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Was hatte sich entschieden? Was war geschehen?
Heute weiß ich die Antwort. Ein Werk der Vernichtung hatte begonnen. Mit meinem Lachen, mit dem Ringkampf, in dem ich Sieger geblieben war, hatte es begonnen, um nach fünfundzwanzig Jahren im Untersuchungsgefängnis zu enden. Wahrlich, ein langes, ein geheimnisvolles Vernichtungswerk, von dem ich selber nichts ahnte, dessen Herr ich nicht war.
Wenn auch hundert vernünftige Stimmen in mir zweifeln, daß es so ist, wie es ist, mir liegt ein Druck auf der Brust, und ich schreibe. Ich sehe, daß meine Hand schon das sechste Blatt mit flitzenden Stenogrammen bedeckt. Wie sinnlos!
Dabei weiß ich gar nicht, ob meine fliegende Hand wirklich das niederschreibt, was die Erinnerung in mir denkt.
Es ist drei Uhr früh. Ich bin nicht müde. Ich bin frisch wie selten, aber dennoch so sonderbar bewußtlos. Diese Bewußtlosigkeit macht meinen Geist schweben. Ich brauche für einen mittelmäßigen Brief manchmal eine volle Stunde. Jetzt aber trabt es vor meinen Augen dahin, lange Reiterscharen von ungestalten, vielfarbigen Dingen. Ja, es reitet, es trabt vor mir dahin wie zu federnder Militärmusik.
Drei Uhr! Heute ist Sonntag. Ein langer, langer Sonntag ...
Bald zeigte es sich, was geschehen war. Ein allmählicher Übergang fehlte.
Seit jenem Lachen und jenem Zweikampf lachte ich selbst nicht mehr über Adler. Im Gegenteil! Ich suchte sein Vertrauen. Er hatte seine belehrende Haltung mir gegenüber aufgegeben. Ich lachte nicht mehr, aber andere lachten. Schon in der nächsten Turnstunde begann es, als Adler am Reck die Sitzwelle auszuführen hatte. Und aus dem Turnsaal wanderte es bald ins Klassenzimmer ...
Mein Lachen war aufgegangen wie eine Saat. In vielen Kehlen keimte es nun. Diesem plötzlichen Gelächter war es gelungen, Adlers Autorität, der sich selbst der stramme Turnlehrer gebeugt hatte, zu zerstören. Es hatte wie durch Zauberei die Ehrfurcht vernichtet, die man überragender Geistigkeit zollte, und das Wohlwollen aufgekündigt, das selbst Knaben einem ungeschickten Körper zubilligen.
Die Mitglieder des Sportklubs, denen Adler die ›Seele‹ geschenkt hatte, nahmen jede Gelegenheit wahr, sich im Auslachen hervorzutun. Sie warfen triumphierend die Fremdherrschaft des Intellekts ab. Aber auch Ressl, Schulhof und Faltin waren unsicher geworden, selbst Burda, alle, bis vielleicht auf Bland. Wenige Knabenwochen genügten, um das Verhältnis der Klasse zu Adler von Grund auf zu verändern.
Die alte Bewunderung der Seinen war natürlich noch nicht verschwunden, aber von einem gutmütigen Spott überspült. Die lächerlichen Eigenschaften des Hochbegabten lagen ja klar zu Tage. Man war überzeugt, daß man sie immer gesehen hatte. Nicht nur sein körperliches Ungeschick war mit einem Male ein Gegenstand des Vergnügens geworden, auch seine Sprechart, ja selbst die tiefsinnig-umschweifenden Antworten, die einst seinem Ruhme gedient hatten, fingen an belustigend zu wirken.
Steht dieser Satz nicht irgendwo in den Evangelien? »Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Narr, der sei des höllischen Feuers schuldig!«
Immer deutlicher hörbar ward in der Sexta des Nikolausgymnasiums das Wort: Du Narr.
Ich lachte nicht. Aber Schulhof, Ressl und andere lachten, wenn Kio mit einer plötzlichen Frage Adler aus seinem feierlichen Starren weckte und dieser steif-stammelnd seine Gedanken in Worte zu kleiden suchte. Auch auf Kio schien die neue Strömung übergesprungen zu sein. Früher hatte er dem Sinn von Adlers Antworten nachgespürt und sie in seine eigene Sprache übersetzt. Jetzt aber, durch das Gelächter der Schüler betroffen und zornig, schrie er Adler an: »Was nehmen Sie hier für einen Galimathias vor? Ich glaube, es ist eine Verhöhnung meiner Person!«
Das Gelächter aber schwoll, von Kios Komik genährt, nur noch stärker an.
Hätte Adler jetzt Widerstand geleistet, hätte er sich gegen das Lachen gewehrt, in den Tagen der Gefahr die Zügel angezogen, daheim gelernt und der Klasse den Meister gezeigt, er wäre ohne Zweifel gerettet gewesen. Aber dies war es ja. Adler schien vollkommen gelähmt zu sein, er schien in dem Ringkampf, wo er seine Kräfte so sehr überspannt hatte, sich selbst verloren zu haben. Er ließ sich zum Bettler machen, ohne die Hand zu rühren. Noch heute verstehe ich es nicht. Niemals sah ich einen wehrloseren Menschen als ihn. Aber er hielt nicht nur still sein Haupt dem wachsenden Hohne hin, das Schrecklichste war etwas anderes.
