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Ein englischer Astrolog, der seinen Freunden spaßeshalber das Horoskop stellte, erklärte mir eines Tages in Alexandrien, ich sei unter keinem günstigen Stern geboren, insofern Saturn Gebieter der Stunde war, als ich an einem 15. Januar zu Hammelburg das Licht der Welt erblickte. Über die Astrologie habe ich meine eigene Meinung; aber Tatsache ist, daß ich, wenn ich so sagen darf, mit einer Igelseele auf die Welt gekommen bin. Schon als Kind rollte ich mich bei der geringsten Berührung in mich selbst zusammen und stach die Hand, die sich ausstreckte, um das Tierchen zu seinem Gang zu zwingen.
Wenn meine Schulkameraden von ihren Heldentaten erzählten und in dem Bewußtsein ihrer kindlichen Einzigkeit nur von sich sprachen, blickte ich mürrisch und stumm vor mich hin; aber mein Schweigen war durchaus nicht, wie manche Eltern glaubten, Bescheidenheit, sondern der Hochmut eines kleinen Knirpses, der in seiner Seele etwas anderes trug und diese Verschiedenheit als eine Auszeichnung, als eine Adelung, als Bessersein empfand. Und dabei dürstete ich in einem fort danach, meine Seelenschätze auch anderen zu zeigen; aber nur ganz selten und nur mit Widerwillen brachte ich es über mich, von mir selbst zu reden. Und noch etwas anderes hielt mich davon ab, mich Dingen und Menschen offen hinzugeben; ich bin von Haus aus eigentlich ein gläubiges Gemüt und begann damit, alle Aufschneidereien meiner Freunde als bare Münze hinzunehmen, und meine Phantasie erging sich am allerliebsten unter den Herrlichkeiten, die andere naiv prahlend oder mit boshaften Nebenabsichten vor mir ausbreiteten. Doch der Genuß dieser Ausflüge in fremde Märchenwälder dauerte niemals lange: in der Regel sah ich, trotz meiner Bescheidenheit, schon beim zweiten Gang, daß ich nur auf Armseligkeiten stieß und mit meiner Igelseele selbst hoch über diesem unreifen Getue stand. Das gab mir früh schon einen höhnischen Zug; doch das Gefühl dieser heimlichen Überlegenheit machte mich nicht frei, sondern trieb mich nur tiefer in mich selbst hinein. Die Erfahrung, daß die Glücklichen nach außen leben, habe ich, als Zuschauer und Leidender, so teuer bezahlt, daß ich sie jedem, der es hören will, als hohes Gut anpreisen darf. Im allgemeinen mag ich noch heute nicht an meine Jugend denken, und wenn andere von einem Paradies der Kindheit sprechen, denke ich mir höchstens: Ihr habt leicht reden! Ihr seid keine Igel gewesen!
Und dann hatte mir das Schicksal einen merkwürdigen Blick beschert, von dem ich offen reden darf, weil ich ihn, wie so vieles andere, nicht als Glück betrachte. Diesen Blick besaß ich schon als frühreifer Pennäler, und ich brachte ihn auch in das Haus Grimminger mit. Dieser Blick lief nicht nur den Dingen voraus, er sah auch hinter allem, was sich vor meinen Augen zutrug, eine geheimnisvolle und höhnische Macht walten. Die kleinen Menschen, die sich so ungeheuer wichtig nahmen, kamen mir schon sehr früh wie Puppen eines Spiels vor, dessen Ausgang und Ende ich besser kannte als die Spieler selbst. Dieses Spiel baute ich dann in meinen Gedanken weiter aus, und wenn ich an das hämische Ende einer solchen Komödie kam, löste sich mein Sinnen in der Regel in ein jähes Lachen auf, das die anderen ärgerte, weil sie den Schlüssel zu dem Reiche, in dem ich allein heimisch war, nicht besaßen und nicht besitzen konnten. Ich sah diese seltsame Weltironie aber auch in allem, was mich selbst betraf, mit gleicher Tücke walten: wenn ich eine Nuß vom Baume schlug, war sie in der Regel taub, und wenn ich mir einmal erlaubte, hangend und bangend an dem Fenster eines hübschen Mädchens vorbeizugehen, so erfuhr ich gewiß noch in der gleichen Stunde, daß sie mit meinem besten Freunde zarte Briefchen wechselte. Am schlimmsten war es aber, wenn ich einen Herzenswunsch lange im Gemüte trug und mit jener Hartnäckigkeit, der auch die Götter nicht widerstehen können, seine Erfüllung erzwang; denn der Mensch erhält auf dieser Erde alles, was er wünscht, wenn er nur imstande oder willens ist, den entsprechenden Preis dafür zu entrichten. Umsonst ist ja in diesem fragwürdigen Leben nicht einmal der Tod; denn wir müssen ihn, wohl oder übel, mit dem Leben bezahlen. Es zeigte sich dann, daß aus der Erfüllung dessen, was ich mit allen Kräften der Seele ersehnte, alles Unheil floß, und diese Wahrnehmung erfüllte mich mit einem Trotz, den die gefährliche Erlangung eines Gutes nur noch bitterer machte.
So kam ich schon zu einer Zeit, wo auch die dümmste Jugendeselei das Glück sonniger Naturen vermehrt, in eine kriegerische Stimmung der Welt und meinen Lehrern gegenüber, deren Menschlichkeiten in der kleinen Stadt ohnehin vor aller Augen zutage traten. Diese stachelige Stimmung brach übrigens nur ganz selten laut und lärmend hervor; sie glich eher einem unterirdischen Strom, aus dem die merkwürdigsten Fische auftauchten und die Schiffe anglotzten, die darauf einherzogen. Es waren dies keine stolzen Galeeren oder leichte Fahrzeuge mit breiten Purpursegeln, in denen das schweigende Glück gen Abend fuhr, sondern schwere Lastschiffe, für die es in meinem Selbst nur winkelige Kanäle und tote Häfen gab. Das Schlimmste an diesem Zustande war, daß mein Wesen auch meiner Mutter ein Rätsel blieb. Sie konnte es nicht begreifen, daß ich tränenlos an dem Grabe meines Vaters stand, und sie hätte mich für gefühllos gehalten, wenn ich ihr erklärt hätte, daß ich bei dem Begräbnis meines Vaters, an dem ich im stillen sehr hing, mich selbst und mein Inneres beobachtete. Die derbe Frau, aus altbäuerischem Stamme, glaubte genug getan zu haben, wenn sie mir mein Essen und meine Leibspeisen kochte und meine Kleider sauber hielt. Ich wußte damals nicht, was es die Wortkarge kostete, mich durch das Gymnasium zu bringen. Die verhältnismäßige Armut, in der wir lebten, war mir übrigens etwas Selbstverständliches, weil ich sie auch bei anderen sah und als Fügung hinnahm. Wir bewohnten in einem alten winkeligen Hause eine muffige Dachwohnung, wohin meine Mutter allen Hausrat geschleppt hatte, der ihr, als einer wohlhabenden Bauerntochter, zugefallen war. Ich besaß nicht den mindesten Sinn für diesen Trödel; aber meine Mutter konnte stundenlang unter dem Gerümpel herumkramen, und die Goldborten der altfränkischen Putzhauben erregten immer wieder ihr Entzücken, dem sie aber nur seufzend Ausdruck gab.
Mein ganzes Wesen war aber doch, wenn ich so sagen darf, von zwei Grundstimmungen beherrscht; tief im Grunde meiner Seele lag nämlich die lauernde Gewißheit, daß mir, wenn ich nur warten könne, doch etwas Außerordentliches an Glück und Schicksal zugedacht sei, und ich lag förmlich auf der Lauer, um es, wenn es daherkam, auch gleich beim Schopf zu erwischen. Und über dieser Ahnung schwebte das dunkel dämmernde Bewußtsein, daß alle um mich her ein Doppelleben lebten, außen hui und innen pfui, und diese Erkenntnis war mir ein zweiter Schatz, über den meine Igelseele grinsend lachte. »Krummholz, Sie haben ein verdammtes Lächeln, ein Ohrfeigenlächeln,« sagte unser Gymnasialrektor eines Tages in der Oberprima zu mir, als er uns gerade die weltmännisch-philosophische Bedeutung des Horazischen » nil admirari« erklärte; mir stand nämlich im gleichen Augenblick das ganze Familienelend unseres »Rex« vor Augen, und es war nicht einmal Schadenfreude im Spiel, sondern nur das Behagen an einem Gesetz, das ich wie ein stacheliges Herrgöttlein genoß.
Mit solcher Jugend und in dieser Stimmung kam ich in das Haus Grimminger. Da ging mir nun einmal eine andere Welt auf: ich mußte mit eigenen Augen sehen, wie allem, was Leib und Seele geliebter Kinder betrifft, eine Wichtigkeit beigelegt wurde, die mich anfangs aus dem Staunen nicht herauskommen ließ und mich, um die Wahrheit zu gestehen, täglich reizte. Ich glaube allerdings kaum, daß die saturierten Menschen, mit denen ich da lebte, von diesem Staunen etwas gemerkt haben werden; denn ich hütete mich, mein inneres Wesen zu zeigen, weil ich wußte, daß ich doch nur als bezahlter Fremdling in diesem Hause weilte und keine Schonung erwarten durfte, wenn ich einen Zipfel meiner inneren Herrlichkeit sehen ließ. Das Wesen meiner drei Schüler, die mit dem Bewußtsein ihrer Auserlesenheit in dieser Welt herumspazierten, war übrigens auch nicht dazu angetan, mich von meinem heimlichen Igeltum zu befreien: ich behielt also mein Lächeln und mein Gift für mich und ließ sie gewähren, wie das alles eines schönen Tages vor einem Blick dahinschmolz, wissen Sie, verehrte Freundin: ich habe nämlich – ich schäme mich, es zu gestehen – eine Schwäche, ich habe noch niemals der reinen Güte widerstehen können. Sie wissen auch, wie das Glück, das ich, wie ich Ihnen jetzt verraten darf, nicht übermütig lächelnd, sondern hoffnungslos und mit einem heiligen Ernste in der Seele trug, ein Ende nahm; aber Sie ahnen nicht, welche Gefühle mich peinigten, als mir kein Wort von Ihnen zukam, um meine Zweifel zu erhellen. Mit einem Male spürte ich wieder die höhnische Macht, die ich hinter allem, was mir begegnete, lauern sah; ich ahnte dunkel, daß sie noch im Wachsen war, so wie ein Künstler seine Mittel reichlicher und freier verwendet, wenn er sich zur Meisterschaft herangereift fühlt und, mit freier Hand, das Kühnste wagen zu dürfen glaubt. Ich hatte mir den Wagemut herausgenommen, auch einmal in ein Paradies hineinzutappen; da zerbrach mir das höhnische Schicksal nicht nur mein heimliches Igelglück, sondern auch den Fuß und gab mir damit Gelegenheit, auf dem Krankenbett zu bedenken, daß, wie die Welt läuft, Paradiese nicht für alle blühen. » Non omnibus licet adire Corinthum!« Nicht für jeden ist ein Platz an der festlichen Tafel des Lebens bereitet. (Manchmal habe ich den Zitaterich; da regt sich das alte Philologenblut in mir, und es ist ja auch im Grund ein schönes Spiel, einem alten Spruch, aus dem eine erloschene Welt an Wonnen und Bedauern aufglänzt, eine vergeistigte Deutung zu geben und zwei Welten, die manchmal wenig miteinander gemein haben, durch zwei Kettenglieder aneinanderzukoppeln.) Damit ich aber die ganze Tücke meines Schicksals erführe, mußte auch noch meine Mutter sterben, als ich regungslos auf meinem Schmerzensbett vor mich hinbrütete. Es war mir da mit einem Male zumute, als hätte ich der Geschiedenen durch mein ganzes Wesen das größte Unrecht angetan, und der Gedanke, daß es mir für immerdar unmöglich war, ihr mein wahres Gesicht zu zeigen, wurde mir fast unerträglich. Um meine Qual zu mildern, stellte ich mir alles, was mit ihrem Tod zusammenhing, aufs genaueste vor; ich sah sie auf dem alten Bette liegen, auf dem mein Vater mit einem Sterbekreuzlein in den gefalteten Händen als Toter gelegen hatte; ich hörte die Schollen auf den Sarg fallen, und ich glaubte den Geruch des Weihrauchs zu spüren, der über dem engen Grabe in die winterliche Luft emporstieg.
Der Schnee fiel in dichten Flocken, als ich, kaum geheilt, auf den hochgelegenen Friedhof meiner Heimat hinaufhumpelte, um den Erdhaufen, unter dem sie zu ewiger Ruhe in der Erde lag, in Augenschein zu nehmen. Aber während mir die Tränen jäh in die Augen schossen, bereitete mir der Gedanke, daß wir doch eigentlich fremd nebeneinander hergegangen waren, die tiefsten Qualen. Und mit einem Male faßte mich vor dem verschneiten Grabe ein unsäglicher Widerwille gegen alles, was hinter mir lag: gegen die Schule, gegen meine Vaterstadt, gegen ein gewisses Landhaus, gegen alle Menschen. Doch auf die brennendste der Fragen, was ich eigentlich beginnen sollte, um in dieser Welt der Niedertracht zu einem Stück Brot und zu einem erträglichen Dasein zu gelangen, wollte mir keine Antwort kommen.
