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Bert Smallways war ein gewöhnliches, kleines Menschenkind genau die Art von unverschämter, beschränkter Seele, die die alte Zivilisation des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in jedem Land der Welt zu Millionen erzeugte. Er hatte seiner Lebtag in engen Straßen zwischen häßlichen Häusern gelebt, über die er nicht wegblicken konnte, und in einem engen Ideenkreis, aus dem es kein Entrinnen gab. Er glaubte, die ganze Pflicht des Menschen bestünde darin, gerissener zu sein als seine Mitmenschen, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und sich's wohl sein zu lassen. Kurz, er war die Sorte Mensch, die England und Amerika zu dem gemacht hatten, was sie waren. Das Glück war bisher gegen ihn gewesen; aber das war eine Sache für sich. Er war ein bloßes ewig forderndes, ewig kämpfendes Individuum, ohne Sinn für den Staat, ohne eingewurzelte Loyalität, ohne Aufopferung, ohne Ehrenkodex, ja sogar ohne Tapferkeitskodex. Jetzt fand er sich, durch einen seltsamen Zufall, für einige Zeit aus seiner wundervoll modernen Welt mit all ihrem Getriebe und ihren verworrenen Anforderungen herausgehoben und gleich etwas Totem, Entkörpertem zwischen Meer und Wolken schwebend. Es war, als wolle der Himmel mit ihm ein Experiment machen, habe gerade ihn als Beispiel aus all den englischen Millionen ausgesucht, um ihn sich genauer zu betrachten und zu sehen, was nun mit dieser Menschenseele geschehen würde. Aber was der Himmel in diesem Fall aus ihr machte, darüber kann ich mich zu keinerlei Vorstellungen bekennen; denn ich habe längst alle Theorien über die Ideale und Segnungen des Himmels hinter mir gelassen.
Allein zu sein in einem Ballon – in einer Höhe von vierzehn- oder fünfzehntausend Fuß – (denn zu dieser Höhe sollte Bert bald steigen) ist ungleich jeder andern menschlichen Erfahrung. Es ist eine von den erhabensten Möglichkeiten, die dem Menschen beschieden ist. Keine Flugmaschine kann das je übertreffen. Es heißt, wie durch ein Wunder den menschlichen Dingen entrückt sein. Es heißt, still und allein sein wie noch nie. Es heißt Einsamkeit, ohne auch nur den leisesten Gedanken an Unterbrechung; es heißt Schweigen ohne auch nur einen fremden Hauch. Es heißt den Himmel sehen. Kein Laut dringt zu uns von all dem Lärm und Mißklang der Menschheit; die Luft ist so rein und süß, daß nicht einmal der Gedanke einer Entweihung sich ausdenken läßt. Kein Vogel, kein Insekt kommt so hoch. Kein Wind bläst jemals in einen Ballon, kein Lufthauch fächelt; denn er bewegt sich mit dem Wind und ist selber ein Teil der Atmosphäre. Ist er erst einmal gestiegen, so schaukelt und schwankt er nicht mehr; man kann nicht fühlen, ob er steigt oder fällt. Bert zitterte vor Kälte; aber er war nicht höhenkrank. Er zog den Rock, den Überzieher und die Handschuhe an, die Butteridge von sich geworfen hatte – zog sie über das Wüstenderwischlaken, das seinen billigen Sonntagsanzug bedeckte – und saß lange Zeit ganz still, überwältigt von der neuentdeckten Ruhe der Welt. Über ihm war die leichte, durchscheinende, wogende Kugel aus leuchtender, brauner geölter Seide und das flammende Sonnenlicht und der große, tiefe, blaue Himmelsdom. Unten, tief unten war ein zerfetzter Boden von sonnenbeschienenen Wolken, gespalten durch ungeheure Risse, durch die er das Meer sah.
Wer ihn von unten beobachtet hätte, hätte seinen Kopf wie einen unbeweglichen, kleinen, schwarzen Knopf erst eine lange Weile auf der einen Seite des Korbes herausschauen und dann verschwinden und nach einiger Zeit an einer andern Stelle wieder auftauchen sehen.
Er fühlte sich nicht im geringsten unbehaglich oder ängstlich. Er dachte, wie dies unbeherrschbare Ding so mit ihm in den Himmel hinaufgeschossen war, könnte es auch bald wieder mit ihm hinunterschießen; aber diese Betrachtung machte ihm weiter keine große Sorge. In der Hauptsache war er in einem Zustand des Erstaunens. Es gibt weder Furcht noch Sorge in Ballons – bis sie fallen.
»Alle Wetter!« sagte er endlich aus einem Bedürfnis zu sprechen heraus. »Das ist besser als ein Motorkarren! Einfach tipptopp! Wahrscheinlich telegraphieren sie jetzt überall rum von mir!«
Die zweite Stunde fand ihn bei einer äußerst genauen Untersuchung der Einrichtung des Korbes. Über ihm war der Hals des Ballons, zusammengepreßt und -geschnürt, aber mit einer Öffnung, durch die Bert in ein ungeheures, leeres, stummes Innere emporsah und aus der zwei dünne Leinen von unbekannter Bedeutung, eine weiße und eine rote, zu zwei Beuteln unter dem Ring herabhingen. Das Netz um den Ballon endete in Leinen, die an dem Ring befestigt waren und die eine riesige, stahlverbundene Schleife bildeten, an der der Korb mit Tauen befestigt war. Auch das Ankertau und der Anker waren daran befestigt, und über den Wänden des Korbs hing eine Anzahl von Säcken, die, wie Bert entschied, der Ballast sein mußten, den man »hinunterschubste«, wenn der Ballon fiel. (»Merk' nichts von Fallen bis jetzt!« sagte Bert.)
Ein Aneroid und ein anderes kastenartiges Instrument hingen von dem Ring herab. Das letztere zeigte eine Elfenbeinplatte, worauf »Statoscope« und andere französische Worte standen, und ein kleiner Zeiger zitterte und schwankte zwischen »Montée« und »Descente« hin und her. »Stimmt!« sagte Bert. »Das zeigt an, ob man aufwärts oder abwärts geht!« Auf dem rotgepolsterten Sitz des Ballons lagen ein paar Decken und eine Kodak, und auf dem Boden des Korbs standen in zwei entgegengesetzten Ecken eine leere Sektflasche und ein Glas. »Erfrischungen!« sagte Bert gedankenvoll, indem er die Flasche umstülpte. Dann kam ihm ein glänzender Gedanke. Die beiden gepolsterten, bettartigen Sitze mit ihren Decken und Matratzen waren, wie er bemerkte, Truhen; und in ihnen fand er, was augenscheinlich Mr. Butteridges Begriff von einer angemessenen Ausrüstung für einen Ballonaufstieg war: einen Speisekorb, der eine Wildbretpastete, eine römische Pastete, kaltes Geflügel, Tomaten, Salat, Schinkenbrötchen, Sardellenbrötchen, einen großen Kuchen, Messer und Gabeln, Papierteller, Selbstkocherbüchsen mit Kaffee und Kakao, Brot, Butter und Marmelade, verschiedene sorgfältig verpackte Flaschen Sekt und Mineralwasserflaschen enthielt, ferner eine große Kanne Waschwasser, eine Brieftasche, Karten und einen Kompaß und einen mit allerhand Bequemlichkeiten, worunter eine Brennschere und Haarnadeln, eine Mütze mit Ohrklappen usw. angefüllten Rucksack.
