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Der schöne Weg

Ich kenne einen schönen Weg. Wenn ich allein sein möchte und es mich drängt, auf mich selbst zu hören, steige ich hinunter zum Ronco. Zuerst liegen viele Steine herum, große und spitze, und zwischen den engen Gartenmauern ist es glühendheiß, feuchtwarm wie in Treibhäusern. Ich muß vorsichtig gehen und darf nicht links und rechts schauen. Wenn man aber an dem überdachten Brunnen vorüber ist, wo die Frauen des Ortes ihre Wäsche baden, ebnet sich der Weg, der am Abgrund vorüberführt, und wird glatt. Es fallen Sonnenflecke durch das Laub der Kastanienbäume und erhellen das milde, kühle Grün.

Man geht wie in einem Garten. Das Heidekraut blüht, und ganze Wellen purpurnen Violetts ergießen sich über die Halden und leuchten zwischen den Adlerfarnen, da, wo im Frühjahr die Schneeglöckchen sich ausbreiten. Vor dem großen Brombeergestrüpp liegt eine Schlange. Geruhsam ineinandergeringelt sonnt sie sich, silbern glänzend, mit den schwarzen aufmerksamen Augen mich betrachtend, um dann langsam – gegen die Gewohnheit der Schlangen – im Dickicht zu verschwinden. Ein leises Grauen läßt mein Herz stärker schlagen. Ich denke, daß man diese Furcht der Paradiesschlange verdankt, die man gewöhnt wurde als den Ursprung alles Bösen zu betrachten. Warum wohl das Grauen? Es ging ja alles so intelligent zu und gar nicht schaurig. Mich wundert nur, daß sich die Schlange in einer solchen Verstandesangelegenheit an Eva wandte und nicht an Adam. »Ihr werdet wissen, was gut und böse ist,« sagte das listige Tier zum Weibe.

Wissen, sagte es, nicht fühlen, nicht schmecken, nicht hören. Auch nicht sehen. Wäre die Versuchung darin gelegen, etwas zu sehen, so hätte man Eva der Neugierde zeihen dürfen. Aber wissen! Etwas wissen wollen! Also Wißbegierde. Sollte am Ende die Schlange das Weib für klug gehalten haben? Beinahe möchte man es glauben. Sie würde sich wundern, die Schlange aus dem Paradies, erschiene sie jetzt in unserer Welt, daß sich die Frau immer noch hart darum mühen muß, klug sein zu dürfen. Sie würde sich wundern, das listige, durchschauende Tier, daß die Welt immer noch nur mit Widerstreben tun will, was sie, die Paradiesesschlange, vor Tausenden von Jahren schon getan hat: sich an die Klugheit der Frau zu wenden.

Oder ist am Ende die Frau nicht mehr, was sie im Paradiese war? Ob Gottes Fluch: »Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären!« allzu wirksam war? Treulich hat sich das Weib an dies Gebot gehalten, und nicht anders als mit Schmerzen bringt sie auch heute noch ihre Kinder zur Welt. Hat die kluge Eva der Mutter Eva weichen müssen.

Weit bin ich vom Weg abgeirrt. Wohin einen eine Schlange führen kann! An einer heißen, sonnigen Stelle laufen wundervolle grellgrüne Eidechsen hin und her. Kopf und Kragen türkisblau, der Leib leuchtend wie Smaragd. Welch wunderbaren Schmuck hat sich da die Natur gegönnt, doppelt reizvoll im Spiel der raschen Bewegung. Wie der Blitz sind sie dort, wie der Blitz sind sie da, fort, ehe man sie recht gesehen, einen regenbogenfarbenen Schein zurücklassend. Alle Augenblicke schnellt sich wieder eine Schlange ins Dickicht. Sie zeigen sich häufig diesen Sommer und rascheln vom hellbesonnten Weg ins Dunkle, sobald sie Schritte hören. Eine ganze Welt lebt da in Gras und Moos, blüht, strebt zum Himmel auf. Nur die Vöglein fehlen. Sie haben hier unten keine bleibende Statt. Eine Nachtigall sang anfangs Mai im Ronco, aber sie ist bald stumm geworden. Ich habe nicht wissen wollen, was aus ihr geworden.

Nach einer letzten Biegung meines lieblichen Wegleins steht das kleine rote Haus vor mir, das vor vielen Jahren dem Pfarrer des Ortes als Vogel- und Jagdhaus gedient. Purpurn leuchtet es weit ins Land hinaus und weit über den See. Es steht auf einem Felsenvorsprung. Keiner, der nicht mit einem Schrei des Entzückens hinuntersieht auf den blauen See, dessen Anfang und Ende man zu überblicken vermag, und der glitzernd und silbern zuckend in der Sonnenglut liegt, mit seinen jähen Ufern, seinen weißblinkenden Dörfern, die sich lang und schmal hinziehen am Berg oder, wie Gandria, an ihm hinaufklettern oder, wie Melide, sich weit in den See wagen. Wie soll ich das alles, das da zu mir hinaufstrahlt und in allen Farben schimmert, meinen Augen schenken? Wie soll ich es ertragen, soviel Schönes von einem einzigen Fleck aus, von einem Stücklein Fels aus in meine Scheunen sammeln zu dürfen, vorsorgend für den langen Winter? So sitze ich still auf der Steinbank vor dem roten Haus und lasse meine Seele weiden und wandern. Sie findet reiche Ernte, denn es ist leicht zu finden, aber schwer, hier wie überall, das Geschaute und Empfangene in Werte umzuwandeln.