Da fiel mir plötzlich auf dem Heimweg vom Gottesacker ein, daß der einzige Bruder meiner Mutter einst als Flüchtling in die weite Welt gegangen und da zu seinem Glück gekommen war: er hatte, als Polytechniker, an dem badischen Aufstand des Jahres 1848 teilgenommen und war, als es schief ging, wie so viele Studenten über die Grenze nach Frankreich geflohen und nach Algier geraten. Lange Jahre hatte er nichts von sich hören lassen, bis endlich einmal ein Brief an meine Mutter kam, in dem er meldete, daß er ein eigenes Weingut bei Argens bebaue und mit einer Spanierin verheiratet, aber kinderlos sei. Ich entsinne mich noch, daß mein Vater, der seinen Schwager nicht persönlich kannte, an dem aufgeblasenen Ton des Briefes allerlei auszusetzen wußte. Aber am Grabe meiner Mutter erfüllte mich das Dasein dieses irgendwo in der Welt hausenden Onkels mit einer warmen Hoffnung, und im Nu war auch mein Entschluß gefaßt, die Reise nach Algier zu machen, nur um aus der Umgebung, wo mich alles bis aufs Blut empörte, endlich und für immer fortzukommen. Unter meinen Verwandten fand sich auch sofort eine mitleidige Seele, die sich erbot, den Hausrat meiner Mutter um einen Notbatzen an sich zu bringen und die paar Andenken und Habseligkeiten aufzubewahren, deren Besitz ich mir für die Zukunft sichern wollte. Ich will nicht verhehlen, daß sich darunter ein uraltes, mächtiges Spinnrad befand, an dem Generationen meiner Urgroßmütter gesponnen hatten. Es gereichte mir zur besonderen Genugtuung, daß ich am Weihnachtsabend, wo die Welt glücklicher ist als sonst, weil dieses Glück in Kinderaugen glänzt, mutterseelenallein in die winterliche Welt hinaus, der Sonne und meinem Schicksal entgegenfuhr.
Die flüssige Habe, die ich in meiner alten, mit Perlen gestickten Reisetasche bei mir trug, war immerhin groß genug, um mir, wenn ich nicht fand, was ich suchte, die Heimreise in mein altes Elend zu gestatten. Im übrigen war ich fest entschlossen, mir da draußen, wo niemand meinen Namen kannte, irgendein Auskommen zu schaffen. Die ganze Reise in die weite Welt hat merkwürdigerweise fast gar keine Erinnerung in mir zurückgelassen: ich entsinne mich nur, daß ich in einem wilden Schneegestöber Württemberg, die Schweiz und den Gotthard durchflog und in Italien weder den Lorbeer ragen noch die Goldorangen im Laube glühen sah, sondern bei strömendem Regen in Genua ankam, wo ich sofort einen deutschen Handelsdampfer bestieg, der noch am gleichen Abend nach Algier in See ging. Da ich wußte, daß mir auf dieser Welt nichts erspart bleibt, nahm ich die Seekrankheit mit jener Verbissenheit hin, die ich als Erbe meiner Jugend getreulich mit mir führte. Ich betrachtete es auch als selbstverständlich, daß mich in dem herrlich gelegenen Algier nicht die Sonne Afrikas, sondern ein trüber Wolkenhimmel begrüßte, der Ströme Wassers auf Meer und Erde niedergoß. Mit meinem Lächeln, auf das ich mir schon etwas einbilden konnte, schritt ich durch den Schwarm der Neger, Mauren und Araber hin, die lärmend und schreiend unser Schiff überfluteten und in schlechtem Französisch alles anboten, was der Mensch nur haben wollte. Es litt mich auch nicht in der schön aufgetürmten weißen Stadt, sondern ich steuerte sofort dem Bahnhof zu, um nur möglichst bald bei meinem Onkel zu sein und den ganzen Krempel hinter mir zu haben. Ich fuhr, in endloser Fahrt, an kleinen verlassenen Bahnhöfen und an Oran vorüber, auf dessen Bahnhof sich das gleiche schreiende Menschengewimmel wie in Algier herumtrieb, und dachte mir immer wieder: Das soll Afrika sein? In dem hochgelegenen Strandstädtchen Argens, wo ich spät abends ankam, wußte kein Mensch etwas von meinem Onkel, und mein Gymnasialfranzösisch war auch nicht dazu angetan, mir die Nachforschungen nach dem Monsieur Jean Thum zu erleichtern. Ein paar deutsch sprechende Soldaten der Fremdenlegion, die sich müßig in den Straßen herumtrieben, bedeuteten mir, ich sollte mich an die Mairie wenden, wo mir aber ein elsässischer Schreiber auch nichts Besseres zu raten wußte, als einmal in der Umgegend Nachfrage zu halten, und so lief ich denn bei trübem Himmel in der flachen, weinreichen Gegend auf geraden Wegen und Seitenstraßen herum, die eigensinnig in mir unbekannte Fernen gewesen; aber wo ich auch anklopfen mochte, der Name Thum war den spanischen Weinbauern unbekannt. Endlich wollte es der Zufall, daß ich in das Haus eines deutschen Siedlers geriet, der mich im reinsten Schwäbisch begrüßte. Der Brave lud mich zu einem Glas Eigengewächs ein und erzählte mir dann, er habe wohl von seinem Vater, der ebenfalls ein achtundvierziger Revoluzer gewesen sei, den Namen Thum öfters gehört; aber er glaube zu wissen, daß der Mann, wie auch seine Frau, die Señora Luisa, längst gestorben sei; wer das etwa fünfzehn Kilometer entfernte Weingut geerbt oder gekauft habe, wisse er nicht.
Diese klare Antwort nahm mir mit einem Male die Lust, mich noch weiterhin an dem entlegenen Küstenstrich herumzutreiben, und so fuhr ich denn am nächsten Tag in einer gottsjämmerlichen Verfassung nach Algier zurück, um mir wenigstens die Pracht der weißen Franzosenstadt anzuschauen und einen Blick in afrikanisches Wesen zu tun. Als ich auf den Platz vor dem Bahnhof trat, fragte mich ein älterer schwarzgekleideter Herr in deutscher Sprache, ob er mir nicht die Sehenswürdigkeiten der Stadt, Mustapha oder die Kasba, zeigen oder mich bei der schönen Fatme » la plus belle femme d'Afrique« einführen dürfe. Ich dankte höflichst für die angebotenen Genüsse und nahm mir ein ganz billiges Zimmer in einem kleinen nahen Gasthof, dessen Portier, ein schmutzig aussehender Malteser, ein paar Worte Deutsch sprach.
Während ich bis dahin mit einer pedantischen Zielstrebigkeit durch das fremde Land gefahren war, überkam mich plötzlich eine ganz andere Reisestimmung: wenn ich schon die Fahrt vergebens gemacht hatte, so wollte ich wenigstens meine Augen aufmachen und die paar Tage, die ich mir in Hinsicht auf meine Reisebarschaft gönnen durfte, mit gleichmütigem Sinn genießen. Ich unterhielt mich ein Weilchen mit dem Portier und ging dann ziellos in die Nacht hinaus, um mir die Stadt und das Meer bei Sternenschein zu betrachten. Ich wandelte unter den Palmen des Hauptplatzes auf und ab und blickte neben mageren Arabern, die in ihren schmutzigen Burnussen herumlungerten, auf die nächtliche See hinab. Dann lief ich planlos in den weitläufigen unteren Vierteln herum und begann, ohne mir etwas Besonderes zu denken, den Aufstieg in die obere Stadt, zur Kasba. Ich kam durch enge Gäßchen, wo aus Holzhäusern mit vergitterten Balkonen zuweilen der Laut eines Instrumentes oder ein scharfer Lichtstrich fiel und fremdes, geheimnisvolles Treiben andeutete, an dem ich, lauschend und sinnend wie ein Traumwandler, vorüberging. An einer Straßenecke stieß ich auf eine Gruppe von Menschen, in deren Mitte ein betrunkener Neger gemächlich den Versuch machte, sich seiner Kleider zu entledigen. Ich reckte meinen Hals, um zu erspähen, was der Schwarze eigentlich vorhatte; doch da bekam ich plötzlich einen heftigen Stoß von hinten und fiel in einen Haufen kreischender Gassenjungen, die wie Affen über mich herpurzelten und dabei mörderisch schrien. Als ich mich wieder erhoben und meine Kleider abgeklopft hatte, ging ich ohne sonderlichen Ärger meines Weges weiter, durch enge und treppensteile Gäßchen mit den ewiggleichen Holzhäusern, aus deren schmalen Türen zuweilen ein süßlicher Duft oder ein geheimnisvolles Geflüster, wie aus einer Welt von Phantomen, mein Ohr traf. Ich weiß nicht, was mich, mitten im Steigen, veranlaßte, nach meiner Brieftasche zu greifen: sie war, wie ich mit Entsetzen bemerkte, verschwunden, wie ein wahnsinniger stürzte ich nun die Hühnersteige abwärts, der Stelle zu, wo ich der Balgerei zugesehen hatte; aber da war nun alles still, und nur ein Polizist lehnte mit verschränkten Armen schläfrig an einem Türpfosten. Ich suchte dem Manne mein Unglück begreiflich zu machen; der aber musterte mich stumm mit mißtrauischen Augen, worauf er kurz bemerkte, ich solle ihm folgen. Ich fühlte eine eigentümliche Schwere in den Gliedern, als ich neben dem unfreundlichen Wachmann einherging; aber im Grunde war ich über das Mißgeschick, das mich so jäh betroffen hatte, gar nicht so übermäßig erstaunt: ich hatte eben wieder einen der bekannten Püffe empfangen, und wenn der dunkle Unbekannte, der mein Schicksal lenkte, mir in Menschengestalt entgegengetreten wäre, so hätte ich ihm wie einem alten Bekannten zugenickt.
Aus dem Polizeiamt mußte ich zuerst meine Herkunft, Heimat, Eltern sowie meinen Gasthof angeben, und dann entließ man mich mit der höflichen Vertröstung, daß man alles tun werde, um den Dieb zu ermitteln. Ich ging mit der Gewißheit fort, daß mein Geld verloren war, und dachte schon darüber nach, wie ich es anfangen sollte, um als Hilfsarbeiter auf einem Handelsdampfer nach Amerika zu gelangen; denn in die Heimat wollte ich um keinen Preis zurück. Am Tor vor dem Polizeiamt trat der höfliche alte Herr, dessen Dienste ich schon einmal abgelehnt hatte, auf mich zu und sagte mir, daß er von meinem Mißgeschick gehört habe und sich sehr freuen würde, wenn er einem Landsmann einen Dienst erweisen könne. Er riet mir dringend ab, mich auf dem deutschen Konsulat zu beschweren, und lud mich ein, ihm, da er Junggeselle sei, beim Abendessen in einem bescheidenen Speisehause Gesellschaft zu leisten. Beim Essen zeigte sich der Herr, der, wie er mir erzählte, aus Köln stammte und seine Erziehung in Smyrna empfangen hatte, von auserlesener Höflichkeit. Er ließ kein Wort mehr von der schönen Fatme verlauten, sondern gab dem Diebsgesindel, das ehrliche Leute ins Unglück bringe, sein vollgemessen Teil, wir bekamen einen etwas süßlichen, aber trefflich mundenden Rotwein vorgesetzt, dem ich, um meine wachsenden Sorgen zu übertäuben, eifrig zusprach. Der höfliche Herr fragte mich im Laufe des Gesprächs, ob ich gedienter Soldat sei, und bat mich immer wieder, den Verlust meiner Brieftasche doch ja nicht so ernst zu nehmen; ja, wenn ich vernünftig sei, könne ich in Afrika mein Glück machen: es sei schon mancher arme Teufel ohne ein ganzes Hemd nach Algier gekommen und habe es, mit einem Kreuz auf der Brust und einem hübschen Pensionsbrief in der Tasche, als General oder Oberst verlassen. Der Dienst in der Fremdenlegion, wo er selbst zehn Jahre gedient habe, sei ein Kinderspiel; von preußischem Drill sei keine Rede, und jeder gelte nur als das, was er leiste. Kurz: ich wäre ein Esel, wenn ich, da ich nun doch einmal in Algier sei, die Gelegenheit vorübergehen ließe, mein Glück zu machen. Ich stand also vor der Frage, ob ich gewillt sei oder nicht, in die beste Kerntruppe der Welt, in die Légion étrangère – der Kerl sagte ständig »Läschion« – einzutreten und zum mindesten General zu werden. Ich gestehe, daß ich in dem Augenblicke, da mir solche Bilder künftiger Größe vor den Augen gaukelten, an den Herrn Vater meiner Schüler dachte, und der Gedanke, daß ich ihm eines Tages als höherer Offizier gegenübertreten könnte, erfüllte mich in meiner Weinstimmung mit einer jähen Befriedigung. Ich erbat mir aber doch Bedenkzeit bis morgen, und der liebenswürdige Herr weiß wünschte mir, als wir uns vor meinem Gasthofe trennten, die angenehmste Ruhe, wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß, wäre ich noch am gleichen Abend an den Hafen hinunter, um für die ärmlichste Dienstleistung auf einem Schiff in die Heimat, nach Hamburg oder Bremen, zurückzufahren; aber meine Verbissenheit, der alles, was mich an das Vergangene erinnerte, ein Greuel war, ließ mich zu keinem Entschlusse kommen, und am nächsten Morgen gedachte ich ohnehin, mir alles noch einmal zu überlegen, ehe ich einen bestimmten Vorsatz faßte. Der freundliche Herr Weiß war um elf Uhr schon zur Stelle und brachte mich beim Gabelfrühstück, bei dem er mir wieder fleißig einschenkte, so weit, daß ich mich bestimmen ließ, mit ihm zu einem Offizier zu gehen, aus dessen Mund ich ja die Bestätigung seiner Versprechungen erfahren könnte. Wir waren nicht weit von einer Kaserne entfernt; aber wir mußten lange in dem öden Bau umherlaufen, bis wir einen Leutnant fanden, der geläufig Deutsch sprach und uns in ein kleines Zimmer geleitete, wo ein paar Schreiber in Uniform herumsaßen.