»Daheim in der Fremde!« sagte Bert, während er die Vorräte betrachtete und sich die Ohrklappen unter dem Kinn zusammenband. Er blickte über die Wand des Korbs. Tief unten waren die glänzenden Wolken. Sie hatten sich so verdichtet, daß sie die ganze Welt verbargen. Im Süden türmten sie sich zu großen, schneeigen Massen, so daß er fast geneigt war, sie für Berge zu halten; im Osten und Norden lagen sie in wellenförmigen Flächen und blendendem Sonnenlicht da.
»Wie lang ein Ballon wohl oben bleibt?« sagte Bert. Er glaubte still zu stehen, so unmerkbar trieb das Ungeheuer mit der Luft rings umher. »Es hat keinen Zweck, wenn er hinuntergeht, ehe wir nicht ein bißchen die Richtung verändert haben«, sagte Bert. Er sah nach dem Statoskop.
»Immer noch ›Montée‹!« sagte er.
»Was wohl werden möcht', wenn man eine Leine zöge?«
»Nein!« entschied er. »Ich laß die Finger davon.«
Später zog er an der Reißleine und an den Ventilleinen; aber, wie schon Mr. Butteridge entdeckt hatte – sie hatten sich in eine Seidenfalte im Füllansatz verwickelt. Nichts geschah. Wäre nicht dies kleine Hindernis gewesen, so hätte die Reißleine den Ballon aufgeschlitzt wie mit einem Schwertstreich und hätte Mr. Smallways mit einer Geschwindigkeit von ein paar tausend Fuß pro Sekunde in die Ewigkeit befördert. »Kein Zug drin!« sagte er mit einem letzten Ruck. Dann frühstückte er.
Er öffnete eine Flasche Sekt, aber, sowie er den Draht durchschnitt, schleuderte sie mit unglaublicher Heftigkeit ihren Kork hinaus, und der größte Teil des Inhalts folgte diesem in den Luftraum nach. Immerhin ergatterte Bert noch ein Glas voll. »Atmosphärischer Druck!« sagte er. Endlich konnte er die Elementarphysik seiner Schultage verwenden! »Nächstesmal muß ich besser aufpassen. Es hat keinen Zweck, das edle Naß zu vergeuden!«
Dann stöberte er nach Streichhölzern umher, um sich Mr. Butteridges Zigarren nutzbar zu machen; aber auch diesmal war ihm das Glück hold, und er fand nichts, womit er das Gas über seinem Kopf hätte anzünden können. Andernfalls wäre er in einem Aufflackern niedergegangen, ein großartiges, aber flüchtiges Feuerwerk … »Der Kuckuck hol den alten Schafskopf von Grubb!« sagte Bert, an seine unfruchtbaren Taschen schlagend. »Was braucht er auch meine Schachtel zu behalten! Immer klaut er einem die Streichhölzer!«
Er ruhte eine Weile. Dann erhob er sich wieder, stöberte ein bißchen herum, stellte die Ballastsäcke auf dem Boden um, beobachtete eine Weile die Wolken und blätterte in den Landkarten. Bert liebte Landkarten; und er verbrachte eine geraume Zeit mit dem Bemühen, eine von Frankreich oder dem Kanal zu finden; aber es waren lauter Generalstabskarten englischer Grafschaften. Das lenkte seine Gedanken auf Sprachen; und er versuchte, sein Schulfranzösisch wieder auszugraben. »Je suis Anglais. C'est une méprise. Je suis arrivé par accident ici.« Das schienen ihm die passendsten Phrasen. Dann fiel ihm ein, er könnte sich damit unterhalten, daß er Mr. Butteridges Briefe las und seine Brieftasche untersuchte; und auf diese Weise vertrieb er sich den Nachmittag.
Er saß auf der gepolsterten Truhe, sehr sorgfältig eingehüllt, denn die Luft war, wenn auch ruhig, aufreizend kalt und klar. Zuunterst trug er einen bescheidenen blauen Baumwollanzug und die anspruchslose Unterkleidung eines eleganten Vorstadtjünglings, mit sandalenartigen Radlerschuhen und über die Hosenenden gezogenen Strümpfen. Darüber das zum Wüstenderwisch gehörige durchlöcherte Bettuch. Darüber die Weste und den Rock und den großen, pelzgefütterten Überrock Mr. Butteridges. Darüber einen weiten Damenpelzmantel und um seine Knie eine Wolldecke. Auf seinem Kopf thronte die Wergperücke und über ihr Mr. Butteridges große Mütze mit herabgezogenen Ohrklappen. Ein Paar Pelzschlafschuhe von Mr. Butteridge wärmten seine Füße. Der Ballonkorb war klein und behaglich; ein paar Ballaststücke waren das einzige Unordentliche in der Einrichtung; er hatte einen leichten Klapptisch gefunden und neben sich gestellt; darauf stand ein Glas Sekt. Und rundumher, oben, unten, war Raum – die klare Leere und Stille des Raums, wie nur der Aeronaut sie kennt.
Er wußte nicht, wohin er trieb und was werden würde. Er schickte sich in diesen Stand der Dinge mit einer Heiterkeit, die sehr für den Mut Smallways sprach, obgleich man fast mit Recht hätte vermuten dürfen, daß dieser aus degenerierterem und schlechterem Holz geschnitzt sein müßte. Seine Überzeugung war, daß er irgendwie landen müsse und daß, wenn er dabei nicht zerschellte, irgendjemand, vielleicht eine »Gesellschaft«, ihn und seinen Ballon nach England zurückschicken würde. Wenn nicht, so würde er ganz energisch nach dem englischen Konsul fragen. »Le consuelo Britannique« – würde das heißen. »Apportez-moi à le consuelo Britannique, s'il vous plaît«, würde er sagen. Denn er war keineswegs des Französischen unkundig. Mittlerweile fand er die intimere Bekanntschaft mit Mr. Butteridge ein interessantes Studium.
Da waren an Mr. Butterigde adressierte Briefe ganz privaten Charakters, unter anderen verschiedene Liebesbriefe verzehrendster Art in einer großen, weiblichen Handschrift. Diese gehen uns nichts an und wir bemerken mit Bedauern, daß Bert sie las.
Nachdem er sie gelesen hatte, sagte er in überwältigtem Ton: »Alle Wetter!« Und dann nach einer langen Pause: »Ob sie das war?«
»Himmlischer Vater!«
Hierauf fuhr er in seiner Untersuchung des Butteridgeschen Innern fort. Es enthielt eine Anzahl von Zeitungsausschnitten, ferner einige deutsche Briefe und einige weitere in der gleichen deutschen Handschrift, aber englisch. »Hallo!« sagte Bert.
