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Diesem Ausruf hatte ich es zu verdanken, daß mich Saverio nicht mit den andern entließ.
Während die Gesellschaft sich empfahl, – es geschah recht unvermittelt, – war er nicht mehr der Mensch jenes heimlichen Aufschluchzens und Zähneknirschens, sondern wieder ein eleganter Hausherr und phrasengeschniegelter Lebemann, der den frühen Weggang der Freunde bedauerte und mit streichelnder Stimme insbesondere den Abschied von den beiden Schönen beklagte. Die Charakterlosigkeit einer solch raschen Wandlung war kaum zu glauben. Selbst Mondhaus, der ihm so Böses zugefügt hatte, wurde eifrig ermuntert, wiederzukommen. Auch der große Maler schied, mit Dank für seinen Besuch überhäuft.
Da aber ich als Letzter gehen wollte, drängten mich Saverios Hände mit pressendem Druck ins Atelier zurück.
Wir waren allein. Ich muß gestehn, daß ich jetzt etwas ›erwartete‹, sagen wir: ›Die Wahrheit‹. Ich wurde enttäuscht. Denn Saverio rannte, peinlich übertrieben, durch den Raum und ereiferte sich:
»Gibt es größere Schurken, als Künstler? Haben Sie ihn beobachtet?«
Er nannte den Namen der Berühmtheit:
»Kein andrer Hochmut kann so satanisch sein! Haben Sie gefühlt, wie der Farbensimpel mich verachtet, weil mein Bild nicht die gültige Couleur hat? Gar nicht angeschaut hat er's. Derartiges existiert für ihn nicht. ›Dunkle Sauce‹, denkt er, ›als hätten niemals Franzosen gelebt!‹ Wie sicher er ist, der beschränkte Kerl! Er könnte sich gar nicht vorstellen, daß es einen andern Weg gibt, als den seinen.«
Saverio machte ein gequältes Gesicht, wie einer, dem wider Willen das Wort im Munde unwahr wird. Er rannte noch immer umher. Dann rief er:
»Glauben Sie nicht, daß auch ich ringe?«
Das alles war so exageriert vorgebracht, daß ich kein Wort fand. Auch geht mir der Ausdruck ›Ringen‹ gegen den Appetit. Der Erregte überfiel wieder meine Hand:
»Sie allein haben mich verstanden!«
Etwas in meinen Augen schien ihn zu ärgern. Denn er wurde plötzlich ganz gelb und änderte den Ton:
»Haben Sie mein Bild genau gesehn?«
Diese Frage verwirrte mich so sehr, daß ich nicht wußte (und bis zu diesem Augenblick nicht weiß), ob ich das seelenvolle Männerbildnis wirklich gesehen habe oder nicht. Aber ich entgegnete mit Festigkeit:
»Genau!«
»Überlegen Sie sich's! Könnten Sie einen Eid ablegen, den Kopf gesehn zu haben?«
Trotzdem ich meinen Zweifel nicht zu überwinden vermochte, sah ich ihm in die Augen und sagte:
»Ja!«
Er aber zwinkerte:
»Und was, wenn dieser Kopf nur Suggestion ist?«
War er so geltungshungrig, daß es ihm auf einmal gefiel, statt des Malers den Hexenmeister zu spielen? Ich lachte:
»Leider bin ich kein Medium. Suggestion wäre Ihnen bei mir nicht gelungen. Übrigens versuchen Sie es doch noch einmal! Wo ist das Bild?«
Er schwieg und schaltete die Beleuchtung ein, so daß ein höchst unangenehmes Zwielicht entstand, denn draußen war es noch lange nicht Nacht. Nun kam er ganz nah an mich heran und sprach leise, als müsse er Schmerzhaftes verraten:
»Sie sind ein Freund von Herrn Mondhaus! Und Herr Mondhaus hat Ihnen gewiß angedeutet, daß ich kein Maler bin.«
Ich verwahrte mich energisch!