Was soll ich die Geschehnisse dieser schicksalsschweren Augenblicke noch im einzelnen ausmalen? Eine Stunde darauf hatte ich mich, nach einer ganz flüchtigen Leibesuntersuchung, mit meiner Unterschrift auf einem Papier, dessen Inhalt ich kaum verstand, für fünf Jahre zum Dienste in der Fremdenlegion verpflichtet oder, besser gesagt, verkauft. Ich bekam es sofort zu fühlen, daß ich kein freier Mann mehr war: der freundliche Herr Weiß hatte sich auf französisch empfohlen, ohne mir Lebewohl zu sagen, und meine neuen Herren hatten es sehr eilig, mich an meinen Bestimmungsort zu schaffen. Ich mußte gleich in der Kaserne bleiben und bekam am gleichen Abend zum ersten Male die uralte klassische Suppe des französischen Soldaten, eine Brühe, in der Reis und Gemüse schwammen, zu kosten. Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß mir die Mischung aus verschiedenen Gemüsen, in der ein Stückchen Fleisch steckte, schlecht geschmeckt hätte. Ich schlief in einer Mannschaftsstube, wo mich ein paar Dutzend kleine pechschwarze Burschen mit höhnischen Augen musterten und lachend Witze rissen, die ich, zu meinem Glücke, nicht verstand. Am nächsten Morgen sollte ich in Gesellschaft eines Korporals, der zu seiner Truppe nach Saida zurückkehrte, die Fahrt nach der Küstenfestung Oran antreten, wo die Rekruten der Fremdenregimenter allwöchentlich eintreffen und ihrer näheren Bestimmung harren. Als ich in Begleitung des Unteroffiziers in meinem Gasthof vorsprach, um meine Habseligkeiten in Empfang zu nehmen, bedeutete mir der schmutzige Malteser, daß ich erst mein Zimmer bezahlen solle, und als ich meinen Begleiter bat, er möge doch den kleinen Betrag für mich auslegen, sah mich der Mann mit einem Blicke an, den ich nie vergessen werde. Ich mußte also ohne meine Wäsche den Zug besteigen und erfuhr zu meinem Troste, daß ich doch bald gezwungen gewesen wäre, meine Habseligkeiten zu verschleudern. Nur eins tat mir weh: es waren ein paar alte gestickte Taschentücher darunter, die meine Mutter auf ihr Gesangbuch zu legen pflegte, wenn sie an Sonn- und Feiertagen zur Kirche ging.
In Oran verblieb ich drei Tage auf dem hochgelegenen Theresienfort, und die Gesellschaft, in der ich auf meine Weiterbeförderung warten mußte, gab mir gleich einen Vorgeschmack dessen, was mir im Laufe der nächsten Zeit bevorstand. Das Tor zu dem alten Fort hätte die Dantesche Inschrift tragen dürfen: » Voi ch'entrate, lasciate ogni speranza!« Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung draußen! Am anderen Tage nach meiner Ankunft brachte ein Transportschiff dreißig weitere Rekruten von Marseille herüber: darunter befanden sich allein dreiundzwanzig Deutsche und Elsässer, und schon die Anzüge der Leute verrieten, daß sie aus den verschiedensten Volksschichten stammten.
Die einen trugen gute, saubere Kleider und konnten sich offenbar nicht recht daran gewöhnen, mit den anderen auf dem Gleichheitsfuße des uniformierten Elends zu verkehren; und wieder andere kamen in den Lumpen der Ausgestoßenen daher. Einstweilen aber war dafür gesorgt, daß wir schon hier in der alten Meeresfestung, einen kräftigen Vorgeschmack unseres künftigen Lebens zu kosten bekamen: wir mußten, in Ermangelung schwerer Arbeit, den schmutzigen Hof kehren und den Verschlag reinigen, wo mir die Nacht hindurch auf elenden Pritschen schliefen. Obwohl wir im Januar waren, herrschte in dem Schlafraum eine stinkende warme Luft, an die ich mich heute noch mit Schaudern erinnere. Das Essen, das wir in drei mächtigen Blechschüsseln vorgesetzt bekamen, erfüllte mich mit wahrem Grauen. Da kein Löffel dazu gereicht wurde, wußte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, um die Brotbrocken, die wie dunkle Inseln auf einer aschfarbigen Brühe herumschwammen, herauszufischen, bis mich ein findiger Sachse, ein ehemaliger Metalldreher, belehrte, daß man aus dem siebenhundertfünfzig Gramm schweren Laibe des grauen Soldatenbrotes winzige Schöpfgefäße schneiden konnte. Da ich im selben Augenblicke an all die guten Bissen im Hause Grimminger dachte, mußte ich unwillkürlich lachen, als ich das künstliche Löffelchen in der Hand des findigen Sachsen sah, der sich übrigens sofort als Meister im Fischen erwies. Einige meiner Leidensgenossen, die noch nicht wußten, woran sie waren, beschwerten sich in einer Weise bei dem diensttuenden Korporal, daß sie sofort Arrest erhielten. Unter diesen heikeln Häftlingen befand sich auch ein junger Wiener, dessen Wesen mir auffiel: ein hübscher, zwanzigjähriger, gutgekleideter Mensch mit einem weichen üppigen Mund und schönem, dunklem Haar, das in schweren Wellen seine weiße Stirn beschattete. Er trug ein goldenes Armband, und dies erinnerte mich an meine Schüler Otmar, Alfred und Gerwin. Ich hörte ihn nachts herzbrechend weinen, und obgleich ich eine seltsame Zurückhaltung unter meinen Leidensgenossen bemerkte, als ob einer dem anderen mißtraue, konnte ich mich doch nicht enthalten, nach seinen Schicksalen zu fragen: er war, wie er mir sofort ganz offenherzig erzählte, wegen einer Liebschaft als Primaner von Hause weggelaufen und auf der Fahrt nach Paris in Nancy einem Werber in die Hände gefallen, der ihm ein Götterleben in Afrika in Aussicht stellte und den Betrunkenen in ein Werbebureau schleppte, wo er seine Unterschrift unter einen bedruckten Zettel setzte. Der arme Keil hieß Hugo von Helmersdorf und sollte, wie ich gleich bemerken will, für mein eigenes Schicksal in der Legion bedeutungsvoll werden. Aber in diesem Augenblick empfand ich durchaus kein Mitleid mit dem weichlichen Menschen, der einer Liebelei wegen in die Welt gelaufen war und nun seine ganze Jammerseligkeit durch dieses Weinen unter einem zusammengewürfelten Menschenhaufen verriet. Mich sollte niemand weinen sehen, und auf alle Fälle war ich fest entschlossen, den Dingen, die da kommen sollten, mit festem Blick ins Auge zu sehen und meinen Mann zu stellen.
Die Fremdenlegion bestand damals, im Jahre 1895, aus zwei Regimentern zu je zwölf Kompanien, deren erstes in Sidi-bel-Abbès und deren zweites in Saida lag. Ich wurde dem ersten zugeteilt und traf, nach sechsstündiger Fahrt in einem elendigen Eisenbahnwagen, mit fünfzehn Leidensgefährten am 13. Januar, meinem Geburtstage, an dem Standorte meines Regiments ein, wo uns ein paar Unteroffiziere an dem winzigen Bahnhöfe in Empfang nahmen. Wir durchschritten bei hellem Sonnenschein eine Pappelallee und wurden vor dem Oraner Tor von der Wache mit einem » Bon jour, les bleus«, Guten Tag, ihr Blauen, begrüßt. Die Blauen sind die Rekruten. Als wir den geräumigen, nackten, weiß bekiesten Kasernenhof betraten, strömten von allen Seiten die Legionäre herbei, um die neuen Blauen zu begrüßen oder nach einem Landsmann zu fahnden, und die Schadenfreude, die aus den Augen der Leute blitzte oder aus den spöttischen Zurufen klang, gab mir sofort allerlei zu denken. Das Auge ist der Spiegel der Seele, und wenn so wenige aus diesem Spiegel zu lesen wissen, so rührt dies von der allgemeinen Stumpfheit der Menschen her. Heute vergleiche ich diese allzu menschliche Begrüßung der Festfreude eines Chores, der einer Tragikomödie anwohnt, als deren Held jeder einzelne Zuschauer ein unliebsames Röllchen spielt und spielen muß. In der Kompaniekammer erhielten wir zunächst einen sauberen Drilchanzug aus den Fasern des Alfagrases, saubere Wäsche und eine baumwollene Zipfelmütze, und dann mußten wir durch die Bank ein Brausebad nehmen und unsere Zivilkleider am Kasernentor an die arabischen oder jüdischen Händler verkaufen, die laut feilschend auf uns einschrien und wahre Schandpreise boten. Ich erhielt für meine sämtlichen Habseligkeiten die Summe von acht ganzen Franken, deren Bedeutung mir aber schon in den nächsten Tagen aufgehen sollte. Hierauf bekam jeder von uns auf dem Schreibzimmer des Regiments eine Nummer; ich hieß vom 13. Januar 1894 ab Nummer 17 313. In einem Anfall stummer Selbsterkenntnis sagte ich zu mir selber: Dein stacheliges Wesen hat dich also glücklich dahingebracht, nur noch als Nummer in einer Masse dahinzuleben; wie wird es dir ergehen, wenn du aus einer Nummer wieder ein Mensch werden willst? Ich wußte noch nicht, daß ich diesen kurzen Monolog in einer Massentragödie hielt, deren unselige oder stumpfe Helden in dem ungeheueren Gebäude um mich her lachten und scherzten und lärmten. Im übrigen empfand ich, um die Wahrheit zu gestehen, in meiner Erniedrigung beinah etwas wie eine besondere Art bitterer Wollust; aber ich sollte es erst erfahren, was es in Wirklichkeit heißen will, eine Nummer zu sein und doch ein Mensch zu bleiben. Welch ungeheure Ironie in meinem Werdegang lag, sehe ich heute erst ein, wo mich alles Geschehene fast wie ein lückenloser Traum von schmerzlich tiefer Bedeutung anmutet.
In der Regimentskleiderkammer wurde die Nummer 17 313 mit einer funkelnagelneuen Ausrüstung versehen: ich bekam rote und weiße Hosen, zwei Hemden, eine blaue Jacke, einen Mantel, die blaue, etwa fünf Meter lange und einen viertel Meter breite Leibbinde, die in dem üblen Tropenklima als Schutz- und Hungerbinde unerläßlich ist, einen weißen Nackenschützer, Tornister, Feldflasche, Brotbeutel und zu all dem übrigen noch die paar Kleinigkeiten, die man zum Putzen braucht. Dann wurde ich auf eine Mannschaftsstube geführt, wo vierundzwanzig saubere Betten an den Wänden entlang standen; je zwischen zwei alte Legionäre kam ein Rekrut zu liegen, damit er Gelegenheit hätte, den Älteren ihre Kunstgriffe bei allen nötigen Hantierungen raschestens abzugucken.
Für Ausrüstung, Uniform und Wäsche waren keine Spinde vorhanden, sondern nur ein Brett über dem Bett, wo jeder sein Zeug, die sogenannte paquetage, von den deutschen Legionären »Packtasche« geheißen, in sorgfältiger Zusammenfaltung aufbewahren mußte, damit es bei jedem Alarm marschfertig daläge. Wir aßen an langen, sauberen Holztischen, über denen aus einem Gestell, das von der Decke herabhing, das Eßgeschirr aufbewahrt wurde. Die » gamelle«, die Hauptmahlzeit, wurde uns um fünf Uhr nachmittags angerichtet und bestand aus Makkaroni mit etwas Käse und einem Stückchen gebratenem Rindfleisch; sie schmeckte, wie ich gestehen muß, vorzüglich. Nach dem Essen ging ich mit einem alten Legionär, einem Rheinländer aus Mainz, der sich an mich herangemacht hatte, und mit meinem jungen Wiener Kameraden Hugo in die vollgepfropfte Regimentskantine, wo die Marketenderin, Frau Rux, eine rundliche Bayerin, den schweren algerischen Rotwein zu drei Sous das Liter verschenkte und unter den Augen ihres Mannes, eines kleinen Spaniers, unter den lärmenden Legionären Ordnung hielt. Ich spitzte meine Ohren, um über das Leben, das vor mir lag, zunächst an dem Orte, wo sich meine künftigen Kameraden unter sich gehenließen, allerlei zu erfahren. Daß ich in ein Fegfeuer geraten war, durfte ich nicht mehr bezweifeln; daß sich in Wahrheit eine Hölle vor mir aufgetan und mich gefaßt hatte, sollte ich nur allzubald merken. Die alten Legionäre, die schon lange in dieser Hölle weilten, hatten natürlich einen Höllendurst und benutzten sofort die Gelegenheit, ein paar unserer armseligen Frankenstücke in süßen Rotwein zu verwandeln. Hugo, der noch über hundert Franken verfügte, hielt die ganze ausgelassen lustige Runde frei; auch er wußte noch nicht, welchen Wert ein Goldstück in der Legion darstellte, wo die Armut jedem ihr grauenhaftestes Gesicht zeigt.