Einer der letzteren, der erste, den er zur Hand nahm, begann mit einer Entschuldigung, daß der Schreiber nicht schon eher Englisch geschrieben und dadurch Mr. Butteridge Unbequemlichkeiten und Zeitverlust verursacht habe. Dann ging er auf einen Gegenstand über, der Bert im höchsten Grad aufregte: »Wir verstehen vollkommen die Schwierigkeit Ihrer Stellung, und daß Sie vielleicht augenblicklich überwacht werden. Aber wir glauben nicht, werter Herr, daß man Ihnen ernstliche Hindernisse in den Weg legen wird, wenn Sie Ihr Land zu verlassen wünschen, um auf einer der üblichen Routen – via Dover, Ostende, Boulogne oder Dieppe – mit Ihren Plänen zu uns kommen. Es fällt uns schwer zu glauben, daß Ihre Vermutung, man versuche, Sie Ihrer Erfindung wegen zu ermorden, auf Richtigkeit beruht.«
»Komisch!« sagte Bert und dachte nach.
Dann las er die andern Briefe.
»Es scheint, sie möchten ihn drüben haben«, sagte er. »Aber augenscheinlich strengen sie sich nicht gerade besonders an deswegen. Vielleicht tun sie aber auch nur so, damit sie seine Preise drücken können.«
»Es scheint nicht so recht, als ob's die Regierung wäre«, überlegte er nach einer Pause. »Es ist mehr wie das Papier einer Firma. All das gedruckte Zeug da oben: ›Drachenflieger‹, ›Drachenballons‹, ›Ballonstoffe‹, ›Kugelballons‹. Böhmische Dörfer! Jedenfalls hat er versucht, sein verdammtes Geheimnis ans Ausland zu verkaufen. Das stimmt. Dabei ist nichts Böhmisches. Alle Wetter! Da ist das Geheimnis!«
Er taumelte von seinem Sitz, öffnete den Deckel und legte die Brieftasche offen vor sich auf den Klapptisch. Sie war voll von Zeichnungen in dem eigentümlich flachen Stil und den konventionellen Farben, wie Ingenieure sie anwenden. Außerdem lagen ein paar unterbelichtete, augenscheinlich von einem Amateur aufgenommene Fotografien der Maschine, die Butteridge gemacht hatte, in ihrer Halle beim Kristallpalast bei. Bert fühlte, wie er zitterte. »Himmlischer Vater!« sagte er. »Und da sind wir nun, ich und das ganze verdammte Fluggeheimnis, futsch – über alle Berge!«
»Laß sehen!« Er begann, die Zeichnungen zu studieren und sie mit den Fotografien zu vergleichen. Sie setzten ihn in Verlegenheit. Die Hälfte davon schien zu fehlen. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl ineinanderpassen könnten, fand aber die Anstrengung zu groß für seinen Geist.
»Dumm!« sagte Bert. »Ich wollt', ich hätt' Ingenieur gelernt! Wenn ich's doch herauskriegte!«
Er ging nach der Wand des Korbs und starrte eine Zeitlang mit Augen, die nichts sahen, auf eine ungeheure Gruppe großer Wolken hinab – eine Gruppe von sonnenbeglänzten, langsam zerfließenden Monte Rosas. Ein sonderbarer schwarzer Fleck, der sich darüberhin bewegte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er erschrak. Es war ein schwarzer Fleck, der sich tief unten langsam mit ihm fortbewegte, ihm unermüdlich da drunten über die Wolkenberge weg folgte. Warum folgte ihm das Ding? Was mochte es sein? …
Eine Erleuchtung kam ihm. »Versteht sich!« sagte er. Es war der Schatten des Ballons. Aber eine ganze Weile beobachtete er es noch zweifelnd.
Dann kehrte er zu den Plänen auf dem Tisch zurück.
Einen ganzen langen Nachmittag verbrachte er zwischen seinen Bemühungen, sie zu entziffern und Anfällen von Nachdenken. Er konstruierte einen denkwürdigen, neuen französischen Satz. »Voici, Mossjeh! – Je suis un inventeur Anglais. Mon nom est Butteridge. Beh. oo. teh. teh. eh. arr. E. deh. ghe. eh. J'avais ici pour vendre le secret de le flyingmachine. Comprenez? C'est le machine à faire l'oiseau. Comprenez? Balancer? Qui, exactement! Battir l'oiseau en fait, à son propre jeu. Je désire de vendre ceci à votre governement national. Voulez-vous me directer là?«
»Bißchen komisch, glaub' ich, was Grammatik betrifft!« sagte Bert. »Aber sie müßten's schon verstehen.«
»Aber wenn sie nun verlangen, ich soll das verdammte Ding erklären?«
Er kehrte mit sorgenvoller Miene zu den Plänen zurück. »Ich glaub's nicht, daß das alles ist!« sagte er.
Er wurde immer unsicherer da oben unter seinen Wolken, was er mit seinem wundervollen Fund anfangen sollte. Wer weiß, jeden Augenblick konnte er unten landen – unter wer weiß was für fremden Menschen …
»Es ist die Chance meines Lebens!« sagte er.
Und es ging ihm immer deutlicher auf, daß es das nicht war. »Sobald ich drunten bin, telegrafieren sie – setzen's in die Zeitung. Und Butteridge erfährt's – und ist hinter mir her!« Butteridge mußte fürchterlich sein, wenn er hinter einem her war! Bert dachte an den großen, schwarzen Schnurrbart, die dreieckige Nase, das durchdringende Gebrüll, den funkelnden Blick. Sein Nachmittagstraum von einer wunderbaren Besitzergreifung und Verwertung des großen Butteridgeschen Geheimnisses schrumpfte zusammen, zerfloß und entschwand. Er erwachte wieder zur Vernunft.
»Es geht nicht. Was hat's für einen Zweck, dran zu denken?« Er begann, die Papiere langsam und widerstrebend wieder in die verschiedenen Taschen zu legen, so wie er sie gefunden hatte. Dann sah er ein herrliches, goldenes Licht auf dem Ballon und fühlte eine neue Wärme im blauen Dom des Himmels. Er erhob sich und erblickte die Sonne, die wie ein großer Ball blendenden Goldes auf einem wilden Meer goldumsäumter, roter und purpurner Wolken thronte. Wundervoll und seltsam war es, über alle Begriffe. Gen Osten erstreckte sich endlos, in dunkelndem Blau, das Wolkenland; und Bert schien es, als läge die ganze runde Hemisphäre der Welt vor seinen Augen …
Da bemerkte er, fern über dem Blau, drei lange, dunkle Gebilde, gleich eilenden Fischen, die hintereinanderher glitten, wie Delphine im Wasser hintereinanderher schwimmen. Sie waren ganz wie Fische – mit Schwänzen. Es war – in dieser Beleuchtung – kein ganz überzeugender Eindruck. Bert blinzelte, starrte wieder hinüber. Sie waren verschwunden. Noch lang durchforschten seine Blicke jene fernen, blauen Gefilde. Er sah nichts mehr …
»Möcht' wissen, ob ich überhaupt was gesehen hab'!« dachte er. »So was gibt's ja nicht …«
Tiefer und tiefer sank die Sonne, nicht senkrecht, sondern sachte gen Norden gleitend. Dann plötzlich war das Tageslicht und seine allumfassende Wärme verschwunden und der Zeiger des Statoskops zitterte hinüber nach Descente.