»Ich bin kein Freund von Herrn Mondhaus. Aber es ist wahr, daß er davon überzeugt ist, daß Sie kein Maler sind.«
»Und was glauben Sie?«
»Ich habe Ihr merkwürdiges Bild gesehn und glaube unbedingt, daß Sie es gemalt haben.«
Saverio schien von meinem Credo gar nicht besonders erfreut. Vielleicht mißtraute er mir:
»Warum glauben Sie es? Was gibt Ihnen denn das Recht, es zu glauben?«
»Darauf habe ich keine Antwort.«
Saverio blieb hartnäckig:
»Nehmen wir zum Beispiel an, ich hätte irgend eine alte verräucherte Schwarte gegen das Licht gehalten ...«
Ich schwieg. Saverio aber hob das Wort ›Freund‹ hervor, um mich zu ärgern:
»Ihr Freund, Herr Mondhaus, hat Ihnen noch andre Eröffnungen über mich gemacht. Mein Haus sei das Geschäftslokal von Barbieri. Was? Ich sei eine Art Zuhälter von ihm. Was? Meine Aufgabe wäre es, reiche Amerikaner hereinzulegen. Was?«
Ich erklärte, daß mich diese Tatsachen alle nicht interessierten. Saverio aber lief durchs Atelier und behauptete, wobei sein Wesen wiederum eine unangenehme Süßlichkeit annahm, er wäre leider Ästhet und könne ohne eine Umgebung von schönen Dingen nicht leben. Dann aber gab er sich seinem Haß hin:
»Was das für Durchschauer sind, diese Mondhäuser! Sie sehen wirklich alles, was zu sehen ist. Mondhaus! Finden Sie nicht, daß alle Menschen den richtigen Namen tragen?« Er blieb stehen:
»Mond! Vom Mond sieht man immer nur eine Seite, nicht wahr?«
Aber ehe ich noch darauf antworten konnte, erklärte er:
»Sie müssen wissen, ich bin sehr ungebildet, habe viel zuwenig gelernt.«
Auch dieses Geständnis erschien mir unglaubwürdig.
Er fixierte mich:
»Wie alt sind Sie?«
»Anfang Dreißig!«
»Und Sie sollen berühmt sein? Wie?«
»Von allen Leiden drückt mich der Ruhm am wenigsten.«
Er blieb tiefernst:
»Ich werde Ihnen etwas sagen: Versuchen Sie es erst mit Vierzig berühmt zu werden! Aber schön langsam! Nach und nach!«
Ich wunderte mich über dieses Rezept:
»Warum geben Sie mir so einen komischen Rat?«
Er dozierte:
»Warum? Weil Ihnen dann nicht mehr viel passieren kann. Denn, Herr, es ist schrecklich, berühmt gewesen zu sein!«
Trotzdem auch dieser Satz reichlich bombastisch klang, fühlte ich eine Scheu, weiter zu fragen. Er aber schaltete aus unverständlichen Gründen die Deckenbeleuchtung wieder aus und ließ nur eine entfernte Stehlampe brennen, wodurch das fortgeschrittene Zwielicht noch deprimierender wurde. Dann meinte er, um mir Mut zu machen:
»Es ist noch Ruhm genug übrig für einen Dichter. Nehmen Sie Dante! Der Unglücksmensch hat Hölle, Fegefeuer, Paradies verfaßt, aber den Wald ist er uns schuldig geblieben.«
Saverio stellte sich wie ein betrübter alter Komödiant in Positur und begann die ersten Terzinen der Commedia zu rezitieren.