Mir war schon nach ein paar Tagen klar geworden, daß ich mich als richtiger Tolpatsch für fünf Jahre als Sklave verkauft hatte; denn nach allem, was ich von meinen künftigen Kameraden zu hören bekam, war eine rasche Beförderung ausgeschlossen: unter den dreihundert Offizieren der damaligen Fremdenlegion befanden sich wohl einige Polen und Dänen, aber kein einziger Deutscher. Ich konnte, wenn mir das Glück wohlwollte, Korporal oder auch Vizefeldwebel werden, obwohl gediente Soldaten oder Offiziere aus deutschen Regimentern, die man nach ihrer Einstellung sofort einer Fachschule überwies, auch hierin einen Vorsprung hatten. Wie ich mit der täglichen Jammerlöhnung von fünf Centimes auch nur die nötigsten Bedürfnisse eines Menschen befriedigen sollte, der sein Putzzeug auf eigene Kosten beschaffen mußte, wußte ich nicht und ist mir stets schleierhaft geblieben.
Unsere Ausbildung für den ordnungsmäßigen Felddienst nahm etwa drei Monate in Anspruch, wir wurden nicht, wie ich anerkennen muß, mit dem üblichen deutschen Drill geplagt, sondern machten nur Freiübungen, Laufschritt, Einschwenkungen. Dann begann das Kompanieexerzieren, und bald sollte ich auch erfahren, welche Anforderungen an die Marschfähigkeit der Legionäre gestellt wurden. In einem Lande ohne Bahnen, wo weite Entfernungen und besondere Verhältnisse die höchste Anforderung an die Marschtüchtigkeit des einzelnen Mannes stellen, sucht man aus dem Legionssoldaten vor allem einen » marcheur« erster Güte zu machen. So wurde denn jede Woche ein Gewaltmarsch unternommen: wir rückten ein paar Stunden nach Mitternacht in voller Feldausrüstung aus und machten ohne längere Rast fünfunddreißig Kilometer in dem leichten, raschen Marschschritt der Legion. Im allgemeinen legten wir in gleichmäßiger Gangart eine Entfernung von fünf Kilometern in der Stunde zurück, und dieses Zeitmaß hielt die Kolonne auch im heißesten Sonnenbrand ein. Um die Marschfähigkeit des Regiments allmählich zu steigern, wurden diese Übungsmärsche später um zwölf Uhr mittags nach anstrengendem Exerzieren unternommen. Mit diesen aufreibenden Übungsmärschen waren keinerlei militärische Übungen irgendwelcher Art verbunden; sie hatten nur den Zweck, die Marschtüchtigkeit des einzelnen, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit, allmählich aufs höchste zu steigern. In gleichmäßig raschem Zeitmaß stapften wir in Viererreihen auf einer der breiten Heerstraßen, die einst namenlose Legionäre erbaut hatten, im glühenden Sonnenbrände dahin. Die schwere, kriegsmäßige Last, Kochzeug, Kleider, Zeltfläche, Feldflasche, die jeder auf seinem hochgetürmten Tornister mitschleppte, machte dieses Vorwärtshasten in glühender Sommerhitze zu einer wahren Höllenqual. Zwar gab es keine Vorschriften über das Verhalten des Legionärs auf diesen regelmäßigen Gewaltmärschen; jeder konnte sein Gewehr tragen, wie er wollte, und kein Kommando der Offiziere, mit denen wir überhaupt nur auf diesen Märschen in nähere Berührung kamen, störte das gleichmäßige Dahinstampfen der dampfenden Kolonnen. In den Ruhepausen von fünf Minuten, die alle zehn Kilometer eintraten, mochte jeder tun, was er wollte; er konnte die Last des Tornisters von seinem Rücken nehmen oder behalten, und auch auf dem Marsche wachte kein Offiziersauge über seinem Tun und Lassen; er mochte kriechen oder hüpfen, wenn er nur am Ziele ankam. Mochten seine Schultern wund sein oder seine Füße bluten, mochte sein Körper, an dem der Schweiß in Strömen niederrann, sich gegen das Unerhörte, das man ihm zumutete, sträuben – all das war kein Grund, aus den Reihen auszutreten. Die Hauptsache blieb, daß wir zur festgesetzten Stunde am Ziel eintrafen und am nächsten Morgen wieder marschbereit dastanden. Ich hatte es bei der ganz oberflächlichen Untersuchung meines sterblichen Adam verheimlicht, daß ich früher meinen Fuß gebrochen hatte: als es mir nun eines Tages einfiel, aus den Reihen auszutreten, weil mich die Bruchstelle wahnsinnig schmerzte, bekam ich Dinge zu hören, die mich sofort veranlaßten, meinen Posten wieder einzunehmen und in Reih' und Glied keuchend mitzuhumpeln. Mich wunderte nur immer, daß mein Herz es aushielt.
Den ersten größeren Manövermarsch, auf dem wir siebenhundert Kilometer in fünfundzwanzig Tagen zurücklegten, werde ich nie vergessen. Ich ging dazu mit einer Sorge neben meinen Kameraden einher; denn ich wußte nicht, ob Hugo von Heimersdorf, oder vielmehr die Nummer 17 315, die in der Reihe hinter mir marschierte, den Strapazen dieses Marsches gewachsen war. Der Aufbruch erfolgte, wie üblich, einige Stunden nach Mitternacht, damit wir den nächsten Haltepunkt vor Eintritt der größten Hitze erreichen konnten. Zehn Minuten nach dem Appell stand das Regiment marschbereit auf dem weißen Kasernenhofe, wir wußten, daß wir auf dem Marsch keinen Rasttag zu erwarten hatten; denn es war Grundsatz, daß jedes noch so ferne Ziel in einem Zuge erreicht werden mußte. Mit welcher Sehnsucht zählten wir im stummen Vorbeistampfen die runden Kilometersteine, aus denen wir die Entfernung von unserer Garnisonstadt ablesen konnten! Schon nach ein paar Tagen stampfte jeder wie eine keuchende Maschine im weißen, fressenden Staub der Heerstraße vor sich dahin. Jeder Laut und jedes Lachen wurde als eine Kraftverschwendung empfunden, wenn ich mein Käppi mit dem weißen Nackenschützer lüftete, stürzte mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht herab, wenn wir nach den kurzen Ruhepausen wieder aufbrachen, sah es aus, als ob eine Schar von Greisen oder Kranken einen Marsch begänne, bis das gewohnte Marschtempo jeden einzelnen wieder zwang, vorwärts zu hasten. Die Wunden standen offen, und die maskenhaften Gesichter starrten schweißbedeckt auf den dürren Boden, wer vor Müdigkeit in den Graben fiel, bekam höchstens ein Schimpfwort zu hören: sein Gewehr wurde ihm abgenommen, und er mochte sehen, wie er wieder nachkam. Als wir in die Region der Wüste gelangten, kam Wassermangel hinzu, von den zwei Litern trüben Wassers, das der Legionär unter strenger Aufsicht zugemessen erhielt, mußte jeder ein halbes Liter für die Suppe des nächsten Tages aufbewahren. Wer aber auf dem Marsche seine ganze Feldflasche leerte und seinen Beitrag nicht abliefern konnte, bekam vom Koch bloß etwas rohen Reis in die Hand geschüttet und mochte sehen, wie er seinen Hunger stillen konnte. Wenn das kleine Zeltlager aufgeschlagen war, was in knapp zwei Minuten geschehen war, fielen wir wie Tote auf das graugrüne Alfagras hin, dessen harte Büschel wir mit schmerzenden Händen aus dem Sande rissen, um unser Lager aufzuschütten.
Der Heimmarsch war noch eine größere Qual als der Auszug: die meisten marschierten mit wunden Füßen, mit entzündeten Augen, mit kranken Lungen, mit schwärenden Reibungsstellen am Rücken und an den Beinen einher. Einzelne, denen die rohen Unteroffiziere Widerspenstigkeit vorwarfen, wurden an die Bagagewagen gebunden und mußten laufen, auch wenn sie nicht wollten.
Da ich bei allem, was mir befohlen wurde, nach den Gründen fragte, sah ich die Bedeutung dieser Gewaltmärsche sofort ein: wer als Marschtier nicht das höchste leistet, vermag seine Aufgabe nicht zu erfüllen, und wer als Marodeur im Rücken einer Truppe liegenbleibt, ist im Süden, wo die Wüste herrscht, ein verlorener Mann: wenn ihn die Hyänen und Schakale nicht fressen, fällt er den Arabern in die Hände, für deren Weiber es kein schöneres Fest gibt, als den Gefangenen in schmählichster Weise zu verstümmeln und langsam zu Tode zu mardern. Der rohe Zuruf, der dem beliebten General Négrier zugeschrieben wird: »Marschier' oder verreck'!« ist nicht etwa eine gelegentliche Kasernenhofblüte, sondern faßt nur die Aufgabe und das Schicksal des Legionärs in einen rohen Kraftausdruck zusammen. Es ist kein Wunder, daß er rasch sprichwörtlich wurde, in einem Heer von zusammengewürfelten heimatlosen und Gescheiterten, von denen bezeichnenderweise kein Fahneneid verlangt wird und deren Fahne nur die Inschrift » Valeur et discipline«, Tapferkeit und Manneszucht, trägt! Eine Heeresleitung, die kein Blut der Landessöhne zu schonen hat und weiß, daß ihr täglich neue Rekruten aus dem Bodensatz Europas zufließen, kann von ihren Söldnern das höchste fordern, wer wird als Feldherr oder Streifenführer auf eine Nummer Rücksicht nehmen! Sie kann jeden Augenblick einem andern angeheftet werden, und die große Anzahl Legionsrekruten, die stets in dem Depot des Regiments ihrer Verwendung harren, muß jedem sagen, daß ein Menschenleben in dieser Hölle nicht viel wert sein kann; hieß es doch, daß neben den sechstausend Mann, aus denen die beiden Fremdenregimenter bestanden, oft viertausend Rekruten auf ihre Einstellung warteten.
Mit der Sorge um meinen Kameraden Hugo war ich ausgezogen, mit der gleichen Sorge kehrte ich heim: der arme Bursche, den nur meine Zusprache vom Selbstmord abhielt, wanderte sofort ins Lazarett, wo stets Hunderte von Kranken lagen. Im übrigen war es nicht einmal so leicht, in eine dieser Krankenstuben zu kommen: die Ärzte hatten es mit vielen Simulanten zu tun und ließen auch oft Schwerkranke mit dem brutalen Bescheid » non malade« gehen, ohne sie überhaupt einer richtigen Untersuchung zu unterziehen. Wer an einer leichten Unpäßlichkeit, wie zum Beispiel an einem Magenübel, litt und nur eine einfache Opiumgabe verlangte, sah sich stets dieser brutalen Weigerung gegenüber und mochte sehen, woher er Arznei erhielt.
An heißen Sommertagen hatte ich während der Siesta, die in den überhitzten Mannschaftszimmern unverbrüchlich zwischen elf und zwölf Uhr gehalten wurde, Zeit, über mein Dasein und mein eigenes Wesen nachzudenken. Daß ich aus einem Menschen mit einer widerborstigen Seele zu einer Nummer geworden war, konnte mein angeborenes Gemüt nicht hindern, seinem Lauf zu folgen, und so lebte ich in der gleichen Weltstimmung, die wie eine zweite Natur in mir wirkte, mit meinen Kameraden zusammen, nur darauf bedacht, nichts an mich herankommen zu lassen, was meinen inneren Wendelin aufknöpfen könnte. Ich ließ die gemeinsten Roheiten ruhig über mich ergehen, weil ich mir schon nach den ersten Tagen vorgenommen hatte, aus dieser Hölle, koste es, was es wolle, heil und sauber herauszukommen. Freilich war dieses Unterfangen nicht so leicht; denn die älteren Kameraden gaben mir die Versicherung, es sei ganz unmöglich, ohne Strafen durchzukommen: der ganze Legionsjammer bestehe ja nicht aus dem Drill oder den Märschen, sondern in der Brutalität der Behandlung, die jeden ohne Unterschied als eine böswillige Nummer behandle und ihn unbarmherzig unter der eisernen Fuchtel beschränkter oder gemeiner Menschen festhalte. Schon gleich nach meinem Einzug waren mir Soldaten aufgefallen, die in der grellsten Mittagssonne, in schmutzigen zerfetzten Drilchanzügen, mit einem Gewehr und einem Tornister, auf einem kleinen Exerzierplatz hinter der Kaserne, unter strengster Bewachung, im Kreis herumliefen. Der Tornister enthielt aber, wie ich erfuhr, kein Ausrüstungsstück, sondern eine Zentnerlast an Sand und Steinen und rieb den armen Teufeln den Rücken wund, wenn sie dann mit diesem Strafmarsch, bei dem jeder, der austreten wollte, mit Kolben in Reih' und Glied zurückgestoßen wurde, fertig waren, mußten sie Arbeitsdienst tun: das heißt die Abortkübel der Arrestanten entfernen, Kies karren, Wasser tragen oder die öffentlichen Plätze der langweiligen Stadt Sidi-bel-Abbès kehren. Schon das einfachste Vergehen oder die üble Gesinnung eines Vorgesetzten, eines Soldaten erster Klasse oder, deutsch gesagt, eines Gefreiten, genügte, um dem Legionär mehrtägigen Arbeitsdienst zu verschaffen. Und da die Vorgesetzten des Strafausteilers auch nicht umhin konnten, bei dieser Gelegenheit ihre Autorität zu zeigen, wandelten sie die paar Straftage in der Regel in eine längere Frist um, und wenn die Sache gar vor den Hauptmann kam, konnte jeder darauf rechnen, das Dreifache des ursprünglich angesetzten Strafmaßes zu erhalten. Die Strafen gliederten sich in Arbeitsdienst, Kasernenarrest, Nachtarrest, Gefängnis, Zellenhaft mit ganzer Kost und in solche ohne Fleisch und Untersuchungshaft. wer je in die dortigen Massenzellen, wenn auch nur als Wachthabender, einen Blick getan hat, weiß, was der Menschheit Jammer sein kann. In der heißen Jahreszeit glichen die Zellen, wo die Nachtarrestanten und Sträflinge zusammengepfercht lebten, bei Tage einem Glutofen, und in der Nacht, wenn die scharfe afrikanische Abkühlung eintrat, froren die Ärmsten, die da für ein leichtes Vergehen büßten, in ihren dünnen, zerfetzten Kitteln wie obdachlose Hunde. Zu gewissen Seiten lagen die Arrestanten wie zusammengepferchte Tiere bei Nacht auf den Steinfließen oder dem Lehmboden beisammen, wo Schmutz und Unrat in kleinen stinkenden Bächen dahinflossen. Glücklich, wer einen Fleck auf der Pritsche erwischte, obwohl auch dieses Lager keine Erleichterung der nächtlichen Qual bedeutete; denn zuweilen ergoß sich von der Decke herab, wo gierige Wanzen zahllos wie Sterne umherwandelten, ein wahrer Regen dieser blutdürstigen Peiniger über die Unglückseligen, oder Ratten und Mäuse huschten über die Köpfe der Sträflinge hinweg, die in einem Winkel auf dem verpesteten Steinboden kauerten. Die meisten, die längere Seit in dieser scheußlichen Massenhaft verbrachten, kamen als kranke Menschen heraus: schon allein die armselige Wassersuppe, aus der ihre einmalige Tagesnahrung bestand, führte rascheste Entkräftung herbei. Wenn ich sehen mußte, wie die Sträflinge um zehn und um fünf Uhr, vor dem Arrestlokal hockend, ihre dünne Wassersuppe hinabschlangen, überlief mich ein Schauder, bis ich mich mit der Seit auch daran gewöhnte. Für besonders Widerspenstige gab es noch zwei andere Strafmittel, deren Brutalität man selbst in russischen Kerkern vergeblich suchen dürfte: sie wurden unter freiem Himmel entweder in ein trichterförmiges Loch, spanisch silo, gesteckt, das oben drei Meter im Umfang maß und nach unten in einem kleinen Quadrat endigte. In diesem Behälter war der Sträfling in seinem dünnen Drilchanzug der glühenden Hitze des Tages und der Kälte der Nacht schutzlos preisgegeben, und dabei konnte er nicht einmal liegen, sondern sich höchstens in seinem eigenen Unrat zusammenkauern, viele wurden als Sieche aus den silos herausgeholt, und hie und da kam es auch vor, daß einer in diesen Höllentrichtern irrsinnig wurde oder starb. Nicht minder grausam war die Strafe der » crapaudine« (von crapaud, die Kröte): man band dem Sträfling Hände und Füße auf dem Rücken zusammen, so daß sein Körper eine Art Halbkreis bildete. Dieses jämmerliche Menschenbündel wurde in irgendeinen Winkel geworfen, auf den die Sonne glühend niederbrannte, und nur gelöst, wenn der Ärmste seine Wassersuppe vorgesetzt erhielt. Ein einziger Tag in der » crapaudine« genügte, um den kräftigsten Mann bewegungsunfähig zu machen, und eine längere Strafe zog in der Regel schweres Siechtum nach sich. Das Kriegsministerium hatte zwar in den achtziger Jahren die Anwendung der » crapaudine« verboten, aber die Offiziere kehrten sich in keiner Weise an das Verbot.
