbahn war von Kind auf meine Schwäche. Ich kenne die Fahrpläne der großen Züge auswendig. Madrid-Stockholm, Palermo-Moskau, Sofia-Köln! Die kompliziertesten Verbindungen zusammenzustellen, das ist für mich keine Hexerei. Ich werde es besser machen als jedes Reisebüro. Ich werde auch Geza aus ernsten Büchern vorlesen, wenn er von der Musik ausruht. Ich will sofort von meinen Eltern fordern, daß sie mich mit Geza gehen lassen. Meine Eltern wissen genau, daß ich zu nichts Besserem tauge. Ich will ja auch gar nichts Besseres, Herr Professor de Varsany, als der Diener und, wenn es geht, der Sekretär Ihres Sohnes sein. Im Rechnen, in der Mathematik bin ich recht gut. Auch in der Prozentrechnung ...
Es war eine ernste Sekunde in Freddies Leben, als er die Klinke niederdrückte, um hinabzugehen und diesen seinen Entschluß zu verwirklichen. Es kam aber anders, denn in der Tür stieß er mit Mama zusammen.
Mama war äußerst aufgebracht. War Mama aufgebracht, so bekam sie eine scharfe Pfauenstimme, in welcher der hochmütige Wunsch brannte, zu beleidigen. Weggeblasen waren da plötzlich alle Weisheitsbegriffe des heiligen Ostens, Gautama Buddho mitsamt seinem Nirwana, dem Schleier der Maja, der Nichtigkeit alles Erscheinungslebens, der Verwerflichkeit von Gier und Emotion, kurz jene ganze erhabene Welt, welcher Mama in ihrem Damenklub präsidierte. Bekam Mama die gewisse Pfauenstimme des Zorns, so ging Papa meist leise aus dem Zimmer, und auch Freddie wand sich vor Unbehagen. Er verabscheute Mama, wenn sie aufgebracht war wie jetzt und ihre Anklagen nur so hervorsprudelte:
»Das ist doch unerhört von dir, Freddie! Du verdirbst diesen Abend, den Papa und ich zur Nachfeier deines Geburtstages veranstaltet haben, also nur für dich. Einer der größten Künstler dieser Zeit gibt uns die Ehre, ein begnadetes Kind, das alle Welt verehrt, und spielt ein ganzes Programm in unserem Klavierzimmer. Du aber, der du ganz und gar nicht begnadet bist, statt ihm die Hände zu küssen und deinen Eltern dankbar zu sein, du räkelst dich bei Tisch herum wie ein ungehobelter Hausknecht, du bringst kein Wort heraus, du häufst dir den Teller voll und läßt ohne alle Manieren dein Essen stehn, als hätten wir nicht Miss O'Connor bei dir gehabt bis zu deinem elften Jahre; wenn Professor de Varsany spricht, dieser so bedeutende Mann, an dessen Munde du hängen solltest, ein fast erwachsener Vierzehnjähriger, da drehst du dich ostentativ weg. Nachher verschaffe ich dir, ich Idealistin, ein Tête-à-Tête mit unserem Ehrengast, diesem kleinen großen Meister, damit ihr ins Gespräch kommt, eure Meinungen austauscht – aber hast du überhaupt Meinungen? –, damit du etwas für dein Leben von diesem Abend lernst und hinübernimmst und rettest für deine Zukunft! Und du, du läßt den Ehrengast sitzen, den Meister, der von Königen, Staatspräsidenten, Ministern und Aristokraten verwöhnt wird, und absentierst dich! Warum hast du dich absentiert?!«
»Ich weiß es nicht, Mama«, sagte Freddie wahrheitsgemäß.
»Es ist die Verstocktheit in dir, Freddie«, zischte Mama und sah sehr unglücklich drein. »Ich kenne das. Du betest die Roheit an und nicht den Geist und nicht die Kultur. Es ist hoffnungslos, leider! Du willst dir von nichts und niemandem imponieren lassen ... glaubst du, ich hätte nicht gemerkt, wie kritisch du Géza de Varsany angestarrt hast die ganze Zeit, direkt entlarvend ...«
Freddie schwieg zu dieser erstaunlichen Feststellung:
»Jetzt gehst du augenblicklich hinunter«, befahl Mama, »und entschuldigst dich bei den Varsanys. Sie wollen aufbrechen ...«
»Ich gehe nicht hinunter, Mama«, sagte Freddie mit erstickter Stimme.
»Es ist höchste Zeit«, drängte sie, »du darfst mich nicht aufhalten. Die de Varsanys nehmen schon Abschied. Sie müssen morgen bereits um neun Uhr früh abreisen! Du kommst mit mir, Freddie ...«
»Nein, ich bleibe hier, Mama«, sagte Freddie, und es klang so, als denke er sehr angestrengt nach. Der große Entschluß, so ernst gefaßt, war hingeschmolzen an Mamas ätzender Stimme. Freddie fühlte sich, wie ein entgleister Zug sich fühlen mag. Er wird nicht Gézas Diener und Sekretär sein. Die Varsanys verschwinden morgen um 9 Uhr früh aus der Stadt. Die Konzertreise führt sie nach Stockholm, Bukarest, Buenos Aires oder New York. Géza hat mich schon jetzt vergessen. Ich werde ihn nie mehr wiedersehn ...
Mama, die ihren Willen nicht durchgesetzt hatte, schraubte die Stimme hoch bis zu ihrem feindseligsten Grad:
»Ich weiß nicht«, klagte sie, »warum ich, gerade ich ein Kind habe, das auf einer so niedrigen Stufe der Wiedergeburt steht ... Tu was du willst, Freddie! Du wirst nie und nimmer eine Seele haben!«
Nach diesem Peitschenhieb schickte Mama sich an, das Zimmer zu verlassen. Noch ehe sich aber die Tür geöffnet hatte, sank Freddie langsam, ja beinahe nachdenklich, vor seiner Couch auf die Knie und verbarg sein Gesicht. Mama erschrak. Sie trat eilig hinzu und fuhr mit dem Griff aller Mütter dem Knaben unter den Hemdkragen:
»Du hast ja Fieber, Freddie«, flüsterte sie plötzlich weich und schuldbewußten Tones. Freddie schüttelte heftig den Kopf, während erstickte Konvulsionen seinen Rücken hinunterliefen. – Er hatte kein Fieber. Er hatte etwas weit Schlimmeres als Fieber. Er hatte Seele. Er hatte jene Seele, die ihm seine Mutter absprach. Aber was wissen die Väter und Mütter? Freddies Seele war durch die jähe und fassungslose Bewunderung für das unerreichbar Höhere aus ihrem Puppenstand aufgestört worden. Nicht einmal Liebe ist ein grimmigerer Stachel als diese Bewunderung für das Höhere, wer immer es verkörpere. Seele aber heißt jenes Gebrechen, von dem man sich nicht mehr erholt bis zur Todesstunde und vermutlich auch nachher nicht. Freddie hat sich gewiß nicht erholt davon, was auch aus ihm geworden sein mag, heute, zwanzig Jahre nach dem denkwürdigen Abend mit dem inzwischen längst verschollenen Géza de Varsany.