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Durch den schmalen Gang des in rasender Fahrt befindlichen D-Zuges Berlin–Sankt Petersburg schwankte eilig ein Schaffner: »Dünaburg-Dwinsk – nach Lamsberg umsteigen!«
Der Zug begann langsamer zu fahren. Schlaftrunken starrte ich durch die angelaufenen Scheiben hinaus – im nebeligen Grau des frühen Herbstmorgens tauchten Häusergruppen auf, undeutlich und schemenhaft flogen sie vorüber. Als der Zug hielt, wünschte ich den Insassen des Frauenabteils, mit denen ich seit Eydtkuhnen zusammen gefahren war und die nach Petersburg weiter wollten, eine glückliche Reise und hastete gleich den übrigen der Wartehalle zu. Ich fror, war hungrig und übernächtig nach der durchfahrenen Nacht und sehnte mich nach einem warmen Getränke.
Nach dem Genuß des heißen Gebräus, an dem die Hitze noch das Beste war, begann ich mich zu erholen.
Ich hatte hier in Dünaburg einen Aufenthalt von einer halben Stunde, dann ging mein Zug weiter.
Es war nicht das erstemal, daß ich nach Rußland kam; fast zwei Jahre war ich als Erzieherin auf einem Gute in der Nähe Libaus gewesen und jetzt, nach einigen schönen Monaten der Erholung, bei den Eltern daheim in unserem kleinen ostpreußischen Landstädtchen, ging es nach Lamsberg, wo ich eine Stelle als Lehrerin an einer deutschen Mädchenschule erhalten hatte.
Bis zum Schulanfang hatte ich noch über zwei Wochen Zeit vor mir. Ich wollte mich zuvor ein wenig in der neuen Heimat, die mir noch völlig fremd war, einleben, und daß ich in Lamsberg eine Jugendfreundin wiederfinden sollte, war mir eine tröstliche Aussicht.
Ich hatte Lotti seit Jahren nicht gesehen, ich wußte nur, daß sie mit Mann und Söhnchen auf dem Besitztum ihres ersten Gatten wohnte, dem Rottmerhof. Auf die briefliche Ankündigung meines Kommens war eine sonderbare Antwort eingelaufen. Der kurze Brief schien in großer Erregung geschrieben und war äußerst konfus. Ich möchte ihr gleich nach meiner Ankunft meine Adresse zukommen lassen, wenn sie auch vorläufig noch nicht zu mir kommen könnte, da sie sich den Fuß verstaucht hätte. Im Rottmerhof aber möchte ich sie keinesfalls aufsuchen, bevor sie mir geschrieben – sie hätte die größte Sehnsucht, mich wiederzusehen, besonders in ihrer jetzigen Lage, aber trotzdem usw.
Ich wachte aus meinen Gedanken auf – rasselnd fuhr der erwartete Zug in die Bahnhofhalle.
In dem Gewühl auf dem überfüllten Bahnsteig hin- und hergeschoben, inmitten russischer und deutscher Fragen und Ausrufe gelangte ich endlich in einen fast leeren Frauenabteil und richtete mich am Fenster für die noch etwa sechsstündige Fahrt häuslich ein.
Plötzlich fuhr ich auf – eine wohlbekannte Stimme hatte mein Ohr getroffen!
Nein, ich hatte mich nicht getäuscht – dort im Gewühl – sie mußten eben mein Kupee passiert haben – der eine der beiden Herren, die eifrig redend der Wartehalle zuschritten, der Große, der Blonde – das war Werner Bredow! Mutter Gretens »bastes Jungchen« – der Neffe unserer alten guten Nachbarin im Heimatstädtchen; ein Deutschrusse, der einige Male die Ferienwochen seiner Studentenzeit bei ihr verlebt.
Ein paar kurze sonnige Wochen, die ich nie vergessen hatte – – Das war die Zeit der ersten holden Jugend, mit ihren goldenen, sehnsüchtigen Mädchenträumen!
Schon war seine hochragende Gestalt im Getümmel verschwunden – nun glitt unser Zug aus der Halle – immer rascher und rascher trug er mich in die Fremde, in das Unbekannte hinein.
Seufzend drückte ich mich in die Ecke.
Diese eine flüchtige Begegnung hatte den Schmerz der Trennung von der Heimat neu geweckt, ein Schmerz, den ich kaum überwunden ...
Ich hatte in letzter Zeit viel an Werner Bredow denken müssen. Als ich ihn, vor vier oder fünf Jahren, das letztemal gesehen, fand ich ihn sehr verändert; etwas schien ihn zu quälen. Er war damals schon Rechtsanwalt in Lamsberg. Als ich seiner augenfälligen Verdüsterung nachforschte, hatte er mir ein Erlebnis erzählt, das ihm sehr nachging.