Wie sehr die Verhängung der schwersten Strafe in dem Belieben der Vorgesetzten lag, bewies die Behandlung der Diebstähle: wer eine Binde oder ein Wäschestück verlor oder sich stehlen ließ, konnte als Dieb vor das Kriegsgericht kommen; denn in der Legion galt jeder Verlust eines Ausrüstungsstückes als Diebstahl. Wenn ein Mensch, in dem sich noch das Ehrgefühl des Kulturmenschen regte, als Dieb angesprochen wurde, weil ihm selbst ein Uniformstück auf unerklärliche Weise abhanden gekommen war, ließ er zuweilen sich wohl auch zu heftigen Worten oder gar zu einem Schlag hinreißen, und dann war sein Schicksal besiegelt. Es kam sogar vor, daß einzelne, denen man einen Diebstahl vorwarf oder eine Gemeinheit ins Gesicht schleuderte, mit der blanken Waffe auf ihre Peiniger losgingen; diesen Legionären war eine langjährige Festungsstrafe oder, je nach Umständen, auch der Tod durch Erschießen sicher; denn das Kriegsgericht in Gran pflegte in solchen Fällen nicht lange zu fackeln, indem es von der stillschweigenden Erwägung ausging, daß ein heimatloser, oder besser, eine Nummer, nur den Wert eines billigen Arbeitstieres besitzt, das jeden Augenblick durch ein anderes ersetzt werden kann. Ein solcher »Dieb« durfte sich noch glücklich schätzen wenn er nur zu den »Zéphyrs«, das heißt zu einem Strafbataillon nach dem Süden versetzt wurde und da Wege bauen, Brunnen graben, Ziegel backen und überhaupt alles tun durfte, was die Pioniere der französischen »Kultur« für nötig hielten, um jene Gegenden zu erschließen. Wenn sich solche Arbeiten als dringlich erwiesen, wurde die Versetzung zu den »Zéphyrs« eine alltägliche Sache. Ein Wink von oben genügte, und die Unteroffiziere, die allein das Regiment und seine Leute wirklich kannten, sorgten sofort dafür, daß es an Kulturpionieren im Süden, wo die Wüste eine ewige Gefahr bedeutet, niemals mangelte.
Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, mich so zu führen, daß ich mit all diesen Scheußlichkeiten, gegen die ich niemals ganz abgestumpft wurde, möglichst wenig zu tun bekäme. Dem Strafdienst, um den keiner, auch der Geduldigste nicht, herumkam, vermochte ich allerdings nicht ganz zu entgehen. Dabei hielt ich meine Augen und Ohren mit einer Gier offen, die mir, wenigstens in der ersten Zeit, wo alles um mich her noch den sogenannten Reiz der Neuheit besaß, über viele Roheiten hinweghalf. Ich wurde fast mit Notwendigkeit zum Beobachter und Zuschauer; denn auch das jämmerlichste Schauspiel ist in solchen Elendslagen eine Gelegenheit, um wenigstens zeitweise von seinem eigenen Ich loszukommen. Ich hatte mir, ohne es selbst zu ahnen, die einzige Arznei verordnet, die nicht nur dem Orte, wo ich leben mußte, sondern auch meinem ureigensten Wesen entsprach.
Die meisten Legionäre begingen, wie ich sofort erkannte, den Fehler, daß sie nicht ordentlich Französisch lernten: denn das schauderhafte Legionärsfranzösisch, das sie im Umgang mit den älteren Kameraden aufschnappten, genügte natürlich nicht, um eine Beschwerde bei den höheren Offizieren zu vertreten und wirkungsvoll zu machen. Ich hatte zum Bettnachbarn einen kleinen Pariser, einen Kunsttischler namens Mazard, der, wie er behauptete, aus Versehen in die Legion gekommen und, als Sozialist, auf die dritte Republik nicht gut zu sprechen war. Das schwächliche Männchen, dessen Zunge niemand schonte, litt sehr unter den täglichen Strapazen, und da er ein Maul wie ein Schwert besaß, mußte er alle Augenblicke Strafdienst tun oder auf dem Sträflingsviereck den schweren Tornister im Kreis herumschleppen. Doch Mazard besaß ein anderes Heilmittel, um in diesem Höllenleben obenauf zu bleiben: die berühmte Pariser » blague«. Das Wort ist, wie ich selber merkte, unübersetzbar; es faßt eine Geistesstimmung zusammen, die sich aus Frechheit, Großtuerei, Übermut und heiterer Ironie zusammensetzt und nur da gedeihen kann, wo ein scharfer und beweglicher Verstand den Menschen und dem Leben gegenüber auf der Abwehr steht und auch im Geringsten noch seine lachende Überlegenheit, und wäre es auch um den Preis seelischer Würde, aufrechterhalten muß. Diese echte Pariser » blague« konnte es allerdings nicht verhindern, daß Mazard im Lauf der Zeit mit den schwersten Strafen Bekanntschaft machte und noch vor Ablauf seines ersten Dienstjahres zu vier Jahren Zwangsarbeit in Oran verurteilt wurde. Von diesem Männchen lernte ich auf Grund meiner Vorkenntnisse bald das nötige Französisch, um mich, soweit dies überhaupt anging, meiner verstockten Haut wehren zu können. Er handhabte seine Muttersprache und das Pariser Rotwelsch der Vorstädte mit einer Meisterschaft, die mich immer wieder entzückte und mich von Anfang in höchstes Erstaunen setzte; denn es war fabelhaft, was der Mann mit seinen paar Gedanken aus der Parteischule anzufangen wußte. Er sprach wie ein geschulter Redner, und es bedurfte einiger Zeit, bis ich endlich dahinter kam, daß hinter dieser eleganten Zungenfertigkeit durchaus kein tiefer Mensch, sondern nur ein gescheiter Durchschnittsfranzose steckte.
Als wir eines Tages beim Wein saßen, den Hugo von Helmersdorf spendete, schlug mir Mazard auf den Arm und sagte: »Sie sind auch ein Bürger –«
Nun hatte ich, als Mensch, der sich als Einziger fühlte, eigentlich niemals über mein Verhältnis zu den einzelnen Gesellschaftsklassen nachgedacht, und selbst im Hause Grimminger, das ich doch als schneidenden Gegensatz gegen mein eigenes Vaterhaus empfand, war ich solchen Gedankengängen nicht anheimgefallen. Nun aber bekam ich, als ich mich gegen diese Bezeichnung wehrte, eine Karikatur des französischen Bourgeois aus dem Munde eines Fremdenlegionärs zu kosten, und es war ein merkwürdiges Faultier, das da vor mir aufmarschierte und eine teuflische Bedeutung gewann, als Mazard die Behauptung hinschmetterte, daß wir für diesen Bürger unsere Waffen trügen und sein profitgieriges Dasein schützten. Ich habe später, im Verkehr mit Angelsachsen, das Schlagwort von der Bürde des weißen Mannes gehört und mir über diesen Wahn meine eigenen Gedanken gemacht: die Gottähnlichkeit des Weißen, der sein irdisches Reich als das einzige Gottesreich betrachtet und zu dessen Gründung kein Mittel scheut, ist ein Leitgedanke großer Taten; aber wenn hinter diesem Spiel mit einer Verantwortlichkeit die nackte Herrschsucht waltet oder gar jene teterrima causa belli steht, von welcher das Weltmännchen Horaz das Bedenklichste zu sagen weiß, dann regt sich in mir der alte Wendelin, der es nie verstanden hat, mit Lügen zu leben oder gar auf Lügen zu schlafen. Doch daß wir Legionäre nur eine bourgeoise Welt schützten, war mir neu. Der Floh, den mir Mazard an jenem Tage ins Ohr setzte, hat mich noch oft gestochen; unser Zusammensein beim Wein erhielt aber öfters dadurch eine besondere Bedeutung, daß Hugo, der nicht viel vertragen konnte, rasch in eine weinselige Stimmung geriet und dann von dem Wiener Leben zu schwärmen begann. Das war nun wieder ein besonderes Schlaraffenleben, mit Heurigem, Volkssängern, Walzern und anderen Gemütsergötzungen. Ich muß hier das Geständnis ablegen, daß mich diese Anwandlung österreichischer Heimatseligkeit immer reizbar stimmte und mir meinen jungen Kameraden, der mich in der bedenklichsten Weise an meine verflossenen Schüler Otmar und Alfred erinnerte, für eine Weile fast widerwärtig machte.
Und noch eines muß ich erwähnen: ich ging aus diesem Streit um das Bürgerliche mit einem Spitznamen hervor, der hartnäckig an mir haften blieb; Mazard nannte mich von diesem Tage an nur noch » père Crumols«, und auch meine Kameraden mochten in dieser Bezeichnung eine Kennzeichnung meines Wesens sehen: ich war und blieb trotz meines Alters der » père Crumols«, obwohl ich bemerken muß, daß dieser Spitzname durchaus keine Zärtlichkeit in sich barg, wie sie in gewissen Mannschaftsverbänden jüngeren Kameraden gegenüber gern mit Kosenamen spielt.
Im allgemeinen war jedoch die Ausbeute an Menschlichkeiten in der Legion für mich selbst nicht allzu groß, und das mochte an mir selbst liegen. Ich wußte, daß sich in der Legion alle möglichen Berufe, Ärzte, Architekten, Privatdozenten, Lehrer, Techniker, Ingenieure, Handwerker und Bauernsöhne, Verbrecher und Entgleiste befanden; doch von der Vergangenheit dieser uniformierten Menge, die irgendeinem Fehltritt, der bettelhaften Not oder auch nur reiner Abenteuerlust den Aufenthalt in der Legion verdankte, bekam man nur zeitweise und wie aus Versehen einen Zipfel zu fassen, und dann war es, als blickte man durch einen Spalt in eine Höhle, wo entweder tiefste Nacht herrschte oder ein Strahl auf verschütteten Schätzen spielte und das Heimweh nach einem unentdeckten Paradies erstehen ließ.