Einmal, als er wieder eine seiner mystisch-verworrenen Antworten gestottert und Kio ihn in die Bank gejagt hatte, brach er selber in Lachen aus. Es war ein grauenhaftes Lachen, dessen Eindruck nicht wiederzugeben ist. Sein Gesicht wurde tief rot, die Augen blinzelten, der Mund kräuselte sich, als wisse er endlich das rechte Wort und könne es nicht sagen. Er machte seinen Verbeugungsruck gegen den Klassenvorstand hin und stolperte mit blindem Körper vom Katheder. Als er das leise Kichern hörte, das ihm entgegenkroch, prustete er plötzlich los.
In diesem Lachen lag mehr als Selbstironie, es lag Selbstmord darin. Es war mein Lachen, mit dem ich ihn verdorben hatte. Mein rachsüchtiges Lachen war in seiner Seele stecken geblieben wie ein vergifteter Pfeil mit scharfem Widerhaken. Mit diesem krampfhaften Lachen zerstörte er von Stund an sich selbst. Nicht nur die andern, auch er war von sich selber abgefallen.
Solange der Glaube seiner Gefolgschaft ihn getragen hatte, war er stark und hochgemut gewesen. Und jetzt, da der Glaube dem ersten Angriff wich, stürzte seine Kraft zusammen? Wie war das? Ruhte die Kraft dessen, der das Drama Friedrichs geschrieben hatte, auf dem Glauben von Jüngern? Machte die äußere Verneinung die innere in ihm frei, die der Fluch allen Geistes ist? Müßige Erklärungen! Es war ein rätselhafter Ablauf. Ich verstehe ihn nicht.
Adlers Zwangslachen aber dürfte Erziehern, Ärzten, Richtern wohl bekannt sein.
Der Niedergang begann. Einer nach dem andern wandten sich die Lehrer von Adler ab.
Kios große Schwäche war sein schmerzhaftes Mißtrauen. Da nun bei Adlers Prüfungen immer gelacht wurde, bildete er sich ein, der Geprüfte treibe Possen, um die Klasse zu erheitern. ›Nichtachtung seiner Person‹ aber war das, was er am wenigsten verzieh. Ich glaube, daß der Geschichtslehrer Wojwode am längsten zu Adler stand.
Nicht mein Verdienst, sondern mein Schicksal wollte es, daß gleichzeitig mit Adlers beginnendem Niedergang sich meine Waagschale hob. Man hielt mich jetzt für nachlässig, aber begabt.
Mit Hilfe von Justus Freys Poesie stieg mein Ansehen auch im dramatischen Verein von Tag zu Tag. Ich wagte es schon, unter die Plagiate auch eigene Dichtungen einzuschmuggeln. Mein Kredit war so unbezweifelt, daß sich niemand über den Unterschied Rechenschaft gab. Ich war die leitende Person des Zirkels geworden. Burda begann von mir zu schwärmen, wie er früher von dem andern geschwärmt hatte.
Sehr schnell schien sich die Klasse und Adler an den neuen Zustand zu gewöhnen. Bald dachte niemand mehr daran, daß es einmal anders gewesen war. Unsere Gesellschaft schloß sich eng aneinander. Still saß Adler unter uns, aber nicht mehr als primus inter pares. Da wir immer zusammensteckten, konnten wir die Verwandlung wohl gar nicht bemerken, die mit Adler vorgegangen war. Es wäre dumm, zu meinen, sie sei mein Werk allein gewesen. Innere Ursachen hatten vorgearbeitet. Aber ich war es, der in entscheidender Stunde in dieses Fatum eingegriffen hatte. Ohne mich wäre Adler vielleicht ein ... Unsinn!
Das Ende des Semesters und des Jahres war da. Wir beide trugen Zeugnisse davon, die sich aufs Haar glichen. Meines war weit günstiger als das letzte. Adler dagegen war um viele Punkte zurückgegangen. Bei der Zeugnisverteilung und Kritik, die der Klassenvorstand am Ende des Schuljahres abzuhalten pflegt, schüttelte Kio den Kopf:
»Adler! Was haben Sie in den letzten Monaten getrieben? Der Lehrkörper erkennt Sie nicht wieder. Nehmen Sie sich gefälligst nach den Ferien zusammen. Lassen Sie sich warnen! Ich sehe hinter Ihnen die Nemesis lauern.«
Dies sagte er, und ich kann den Wortlaut mit gutem Gewissen beschwören, denn alles ist lebendig.
Nach einigen Wochen, die den letzten Rest vom Wissen um die Ursachen fortgespült hatten, fanden wir uns wieder bei Sankt Nikolaus zusammen, nunmehr siebzehnjährig. Das längste, das entscheidendste Jahr meines Lebens brach an.
Ich bin nicht der geworden, der ich damals hätte werden können. Ich habe mich bei Zeiten untergestellt. Der Bock aber wird in die Wüste gestoßen. Agnus dei, qui tollit peccata mundi!
Ich war es, der in der siebenten Klasse des Gymnasiums das Schwänzen einführte.
Nicht aus Angst vor Prüfungen geschah dies, nicht um der Langeweile der Schulstunden zu entgehen, sondern aus einem plötzlich erwachten Drang, die Ordnung der Welt zu durchbrechen. Während Fischer Robert sein Wissen in vorschriftsmäßigen Melodien herunterleierte, während Komarek August den Schimpf der Professoren ertragen mußte, während die Stumpfen gedankenlos, tatlos über ihren Büchern dämmerten, wollte ich unter Gefahren frei sein, an den Rändern der Stadt umherschweifen, in Kneipen hocken und das Abenteuer des Lebens erwarten.