Na, was jetzt?« sagte Bert.
Weit, langsam, stetig stieg die kalte, graue Wolkenwildnis gegen ihn empor. Und während er zwischen sie hinabsank, hörten die Wolken auf, schneebedeckten Berggipfeln zu gleichen, wurden körperlos, zu einem uferlosen, stummen Treiben und Wogen. Einen Augenblick, als er schon fast zwischen ihren Dämmermassen war, hielt der Ballon im Fallen inne. Dann plötzlich war der Himmel fort, die letzten Spuren des Tageslichts verschwunden, und er fiel schnell, in einem Abenddämmerlicht, durch einen Wirbel von feinen Schneeflocken, die an ihm vorüber dem Zenit zu fluteten, die auf alles, was ihn umgab, herein wehten und schmolzen und sein Gesicht mit Geisterfingern berührten. Ihn schauderte. Sein Atem kam dampfend von seinen Lippen, und im Handumdrehen war alles betaut und naß.
Er hatte den Eindruck eines Schneesturms, der mit beispielloser und immer wachsender Heftigkeit aufwärts fegte. Und er begriff, daß er immer schneller und schneller sank.
Unmerkbar erwachte in seinen Ohren ein Geräusch. Das große Schweigen der Welt war zu Ende.
Was war dies unklare Geräusch?
Er reckte den Hals über die Korbwand – besorgt – verwirrt.
Erst war ihm, als sähe er, und dann, als sähe er nicht. Dann sah er deutlich kleine Schaumkämme, die einander verfolgten, und eine weite Wüste wogender Wasser unter sich. Weit in der Ferne war ein Lotsenboot mit einem großen Segel, auf dem undeutliche, schwarze Lettern standen, und mit einem kleinen, rot-gelben Licht. Und das Boot rollte und stampfte – rollte und stampfte im Sturm, während er überhaupt keinen Wind spürte. Bald klang das Geräusch der Wasser laut und nah. Er sank – sank – ins Meer.
Er entwickelte plötzlich eine fieberhafte Tätigkeit.
»Ballast!« schrie er, hob einen kleinen Sack vom Boden und warf ihn über Bord. Er wartete die Wirkung gar nicht erst ab, sondern sandte sogleich einen zweiten hinterher. Jetzt blickte er hinunter und sah gerade noch einen winzigen, weißen Schaumfleck in den Wassern unter sich. Dann war er wieder im Schnee und in den Wolken.
Er warf – ganz unnötigerweise – noch einen dritten und vierten Ballastsack über Bord und bemerkte auch bald mit unendlicher Genugtuung, daß er aus Frost und Feuchtigkeit wieder in die klare, kalte, obere Luft flog, in der das Tageslicht noch säumte. »Gott sei Dank!« sagte er aus tiefstem Herzen.
Ein paar Sterne funkelten durchs Blau. Im Osten schien klar ein flacher Mond.
Dieser erste Sturz abwärts erfüllte Bert mit einer unheimlichen Vorstellung uferloser Wasser in der Tiefe. Es war eine Sommernacht, aber ihm schien sie trotzdem endlos lang. Er hatte ein Gefühl der Unsicherheit, von dem er – ganz unvernünftigerweise – glaubte, der Sonnenaufgang müßte es zerstreuen. Auch war er hungrig. Er tastete in der Truhe herum, fuhr mit den Fingern in eine Pastete, erwischte ein paar Butterbrote und öffnete auch mit ziemlichen Erfolg eine halbe Flasche Sekt. Das stärkte und erwärmte ihn. Er brummelte noch etwas von Grubb und den Streichhölzern, wickelte sich warm ein und entschlummerte auf der Truhe. Ein- oder zweimal stand er auf, um sich zu vergewissern, daß er auch noch sicher hoch über dem Meer sei. Das erste Mal waren die mondbeglänzten Wolken weiß und dicht, und der Schatten des Ballons fiel wie ein folgsames Hündchen darüber hin. Später erschienen sie dünner. Während er so still lag und den riesenhaften, dunklen Ballon über sich anstarrte, machte er eine Entdeckung. Seine – oder vielmehr Mr. Butteridges – Weste raschelte, wenn er atmete. Sie war mit Papier ausgefüttert. Aber es war zu dunkel zum Nachsehen, so sehr es Bert auch gelüstete …
Das Krähen von Hähnen, das Bellen von Hunden und ein Gezwitscher von Vögeln weckte ihn auf. Er trieb langsam, in geringer Höhe, über eine weite, vom Sonnenaufgang golden beschienene Landschaft unter einem klaren Himmel dahin. Er starrte auf heckenlose, gut bebaute Felder hinaus; dazwischen liefen mit roten Telegrafenstangen eingefaßte Straßen hin. Eben hatte er ein großes, weißgewaschenes Dorf mit einem geraden Kirchturm und steilen, roten Ziegeldächern passiert. Eine Anzahl Bauern, Männer und Frauen, in hellen Kitteln und plumpem Schuhwerk war auf dem Weg zur Arbeit stehengeblieben und beobachtete ihn. Er war jetzt so weit unten, daß das Tau schleppte.
Er starrte auf die Leute hinab. »Möcht' wissen, wie man landet?« dachte er.
»Ob ich wohl landen soll?«
Dann merkte er, daß er auf eine Einschienenbahnlinie zutrieb und warf hastig ein paar Säcke Ballast über Bord, um ihr zu entgehen.
»Laß sehen. Man könnte doch ganz einfach sagen: ›Prenez!‹ Wenn ich doch wüßte, wie das auf französisch heißt: Faßt das Tau! … Franzosen werden's ja wohl sein?«
Er betrachtete aufs neue die Landschaft. »Könnte auch Holland sein. Oder Luxemburg. Oder auch Lothringen – von mir aus. Was das wohl sein kann, die großen Dinger da drüben? Eine Art Ziegelbrennereien. Gedeihlich aussehende Gegend …«
Dies gedeihliche und gediegene Aussehen der ganzen Gegend erweckte einen Widerhall in seiner Brust.
»Werd' mich erst ein bißchen zurechtstutzen«, sagte er. Er beschloß, wieder etwas zu steigen und sich seiner Perücke (die jetzt unbehaglich heiß auf seinem Kopfe saß) und so weiter zu entledigen. Also warf er einen Sack Ballast über Bord und schoß zu seinem Erstaunen sogleich mit großer Geschwindigkeit aufwärts.