Unter den deutschen Legionären war mir ein magerer rotbärtiger Mann aufgefallen, den man immer mit einem hübschen kleinen Italiener beim Wein hocken sah. Er führte den Spitznamen. » Zigzag«, das heißt Süffling, und ich muß gestehen, daß in der Bezeichnung für Trunkenboldigkeit, die von dem deutschen Zickzack herrührt, eine ganz lustige Bildkraft steckte. Dieser Zickzacklegionär, Nummer 17 101, kam eines Tages, da Hugo wieder mit uns in der Trinkstube bei der Frau Rux saß, leicht torkelnd zu uns her, tippte mir auf die Schulter und sagte in dem hämischen Ton eines Kathedergewaltigen: » Quid novi ex Europa? Wenn ich nicht irre, haben wir die Milch der gleichen Alma mater eingesogen? Eheu, eheu, Posthume! Labuntur anni! Doch Ihnen, junger Mann,« – (er wandte sich grinsend und lallend an Hugo, der fast schüchtern auf den hageren Angetrunkenen blickte) – Ihnen möchte ich sagen: O praesidium et dulce decus meum, sunt quos curriculo –« Er brach wankend ab und blickte mit seinen rotgeränderten Augen auf unsere vollen Gläser herab: »Die Weisheit, die ich verzapfe, ist teuer: sie kostet ein Glas Wein! Ich – ich habe Heimweh nach dem Falerner; aber – nisi Hymettia mella Falerno ne biberis diluta! Ich – ich habe mich aus Germanien fortgemacht, weil ich die gepantschten Weine und – und anderes nicht mehr vertragen konnte. He –« (und nun wandte er sich wieder an mich) »Sie sehen ja aus, als ob Sie einen Bakel verschluckt hätten. Sie waren offenbar nicht dabei, als sich der Wille im Chaos über das Unbewußte hermachte und in einer klassisch langen Brautnacht diese Welt aus dem Nichts schuf! Aus dem Nichts –! Aber ich fasele: Wenn Sie, verehrter Herr Kollege, sich das Nichts denken können, will ich mich auf hundert Jahre dieser Schweinerepublik hysterischer Spießer verschreiben und hinterdrein behaupten, ich sei ein Hundsfott gewesen –. Doch – dum loquimur, fugerit invida aetas.« Und der Angesäuselte griff, ohne um Erlaubnis zu fragen, nach dem Glas Hugos und leerte es auf einen Zug. Doch sollten wir bei diesem Trunk nicht das Vergnügen haben, den Bärtigen als seßhaften Trinkgenossen zu bekommen: denn der junge Italiener trat rasch mit wütendem Gesicht herzu und zog ihn mit einer hastigen Geste, die mir zu denken gab, von unserem Tische weg.
Es war mir in der Folge nie mehr vergönnt, einen Blick in die Seele der Nummer 17 101 zu tun: ich erfuhr nur, daß der Mann, der mit seinem bürgerlichen Namen Heinz Engelbrecht hieß, ein halbes Jahr lang Privatdozent für klassische Philologie an einer süddeutschen Universität, ich glaube in Tübingen, gewesen sei und wegen eines unnatürlichen Lasters außer Land, nach Italien, habe flüchten müssen. An mir ging er von da ab mit einem seltsamen Grinsen vorüber, und aus einzelnen Äußerungen merkte ich, daß er mich nicht leiden mochte, was mir aber, um die Wahrheit zu gestehen, eher eine heimliche Befriedigung gewährte; denn mir war der Kunde, seit ich einen Teil seiner Lebensgeschichte kannte, zuwider wie eine Spinne, und ich habe es stets als eine seelische Annehmlichkeit empfunden, wenn ich einen widerwärtigen Kerl auch mit Grund hassen konnte. Aber an Hugo machte er sich heran, wenn er nur konnte, und dies war mir eine beständige Sorge.
Im übrigen machte die Legionsuniform alle gleich: ob die Vergangenheit des einzelnen nun ein Ziel der Sehnsucht oder ein Winkel der Reue war, wo alle Narben schmerzten – die Gegenwart drückte alle auf die gleiche Ebene herab und machte aus Vollmenschen und Auswürflingen Kameraden und Genossen des gleichen Schicksals. Die Mehrzahl der Legionäre aus deutschem Geblüt bestand allerdings aus armen Leuten, aus Handwerksburschen und Kleinbauernsöhnen, denen das Elend der Landstraße oder der härtesten Arbeitsfron von Jugend auf vertraut war und gewiß bitterer erscheinen mochte als das harte, aber gesicherte Landsknechtsleben in den französischen Fremdenregimentern.
Wenn eine Menschenschar, ob gezwungen oder nicht, lange in Gemeinschaft lebt, schafft sie sich mit der Zeit fast notgedrungen eine gemeinsame Weltanschauung. Diese äußerte sich in der Fremdenlegion zunächst nach außen hin in dem Auftreten der Legionäre: sie schritten mit dem ganzen Stolze des Berufssoldaten einher, und die Eleganz und Sauberkeit des Regiments, dessen Leistungen die größte Ruhmestafel der französischen Kolonialarmee füllten, gehörte zu den Überlieferungen, auf die alle stolz waren. Die Blicke, mit denen die guten Spießbürger von Sidi-bel-Abbès den Rock und den selbstbewußt einhermarschierenden Legionär von der Seite musterten, zeigten allerdings, was man in der beschränkten algierischen Provinzstadt von uns hielt: wir galten ganz einfach als eine zusammengewürfelte Masse von Auswürflingen und Verbrechern, von denen man unter Umständen alles erwarten durfte. Nichts ist indessen irriger als diese bürgerliche Ansicht: die Legion zählte und zählt heute noch Dutzende von begabten Kerlen, aus denen unter Umständen tüchtige oder bedeutende Menschen geworden wären. Nicht allein die glänzenden Gesamtleistungen der Truppe, auch ihr Verhalten in Lagen, wo alles auf die Geistesgegenwart und Tüchtigkeit des einzelnen ankam, beweist das zur Genüge.
Jede Weltanschauung einer Masse drängt ferner nach leicht begreiflichem Ausdruck, und diesen hatte die Legion in einer alten französischen Heeresüberlieferung gefunden: es wird in offiziellen Geschichtsbüchern erzählt, der kaiserliche Oberst Cambronne habe, als er bei Waterloo zur Übergabe aufgefordert wurde, das Wort hingeworfen: » La garde meurt, mais ne se rend pas!« In der französischen Armee aber besteht die Überlieferung, dieses Wort habe ganz anders geklungen und einfach in einem Wort bestanden, das der gebildete Franzose, dem auch bei gemeinster Gesinnung eine gewisse Wortscheu innewohnt, nicht gerne in den Mund nimmt. In der Legion aber war das Cambronnesche » Merde!« das dritte Wort, das die Legionäre im Mund führten. Das Gefühl der allgemeinen Wurstigkeit alles Seins und Wesens bediente sich des unflätigsten Ausdrucks, um mit einem Hanswurstsprung über alles wegzukommen, was verlaufenen und verlorenen Menschen auf die Seele brannte und das Aufgehen im Augenblick stören konnte. Das biblische » In pulverem reverteris,« Staub und Asche sollst du werden, hatte also unter den modernen Landsknechten Afrikas die gemeinste Variante gefunden, deren eindringlich eindeutige Ausdrucksfähigkeit sich allen Lebenslagen anpaßte. Es gibt in dieser Welt der Sprache viele solcher Worte, in denen die Weisheit ganzer Geschlechter lebt und atmet: sie gleichen Goldmünzen, mit denen man ein Glück oder Mißgeschick quittiert, obwohl ihr Urklang selten rein empfunden wird, weil unser Ohr zuviel der widrigsten Geräusche aufnehmen muß und überhaupt ein höchst vergeßliches Organ ist. Als versprengter Philologe mußte ich an das so viel edlere » nil admirari« Horazens denken, und die bürgerliche Zeit des rundlichen Epikureers mit dem runden Bäuchlein stieg wie ein Traum vor meiner Seele auf, der alles, was die Welt an Schönheit und Seelenadel nach dem stummen Recht der Erben besaß, in weiter Ferne über dem azurnen Mittelmeere mit seinen Küsten und Städten lag. Und doch waren wir arme Teufel, wie ich mir sagen mußte, letzten Sinnes dazu da, den westlichen Teil dieser Kultur, das heißt ein uraltes und schon recht fragwürdiges Erbe zu schützen, wenn auch nur als Nummern ohne äußeres Eigenschicksal und Erleben. Und bei solchen Gedanken begannen wieder die Mazardschen Ausfälle gegen diese verbürgerte Welt in mir zu rumoren, und wenn sie meine Bitterkeit nicht mehrten, so rührte dies nur daher, daß in jedem Erkennen die höchste Lust verborgen ruht. Wer denkt, klagt nicht an.
Die lärmende Eintönigkeit der Legionsweltanschauung kam auch sonst in anderen Dingen zum Ausbruch: das Tagesgespräch bildeten zu gewissen Zeiten die ewigen Fluchtversuche der Legionäre. Wer in einer Hölle lebt, sucht, wie billig, herauszukommen, und da hieß es denn, diesem oder jenem sei es gelungen, an das Meer, auf einen deutschen Transportdampfer oder nach dem nahen Marokko zu entwischen, und die Briefe, die von einem solchen Glück zu berichten wußten, gingen heimlich von Hand zu Hand und füllten arme Augen mit seligen Gesichten. Von den Unglücklichen, die in der Wüste einen qualvollen Tod fanden oder von den arabischen Gendarmen, den Gums, aufgefangen und gegen die übliche Prämie von fünfundzwanzig Franken abgeliefert wurden, war weniger die Rede. Zuweilen packte das Ausreißfieber ganze Gruppen: sie entfernten sich bei der ersten Gelegenheit von der Truppe und kamen nach ein paar Tagen verhungert und zerfetzt wieder in die Kaserne zurück. Dieses Ausreißen hieß in der Legion » aller au poump«, und die »Pumpisten« wurden im allgemeinen nicht allzu streng angefaßt, wenn sie nur im Besitze ihrer Uniform zurückkehrten.
Wer aber irgendein Stück davon verloren oder weggeworfen oder in einem grimmen Wutanfall verkauft hatte, konnte sich auf die schwersten Regimentsstrafen oder, wenn er ein schlechtes Führungszeugnis besaß, auf das Kriegsgericht in Oran gefaßt machen. Das Schlimmste bei der Sache war, daß die schweren Strafjahre nicht als Dienstzeit galten, und so konnte es dem einzelnen passieren, daß aus seinen fünf Dienstjahren zehn oder zwölf Jahre schwersten Elends wurden. Die Wut über diese Zustände und die Qual des Dienstes erzeugt im Regiment zuweilen einen Zustand, der unter dem Namen » Cafard« bekannt ist. Der » Cafard« ist eine Art Tropenkoller, der den einzelnen zeitweise seines klaren Bewußtseins beraubte und aus dem Gequälten ein Nervenbündel machte, dessen Zustände sich oft in der seltsamsten und unbegreiflichsten Weise äußerten. Stundenlang saßen die vom Legionskoller Besessenen auf ihrem Bett und brüteten vor sich hin. Dann konnte es vorkommen, daß einer plötzlich ausriß, oder einem vorübergehenden Vorgesetzten ins Gesicht schlug, oder seine Uniform zerfetzte, oder irgendeinen tollen Streich beging, der ihn in eine sichere Gefängniszelle führte. Das schlimmste Schicksal aber drohte den eigentlichen Ausreißern: da die meisten nur das auffallende Legionsfranzösisch sprachen und nicht die Mittel besaßen, sich im Ghetto zu Sidi-bel-Abbès Zivilkleider zu kaufen, faßte man sie in der Regel nach kurzer Zeit wieder ab, und wehe ihnen, wenn dies nicht während der ersten acht Tage geschah: wer nach Umlauf einer Woche eingeliefert wurde, kam ohne Erbarmen vor das Oraner Kriegsgericht. Wenn ich an die historischen Landsknechte dachte, die einst in dem den Göttern heiligen Italien, unter erzgewappneten Kondottieren, ihre Haut zu Markte trugen, überkam mich ein eigenes Gefühl modernen Elends: damals war der Krieg eine Art Kunstwerk, bei dem es nicht darauf ankam, den Gegner zu vernichten, sondern in Schach zu halten und dabei das kostbare Leben der Söldner, die in Prunk und Pracht, in Samt und Seide einherzogen, zu schonen; da war der einzelne keine Nummer, sondern ein Mann, aus dem, wenn er zu den Liebeskindern der Natur gehörte, ein Herr der Zeiten erstehen konnte. Und wenn die beutereichen Rottmeister in glänzender Prunkrüstung oder im kostbaren Federhut über die verschneiten Alpenpässe heimwärts schritten, brachten sie nicht nur den Schmuck des Abenteurers, sondern auch den Stolz des Mannes in ihr Haus heim, wo alte Bauerngeschlechter gehaust hatten und in ihren Betten gestorben waren. Wir modernen Landsknechte aber waren wie der Sand der Wüste, den der Windhauch heute da- und morgen dorthin weht, und keiner durfte hoffen, mit der Uniform seines Elends als Sieger in die verlassene Welt seiner Kindheit heimzukehren.
Indessen wurde die borstige Gemütsstimmung, in der ich früher das Unheil meines Lebens sah, in dieser Hölle meine Rettung: ich ließ alles, was an mich herantrat, wortlos über mich ergehen, weil ich mir dachte, daß der » père Crumols« ja doch nicht der richtige Wendelin Krummholz aus Hammelburg sei, den nur ich selbst ganz allein kannte. Ich lernte dulden wie ein Hund, und um meine ganze innere Freiheit vor mir selber zu beweisen, sagte ich mir, daß mir im Grunde eigentlich recht geschehen sei. Meine ganze Vergangenheit, wozu auch der Aufenthalt in dem Hause Grimminger gehörte, fegte ich dazu in einen Winkel meiner Seele, an dem ich grinsend vorbeisah, wenn mich ein Wehen der Erinnerung traf.