Während der Schnellzug rasselnd und fauchend dahinstob, und ich still in meiner Ecke saß, wurde die Erinnerung an diese Erzählung wieder lebendig, die in eben der Stadt gespielt hatte, der ich zustrebte.
Bredow hatte gegen Ende seines dortigen Aufenthalts in einem Mordprozeß als Verteidiger zu fungieren gehabt.
Der Fall selbst lag anscheinend einfach genug.
In einem ziemlich berüchtigten Wirtshaus, unfern dem Hafen, war eines Abends ein Mann erschienen, den der Wirt und die Stammgäste des zweifelhaften Lokals unter dem Spitznamen »Der Moskauer« kannten. Spätere Erhebungen brachten an den Tag, daß er ein sogenannter Schlepper schlimmster Sorte gewesen war, der den unerfahrenen Ankömmlingen am Bahnhof oder Hafen auflauerte, sie in anrüchige Spelunken verschleppte und ihnen die Taschen auszuleeren verstand, ehe die Unglücklichen begriffen, in was für Hände sie geraten waren. Die Polizei war schon längst auf das Treiben dieses Mannes aufmerksam geworden, aber der schlaue Fuchs hatte sich nie fangen lassen.
An dem betreffenden Abend hätte sich ein junger Mensch in seiner Begleitung befunden, dessen, obgleich abgerissenes Aussehen, doch einen Angehörigen der besseren Stände verraten hätte.
Der Moskauer sei sehr aufgeräumt gewesen und habe immer auf seinen Begleiter eingeredet – die Umsitzenden wollten etwas von »alter Bekanntschaft« gehört haben, und wie der junge Mann sich wütend solche Redereien verbeten hätte. Schließlich sei ein Streit zwischen ihnen entstanden und, als zuletzt der Moskauer fluchend das Lokal verlassen – habe der Fremde mit einem stieren Blick in eine Ecke gestarrt, völlig verzweifelt habe er ausgesehen – dann sei er plötzlich aufgefahren, habe seinen dicken Knüttel gefaßt und sei hinter dem anderen hergestürzt.
Bei der gerichtlichen Vernehmung hatte der Wirt ausgesagt, er habe gleich gemerkt, der Fremde wollte dem andern zu Leibe, und er sei auf die Straße gelaufen, um womöglich ein Unglück zu verhüten. Aber es sei weder von dem Moskauer, noch von dem Fremden etwas zu sehen gewesen. Gleich darauf hätte er in einer der Nebenstraßen rufen und schreien gehört, aber als er hinzugekommen wäre, sei schon alles vorbei gewesen. Der Moskauer habe mit zertrümmerter Schädeldecke am Boden gelegen, und eine Schar herbeigeeilter Leute habe den Mörder überwältigt und zur Wache geschleppt.
Später hatte der Verbrecher durch sein sonderbares Verhalten das Interesse des ganzen Gerichtshofes erweckt. Er war ruhig und gefaßt gewesen, hatte das Betragen eines gebildeten Mannes gezeigt, und alle Fragen bereitwilligst beantwortet, die sich nicht auf seine Herkunft bezogen. Sowie aber eine Frage irgend daraufhin abzielte, war er völlig verstummt und durch nichts zu bestimmen gewesen, seine Zurückhaltung, die ihm sehr schadete, aufzugeben.
Bredow, der dem Unbekannten vom Gericht als Verteidiger zuerteilt war, hatte hier – wie er mir sagte – wie vor einem Rätsel gestanden. Er hatte dem unglücklichen jungen Menschen, dem er eine gewisse Sympathie nicht zu versagen vermochte –, vorgestellt, wie sehr sein verstocktes Schweigen ihm schaden müsse – umsonst!
»Der junge Mensch hatte ein feines Gesicht, das mich seltsam anzog,« hatte Bredow erzählt, »obwohl es verwüstet war durch ein zügelloses, leichtsinniges Leben. Und dann seine Augen! Er war sehr scheu mir gegenüber, aber immer, wenn ich in ihn drang, seine Schweigsamkeit aufzugeben, seinen Namen zu nennen, den Grund des Streites anzugeben, – immer war es mir, als erwarte er etwas Besonderes von mir; als suchten und erhofften diese tiefliegenden, scheuen Augen etwas, wenn er sie plötzlich auf mein Gesicht heftete, mit diesem rätselhaften Ausdruck – Angst und zugleich sehnsüchtige Erwartung. Und so bis zuletzt, als das Verdikt gesprochen war und er seine Augen mit einem trostlosen Ausdruck so hoffnungsloser Enttäuschung von mir wandte, daß ich es nicht wieder vergessen kann!«
Seltsam, wie deutlich ich mich erinnerte, wie mir Werner Bredow nur zögernd davon gesprochen hatte.