Es war – ich behaupte nicht zu viel – ein krimineller Trieb, der mich damals beherrschte. Ich hatte im Vorjahr, in den ersten Monaten meiner Mitschülerschaft, die Wirkung des Genialen auf Menschen erlebt. Wenn es mir auch gelungen ist, durch die häßliche Kraft, die in mir entstand, diese Wirkung zu zerstören, so hatte ich ihr doch nichts entgegenzusetzen, denn ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber auch ich mußte, um vor mir selber zu bestehn, etwas Außerordentliches erfinden oder anregen. Ging es nicht von oben – Plagiat blieb doch immer Plagiat für mich –, sollte es von unten gehn.
Ich verführte zu allererst Ressl und Schulhof. Später schloß sich uns Faltin an und Adler. Fallweise stießen auch andere hinzu. Wie ich im Vorjahre den Lesezirkel organisiert hatte, so entwarf ich jetzt ein wohldurchdachtes Statut des Schwänzens. Für jede versäumte Schulstunde mußte man von daheim ein unterfertigtes Entschuldigungszeugnis erbringen. Die Unterschrift meiner guten Tante Aurelie zu fälschen, fiel mir nicht schwer. Ich besorgte aber diese Fälschungen auch für die andern in täuschendster Weise. Bald saßen mir die Namenszüge so mancher Väter und Mütter im schwungvollen Handgelenk. Ich hatte es so eingerichtet, daß Burda nach Schulschluß uns an bestimmten verschwörerstillen Punkten der Stadt aufsuchte (es waren zumeist Durchhäuser), um uns über die Vorgänge der Klasse Bericht zu erstatten, ob jemand Verdacht geschöpft habe oder alles in Ordnung sei. Burda war unser heimlicher Botschafter. Er selbst wagte es nicht, zu schwänzen. Uns aber bewunderte er um dieser Kühnheit willen wie Helden. Ganz bleich und schreckerfüllt war sein sanftes Gesicht, wenn er uns Ausbrecher in den Schlupfwinkeln aufsuchte. All dies erhöhte die verwegene Romantik der langen Tage.
Wir trafen uns um acht Uhr früh an entlegenen Orten, die wir, weil es sich so gehörte, auf vielen Umwegen mit den sinnlosesten Linien der Straßenbahn erreichten. Wir durchstreiften erregt die Vorstädte, kehrten in finster-bierduftenden Wirtschaften ein, die uns verrucht erschienen, spielten Billard, tranken Schnaps und hielten Weltuntergangs-Reden. Die Dekadentenliteratur der damaligen Zeit, die uns Bland vermittelt hatte, dürfte an unseren Exzessen mitschuldig gewesen sein. Ich erinnere mich an den höllischen Stolz, mit dem ich den Satz aussprach:
»Kinder! Jetzt sind wir verkommen ...«
So bewies ich meinen Kameraden tagtäglich, daß ich ein Führer zum Außerordentlichen geworden war.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erstemal die lüsterne Grausamkeit in meiner Seele verspürt habe, die mich zwang, Adler zu quälen. Ich glaube, es begann mit dem Alkohol.
Mich befreit der Wein wie alle von Natur Schwermütigen, mich stachelt er auf, mich hebt er empor. Auf Adler hingegen wirkte der Alkohol ganz anders. Zuerst schien er einen tiefen Ekel davor zu empfinden. Ich ließ die Bemerkung fallen, daß auf der Universität ein Student, der ein Schnapsglas nicht einfach hinunterstürzen könne, eine unmögliche Rolle spielen würde. Dann schenkte ich ihm wieder ein. Ressl, welcher über jeden Menschen persönlich gekränkt war, der einen Genuß zurückwies, unterstützte mich. Anfangs schlief Adler nach dem zweiten Glas ein. Wir weckten ihn. Er mußte noch ein drittes und viertes leeren. Da kam über ihn ein qualvoller, ja fast ein Wahnsinns-Zustand. Er stolperte in der Wirtsstube umher, schüttelte die Fäuste gegen unsichtbare Gegner, sein Gesicht krampfte sich im Schmerz zusammen. Ich beobachtete ihn gespannt. Endlich mußte der neue Ausbruch kommen! Jetzt wird er sich auf mich stürzen. Fast hätte ich das gewünscht! Adler aber sah mich gar nicht an, er tanzte umher, stieß klagende Worte aus, Anrufungen, unheimliche Verse, wie ich sie von keinem Menschen je vernommen habe. Am Ende dieser Tänze fiel er oft zu Boden. Wir wälzten uns vor Lachen und er lachte mit. An der Grenze der Bewußtlosigkeit noch lachte er sein selbstzerstörerisches Zwangslachen.
Nach zwei Wochen aber begann er sich langsam an süßen Likör zu gewöhnen.
Zur selben Zeit war in Adler eine sonderbar starke Leidenschaft groß geworden, die einzige, die ich an ihm kennen gelernt habe: Naschsucht!