»Verdammt!« sagte Mr. Smallways. »Den Ballasttrick hab' ich entschieden ein bißchen zu sehr ausgeschlachtet! … Wann ich wohl wieder herunterkomme? … Na, also Frühstück an Bord!«
Die Luft war warm, er nahm die Mütze und seine Perücke ab und warf letztere unbekümmert über Bord. Das Statoskop tat sofort einen Ruck nach »Montée«.
»Dies verdammte Ding steigt schon, wenn man bloß einen Blick über Bord wirft!« bemerkte er und wandte sich zur Truhe. Er fand unter anderem verschiedene Dosen flüssigen Kakaos mit ausführlicher Gebrauchsanweisung, die er mit peinlichster Sorgfalt befolgte. Er bohrte den dazugehörigen Schlüssel in die am Boden der Büchse bezeichneten Löcher, worauf die Büchse sofort warm und wärmer und heiß und heißer wurde, bis er sie überhaupt nicht mehr anfassen konnte. Dann öffnete er sie am anderen Ende und hatte seinen dampfenden Kakao, ohne irgendwelche Art von Streichholz oder Flamme angewandt zu haben. Es war eine alte Erfindung, aber für Bert war sie neu. Schinken und Marmelade und Brot war auch vorhanden, so daß das Frühstück wirklich recht erträglich ausfiel.
Dann zog er seinen Überrock aus, denn die Sonne brannte jetzt schon fast heiß; und dabei fiel ihm das Rascheln ein, das er in der Nacht gehört hatte. Er zog die Weste aus und untersuchte sie. »Der alte Kerl wird keine große Freude haben, wenn ich das auftrenne!« Er zögerte, und fing dann an, aufzutrennen. Er fand die fehlenden Pläne zu den beweglichen Seitenteilen, auf denen die ganze Stabilität der Maschine beruhte.
Wenn ein Engel Bert beobachtet hätte, er hätte ihn lange Zeit nach dieser Entdeckung in einem Zustand tiefsten Nachsinnens dasitzen sehen. Schließlich erhob er sich mit der Miene eines Menschen, dem eine Erleuchtung kommt, nahm Mr. Butteridges zertrennte und ruinierte Weste und schleuderte sie zum Ballon hinaus, von wo sie in Schraubenlinien langsam niedersank, bis sie sich schließlich mit einem befriedigten Plumps auf dem Gesicht eines biederen Touristen, der am Rand des Höhenwegs bei Wildbad friedlich schlummerte, zur Ruhe setzte. Auch dies trieb den Ballon höher und folglich in eine noch günstigere Position für unsern beobachtenden Engel, der zunächst gesehen hätte, wie Mr. Smallways seinen eigenen Rock und seine eigene Weste aufriß, seinen Kragen ablegte, sein Hemd aufknöpfte, mit der Hand in seinen Busen fuhr und sich das Herz herausriß – oder wenn nicht das Herz, so doch jedenfalls einen großen, hellroten Gegenstand. Wenn dann der Beobachter, nach einem Schauder himmlischen Abscheus, diesen roten Gegenstand genauer betrachtet hätte, so wäre eins von Berts kostbarsten Geheimnissen, eine seiner Kardinalschwächen, ans Licht des Tags gekommen. Es war ein rotflanellener Brustwärmer, einer jener umfangreichen, quasi hygienischen Gegenstände, die, im Verein mit Pillen und Arzneimitteln, die Stelle wohltätiger Reliquien und Heiligenbilder unter den protestantischen Völkern der Christenheit einnehmen. Bert trug dies Ding immer. Es war sein Lieblingsaberglaube und gründete sich auf das Sprüchlein eines Fünfzigpenny-Wahrsagers, der ihm gesagt hatte, er sei schwach auf der Lunge.
Bert fuhr also fort, seinen Fetisch abzuknöpfen, zertrennte ihn mit einem Taschenmesser und barg die eben gefundenen Pläne zwischen den zwei Lagen Baumwollflanell, aus denen er bestand. Dann brachte er mit Hilfe von Mr. Butteridges Rasierspiegel und zusammenklappbarem Wachstuchwaschbecken und mit dem Ernst eines Mannes, der sich eines unwiderruflichen Schritts bewußt ist, seine Toilette in Ordnung, knöpfte seinen Rock zu, warf das weiße Laken des Wüstenderwischs beiseite, wusch sich mit Maß, rasierte sich, zog die große Mütze und den Pelzmantel wieder an und betrachtete, sehr erquickt durch all diese Manipulationen, die Gegend.
Es war tatsächlich ein Schauspiel von beispielloser Großartigkeit. Wenn es auch vielleicht nicht ganz so seltsam und großartig war, wie das sonnbeglänzte Wolkenland des vorhergehenden Tages, so war es auf jeden Fall unendlich viel interessanter. Die Luft war vollkommen klar, und außer im Süden und Südwesten stand keine Wolke am Himmel. Die Landschaft bestand aus welligen Hügeln mit zerstreuten Tannenwäldern und Heideflächen und dazwischenliegenden zahlreichen Bauerngehöften. Flüsse, die ab und zu von angestauten Seen und Wehren mit elektrischen Kraftanlagen unterbrochen waren, durchschnitten in tiefen Windungen das Hügelland. Die ganze Gegend war übersät mit freundlichen, steildachigen Dörfern, deren jedes, neben seinem drahtlosen Telegrafenmast, eine eigenartige und interessante Kirche aufwies. Da und dort erhoben sich große Schlösser und Parks mit weißen Wegen; von rot und weißen Telegrafenstangen eingefaßte Straßen sprangen überall ins Auge. Dazwischen lagen – gleich Gärten – ummauerte Wiesen und Heuschober und große Scheunendächer und Meiereien. Die Höhen waren voll Viehherden. Da und dort sah Bert die Spuren der alten, jetzt in Einschienenbahnen umgewandelten Eisenbahnen sich durch Tunnels winden und Ströme überbrücken, und ein plötzliches Dröhnen verkündete einen vorübereilenden Zug. Alles war außerordentlich klar und bis aufs einzelnste deutlich. Ein oder das anderemal sah er auch Geschütze und Soldaten, und die leisen Anzeichen militärischer Vorbereitungen, deren Zeuge er am Pfingstsonntag in England gewesen war, fielen ihm wieder ein. Aber nichts deutete daraufhin, daß diese militärischen Vorbereitungen etwas Außergewöhnliches waren, und niemand vermochte ihm das gelegentliche schwache, unregelmäßige Kanonengedonner zu erklären, das zu ihm empordrang …
»Wenn ich bloß wüßte, wie ich hinunterkomme!« sagte Bert in seiner Höhe von zehntausend Fuß, und begann darauf ein vergebliches Zerren und Ziehen an der roten und weißen Leine. Danach nahm er eine Art Inventur des Proviants vor. Das Leben in der Höhe machte ihm einen geradezu niederschmetternden Appetit; und er hielt es für weise, seine Vorräte in Rationen einzuteilen. Er rechnete aus, daß er etwa eine Woche in der Luft zubringen könnte.