Und noch ein anderes hielt mich aufrecht: dieses höhnische Heimtückerschicksal, dessen Grinsen ich überall zu gewahren glaubte, hatte mich offenbar dazu bestimmt, aus der Schulmeisterei nicht herauszukommen. Das tiefste Mitleid mit einem Menschen, dessen ganzes Wesen ein verwöhntes Kind offenbarte, hatte mich an meinen Kameraden Hugo angeschlossen. Dabei war aber auch, wie ich nicht verhehlen will, eine merkwürdige Neugier in mir rege, was das Schicksal, oder was man so nennen will, aus dem Menschen machen würde, der keiner Stunde gewachsen war. Schon früher war mir der Unterschied zwischen Schein und Wesen, zwischen Wähnen und Vollbringen, zwischen dem Hunger und der Stillung als Triebkraft der ewigen Komödie, in der wir alle eine andere Rolle spielen, als wir glauben, aufgegangen und zur seltsamen Erheiterung meiner Igelseele geworden, die sich tückisch wie ein Gott freuen konnte, wenn irgendein Spieler zur Selbstbesinnung eines stammelnden Monologs gelangte.
Ich hatte bald erkannt, daß es dem jungen Menschen an meiner Seite nicht möglich sein würde, ohne Hilfe und Teilnahme gesund an Leib und Seele aus dieser Hölle herauszukommen. Ich brachte ihn nun zunächst dahin, seinen Eltern Nachricht zu geben, und das Geld, das ihm sofort aus der Heimat zufloß, half ihm über vieles weg, was einem gänzlich Mittellosen gefährlich geworden wäre: denn in der Legion, wo zehn Franken geradezu eine Summe darstellten, für die man einen Mitsoldaten als Diener, dazu Wein, Bücher, Zeitungen und andere Genüsse kaufen konnte, galt ein Mensch, dem hie und da ein Hundertfrankschein zuflog, geradezu als reicher Mann, um dessen Gunst sich alle ärmeren Kameraden bewarben. Und da ich schon nicht mehr leben konnte, ohne an einem Menschen herumzubosseln, suchte ich in jedem Sinne auf den weichen Menschen einzuwirken. Wie die drei großen Männer, die ich einst als Student unterrichten durfte, war auch er, als echter Wiener, von der Meinung besessen, diese Welt sei nur ein ergiebiger Futterplatz, wo ein unfehlbares »Tischleindeckdich« für alle Glücklichen bereitstehen müsse. Und da ich selbst mit mißgünstigen Augen in die Welt blickte, muß ich hier gestehen, daß mich diese Art, das Leben zu nehmen, in tiefster Seele empörte. Das Erstaunen, mit dem Hugo die Gemeinheiten und Härten unseres täglichen Lebens aufnahm, wäre komisch gewesen, wenn nicht das Zellengefängnis oder härteste Arbeitsfron am Fuße der Kaserne gelauert hätten. Ich veranlaßte ihn, französische Bücher zu kaufen, und hie und da, wenn ich kein einziges Kupferstück mehr in der Tasche trug, entlieh ich ihm auch ein Frankstück. Ich will aber nicht verschweigen, daß mich dies unendlich hart ankam; aber eine solche Münze erleichterte auch mir das Dasein in der Kaserne, wo sich tausend ähnliche Schicksale im neidvollen Schweigen des Elends oder des Stumpfsinns verzehrten.
Während des Sommers wurde auch Hugo von dem grassierenden Legionskoller befallen: stundenlang saß er trübselig vor sich hinbrütend auf seinem Bett, und kein Trost und kein Zuspruch vermochten ihn aufzuheitern. Eines Abends wollte er um jeden Preis in das Negerviertel, das zu betreten uns Legionären bei dreißig Tagen Gefängnis verboten war. Ich bat und flehte aus einem unerklärlichen Gefühl heraus den Menschen an, von diesem Vorhaben abzustehen; als ich aber sah, daß ihn keine Vorstellung davon abbringen konnte, entschloß ich mich, ihn auf diesem gefährlichen Gange zu begleiten.
Um neun Uhr schlichen wir uns hinter der arabischen Moschee, deren schlankes Minarett wir auf unserem Exerzierplatz täglich vor Augen hatten, in ein Gewirr von Gäßchen, wo der Abschaum der Stadt beim Scheine armseliger Öllämpchen auf dem gelben Lehmboden beisammen hockte: Negerinnen, Spanierinnen, Französinnen boten, halbnackt auf kleinen Teppichen herumliegend, ihren Körper mit Gesten und Schreien feil und riefen, da wir stumm vorübergingen, uns armen Teufeln von Legionären die gemeinsten Schimpfwörter nach. Alte Vetteln mit erloschenen Augen kratzten ihre Wunden, und hie und da kamen wir an einem Araber vorüber, der, auf einem Teppichfetzen hockend, seine Wasserpfeife rauchte und unter seiner weißen Kapuze starr wie ein aus Holz geschnitztes Bild weltentrückt vor sich hinblickte, als ob er in einem glückseligen Traumlande weilte. Die schwarze Nacht um uns her war erfüllt von Lauten und Düften, von Flüstern und erstickten Rufen, von Liebe und Haß und fieberischer Lust – eine Funkelnacht des Südens, wo der Mensch nicht der Ruhe pflegt, sondern wie ein gieriger Panther auf die Glücksjagd geht. Mir war es unheimlich zumute, und ich eilte mit meinem Kameraden raschen Schrittes voran, um aus dieser sinnverwirrenden Umgebung mit ihrem grinsenden Elend und tierischer Schwüle in eine andere Luft und unter einen reineren Himmel zu gelangen. Der Schritt einer Strafwache scheuchte uns aber wieder in ein Gewirr enger Seitengäßchen zurück, wo wir uns im Dunkeln vorwärts tasteten, bis uns die gellenden Töne einer Pfeife und das dumpfe Geräusch eines Tamtams in eine sichere Richtung zogen. Als wir um eine Ecke bogen, sahen wir, daß ein arabisches Tanzhaus vor uns stand. Der Raum, in dem ein paar Dutzend Araber auf marmornen Wandbänken hockten, war mit einigen Diwans und hölzernen, lehnlosen Stühlen besetzt, auf denen winzige Kaffeetäßchen standen. Im Hintergrunde kauerten drei Musiker auf einem Podium: der eine blies eine Art arabischer Klarinette, und die anderen schlugen wie besessen auf ihre Tamtams los. Und es war eine wilde barbarische Musik, aufreizend und lockend, mit jähen, schrillen Oktavensprüngen und voll eines Rhythmus, der aus fremdem Blut und fremder Seele kam und mein europäisches Ohr, das keine Gesetzmäßigkeit fühlen konnte, verletzte und doch fesselte in seiner grotesken Eintönigkeit. Links öffnete sich ein Rundbogen auf einen engen Hof, und hier, unter der Türöffnung, standen die tätowierten Tänzerinnen lachend und plaudernd beisammen. Sie waren in rote oder gelbe Gewänder gekleidet, und die kupfernen und silbernen Spangen an ihren Armen und Knöcheln zeigten, daß sie aus dem Süden, von dem lockeren Stamme der Ouled-Nails herkamen. Die herumhockenden Araber lächelten uns schweigend mit ihren weißen Zähnen an, und wir nahmen auf einem niederen Diwan vor einem Hockerchen Platz, aus das der Wirt sofort ein winziges Täßchen mit Mokka stellte.
In diesem Augenblick trat eine ganz junge Tänzerin vor die schweigende Gesellschaft. Die überschlanke Schönheit trug auf dem mit einer kleinen Krone aus Straußenfedern geschmückten Haar ein silbernes schleierhaftes Gewebe, das bei der ersten Bewegung, die sie machte, auf ihre schmalen Hüften herabsank und einen bronzefarbenen Oberkörper von zartesten Formen enthüllte. Eine kleine Weile stand sie regungslos wie eine Statue mit gesenkten Augenlidern da; dann erhob sie, ganz langsam, ihre linke Hand, deren Fingernägel mit Henna rot gefärbt waren, und das Monodrama des arabischen Tanzes begann mit orientalischer Langsamkeit. Obwohl mich derartige Schauspiele kalt lassen, folgte ich doch ihren Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit.
Die Tänzerin schien aufzuwachen wie aus einem schwülen Traume. Ihr geschmeidiger Körper dehnte und reckte sich in weichen zierlichen Biegungen und Windungen. Sie streckte ihre schmalen Hände aus, um den unsichtbaren Geliebten herbeizulocken. Sie warf den Oberkörper mit sieghaft abwehrender Geste zurück, als er zu nahen schien, und lockte und lockte mit allen Fibern, mit jedem Zittern und Beben des jungen sehnigen Leibes. Nun machte sie, noch immer zögernd, einige Schritte, und ihre Geste wurde kühner; der untere Teil ihres Körpers, Hüften, Leib und Brust kamen in schauernde Bewegung; ein Schimmer, wie geweckt von einem unerhörten Liebesworte, ging über das schmale braune Gesicht, in dem die schweren Augenlider sich zuweilen in jähem Aufblitz hoben; in wilder zitternder Erregung entschlüpfte sie dem Geliebten, indem sie die Arme zu leidenschaftlicher Abwehr ausstreckte, indes der Körper in statuenhafter Erstarrung stand, bis endlich jeder Widerstand erlahmte und sie im rasenden Aufruhr der Lust zusammensank.
Während des seltsam aufreizenden Tanzes, der mir eine Ewigkeit zu dauern schien, saßen die Araber wie in Verzückung da, und auch Hugos Augen glänzten, während die entzauberten Araber sodann ihr leises Beifallsgemurmel hören ließen und der Tänzerin Geldstücke vor die Füße warfen, tänzelte die braune Schöne mit leichten Schritten auf uns zu und blieb lächelnd vor uns stehen. Hugo griff in die Tasche und hielt ihr ein Zehnfrankenstück hin. »Tu das nicht,« sagte ich leise; aber die Tänzerin hatte das Geldstück schon ergriffen und es so an ihre Stirne geschlagen, daß es da haften blieb. Nun trat sie zu ihren Schwestern unter das Hoftor, wo sie in einem spitzen Hute, der wie ein umgekehrter Korb an dem Türpfosten hing, auffallend lange und mit offenbarer Koketterie nach dem Schlüssel ihres Gemaches suchte.
Inzwischen hatte sich ein langer Araber in mächtigem weißen Burnus erhoben und war an uns herangetreten. Der goldbestickte, tadellos gewundene weiße Turban zeigte, daß wir einen reichen Mann, ja vielleicht eine Persönlichkeit aus alter Familie vor uns hatten. Ein böses Zucken spielte um die Lippen des hageren Gastes, als er, ohne sich zu rühren, vor uns stand und mit einem Lächeln, das funkelnde Raubtierzähne enthüllte, auf uns Soldaten herabsah. Ich erwiderte verächtlich wie ein geborener Herr seinen Blick, warf fünf Sousstücke auf den niederen Holzstuhl, wo unsere geleerten Kaffeetäßchen standen, und zog meinen widerstrebenden Kameraden mit fort. Ich war seelenfroh, als wir wieder auf unverbotenen Wegen, im hellen Licht der Gasflammen, unserer Kaserne zugingen. »Das sehe ich mir noch mal an,« sagte Hugo, tief ausatmend, als wir endlich bei der Wache ankamen. Ich stellte ihm die Gefahren vor, die in dem Negerviertel lauerten, und er mußte mir noch am gleichen Abend versprechen, sich keinesfalls ohne mich in dieses geheimnisvolle Gewirr von Gäßchen zu wagen.
So verging der Sommer, und so vergingen der Herbst und der traurigste Winter meines Lebens. Im Frühjahr, kurz vor Beendigung der Regenzeit, erhielt unser Bataillon Befehl, in Ain Sefra eine Truppenabteilung abzulösen. Hugo von Heimersdorf lag gerade an einem Magenübel im Krankenhaus. Mit schwerem Herzen nahm ich Abschied von dem Kameraden, in dessen dunklen Augen ein irres Licht flackerte, als ich die Hoffnung aussprach, er werde bald nachkommen.
Da die Ablösung eilte, wurden wir mit der Bahn befördert: wir durchfuhren die Alfasteppen von Yacubia und die unübersehbaren Sanddünen von Chott ech Schergi. Als wir, spät am Abend, in einem tiefen Einschnitt an dem Dschebel Aissa vorüberfuhren, brauste ein wütender Regensturm über die Gegend weg. Zum ersten Male befand ich mich am Rande der großen Wüste und ganz nahe an der Grenze von Marokko, das vor der Phantasie unserer Legionäre als Land der Freiheit und aller Wunder herglänzte. In Ain Sefra wurde ich der berittenen Infanterie zugeteilt, deren Dienst den Bedürfnissen der Gegend in zweckmäßigster Weise angepaßt ist: eine Kompanie dieser Gattung besteht aus dreihundert Mann und zählt einhundertfünfzig Maulesel; jeder Mann benützt sein Reittier eine Stunde lang und geht eine Stunde neben dem Mulo her, auf dem sein Kamerad sitzt, bis die Zeit des Aufsteigens wieder für ihn kommt. Auf diese Weise werden im Süden, wo nomadisierende Wüstenräuber bald da, bald dort in die arabischen Dörfer einbrechen, Marschleistungen von sechzig bis siebzig Kilometer im Tage zu einer Leichtigkeit. Der Mann, mit dem ich mein Reittier – es hieß » Fraise« – zu teilen hatte, war ein dicker Elsässer namens Schärtlin, der schon zum vierten Male aus dem Dienst in einer Strafkompanie kam. Er sah aus wie ein etwas hoch geratener kupferbrauner Falstaff auf dünnen Beinen, und ich begriff nicht, wie man von der knappen Legionskost ein solches Bäuchlein ansetzen konnte, das sein Inhaber mit melancholischer Würde vor sich hertrug. Er haßte die Franzosen mit einem Ingrimm, den ich, trotz meines Elends, nicht aufbringen konnte: das sei die gemeinste Nation der Welt, und alles, was sie von sich selbst der Welt erzählten, sei Schwindel, Lüge und Aufschneiderei. Gleich bei unserem ersten Ausritt vertraute er mir an, daß er nicht mehr lange bei diesen gottverdammten Hunden zu bleiben gedenke, da die marokkanische Grenze nahe sei und er Arabisch genug verstünde, um sich durchzuschleichen. Ich ließ den Braven reden, da ich von früheren Gesprächen mit fluchtsüchtigen Legionären wußte, daß keine Vernunft die Besessenen von ihren Plänen abzubringen vermochte. Meine Gedanken weilten bei meinem Freunde Hugo, von dem ich trotz dringender Bitten keine Nachrichten erhielt, so daß ich während der Felddienstübungen und Erkundungen, die uns in den Monaten März und April die größten Strapazen auferlegten, nicht aus den Sorgen um den Abwesenden herauskam.