Wir pflegten am Nachmittag in einer Konditorei der inneren Stadt einzukehren, die Ressl ausfindig gemacht hatte. Ressl besaß immer volle Taschen. Auch ich konnte mich nicht beklagen, denn die törichten Frauen steckten mir täglich einige Silbermünzen, am Sonntag sogar eine Banknote zu, obschon mir mein Vater nur ein spartanisches Taschengeld ordiniert hatte.
Adler besaß niemals Geld. Solange wir noch nicht ›verkommen‹ waren, solange er und der Geist noch regiert hatten, war das niemandem aufgefallen. Jetzt aber traten das Vorlesen eigener Dichtungen und der dramatische Verein zurück. Das Leben – ich nannte damals unsere Ausschweifungen ›das Leben‹ – war an der Reihe. Zum Leben aber gehörte Geld.
Adler war der Sohn einer kranken und vermögenslosen Witwe. Er sprach niemals von ihr, wie er fast nie ein Wort über seine Lebensverhältnisse und sich selbst verlor. Da sein Vater schon vor Jahren durch Selbstmord geendet hatte, stand er überdies unter der Fuchtel eines widerwärtigen Vormunds. Dieser, sein Onkel, besaß einen Tuchladen in der Hauptstraße einer großen Vorstadt. Und der Laden wartete boshaft darauf, den Dichter der Glaubenstragödie Friedrichs von Hohenstaufen als unbezahlten Kommis aufzunehmen. Adler wußte, daß bei der geringsten Verfehlung dieser Vormund ihn dem Studium entreißen und in den verhaßten Abgrund der Geschäftswelt hinabschleudern würde. Er schien den Onkel sehr zu fürchten, mit seiner Mutter aber uneinig zu sein, so daß er weder diese noch jenen um Geld bitten wollte.
Dabei befiel ihn, wenn er vor dem Ladentisch der Confiserie stand und ihm der Geruch von Schokolade, Creme, Fruchtgelee, Butterteig entgegenschlug, eine krankhafte Gier, etwas Unbezwingliches, das zu seinem langsamen, zurückgezogenen Wesen nicht paßte. Seine Hände zuckten, sein Mund schnappte. Fruchtschnitten liebte er vor allen anderen Bäckereien. Ressl und ich zahlten, was er verzehrte. Er schien diese Freigebigkeit für selbstverständlich zu halten. Eines Tages aber sagte Ressl:
»Ich weiß eigentlich nicht, Adler, wie ich dazu komme, deinen reichlichen Bedarf an Fruchtschnitten alle Tage zu decken ...«
Adler zog die Hand zurück, die schon die Gabel nach einer Süßigkeit ausgestreckt hatte.
Ressl hetzte weiter:
»Sebastian, findest du nicht auch, daß es ganz und gar nicht selbstverständlich ist, daß wir beide die Kosten tragen? Wo bleibt Adlers Gegenleistung?«
Ich nahm den Ton auf:
»Wir werden einmal stolz sein, daß wir ihm seine Fruchtschnitten haben bezahlen dürfen.«
Ressl gefiel sich:
»Aug um Aug und Zahn um Zahn! Umsonst ist der Tod und der kostet 's Leben. Gegenleistung muß sein. Du bist doch ganz meiner Meinung, Sebastian?«
»Ja, daran läßt sich nichts ändern. Gegenleistung muß sein!«
Adler hielt den leeren Teller weit von sich und sah uns gespannt an. Ressl bewahrte tiefen Ernst:
»Was für Gegenleistung bringst du in Vorschlag, Sebastian?«
Ohne nachzudenken, als wäre die Antwort nicht in meinem Hirn geboren, sondern mir ins Ohr geflüstert, sagte ich leichthin:
»Du kaufst ihm eine Fruchtschnitte, Ressl ... Als Gegenleistung soll er vor dir niederknien ...«
Ressl ist ein Mensch ohne Nerven. Mein Vorschlag amüsierte ihn höchlich. Er gröhlte:
»Du bist ein harter Sieger, Sebastian! Eine Fruchtschnitte ist viel zu wenig! Adler, knie nieder, dann bekommst du drei Fruchtschnitten!«
Adler sah uns noch eine ganze Weile lang gespannt an, dann stellte er langsam den Teller hin und verließ mit seinen steifen Schritten den Raum.
Andern Tags wußte ich es so einzurichten, daß ich mit Adler die Konditorei gegen Abend allein betrat. Außer der Verkäuferin war im Laden kein Mensch anwesend.
Schweigend verzehrte ich zwei Fruchtschnitten, obgleich ich sie vor Aufregung und Widerwillen kaum hinunterwürgen konnte. Schweigsam auch stand Adler hinter mir und sah zu. Ich wartete noch eine Weile. Dann wandte ich mich um:
»Willst du?«
Er nahm Teller und Gabel vom Bord.
Ich war mutlos gewesen, doch diese rasche Bewegung erleichterte mir die Gemeinheit:
»Gut! Aber vorher knie nieder!«
Und wirklich, was ich nicht erwartet, ja nicht einmal gewollt hatte, geschah. Adler streckte den Teller wie eine Opferschale weit von sich und kniete nieder. Die Verkäuferin riß die Augen auf. Adler aber kniete nicht vor mir, sondern gegen die Wand gekehrt, wo in Glaskasten Schokoladefiguren sich häuften. Rasch legte ich die Schnitten auf seinen Teller. Er stand auf, er begann zu essen. Doch nach dem zweiten Bissen schon hörte er auf zu kauen, versank in Nachdenken und stellte den Teller hin.