Ich muß an dieser Stelle eine Erinnerung einschalten: Während des Krieges kam ich einmal nach Gemona, einer kleinen Stadt in den venezianischen Alpen, wo ein österreichisches Korpskommando lag. Als einzelreisender Soldat, der seine Truppe suchte, also nirgends hingehörte, fand ich in den überfüllten Ubikationen des Städtchens kein Quartier. Gegen Abend geriet ich, auf einem Spaziergang außerhalb des Ortes, in einen größeren Bauernhof, wo man mich freundlich aufnahm. Merkwürdigerweise war das Anwesen von einer Einquartierung verschont geblieben. Ich erhielt – es kam mir wie ein Wunder vor – ein eigenes Zimmerchen mit einem weißen Bett, gut genug für einen General, so daß ich die ganze Zeit Angst hatte, aus dieser sauberen Kammer, die meiner militärischen Charge nicht gebührte, verjagt zu werden. Meine Wirte, ein alter Bauer und eine lange, hagere Bäuerin, die merkten, daß ich nichts zu essen hatte und verbotenerweise schon die ›eiserne Ration‹ hervorzog, luden mich in ihre Stube ein. Dort bekam ich Polenta vorgesetzt und einen guten roten Wein. Die Eheleute, die selber auf italienischer Seite zwei Söhne im Krieg hatten, und denen ich aus diesem oder einem andern Grund sympathisch war, schenkten mir sehr eifrig ein und tranken ebenso eifrig mit. Vom Wein und von einer starken Sympathie für das Paar erregt, begann ich von meiner Liebe für das italienische Volk zu sprechen, um so begeisterter, als ich in feindlicher Uniform die Gastfreundschaft eines italienischen Hauses genoß. Ich hatte mich in Hitze geredet und erzählte diesen alten Bauersleuten von dem Glück, das ich in meinem Leben durch die italienische Musik erfahren habe; dabei war ich mir in meinem leichten Rausche bewußt, daß ich kaum verstanden werden würde. Aber ich wurde wunderbar verstanden. Denn das hagere Weib, das mir die ganze Zeit über stumm zugehört hatte, sprang plötzlich auf und stand in ihrem schwarzen, verwetzten Kleide groß in diesem niederen Raume da, die Megäre einer finsteren Begeisterung. Und ohne abzusetzen, ohne sich zu verwirren, rezitierte die alte abgearbeitete Bäuerin in langhintönenden Versen den ganzen ersten Gesang der Göttlichen Komödie. Es war nicht Prahlerei, was noch immer großartig genug gewesen wäre, es war keine irgendwann erlernte Deklamation, es war ein feurig-erbitterter Ausbruch von Patriotismus, mehr als das, von Rasse.
In dem großen Bauerngemach von Gemona hatte mich damals zum erstenmal das strenge Wunder des lateinischen Blutes angeweht.
Und jetzt nach langer Zeit hörte ich den Schall dieser Terzinen wieder, aus dem Munde Saverios. Aber es war in schauspielerhaftem Hohlklang nichts als billigste Banalität, die verstimmte, ein Beweis geradezu für Fremdstämmigkeit, nein, für trüben Rassenmangel. Vorhin hatte er von seiner Unbildung gesprochen. Jetzt wollte er mich – das war ganz seine Art – durch diesen schallenden Vortrag vom Gegenteil überzeugen. Ich empfand in diesem Moment, Saverios Unglück müsse im Körperlichen liegen. Derartige Empfindungen aber lassen sich schwer begründen. Er hatte seine Deklamation beendet und zog den Schluß:
»Was geht mich Inferno, Purgatorio, Paradiso an? Vom Walde will ich hören, von der ›selva oscura‹! Der Wald, in dem alles verkehrt ist, wo jeder Schritt ins Ausweglose führt, diesen Wald dichten Sie uns, mein Lieber ...«
Er setzte sich schweratmend nieder. Die Terzinen hatten ihn erschöpft. Seine Augen, bemerkte ich jetzt, waren ungewöhnlich klein und tiefliegend. Während er bisher nicht geraucht hatte, steckte er sich nun eine Zigarette an. Die Bewegung, mit der er aus einer Kassette die russische Zigarette mit langem Papiermundstück holte, war hastig und schuldbewußt, als breche er ein Gelübde damit. Von diesem Moment an hörte er nicht mehr auf, zu rauchen. Er sah mich, sehnsüchtig seinen ganzen Körper mit dem Aroma befriedigend, wie ein Verschwörer an:
»Sie sind, schätze ich, ein äußerst leichtgläubiger Mensch ... Übrigens glauben Sie, bitte, was Sie wollen!«
Da beschlich mich ein Leiden um diesen Mann. Vielleicht merkte er etwas, denn er wurde grob:
»Mit Zwanzig und Dreißig hat man kein Talent zu haben! Wissen Sie denn, wie das Talent einen Menschen vergiftet?! Was ist der ganze Erfolg unseres Genies, meines berühmten Gastes? Seine Talentlosigkeit, sage ich Ihnen. Sie stählt die Energie wie eine dauernde Kaltwasserkur. Mit zwanzig Jahren war der Mann gewiß ein öder Büffler, und noch heute muß er bei der kleinsten Steigung die Vollkraft einschalten. Aber er kennt seinen Wagen! Ein Maler, Maler, Maler! Er hat nicht eine Stunde wirklich gelebt. Aber von diesen Schwerarbeitern geht der ganze neidige Haß und Hochmut aus ...«
Er fuhr wütend auf und schlug sich übertrieben gegen das Herz, daß es hallte:
»Jeder hat sein Tabernakel!«
Eine Ahnung dämmerte in mir. Ich trat dicht vor Saverio hin:
»Ich bin überzeugt, daß in Ihnen noch immer die Kraft lebt. Der Kopf, den Sie uns heute gezeigt oder besser, verborgen haben, beweist es!«
Er sah an mir vorbei:
»Sie glauben also wirklich, daß ich nicht nur ein Antiquitätenagent et cetera bin?«
Saverio machte ein paar willensschwache Handbewegungen; er schien mit sich zu kämpfen:
»Ich kann Ihnen ja den Beweis erbringen.«
Er umkreiste zögernd den Schreibtisch, machte auf einmal halt und riß mit wilder Geste aus der Schublade eine gelbgeheftete Broschüre, die er mir hinreichte. Dabei stieß er schnell hervor, als müsse er sich zu einer Schmach bekennen:
»Ausstellungskatalog!«
Aber kaum hielt ich die Broschüre in der Hand und wollte den Titel lesen, entriß er sie mir wieder. Es war der nämliche Ruck, das nämliche Versteckenspiel, die gleiche Scham wie vorhin bei der Zeigung seines Bildes. Das Schicksal aber fügte es, daß durch den Ruck das Titelblatt zerriß und ich ein Stück schlechtes ausgezacktes Papier in der Hand hielt, worauf nichts anderes zu erkennen war als der Verlagsort – Paris – und die Endsilbe von Saverios Namen, die auf die Hälfte aller italienischen Namen paßt. Dieses Mißgeschick machte ihm außerordentliches Vergnügen. Er höhnte:
»Haben Sie gelesen?«
Ich bot ihm die Stirn und log:
»Ich habe Ihren Namen auf dem Titelblatt gelesen!«
Er amüsierte sich:
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Nun aber konnte ich meinen Ärger nicht länger beherrschen. Er sollte nicht allzu leichtes Spiel haben:
»Ich hätte die größte Lust, Ihre neuen Arbeiten zu sehn!«
Er lachte noch immer:
»Wer sagt Ihnen, daß ich ein Künstler bin oder jemals war?«
»Sie selbst haben von einem Auftrag in Arosa gesprochen!«
»Und Sie sind der Meinung, daß ich nach Arosa fahre?«
»Warum soll ich daran zweifeln?«
»Und Sie halten diese Koffer für gepackt und reisefertig?«
»Selbstverständlich! Sonst würden sie nicht im Wohnraum stehn!«
Da kam ein zugleich füchsischer und irrer Ausdruck in Saverios Züge, ein häßlicher Triumph. Er lief zu dem Gepäck, ergriff die Stücke und warf sie leichter Hand in den Raum. Die Taschen öffneten sich, die Koffer klafften, Einlagen fielen heraus. Und alles war leer.
Jetzt packte ich seine Hand:
»Wozu tun Sie das? Wen mystifizieren Sie?«
Der füchsische Ausdruck verstärkte sich. Er sah wirklich aus wie ein gemeiner Agent. Seine dicke Unterlippe bebte:
»Wen ich mystifiziere? Sie selbst haben doch mein Bild gesehn und gelobt! Wozu ich das tue? Fragen Sie Mondhaus! Mondhaus weiß alles, Ihr Freund! Alle wissen alles ...«
Saverio hatte dies weder geschrien noch auch vorhin, während er die Koffer ins Zimmer warf, sich angestrengt. Und doch geschah etwas, was ich noch bei keinem Menschen gesehn habe. Ohne Grund begann es auf seiner Stirn zu perlen, über seine Wangen liefen immer schneller dicke Tropfen, und selbst das schwarze Haar wurde sichtbar feucht. Es war ein starker, unverständlicher Schweißausbruch. Wenn man es so sagen darf, der schwere Körper des Mannes weinte aus allen Poren. Er selber aber schien nichts zu bemerken. Unvermittelt und geradezu unhöflich kam es:
»Schade, daß Sie mich schon verlassen wollen!«
Trotz dieser brüsken Verabschiedung entschloß ich mich nur mit schlechtem Gewissen, davonzugehen. Was für einen Abend würde Saverio mit sich allein erleben!?