Campione, die Spielhölle, liegt dem Ronco schräg gegenüber. Nahe dabei ein kleines schönes Gotteshaus, zu dem breite Stufen vom See, die links und rechts ineinandergreifen, hinaufführen und an die Berge bei der Madonna d'Ongero erinnern. An den Festtagen kommen von allen Seiten kleine Schifflein mit Kirchgängern, sie steigen die Treppen hinan, und die bunten Schleier der jungen Mädchen und die dunkelfarbigen Kopftücher der Frauen heben sich freudig ab vom Marmor oder verschwimmen und durchleuchten das gedämpfte Licht des Kircheninnern.

Himmel und Hölle so nahe beisammen. Geht nicht auch Gut und Böse Hand in Hand? Birgt nicht dasselbe Herz Gutes und Böses? Liegt nicht vielleicht der Spieler, der in Leichtsinn und Leidenschaft alles verloren, morgen in dem kleinen Gotteshaus auf den Knien und beugt sich tief unter der Last seiner Reue und seines Elendes? Wie gut ist es, daß die Kirche dasteht. Wohin sollte der arme Mensch sich sonst flüchten mit seiner Verzweiflung? Würden nicht vielleicht, wenn der gütige Zufluchtsort nicht so nahe wäre, seine offenen, entsetzten Augen andern Tags unter dem Wasser des Sees die Menschheit anklagen, daß niemand ihm geholfen? Ich will nicht mehr wie früher den Stab brechen über die Leichtsinnigen, die, von höllischen Mächten getrieben, alles, was sie haben, auf dem schrecklichen Tisch vergeuden. Ich weiß es jetzt, daß Dostojewski, der große Geber, mit seiner jungen Frau am Spieltisch saß und das, was ihr gemeinsames, ihr geliehenes, ihr einziges Eigentum war, ihr ein und alles, setzte und verlor. Und nochmals setzte und, wieder verlierend, weiterspielte, bis ihm nichts mehr blieb. Und ich weiß, in welcher Verzweiflung, in welcher verzehrenden Reue er sich wand, wie er durch übermenschliches Arbeiten gutzumachen suchte, was er verbrochen. Seit ich das alles weiß, spreche ich nicht mehr von Hölle und von Verdammen, denn könnte nicht ein Dostojewski unter den Spielenden sein? Und hat nicht dieser selbe Spieler uns die herrlichsten Meisterwerke geschenkt? Finden wir nicht in seinen Büchern uns selbst mit unserer Schwäche, unserm Hochmut, unsern Sünden, unserer Kleinlichkeit, und stehen nicht Gestalten vor uns voll leuchtenden Lichtes und tiefster Schatten, wie sie ihn selbst bedräuten? Sollen wir nicht vor dem Spieler Dostojewski das Haupt beugen, um des Dichters Dostojewski willen? Schönes, kühles stilles Gotteshaus, wie gut, daß deine Pforten geöffnet sind wie die Arme einer Mutter, bei der ihre armen Kinder Zuflucht suchen.

Ein Glöcklein tönt zu mir herüber wie ein rasches Klingeln, von Kinderhand geläutet. Es steigt eine Prozession die Marmortreppe hinauf. Voran das Kreuz, und dann die Fahne, der die Gläubigen folgen. Wie eine dunkle Schlange windet sich der Zug langsam bis zur Kirche. Wieder die Schlange. Warum begegnet sie mir heute überall? Ist sie ein Symbol? Ist sie vielleicht das Symbol der zwiefachen Menschenseele, der guten wie der bösen? Verkörpert sie die Einigkeit dieser beiden? Sagt sie uns, daß Gutes und Böses nicht zu trennen, daß das eine das andere bedingt, daß eines nur am andern gemessen werden kann? – Die Tore der Kirche schließen sich hinter den Gnadensuchenden. Das bimmelnde Glöcklein schweigt, über Himmlischem und Höllischem spannt sich das Blau der Unendlichkeit.

Wie herrlich behauptet sich der San Salvatore, in vollendeter Schönheit aus dem Wasser steigend, ein Denkmal des Schöpferwillens, dem auch Stein und Erde zu einem Kunstwerk werden mußte. Leise fährt ein Schiff durch die blaugrünen Schatten im See. Es hält da und dort an, Menschen steigen ein, müde von der Arbeit, vielleicht müde von einem Schicksal, das sie dumpf ergeben oder bewußt dankbar über sich ergehen lassen oder beherrschen. Das Schiff bückt sich unter der Brücke von Melide.

Es wird langsam dunkel. Rings um die Ufer der Stadt glimmen Tausende von Lichtern auf, die im Wasser sich verdoppeln. Der Himmel wird dunkler und nimmt schichtweise eine hellgraue, dunkelgraue, fast schwarze Färbung an. Zwischen dem Grau und dem Bergrücken grelles, klares Gold. Es sieht fremd aus, japanisch. Gegenüber sinkt die Sonne, verschwindet und läßt flutendes Rot zurück.

Es ist Nacht geworden. In gespenstischem Schweigen gleitet ein letztes Schiff seinem Ruheort zu. Wie schön ist das alles, und wie beruhigend entwirren sich die Gedanken und klären sich. Es fällt Angst von einem ab, die tastende Angst vor dem Kommenden. Ich höre meinen Herzschlag, und wie in Augenblicken der Todesangst, oder des Traumes, wecken ganze Reihen von Lebensereignissen die schlafende Seele. Sind es Mahnungen? Sind es lebendig gewordene Erinnerungen? Stehe ich im Zusammenhang mit dem Großen, Unendlichen, das ich sehe und empfinde und das mich aufnehmen will in sein Gewebe?

 


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