Ich zahlte, machte einen lauten Scherz, der diese ernste Szene ins Heiter-Lausbübische ziehen sollte, und verließ den Erniedrigten so schnell wie möglich. Als ich allein war, wurde mir bange. Ihm nach, um Verzeihung bitten! Nein! Das Menschengewühl trieb mich ab. Ich haßte mich, wie ich mich jetzt hasse. In dieser Anwandlung schwor ich mir, meinen Hang zur Grausamkeit gegen Adler künftig zu beherrschen.
Es kam anders.
Ressl hatte einen älteren Bruder, der in München als Bildhauer lebte. Was Fritz Ressl von diesem ästhetischen jungen Mann erzählte, rief unsere lebhafte Bewunderung hervor. Er besaß – wenn der jüngere Bruder nicht aufschnitt – ein märchenhaftes Atelier, voll der erlesensten Schätze, eine berühmte Sammlung altorientalischer Lampen, die in der Nacht ihr dumpfes Zauberlicht über den Raum ergossen, in dessen Wand zum Überfluß noch eine Orgel eingebaut war. Dieser Ewald Ressl behauptete ein Adept der geheimen Weltkräfte zu sein.
Zu Weihnachten hatte er seine Eltern besucht und bei dieser Gelegenheit die Seuche eingeschleppt, oder zumindest das, was in unserm wirren, wahnbetörten Knabentreiben zur Seuche wurde. Ewald Ressl war es, der, als er uns im Zimmer seines Bruders kennenlernte, von Adler gesagt hatte:
»Hinter dem Jungen steckt etwas. Ich sehe einen lilagrünlichen Perisprit um seinen Kopf. Er dürfte wohl medial begabt sein.«
Daraufhin brachte er uns das Abc der spiritistischen Künste bei, das Tischrücken. Und siehe da, wenn Adler im magischen Kreise saß, benahm sich das Tischchen wirklich höchst sonderbar, es wurde nervös, sann auf Flucht und versuchte vom Boden sich abzustoßen.
Ich habe heute Ressl, Schulhof, Faltin wiedergesehen, Menschen ohne Zukunft, ohne Erlebnis, zweibeinige Gleichgültigkeiten Gottes, nicht anders als ich. Wer kann begreifen, daß wir dieselben sind, in der gleichen Hülse stecken wie jene Knaben von dazumal, die durch Alkohol und mystischen Unfug bis an den Rand des Wahnsinns gerieten.
Jeden Abend fast hielten wir jetzt Seancen ab.
Das tolle Wesen dieser Veranstaltungen bestand darin, daß wir alle zugleich an Geister glaubten und einander mißtrauten. Von mir wußte ich, daß ich in bestimmten Momenten, wenn auch nicht allzuoft, dem Geist im Tische nachhalf und meine eigenen in seine Worte mengte. Von den andern wußte ich nichts. Ebensowenig wie ich machten sie Geständnisse. Überdies wünschten wir die Existenz von Geistern. Die okkulte Welt war etwas Ungeregeltes, Verbummeltes, ›Verkommenes‹ in unsern Augen, eine Macht, die dem Reich der erwachsenen Bürger feindlich entgegenstand. Die spiritistisch ansprechbaren Irr-Seelen bildeten gleichsam die Boheme des Jenseits.
Väter, Vormunde, Tanten verlachten uns wegen des Geisterglaubens oder wiesen uns zurecht wie Aurelie, die erklärte, es sei ein gottloses Treiben.
Uns aber klopfte an solchen Abenden das Herz zum Zerspringen. Eisiges Grauen wohnte in jedem finstern Zimmer, in jedem Möbelschatten. Mit schweren Köpfen und juckenden Rückenmarksnerven drängten wir uns zusammen und diskutierten über Du Prels Lehrmeinungen oder Aksakows animistische Theorie von der Freizügigkeit noch auf Erden lebender Intelligenzen. Da hörten wir Klopflaute in der Wand des Nebenraumes. Mit einem Schrei faßten wir uns an.
Dennoch riefen wir die Toten immer wieder und pflogen mit ihnen Umgang, mit diesen neugewonnenen und verlotterten Bundesgenossen unserer Anarchie. Wenn ich auch von mir selber wußte, daß ich gern eine gute Betrugsgelegenheit zugunsten der Geisterexistenzen benützte, so geschah doch so viel Unglaubliches, Phantastisches, daß ich es noch heute der Erfindungsgabe meiner Mitschüler nicht zutrauen kann.
Adler? Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Adler nicht ein einziges Mal geschwindelt hat.
Je weiter das Jahr vorschritt, je mehr er sich durch unser Zureden ans Trinken gewöhnt hatte, je mehr wir in die spiritistische Besessenheit verfielen, um so trauriger und starrer wurde er. Diese Trauer legte sich um seinen Kopf wie eine Isolierschicht.
Er galt bei uns als Medium nach Ewald Ressls Worten. Ich glaube aber nicht, daß er mediale Eigenschaften besessen hat. Doch damals bestand ich darauf, er sei ein Medium, vielleicht nur deshalb, weil Medium etwas Passives, Trübes, Weibisches bedeutet.
Klar sehe ich jetzt die Linie, von der ich selbst nichts wußte.