Ich habe ihm den beleidigenden Abschied niemals übelgenommen.
Er aber verwandelte sich sofort wieder in den geleckten Salonmenschen, zog allerhand freundliche Erkundigungen ein, half mir in meinen Mantel, tat besorgt, daß ich gut nach Hause komme. Zum Schluß geleitete er mich zur großen Treppe, die von der Halle ins Stockwerk führt. Hier brach für einen Augenblick das andre Wesen wieder durch seine Maske. Er fragte:
»Sie sind doch ein gesunder Mensch?«
Ich starrte ihn an.
Er tätschelte meine Hand:
»Dann ist ja alles gut und Sie müssen keine Angst haben. Ich danke Ihnen. Es war wirklich eine entzückende Stunde, die Sie mir geschenkt haben ...«
Ich wollte ihm gerade die Hand reichen, als ich sah, daß ein junges Mädchen die Stufen heraufkam. Um dem neuen Besuch nicht unhöflicherweise auf der Treppe zu begegnen, wartete ich. Die schmale und elegante Erscheinung aber stieg langsam Stufe für Stufe empor. Ich wunderte mich darüber, daß dieses Mädchen einen Schleier vor dem Gesichte trug, was zur heutigen Mode in einem auffälligen Gegensatz steht. Saverio stellte mich vor und nannte den Namen des Gastes: Contessa Fagarazzi.
Er küßte ihr die Hand und fragte dabei nicht ohne Strenge, warum sie so spät erst komme. Die Dame schlug den Schleier zurück und ich erkannte das emaillierte, paraffinierte Gesicht einer alten Frau, dessen Verwüstung durch Starrheit und Glätte des Überzugs nur noch deutlicher wurde. Sie wollte Antwort geben, aber kaum hatte sie ein paar Worte gesprochen, als ihr violettgefärbter Mund von einer Art Veitstanz ergriffen wurde, sich krampfte, spitzte, drehte, krümmte, und von Zuckungen hin und her gerissen ward.
Dieser nervöse Mund-Tick war mir nichts Neues. In meiner Kindheit habe ich mich vor einer alten Person gefürchtet, die von demselben Übel besessen, durch die Straßen lief. Die Kinderfrauen erzählten untereinander, sie wäre eine boshafte Klatschbase gewesen und ihr Leiden sei die Gerechtigkeit Gottes. Ganz abergläubisch ist diese Auffassung nicht, wenn man bedenkt, daß oft das Schicksal den menschlichen Körper in seinen hervorragenden oder sündigenden Organen trifft.
Die Contessa Fagarazzi machte den Eindruck einer gequälten Frau, die eine hastige Sache ausplaudern will, aber keinen Ton hervorbringt. Saverio sah eine Weile dieser Besessenheit mit Ekel zu, dann befahl er:
»Gehn Sie hinein!«
Die Frau gehorchte demütig.
Er entließ mich daraufhin mit noch gesteigerter Herzlichkeit. Mir aber fiel sofort auf, daß er mich, im Gegensatz zu den übrigen Gästen, nicht aufgefordert hatte, ihn wieder zu besuchen.
Ich mußte, um nach Hause zu kommen, in der Lagunenstation F. das Dampfboot nehmen. Die Spätherbstnacht war voll Gefahr. Man atmete einen verpesteten Nebel und Wasserfäulnis ein. Meine frierende Müdigkeit stellte sich immer die gleichen monotonen Fragen:
»Habe ich das Gesicht auf dem Bilde wirklich gesehn?« – »Ist er ein eitler Schwindler, ein paradoxer Wichtigtuer, oder tatsächlich ein Maler?« – »Steht auf dem Ausstellungskatalog sein Name?« – »Was hat er mit seinen dunklen Andeutungen über Talent und Jugendruhm beabsichtigt? Umgibt er sich mit einem sentimentalen Nimbus, um seine Händlerexistenz zu entschuldigen?« – »Was sucht die alte Schachtel mit dem nervösen Tick am Abend bei ihm?« – »Warum fragt er mich, ob ich gesund sei?« – »Warum hat er mir Eröffnungen gemacht, und mich dann nicht mehr eingeladen?«
Am stärksten aber beschäftigte mich immer wieder die Frage nach der Wirklichkeit des Gesichtes auf dem Männerbildnis.