Zuerst war das ungeheure Panorama unter ihm so stumm gewesen wie ein gemaltes Bild. Aber als der Tag fortschritt und das Gas leise aus dem Ballon ausströmte, sank dieser wieder erdwärts. Die einzelnen Eindrücke mehrten sich; die Menschen erschienen deutlicher; er begann das Pfeifen und Dröhnen der Bahnzüge und Wagen, das Gebrüll des Viehs, den Klang der Hörner und Pauken und endlich sogar die Stimmen der Menschen zu unterscheiden. Schließlich schleifte sein Schlepptau wieder, und er dachte, es sei möglich, einen Landungsversuch zu machen. Ein- oder zweimal, als das Tau über Kabel streifte, fühlte er, wie ihm sein Haar vor Elektrizität zu Berge stand. Einmal verspürte er auch einen leichten Schlag, und Funken knisterten um den Korb. Aber er nahm all diese Dinge einfach als Reiseerlebnisse. Ein Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz: er wollte den eisernen Anker, der vom Ring herabhing, auswerfen.
Von Anfang an war dieser Versuch ein mißglückter, vielleicht, weil der Ort zum Abstieg unglücklich gewählt war. Ein Ballon sollte auf einem offenen, leeren Platz landen; und Bert wählte eine Menschenmenge dazu aus. Er entschloß sich ganz plötzlich und ohne rechte Überlegung. Während er so dicht am Boden über der Erde hinflog, sah er auf einmal vor sich eins der reizendsten kleinen Städtchen, die es überhaupt geben konnte: eine Gruppe steiler Giebel, überragt von einer hohen Kirche, von Bäumen überschattet, von Mauern eingehegt, mit einem schönen, breiten Tor, das auf eine von Bäumen eingefaßte Landstraße ging. Alle Drähte und Kabel der ganzen Umgebung liefen hier zusammen wie fröhliche Gäste zum Fest. Es sah unendlich traut und gemütlich aus, und reicher Flaggenschmuck machte es noch heiterer. Auf der Straße war ein fortwährendes Hin und Her von Gruppen von Landleuten in großen, zweirädrigen Wagen und zu Fuß; dazwischen ab und zu ein Einschienenwaggon. Und um den Bahnhof, unter den Bäumen vor der Stadt, war ein wimmelnder, kleiner Jahrmarkt von Buden aufgeschlagen. Das Ganze erschien Bert so recht als ein warmer, menschlicher, treugewurzelter und in jeder Beziehung reizender Ort. Er kam in niedrigem Flug über die Baumwipfel daher, seinen Anker in Bereitschaft, der ihn – so malte er es sich aus – als seltsamen, interessanten und interessierten Gast inmitten des Ganzen festankern sollte.
Er sah sich schon, wie er mit Hilfe der Zeichensprache und zufällig anwesender Sprachkundiger in einem Kreis bewundernder Landleute Heldentaten verrichtete …
Dann begann ein Kapitel widrigster Verhängnisse. Lang, ehe die Menge sein Kommen über den Bäumen so recht bemerkt hatte, machte das Tau sich unbeliebt. Ein älterer und augenscheinlich betrunkener Bauer in einem glänzenden schwarzen Hut und mit einem großen roten Regenschirm erblickte es zuerst, als es an ihm vorüberschleifte, und ward von einem unrühmlichen Ehrgeiz, es umzubringen, ergriffen. Energisch und unter unerquicklichem Geschrei verfolgte er es. Es schleifte quer über den Weg, patschte in eine Kufe Milch auf einem Verkaufstisch, und schlug dann mit seinem milchigen Schwanz in ein Automobil voll Fabrikmädchen, das vor dem Stadttor hielt. Die Mädchen kreischten laut auf. Jetzt blickten die Menschen in die Höhe und sahen Bert, der, wie er meinte, freundliche Begrüßungszeichen, wie sie – in Anbetracht des weiblichen Gekreisches – dachten, beleidigende Gesten machte. Nun stieß der Korb heftig an das Dach des Häuschens mit dem Torgang, knickte eine Flaggenstange, griff einen Akkord auf ein paar Telegrafendrähten und schleuderte unter die wachsende Menge einen zerrissenen Draht, der die Erbitterung mit wohlgezielten Peitschenhieben noch anfeuerte. Bert entging nur durch krampfhaftes Anklammern einem plötzlichen Purzelbaum aus dem Korb. Zwei junge Soldaten und mehrere Bauern schrien ihm allerlei zu, schüttelten die Fäuste gegen ihn und machten sich, als er über die Mauer in die Stadt verschwand, eiligst auf, ihn zu verfolgen.
Bewunderungsvolle Landleute! Jawohl!
Der Ballon machte, wie alle Ballons, wenn sie durch Aufstoßen einen Teil ihres Gewichtes verlieren, eine Art leichtfertigen Satz, und im nächsten Augenblick befand sich Bert über einer von Bauern und Soldaten wimmelnden Straße, die auf einen Marktplatz mündete. Die Woge von Unfreundlichkeit folgte ihm.
»Ankern!« sagte sich Bert. Dann kam ihm – etwas verspätet – ein Gedanke, und er brüllte: »He! Ihr da drunten! Têtes! He! He! Têtes! Verflucht!«
Der Anker rasselte, gefolgt von einer Lawine zerbrochener Ziegel, ein steil abfallendes Dach hinab, schlug unter Schreien und Kreischen auf der Straße auf und schmetterte mit gewaltiger und verhängnisvoller Wirkung durch eine Schaufensterscheibe. Der Ballon schwankte zum Übelwerden, und der Korb kippte um. Aber der Anker hatte nicht Grund gefaßt. Er tauchte sofort wieder auf, mit einer lächerlichen Miene sorgfältigster Auswahl auf seiner einen Schaufel ein Kinderstühlchen tragend und verfolgt von einem wutschnaubenden Ladeninhaber. Er hob seine Errungenschaft in die Höhe, drehte sich, mit einer Miene peinlicher Unentschlossenheit, inmitten eines Wutgebrülls ein paarmal um sich selbst und stülpte sie dann, wie durch Eingebung, geschickt über den Kopf einer Bauersfrau, die auf dem Marktplatz Gemüse feilhielt.