Wenn Adler Medium war, so kam es mir zu, Hypnotiseur zu sein. Überlegenheit mußte immer wieder erwiesen werden. Ich erbot mich, ihn in Gegenwart der andern einzuschläfern. Er widerstrebte, er wollte auf und davon. Schulhof holte ihn zurück und drückte ihn in einen Lehnstuhl. Er mußte seine Brille abnehmen. Ich setzte mich gegenüber und starrte ihn an, indem ich all meinen Willen zusammenraffte.
Das erstemal sah ich den Grund seiner Augen. Die Brille war fort, die geröteten Lider traten zurück. Es war ein stiller und unbewegter Grund. Ich erkannte, als ich in diese grauen Augen tauchte, daß Adler seine Meinung über mich niemals verändert hatte, niemals verändern würde. Die Ruhe dieser Pupillen zeigte mir, daß ich ihm weder Achtung noch auch Haß abgetrotzt hatte. Während ich ihn aus einer Entfernung von zehn Zentimetern wie rasend anstarrte, gelang es ihm mühelos, mich zu übersehn. Ich steigerte meine Anstrengung, packte seine Hände und hielt den Atem an. Da schloß er die Augen. Er schloß sie mit einem Ausdruck von Ekel. Sein Kopf begann zu wackeln, aus seiner Brust drangen erstickte Rufe. Aber auch ich geriet in einen betäubten Zustand. Das große rote Gesicht kam mir immer näher, es verwandelte sich in die traurige Mondscheibe, es wurde zu einem fremden, glühenden Planeten, der einsam im Raume hing. Vielleicht war auch ich ein unglücklicher Stern. Aber Gott hatte ihn begnadet und nicht mich. Dies wußte ich jetzt und in jedem Augenblick.
Plötzlich stieß mich Adler vor die Brust, sprang auf und lief hinaus. Er mußte sich übergeben.
Wir trieben unser Unwesen zumeist in einem großen saalartigen Raum bei Ressl. Dort blieben wir bis zwei und drei Uhr morgens.
Vielleicht war bei den Worten, die wir mit den Geistern wechselten, bei den Erscheinungen, die wir zu haben glaubten, nicht alles Einbildung und Nachhilfe. Vielleicht war, wenn schon nichts Übernatürliches, so doch eine Spur, ein Atom nicht erlogener Wirklichkeit da, das erschreckt in unserm trüben Kreis umherirrte.
Es war ein unentwirrbares Durcheinander von Lüge, Glaubenswilligkeit, Schwärmerei, Zynismus und von andern Elementen noch.
Bei solchen Sitzungen tranken wir übermäßig viel. Einmal, es war schon vier Uhr früh, erschien in weißem Unterrock, weißer Nachtjacke die Gestalt einer alten Frau. Es war Ressls Großmutter, die ›Großalte‹, wie wir sie nannten, eine Dame, die ihren Sohn, den großen Textilfabrikanten Ressl, noch als armen Handlungsgehilfen in die Welt entsandt hatte. Nun hütete sie, kopfschüttelnd, den Palast des Emporgekommenen.
Die Großalte sah als erstes, daß auf den eingelegten Glanzparketten des Saales nicht nur die Splitter kostbaren Kristalls umherlagen, sondern auch der süße Schnaps in fetten Lachen schwamm. Sie stürzte sich auf den Schaden und begann mit dem Taschentuch den Boden zu wischen und zu reiben.
»Likörflecken«, jammerte sie, »die gehn nicht heraus. Durch nichts! Das ist ein Unglück!«
Dann schimpfte sie:
»Ihr Lumpen! Eure Eltern sind an allem schuld. Sie füttern euch zu gut. Wenn ihr arbeiten müßtet, würdet ihr wissen, wo Gott wohnt. So aber werdet ihr euch zu einer sauberen Menschheit auswachsen.« Und sie setzte sich mitten unter uns:
»So, jetzt rühre ich mich nicht vom Fleck, bis der Letzte aus dem Haus ist.«
Lachend klopfte Ressl die Zornige ab und wandte sich laut zu uns:
»Sie ist gut, die Großalte. Sie klatscht nicht ...«
Murrend äffte sie den frechen Enkel nach:
»Die Großalte, die Großalte ...«
Dennoch kamen wir immer wieder und berauschten uns an den verbotenen Geheimnissen bis in den Morgen hinein.
Eines Nachts erreichte die Tollheit den Gipfel.
Wir vier waren am Werk: Ressl, Schulhof, Adler und ich. Faltin und Burda führten Protokoll. Selbst Bland, der sich gegen übersinnliche Tatsachen ablehnend verhielt, hatte sich eingefunden.
Der Tisch tanzte schon kreischend durch den Saal, so schnell, so kreuz und quer, daß wir kaum folgen konnten.
Schulhof leitete den Vorgang. Mit feierlichem Tone fragte er:
»Ist ein Geist im Tisch? Klopfe Antwort! Ja: Einmal! Nein: Zweimal! Ich weiß nicht: Dreimal!«
Der Tisch neigte sich zitternd gegen Adler. Ein starker Aufschlag:
»Ja!«
»Bist du ein Mann oder eine Frau? Mann: Einmal! Frau: Zweimal!«
Zwei schwächere Schläge:
»Frau!«
»Gehörst du einer Verstorbenen an? Antworte!«
Lange Pause. Dann kamen drei leise zitternde Schläge:
»Ich weiß nicht ...«
Wir sahen uns an. »Vielleicht eine Sterbende«, meinte Ressl.