Während unter gleichmäßigen Stößen und dem dumpfen Rollen der langen Wagenreihe unser Schnellzug über die livländische Ebene glitt, stieg das dämmerige Altjungfernstübchen seiner alten Verwandten vor mir auf, mit den zierlichen Möbeln und gehäkelten Deckchen, den vergoldeten Blumenständern und den zerbrechlichen Stühlchen, zwischen denen der junge Riese sich ausnahm, wie ein Pudel im Nähkästchen. Auch daran mußte ich denken, wie die runde Mutter Greten ihr »bastes Jungchen« so arg verzog, daß ich schelten mußte – und hätte es doch am liebsten grad so gemacht mit unserem »russischen Bären«, dem Werner Bredow.
Daß der sonst so gleichmütige, heitere Mann dies Erlebnis in seinem juristischen Beruf nicht zu vergessen vermochte, hatte mir tiefen Eindruck gemacht; noch oft hatte ich später darüber nachgegrübelt, was wohl die Veranlassung gewesen sein mochte, daß der Verbrecher seine Herkunft so erfolgreich verhehlt hatte. Denn geglückt war es ihm; alle Nachforschungen der Polizei waren umsonst gewesen.
Wie Bredow gefürchtet, hatte die Anklage behauptet, nur die Furcht, sich noch schwerer zu belasten, könne den Angeklagten zum Schweigen bestimmen. Die Lösung dieses Rätsels würde ohne Zweifel in der Vergangenheit des Unbekannten zu suchen sein. Auch der Frage, was die Ursache des Streites gewesen sei, setzte er ein unüberwindliches Schweigen entgegen und nur auf Bredows Drängen ließ er sich zu einem »Er hat mir gedroht« herbei. Aber womit der Moskauer ihm gedroht hatte, war nicht herauszubekommen.
Bredow hatte erkannt, daß die Drohung augenscheinlich mit der so ängstlich verheimlichten Identität des Gefangenen zusammenhängen müsse. Er war zu dem Schluß gekommen, daß der Moskauer vielleicht im Begriff gewesen war, den Angehörigen des Unglücklichen dessen Treiben und Aufenthalt zu verraten – wozu und warum? Um Geld zu erpressen? – Wer konnte das wissen? Daß seine Vermutungen hier nicht ganz fehl gingen, sah Bredow an einem Aufleuchten in den Augen des Gefangenen, der sich sonst mit keinem Wort verriet.
Nach und nach bildete sich die Ueberzeugung in Bredow aus, daß es so und nicht anders gewesen sein mußte. Dann aber warf das ein sehr günstiges Licht auf den Charakter des Angeklagten; dann milderte der Beweggrund – die Seinen schonen zu wollen – das Verbrechen bedeutend.
Aber Bredow stand allein mit seiner Ansicht. So war der Angeklagte unter Absprechung mildernder Umstände – daß er betrunken gewesen, hatte er selbst, trotzdem es ihm mehrfach nahegelegt worden war, einfach bestritten – zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden.
»Er war doch schließlich ein Mörder – mein Jungchen –« hatte Mutter Grete damals gemeint, die ihren Liebling nicht traurig sehen konnte. Aber da war Werner Bredow zornig aufgefahren: »Ein Mörder – nein, das ist es ja eben! Dem Gesetz nach ein Mord – für mich und besonders für ihn war's ein Totschlag, wenn er auch zehnmal hinter ihm dreingelaufen war mit dem festen Willen: Du schlägst ihn tot, wie einen tollen Hund! Er hatte seine mörderische Absicht vor Gericht unumwunden zugegeben. Aber weshalb seine Seele in diesen wilden Aufruhr geraten war, das hatte er nicht gesagt!«
Wie lebendig das alles wieder vor meine Seele trat! War es mir nicht, als hörte ich seine tiefe, grollende Stimme? Werner Bredow ... Werner Bredow ... Lange Zeit hatte ich nichts von ihm gehört, nur daß er nicht mehr in Lamsberg selbst lebte, wenn auch noch in Livland – das wußte ich. Aber auf ein Wiedersehen hatte ich gehofft, seit ich vor kurzer Zeit zufällig erfahren hatte, daß Lottis zweiter Gatte sein Freund war.
Ich mußte lächeln – nun waren meine Gedanken wieder bei Lotti. Von ihrem Gatten, einem Herrn von Löwen wußte ich weiter nichts, als daß er, wie auch Werner Bredow ein Deutsch-Russe war: Lotti war stets eine mangelhafte Korrespondentin gewesen, und seit ihrer zweiten Verheiratung, vor etwa einem Jahre, hatte ich nur vor ein paar Tagen die wunderlichen Zeilen, als Antwort auf meinen Brief erhalten.
Ich begann müde zu werden. Einschläfernd tönte das Stoßen und Rollen des Wagens in eintöniger Folge, grau lagerte der dichte Nebel über der reizlosen Landschaft, durch die wir rastlos dahinjagten. Langsam versank alles Denken in stumpfer Müdigkeit – und nach ein paar verschlafenen Stunden war ich endlich in Lamsberg.