Aller Aufmerksamkeit war jetzt auf den Ballon gerichtet. Jedermann versuchte, entweder den Anker zu packen oder das Schlepptau zu erhaschen. Mit einem pendelartigen Schwung, der die Menge nach rechts und links in die Flucht jagte, kam jetzt der Anker wieder zur Erde, angelte vergeblich nach einem dicken Herrn in blauem Anzug und Strohhut, riß einem Tisch mit Töpferwaren zwei Beine weg, veranlaßte einen Soldaten in Radfahrhosen zu den schönsten Bocksprüngen und rettete sich dann etwas unsicher zwischen die Hinterbeine eines Schafs, das krampfhafte und wenig vornehme Anstrengungen machte, sich zu befreien und sich schließlich auf einem steinernen Kreuz in der Mitte des Platzes widerwillig zur Ruhe setzte. Der Ballon zerrte mit einem Ruck nach oben. Im nächsten Moment zog ein Dutzend eifrige Hände ihn erdwärts. Im gleichen Augenblick verspürte Bert zum erstenmal einen frischen Windhauch, der um ihn wehte.
Ein paar Sekunden lang stand er taumelnd im Korb, der jetzt unbehaglich schwankte, betrachtete die empörte Menge unter sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er war ungemein erstaunt über diese Folge von Mißgeschicken. Machte er sich wirklich den Leuten so unangenehm? Jedermann schien erbost über ihn. Niemand schien seine Ankunft zu interessieren oder zu belustigen. Ein ganz unverhältnismäßig großer Teil des Geschreis klang fast wie Geschimpfe klang tatsächlich geradezu wie Empörung! Verschiedene Amtspersonen in großartigen Uniformen und Dreispitzen versuchten vergeblich, die Menge in Ordnung zu halten. Fäuste und Stöcke hoben sich. Und als Bert einen Mann den Haufen durchbrechen, nach einem Heuwagen eilen, eine lange Heugabel mit blanken Zinken holen und einen Soldaten im blauen Rock seine Koppel aufschnallen sah, ward sein aufsteigender Zweifel, ob diese kleine Stadt schließlich wirklich ein so guter Landungsplatz sei, zur Gewißheit.
Er hatte sich in die Vorstellung eingewiegt, sie würden eine Art Heros aus ihm machen. Jetzt wußte er, daß das ein Irrtum war.
Er war vielleicht noch zehn Fuß über den Leuten, als er seinen Entschluß faßte. Seine Erstarrung wich. Er sprang auf den Sitz und löste, unter größter Gefahr, kopfüber hinauszustürzen, das Ankertau von dem Knebel, der es hielt, sprang dann nach dem Schlepptau und befreite auch dies. Ein heiserer Schrei der Entrüstung begrüßte den Fall des Ankertaus und den raschen Stoß des Ballons, und etwas – er hielt es später für eine Rübe – schwirrte an seinem Kopf vorüber. Das Schlepptau folgte seinem Genossen. Die Menge schien einen Sprung nach abwärts zu machen. Mit einem gewaltigen, entsetzenerregenden Knistern streifte der Ballon an einem Telefonpfosten vorbei, und einen herzbeklemmenden Augenblick lang erwartete Bert entweder eine elektrische Explosion oder das Zerreißen der Seide oder beides zugleich. Aber das Glück war ihm hold.
In der nächsten Sekunde saß er zusammengekauert am Boden des Korbs und schoß, befreit vom Gewicht des Ankers und der zwei Taue, aufs neue durch die Luft empor. Eine Zeitlang blieb er noch zusammengeduckt; und als er endlich wieder hinaussah, war die kleine Stadt schon winzig und flog mit dem ganzen übrigen Süddeutschland in immerwährendem Kreislauf um den Korb. Oder wenigstens schien es so. Nachdem er sich erst daran gewöhnt hatte, fand er diese Rotation des Ballons ganz bequem; so brauchte er selber nicht im Korb umherzugehen.
Spät am Nachmittag eines heiteren Sommertags im Jahre 19... – um im Stil gewisser klassischer Romane zu reden – konnte man einen einsamen Luftschiffer beobachten, der in einer Höhe von ungefähr elftausend Fuß über dem Meer und sich immer noch langsam um die eigene Achse drehend, in nordöstlicher Richtung über das fränkische Land hinflog. Er hatte den Kopf über die Wand seines Korbs herausgestreckt und überschaute das Land unter sich mit dem Ausdruck tiefster Bestürzung. Dann und wann formten seine Lippen unhörbare Worte, wie zum Beispiel: »Auf einen schießen!« oder »Ich werd' schon herunterkommen, wenn ich nur erst herauskriegte, wie!« Über dem Rand des Korbs hing als Aufforderung zur Rücksichtnahme eine erfolglose weiße Flagge – das Gewand des Wüstenderwischs.
Er war sich jetzt sehr deutlich bewußt, daß die Welt unter ihm, weit davon entfernt, die naive, schläfrige Provinziallandschaft seiner vormittäglichen Phantasien zu sein, die von seinem Dasein nichts wußte und seinen Abstieg mit Erstaunen, ja mit Ehrfurcht begrüßen würde, seinen Flug ganz im Gegenteil mit großer Gereiztheit aufnahm und äußerste Unzufriedenheit mit der Richtung, die er einschlug, bekundete. Dabei war gar nicht er es, der diese Richtung einschlug, sondern seine Gebieter, die Winde des Himmels. Geheimnisvolle Stimmen sprachen durch Vermittlung von Megaphonen auf unheimliche und erschreckende Weise und in einer Menge der verschiedensten Sprachen an sein Ohr. Offiziell aussehende Persönlichkeiten hatten mit Hilfe wehender Flaggen und winkender Arme zu ihm emporsignalisiert. Im allgemeinen herrschte eine gutturale Variante des Englischen in den einzelnen Sätzen vor, die zum Ballon empordrangen; und hauptsächlich wurde er aufgefordert, »herunterzukommen, oder man würde nach ihm schießen«.
»Alles ganz schön und recht«, sagte Bert. »Aber wie?«
Dann schossen sie in einiger Entfernung an dem Ballon vorüber. Sechs- oder siebenmal hatte man soeben auf ihn geschossen; und einmal war die Kugel mit einem Laut an ihm vorübergeschwirrt, der so überzeugend an das Reißen von Seide gemahnte, daß er sich schon auf einen jähen Sturz gefaßt machte. Aber entweder zielten sie an ihm vorbei oder sie hatten ihn gefehlt; und bis jetzt war noch nichts zerrissen als die Luft um ihn her und seine gequälte Seele.
Augenblicklich erfreute er sich einer Pause in diesen Aufmerksamkeiten; aber er fühlte, es war im besten Fall nur ein Zwischenakt, und er versuchte nach Kräften, sich über seine Lage klarzuwerden. Er stärkte sich eben – in einer etwas nachlässigen, unordentlichen Art – an heißem Kaffee und Pastete, wobei sein Auge unablässig nervös über den Rand des Korbes hinausschweifte. Zuerst hatte er das wachsende Interesse an seinem Flug seinem ungeschickten Landungsversuch in dem anmutigen, kleinen Bergstädtchen zugeschrieben; jetzt aber begann er sich zu vergegenwärtigen, daß mehr die militärische als die bürgerliche Gewalt sich mit ihm beschäftigte.