Der Tisch klopfte ein starkes, gleichsam erlöstes:
»Ja!«
Schulhofs Stimme bebte dunkeltönend:
»Wo befindest du dich? Gib Antwort mit den Buchstaben des Alphabets! A: Einmal! B: Zweimal! C: Dreimal! Und so fort!«
Wir beugten uns lauschend über den eilig taktierenden Tisch und setzten die Buchstaben nervös zusammen. Die Antwort lautete:
»An ... der ... Grenze ...«
Mit kalter Hand streiften uns diese Worte. Das Spiel ging weiter:
»Nenne den Ort, wo du dich befindest!«
»Bahn ... hof!«
»Wo liegt der Bahnhof?«
Der Tisch zögerte, als hindere ihn eine Gegenmacht, den Ort zu bezeichnen. Dann klopfte er leise und gehetzt:
»Semlin!«
Faltin faßte das Ergebnis zusammen:
»Eine Sterbende befindet sich auf dem Bahnhof von Semlin, an der Grenze Ungarns und Serbiens.«
»Verstanden!«
Der Tisch begann wieder durchs Zimmer zu rasen. Es schien wirklich, als ob all unsere Kräfte nicht hinreichten, den leichten Gegenstand festzuhalten. Jetzt offenbarte er nichts anderes mehr als immer wieder das gleiche Wort:
»Beten, Beten ...«
Wir sollten für die arme Seele an der Grenze des Todes beten.
Nun lösten wir die Hände und unterbrachen für eine Weile den Strom. Burda kniete nieder und betete fromm drei Vaterunser.
Dann nahm Schulhof das Verhör des gequälten Geistes wieder auf:
»Bist du unter uns?«
»Ja!«
»Kannst du die Krankheit nennen, an der du leidest?«
Der Tisch buchstabierte:
»We ... he ...«
Schulhof fragte noch einmal. Wieder nur: »Wehe.«
Burda, der totenbleich war, stellte fest:
»Es ist die Interjektion Wehe; sie ruft gewiß Wehe über uns.«
Der Tisch wurde wütend. Er machte Anstalten, sich zu Boden zu werfen. Dann pochte er strenge das Wort:
»Kind!«
Man war ratlos. Jemand behauptete, in dem Tisch stecke ein Kobold oder Neckgeist, der nach spiritistischer Theorie den Beruf habe, die totenbeschwörenden Versammlungen hinters Licht zu führen. Ich aber war mittlerweile auf den Sinn der beiden Worte gekommen:
»Die Frau liegt in Wehen. Sie gebiert, sterbend, ein Kind.«
Der Tisch stampfte erleichtert:
»Ja!«
Schulhof neigte sich zärtlich über die Platte wie über ein Krankenbett:
»Gib Antwort, ob wir dir nicht helfen können!«
»Beten, beten!«
»Wir werden beten. Aber könnte dich nichts anderes retten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Kann einer unter uns dir nicht helfen? Ich nenne dir die Namen: Ressl?«
»Nein!«
»Sebastian?«
»Nein!«
Da begann der Tisch von selber zu klopfen und nannte Adlers Namen.
Bisher hatte meine Hand an den Ergebnissen der Befragung nicht den geringsten Anteil gehabt. Jede Antwort überraschte mich. Alles konnte wahr sein. Denn wem von uns wären solche Dinge eingefallen? Ich, wie alle anderen, empfand die erschütterte Erschöpfung im Rückenmark, die für derartige Versuche charakteristisch ist. Zugleich aber durchprickelte uns eine verruchte Sensation, das taumlige Entzücken, ohne das übliche Eintrittsgeld des Todes in Gottes Geheimnisse gucken zu dürfen. Wieder hörte ich Schulhofs feierliche Stimme:
»Gib Antwort! Wodurch kann Adler dir helfen oder dich retten?«
Der Tisch forderte immer das Gleiche:
»Beten ...«
Als er aber zum zweitenmal ansetzte, um dieses Wort zu bilden, verwandelte meine Hand durch einen leichten Druck das e in ein a und das t in ein d:
»Baden!«
Es ging blitzschnell, und ich selber gab mir keine Rechenschaft über meine Fälschung und ihren Sinn. Der nächste Buchstabe, den aber nicht ich erzeugt hatte, war: F. Meine Hand fügte daraufhin eilig und unbedacht das Wort Fluß zusammen. Dann klopfte der Tisch noch zwei Worte, die von mir unabhängig waren:
»Sonne ... Osten ...« Nun stand er tot und still.
Burda verlas das Protokoll:
»Beten! Baden! Fluß! Sonne! Osten!«
Wir mußten nicht lange raten. Der Sinn klärte sich von selbst.
Um die arme Seele vom zeitlichen und ewigen Unheil zu retten, sollte Adler bei Sonnenaufgang im Flusse baden und, nach Osten gekehrt, ein Gebet verrichten.