Die Rätsel waren nicht zu lösen.
Je länger aber die Fahrt dauerte, um so deutlicher empfand ich, daß dieser Saverio trotz allem – ich kann es nicht glaubhafter ausdrücken – ein Mensch von unerklärlicher Einwirkungskraft war.
Ich warnte mich vor mir selber, vor dem Illusionisten, der in mir steckt. Andre Leute würden gar nichts an dem Manne finden und ich selbst hätte noch längst nicht die Reife, Wirkliches zu erkennen und fiele immer wieder der romantischen Sucht zum Opfer, das ›Interessante‹ in die Menschen hineinzukonstruieren. Es könnte mir doch höchst gleichgültig sein, ob Saverio ein Maler sei oder nicht. Wie bedeutungslos wäre diese Frage ...
Nein! Sie war doch nicht bedeutungslos. Das Malersein hatte hier einen andern Sinn, es war symbolisch für eine höhere Existenz, die sich gegen einen niederen Anschein nicht durchsetzen konnte.
Wie quälend! Ich versuchte, an diese Dinge nicht mehr denken zu müssen! Aber ich kam nicht los davon, was bei dem raschen Ablauf meiner Gedankenbilder eine Seltenheit ist.
Auf dieser Dampferfahrt erfüllte mich der fremde Mensch von Minute zu Minute zudringlicher. Ich legte mir endlich eine gläubige Deutung zurecht, wobei ich aber das unangenehme Lachen Mondhausens nicht aus dem Ohr bekam:
– Saverio ist ein genialer junger Mensch gewesen. Seine ersten Arbeiten haben außerordentlichen Erfolg gehabt. Er war aber leider nur eine jener Begabungen, die mit der Jugend absterben. Deshalb hat er von der vergiftenden Wirkung des frühen Talents und frühen Ruhms gesprochen. Seit zwanzig Jahren malt er keinen Strich mehr. Diese Unfruchtbarkeit ist die Quelle seiner Leiden und Lügen. Er hält die Fiktion der Kunst aufrecht, weiß aber genau, daß man ihn durchschaut. –
So etwa lautete die Deutung, die ich mir auf dem Schiff damals zurechtlegte.
Merkwürdigerweise hatte ich in dieser Stunde eine ungefähre Vorstellung von den Bildern, die der junge Saverio einst gemalt haben mochte. Sie verband sich mit dem Eindruck, den in meiner Jugend Gabriel Max auf mich gemacht hatte, einer jener Maler, der durch die Woge des französischen Impressionismus und der seither zur Herrschaft gelangten Kunstauffassung verschlungen worden ist und jetzt alle Geltung verloren hat.
Ich mußte an Maxens ›Seherin von Prevorst‹ denken: – ein schlechtes Bild sagt man –, aber mir ist es einmal ein starkes Erlebnis gewesen, dieses durchscheinende Mädchen, das auf dem Totenbette die okkulten Zirkel und Pläne jenseitiger Welten bestarrt. Ihr Antlitz und andre leidens- und wissensgezeichnete Köpfe zogen an mir vorüber, und alle hatte sie jener Mann gemalt, der bestenfalls aus Triest stammte, dem prächtigsten aller Antiquitäten-Geschäftslokale vorstand, in Arosa eine Filiale für Ski-Ausrüstung unterhielt und als tadellos-modern kostümierter Weidmann in Dantes Wald (ein Wegweiser trug die Aufschrift ›Selva oscura‹) auf Pantherjagd ging. Er war aber nicht allein. Verliebt schritt an seinem Arm ein junges Mädchen mit einem uralten, armen Gesicht, dessen Name mir bekannt war: Margarete Maultasch.
Dies alles zog vorbei und ich schlief ein.
Aber immer wieder fuhr ich aus meinem traurigen Schlaf, denn viele Grammophone heulten mir ins Ohr, das elektrische Klavier donnerte und unter mir stampfte die Schiffsmaschine.