Er spielte ganz wider Willen die unheimlichste aller mysteriösen Rollen – die Rolle eines internationalen Spions. Er sah geheime Dinge. Und keine geringere Macht als das Deutsche Reich war es, deren Absichten er durchkreuzt hatte. Er war mitten in den Brennpunkt der Weltpolitik geraten; er trieb hilflos dem großen Reichsgeheimnis, dem riesigen aeronautischen Park zu, der in rasender Hast in Franken angelegt worden war, um stillschweigend, eiligst und in ungeheurem Maßstab die großen Erfindungen Hunstedts und Stoffels zu verwerten und so, vor allen anderen Nationen, Deutschland eine Flotte von Luftschiffen, die Gewalt über die Luft und die Herrschaft der Welt zu sichern.
Später, just ehe sie ihn ganz herunterschossen, sah Bert jenes große Gelände leidenschaftlichster Arbeit, vom warmen Abendlicht beleuchtet, eine große Hochebene, auf der die Luftschiffe wie eine Herde grasender Ungetüme zur Fütterungszeit lagen. Es war eine ungeheure Fläche, die sich gen Norden erstreckte, soweit er überhaupt sah, und methodisch in numerierte Hallen, Gasometer, Truppenlager, Magazine eingeteilt, von den allgegenwärtigen Einschienenbahnlinien durchzogen und gänzlich frei von durch die Luft gehenden Drähten oder Kabeln war. Überall war das Schwarzweißrot des Deutschen Reichs, überall breiteten die schwarzen Adler ihre Schwingen aus. Aber auch ohne diese Wahrzeichen hätte die breite und kraftvolle Geordnetheit des Ganzen es als deutsch gekennzeichnet. Eine Unmenge von Männern gingen ab und zu, manche, in der weiß und grauen Arbeitsuniform, waren an den Ballons beschäftigt, andere, im grauen Dienstanzug, exerzierten. Da und dort glitzerte eine große Uniform. Die Luftschiffe fesselten ganz besonders seine Aufmerksamkeit; und er wußte sofort, drei von ihnen waren es, die er in der vergangenen Nacht gesehen hatte, als sie die bewölkte Luft wahrgenommen hatten, um unbeobachtet zu manövrieren. Sie waren ganz und gar fischähnlich. Denn die großen Luftschiffe, mit denen Deutschland in seinem letzten ungeheuerlichen Kampf um die Weltherrschaft – ehe die Menschheit begriffen hatte, daß Weltherrschaft ein Traum ist – New York angriff, waren die direkten Abkömmlinge des Zeppelinschen Luftschiffs, das 1906 über den Bodensee flog, und der Lebaudy-Lenkballons, die 1907 und 1908 ihre denkwürdigen Streifzüge über Paris machten.
Diese deutschen Luftschiffe bestanden aus rippenartigen Skeletten aus Stahl und Aluminium und einer starken, nicht elastischen Segeltuchhülle, innerhalb welcher sich eine durch Querschotten in fünfzig bis hundert Zellen eingeteilte, undurchlässige Gummigaskammer befand. Diese Abteilungen waren alle absolut gasdicht und mit Wasserstoff gefüllt, und der ganze Aerostat ließ sich vermittels eines langen, inneren Ballonets aus geölter und gefirnister Seide, in welchen und aus welchem Luft gepumpt werden konnte, in jeder beliebigen Höhe halten. Auf diese Weise ließ sich der Aerostat nach Belieben leichter oder schwerer machen als Luft, und Verluste an Gewicht durch Verbrauch von Brennmaterial, Auswerfen von Granaten und so weiter ließen sich durch das Einlassen von Luft in einzelne Abteilungen des allgemeinen Gassacks ebenfalls ersetzen. Alles in allem war es eine in höchstem Grad explosive Konstruktion; Gefahren waren aber in all solchen Dingen nicht zu vermeiden, und es hieß, sich dagegen wappnen, so gut es ging. Jegliche Erzeugung von Feuer mußte auf diesen Luftschiffen ausgeschaltet werden. Das Ganze hatte eine Stahlachse, ein Rückgrat, das in Maschine und Propeller endigte; die Mannschaft und die Magazine waren vorn in einer Reihe von Kabinen unter dem breiteren, kopfähnlichen Vorderteil untergebracht. Die Maschine, nach jenem höchsten Triumph deutscher Erfindung, dem außerordentlich leistungsfähigen Pforzheimer Modell, gebaut, wurde durch Drähte vom Vorderteil aus bedient, das überhaupt der einzige bewohnbare Teil des Schiffs war. War irgend etwas in Unordnung, so gingen die Ingenieure an einer Strickleiter unterhalb des Rahmens nach hinten. Die Neigung des Ganzen zum Schlingern wurde zum Teil durch zwei ebensolche vertikale Flossen bewerkstelligt, die unter normalen Umständen wie Kiemendeckel an beiden Seiten des Kopfes anlagen. Kurzum, es war eine fast vollkommene Anpassung der Fischform an Luftverhältnisse, nur daß Statozyste, Augen und Gehirn unten lagen statt oben. Ein auffallender und unfischartiger Zug war der Apparat für drahtlose Telegrafie, der von der vordersten Kabine, das heißt unter dem Kinn des Fisches, herabhing.
Diese Ungetüme leisteten bei ruhiger Luft neunzig Meilen die Stunde, so daß sie fast allem, mit Ausnahme vielleicht eines ungewöhnlich heftigen Tornados, die Stirn zu bieten und standzuhalten vermochten. Ihre Länge wechselte zwischen achthundert und zweitausend Fuß, und sie hatten eine Tragkraft von siebzig bis zweihundert Tonnen. Wie viele Deutschland besaß, berichtet die Geschichte nicht; aber Bert zählte während seiner kurzen Überschau beinahe achtzig große, perspektivisch sich verkleinernde Klumpen. Solchergestalt waren die Instrumente, auf die Deutschland sich bei Verwerfung der Monroe-Doktrin und bei der kühnen Forderung eines Anteils an der Herrschaft der Neuen Welt hauptsächlich stützte. Aber nicht ausschließlich darauf stützte es sich; auch noch einen bombenschleudernden Einmann-Drachenflieger von unbekannter Leistungsfähigkeit hatte es unter seinen Streitmitteln.
Die Drachenflieger jedoch waren im zweiten großen aeronautischen Park östlich von Hamburg, und Bert Smallways sah nichts von ihnen bei seiner Vogelschaubesichtigung des fränkischen Lagers, ehe sie ihn herunterschossen. Denn herunter schossen sie ihn – mit großer Präzision. Die Kugel schlug an ihm vorüber, und gab, während sie in den Ballon fuhr, eine Art dumpfen Knalls von sich – einen Knall, dem ein raschelndes Ächzen und eine gleichmäßige Abwärtsbewegung folgte. Und als Bert in der Verwirrung des Augenblicks einen Sack Ballast auswarf, beschwichtigten die Deutschen seine Skrupel höflich, aber sicher, indem sie noch zweimal nach seinem Ballon schossen.