Bland war wütend:
»Das ist ein gottverdammter Blödsinn! Ihr seid alle verrückt. Schaut, daß ihr nach Hause kommt! Und du, Adler, gehst mit mir!«
Ressl wehrte sehr ernst ab:
»Ausgeschlossen, Bland! Was hier vorgeht, wissen wir nicht! Weißt du es vielleicht? Kannst du mit einer zureichenden Erklärung dienen? Vielleicht ist es dies, vielleicht ist es jenes! Wenn aber nun wirklich eine Sterbende, eine Frau in höchster Not auf dem Bahnhof von Semlin liegt, und Adler kann ihr helfen?!«
Faltin entschied:
»Sie liegt ganz bestimmt auf dem Bahnhof von Semlin.«
Ich mischte mich in die Debatte:
»Streng philosophisch, Bland! Kannst du mir streng philosophisch beweisen, daß die Frau nicht auf dem Bahnhof von Semlin liegt?«
Er fuhr mich an:
»Ich kann dir streng philosophisch beweisen, daß ihr alle schwachsinnig seid!«
»Du kannst es also nicht beweisen, Bland! Mehr wollte ich nicht wissen.«
Bland packte Adler an:
»Tu es nicht! Denk an deinen Friedrich! In den Ferien hast du mir fest versprochen, Atheist zu bleiben.«
Er sah ganz bekümmert drein bei dem Gedanken, Adler könnte diesem großen Versprechen untreu werden.
Schulhof aber machte ein verklärtes Gesicht:
»Bist du noch immer Atheist, Adler? Ich meine, wir haben eben einen Gottesbeweis erlebt!«
Adler starrte durch seine Brille Bland an:
»Nein! Ich glaube, Atheist, das ist etwas sehr Dummes ...«
Inzwischen hatte Ressl aus dem väterlichen Likörschrank zwei neue große Allaschflaschen entwendet. Ein wüstes Gelage kam in Schwang. Die Todesstunde der Wöchnerin von Semlin war der seltsame Anlaß dieser besinnungslosen Zecherei. Je trunkener wir wurden, um so stärker fühlten wir die Notwendigkeit, den Wunsch der Sterbenden zu erfüllen. Bland kämpfte weiter: Alles sei Schwindel oder bestenfalls unbewußte Strömung. Wir lachten den Zweifler nieder. Feierlich wurde Adler befragt, ob er bereit sei, sich der Erlösung einer Menschenseele zu weihen?
Auch er hatte viel getrunken. Dennoch erhob er sich ruhig.
Es war fast fünf Uhr geworden. In der Dämmerung brachen wir auf. Vor dem Haustor suchte Bland zum letztenmal Adler umzustimmen.
»Wirst du's tun?«
Adler sah mich flüchtig an:
»Vielleicht! Jetzt weiß ich noch nichts.«
Da verließ uns Bland ohne Gruß.
Wir mußten einen sehr weiten Weg zurücklegen, denn die magische Handlung konnte nur an einer Stelle des Flusses stattfinden, die schon außerhalb der Stadt lag. Von Schnaps- und Gespensterrausch benommen, wankten wir durch die leeren Straßen, welche die weichende Nacht stark zu verkürzen schien.
Wir kamen an den geplanten Ort, der einige hundert Meter weit vom Binnenhafen flußabwärts lag. Eine Fähre morschte vertaut in der Strömung. Die kleine Getränkebude am Ufer war fest verschalt. Über das zertretene Strandgras strich der Wind. Bittere Kälte herrschte. Es war Anfang März. Über die niedrige Bergkette jenseits des Ufers griffen die ersten Strahlen. Die andere Himmelshälfte begann zu ergrünen.
Ohne daß einer von uns ihn mahnte, legte Adler wortlos die Kleider ab.
Der Fluß war schmutzig. Ekelhafter Unrat der Vorstädte schwamm auf seiner Oberfläche.
Der junge Mensch stand nackt vor uns. Wir konnten sehen, daß uns seine Haltung und der schlechtgeschneiderte Anzug bisher verborgen hatten, daß er keinen saftlos-alten, sondern einen weißen und ebenmäßigen Körper besaß. Im Traumreich dieses Augenblicks erstaunten wir alle über Adlers Schönheit.
Er ging ruhig auf den Fluß zu. Ohne zurückzuzucken, betrat er das eiskalte Wasser, als würde er nicht das Element wechseln. Schwarz hob sich die schmutzige Fläche von dem reinen Leuchten ab. Er ging ruhig immer weiter. Der Fluß reichte ihm schon zur Brust. Wenn Burda nicht aufgeschrien hätte, wäre er wohl im Wasser verschwunden. Mich durchfuhr der Gedanke: Selbstmord! Auf Burdas schrilles Halt aber blieb er stehn und hob die Arme gegen Osten, für das Gespenst von Semlin zu beten, wie es gefordert war.
Es war ein Anblick von unheimlicher Macht. Burda plärrte Gebete. Faltin warf sich plötzlich längelang auf die Erde, Ressl schluchzte. Alle kämpften für die arme Seele, an deren Dasein sie nicht unschuldig waren. Ich horchte in mich. Trostlose Nüchternheit durchbrach langsam die Wand des Rausches. Der Tag war da.
Der Tag ist da.
Ein paar wirrgekritzelte Blätter liegen vor mir. Ich glaube, daß ich schon müde bin. Meine Augen beginnen weh zu tun. Was mag auf diesen Blättern stehn? Nein, ich darf nicht müde werden, nicht mich hinlegen. Ich würde übrigens jetzt nicht einschlafen können. Welche Qual wäre es, den ziehenden Bildern im Bette hilflos ausgeliefert zu sein! Ich darf noch lange nicht müde werden. Denn morgen muß ich gerüstet vor Adler stehn. Unser Leben muß restlos erweckt sein. Er darf es von mir fordern! Ich werde mir einen schwarzen Kaffee kochen.