Am ersten Mai wurde ich zur Bewachung des Heliographen auf den Dschebel Aissa kommandiert. Der Wachtdienst auf diesem Posten, zu dem nur Leute mit guter Führung ausgewählt wurden, war in der Legion sehr beliebt. Die Wache bestand jeweilig aus einem Gefreiten und drei Mann, die täglich abgelöst wurden. Der Tag, an dem ich wachehaltend hier oben an der Mauer des Heliographen stand, wird mir unvergeßlich bleiben. Die Aussicht von dort oben in die Sahara und die Gebiete des Ksur ist überwältigend: aber was ich als eine Art Rausch empfand, das war die unsagbar reine Wüstenluft, die mir leicht und prickelnd wie Schaumwein hier oben zu Kopf stieg und wonnig alle meine Sinne schärfte. Das war nicht der schwere brütende Brodem unserer deutschen Frühlingstage, die, von tausend Düften der Erde und der atmenden Knospen geschwängert und gesättigt, an alle Tiefen und an tausend Erinnerungen rühren; dies war der jungfräuliche Atem der Wüste, über die der Atem des Wüstengottes Allah nur einherzog, um alle schwüle Schwere wegzufegen. Ich war in diesem Lichte ganz Aug' und Ohr und konnte mich nicht satt sehen an den märchenhaften Farben und Schattentönen, die unmerklich leise lebend ineinander übergingen. Als der Nachmittag zum Abend wurde, standen die Berge in dem reinen Glanz, in den ganz allmählich märchenhaft zarte rosige Hauche flossen, grau wie Eisen da, bis sich alles zu violettem Purpur vertiefte und den grünlich goldenen Himmel lichterloh in Brand setzte. Und während ein geheimnisvoller Berg im Westen wie ein ungeheurer Amethyst im webenden Duft des Abends stand, schwebte noch ein Abglanz aller Farben in der rein gestimmten Luft und sank unmerklich leise auf die Erde, wo einzelne Sandbänke wie eitel Gold erglühten. Die Dämmerung fällt in diesen Gebieten nicht, wie im feuchten Norden, langsam und schwer über die Weite; sie gleicht eher dem raschen Erlöschen eines seligen Farbenbrandes, und der Übergang des Tages in die rabenschwarze, sternfunkelnde Wüstennacht wirkt nicht als linde Trübung, sondern eher als reine, wenn auch jähe Dämpfung wunderbarsten Lichtes.
So war es auch an diesem Tage. Mich aber machten die Schauer der Einsamkeit still und versonnen: da stand ich armer Landsknecht nun am Rande einer geheimnisvollen Welt. Dort im Norden lag eine andere, die, heut wie gestern, von ewiger Ruhe gepeinigt, auf ihrem alten Erbgrund dahinlebt und sich in ewiger Gier verzehrt. Die Wüste aber gleicht in der Gestaltung ihrer Weite dem Meere, und ihr unwandelbares Wesen erfüllt den Menschen mit den gleichen Schauern und dem gleichen Aberglauben wie der Ozean. Hier stand ich als moderner Söldling auf einem Boden, wo sich zwei Welten berühren und in stummer und lauter Feindschaft nebeneinander leben: der uralte Orient mit seinem Schicksalsglauben und seiner Ruhe, und der Westen, wo der gehetzte Mensch voll tiefer Unersättlichkeit und Sehnsucht mehr in der Zukunft als in der Gegenwart atmet. Der Wüstenbrunnen, der dem Durstigen Labung spendet, die Palme, die ihn überschattet, der weiße Mantel, der den Sohn dieses Landes in stolze Falten hüllt, sein Pferd, seine Sitten, sein Handel und Wandel – das alles ist dasselbe wie zu der Zeit, da der epileptische Kameltreiber Mohammed seinen Wüstengott predigte und seine Nachfolger die christliche Welt in Flammen setzten. Eintönig wie die Wüste, wo üppig grünendes Leben nur im Bereiche der spärlichen Brunnen gedeiht, ist der Gott, der Weltenherr und Allerbarmer, zu dem diese starren Menschen beten, aus deren Blicken der Haß eines fremden Volkswesens spricht. Der Blick, mit dem mich hie und da ein Araber streifte, wenn er mit seinem Wurfstecken an mir vorüberging, hatte mich oft genug nachdenklich gestimmt; aber ich war mit meinen Gedanken darüber auf mich selbst angewiesen, und erst später, in Alexandrien, war es mir vergönnt, tiefere Blicke in das Wesen dieser Rasse zu tun. Hier oben sah ich mich um tausend Jahre zurückversetzt, in den Frühling einer Welt, deren herabgekommene Erben feindselig auf uns Eindringlinge herabschauen und sogar noch im Niedergang den Adel einer alten Rasse offenbaren. Und während ich so dastand in der ungeheuersten Stille und versonnen in die Wüstennacht mit ihrem fabelhaft funkelnden Sternenmeere emporblickte, wurde mir alles, was ich seit einem Jahre erlebte und gelitten hatte, zu einem Bilde, das ich wie aus einer seltsamen Ferne genoß. Ja, ich armseliger Landsknecht, der sein Leben auf fünf Jahre verkauft hatte und nichts weiter als eine Nummer war, kam mir selbst wie ein Fremder vor, den ich unter fremden Menschen wandeln sah. Es war etwas ganz Unaussprechliches, das mich da im Banne dieser schweigenden Wüstennacht überdämmerte und meine ganze Igelhaftigkeit in ein wundersames Gefühl hinschmelzen ließ, in dem sich Mitleid mit mir und allem, was in dieser Welt des Atmens lebte, mit einer trunkenen Gehobenheit vereinte. Die dumpfe Traumhaftigkeit alles Seins, das mich umfing und erfüllte, ließ mir kaum Sinn und Zeit zu den uralten Fragen und Antworten: Was bin ich, und was sind wir alle? Ein Sandkorn! Ein Hauch! Ein Nichts!
Doch während ich mich, wie hingenommen in ein fremdes Sein, diesem Zustand halber Entrückung hingab, vernahm ich ganz plötzlich, zu meinem größten Erstaunen, einen fernen dumpfen Laut: es klang wie der leichte Schlag einer Trommel, der mit seltsamer Schnelligkeit näher kam. Bald vermochte ich die rhythmischen Schläge des rätselhaften Trommlers deutlich und genau zu unterscheiden, und jeden Augenblick meinte ich, er müßte unter mir aus dem rieselnden Sande der Dünen auftauchen. Immer lauter, immer näher, immer mächtiger klang der dumpfe Trommelwirbel. Doch so sehr ich auch, voller Spannung, in die Wüstennacht hineinlauschte, es wollte sich kein Trommler zeigen: wie er gekommen war, so starb und schwand der dumpfe Trommelschlag wieder in der unendlichen Weite der Wüste dahin. Ich weiß nicht, warum ich beim Lauschen auf den geheimnisvollen Laut an einen Vers aus der sechsundachtzigsten Sure des Korans, vom Nachtstern, denken mußte, der da lautet: Eine jede Seele hat einen Wächter über sich! Als ich bei meiner Ablösung dem Sergeanten, der mit drei Geniesoldaten den Heliographen bediente, von dem Trommler erzählte, sah er mich starr an. »Das bedeutet einen Toten,« sagte der alte Schnauzbart und erzählte mir, daß sich dieser gespenstische Wüstentrommler niemals ohne Absicht hören lasse. Ich mußte über den Aberglauben des Alten lächeln und suchte mir, ohne meine Weisheit preiszugeben, die Erscheinung durch die unendliche Reinheit der Wüstenluft zu erklären, in der selbst das Geriesel gelben Dünensandes zu klaren Lauten wird und in die Ferne wirkt.
Der Morgen fand mich in der frischesten Stimmung: die Morgendämmerung tauchte die weite Landschaft zu unseren Füßen in das zauberhafteste rosige Licht, das ich nur mit dem zarten Rot der Mandelblüte vergleichen kann, und als sich im ersten Hauch der Frühe hoch über mir leise Lerchenwirbel hören ließen, konnte ich für einen Augenblick wähnen, ich ginge an einem stillen Sommertag durch ein gilbendes Getreidefeld meiner Heimat hin. Es waren Haubenlerchen, die da sangen: bei unserem Aufstieg waren mir ein paar einsame Pärchen der zierlichen Vögel aufgefallen, wie sie mit huschenden Füßchen über die Dünen liefen. Später vernahm ich auch den Ruf der » Ganges«, einer Entenart, die mit hellen Rufen nach den Quellplätzen des Nordens zog, und das wundersame Gefühl des Wachseins löschte die Gesichter der entwichenen Nacht vollends in meiner Seele aus.
Beim Abstieg nach unserer Ablösung stieß ich mit meinen Kameraden in der Wüste auf einen Araberzug, wie ich ihn prunkvoller noch nie gesehen hatte. An der Spitze entwickelte sich ein regelloser Reitertrupp, dessen einzelne Gestalten in weißen Burnussen prachtvoll und statuenhaft zu Pferde saßen und gleichsam als Ehrengeleite einer dreifarbigen rotgrüngelben Fahne einherritten, deren Schaft der Halbmond überragte und von deren Zipfeln kupferne Kugeln herabhingen. Dann folgten Kamel-, Schaf- und Ziegenherden, die von Weibern und Negern geleitet und von ein paar Reitern bewacht wurden. Die Männer waren zum größten Teil mit alten, prächtigen, langschäftigen Flinten bewaffnet, die quer über den karmesinroten Sattel herlagen oder in der rechten Hand der Reiter ruhten. Einige der Reiter trugen große kegelförmige Strohhüte; andere hatten den wollenen Burnus über den mageren Kopf gezogen und sahen aus dem Schatten der Umhüllung mit stolzen Augen, deren Blick mir schon öfters zu denken gegeben hatte, verächtlich auf uns schäbige Legionäre herab. Wieder andere, deren Züge die Beimischung von Negerblut verrieten, ritten mit nacktem Oberkörper einher; sie trugen silberbestickte weite Pluderhosen in allen möglichen Farben, rot, orange, gelb, grün und blau. Unter den langschweifigen Reitpferden, deren Schabracken mit kupfernen Schellen besetzt waren, befanden sich die herrlichsten Tiere; schwer und leicht, weiß und dunkelgrau und isabellafarben, mit rosigen Tönen auf der zarten Haut – ein herrliches Schauspiel und eine wahre Augenweide.
Vor der Fahne ritt ein alter graubärtiger Scheich in einfachster weißer Tracht aus grobem Wollstoff neben einem jungen, fast weibisch zart aussehenden Bürschchen einher. Der Alte hockte wie weltentrückt in seinem kirschroten, mit Gold bestickten Sattel auf seiner grauen Stute. Seine Füße steckten in roten Pantoffeln und ruhten auf breiten, mit Gold eingelegten Steigbügeln. Auf seinem Kopf hatte er drei Kapuzen übereinandergestülpt. Von seinem Gesicht war nichts zu sehen als die tiefen Augen, die reglos vor sich hinblickten. Hinter ihm führte ein herkulischer Neger in grüner Tracht sein weißes Schlachtpferd einher, ein herrliches, prachtvoll aufgezäumtes Tier, das unter seiner weißen Satteldecke in feuriger Kraft nach dem Takte einer lärmenden Musik einhertanzte. Der junge Araber, dessen weißer Burnus nicht den mindesten Schmuck zeigte, saß auf einem kräftigen Pferde, und das Bürschchen blickte uns im Vorbeireiten mit frecher Herrenmiene an, während der Alte tat, als ob er uns überhaupt nicht sähe. Dann folgten die berittenen Musiker, die, den Zügel im Arm, wie wütend ihre Dudelsäcke und Flöten bliesen oder wie besessen auf ihre Tamtams losschlugen; und endlich auf kräftigen Lastkamelen die Haremsfrauen, die in einer Art Korb mit flacher Rückwand hockten, dessen Seiten durch seidene Vorhänge in allen möglichen Farben verhängt waren, von diesen Weibern bekamen wir nun nichts zu sehen; nur hie und da hob ein zur Seite gehender schwarzer Treiber seinen Kopf, um auf eine geheimnisvolle Stimme zu lauschen, die aus den Vorhängen zu ihm herab sprach. Dann folgten ein paar hundert Lastkamele mit den Zelten, den Kücheneinrichtungen, den Koffern und Geschirren, dem Geflügel und den Kindern der Armen. Mit Ausnahme der Haremsfrauen trugen alle Weiber in dem Zuge ihr Gesicht unverschleiert. Die Jüngeren hatten einen Rocken im Gürtel oder spannen im Gehen, während die Alten an Stöcken einherhumpelten. Die Anordnung des Zuges gab mir wiederum allerlei zu denken: an der Spitze zog der Reichtum und der Glanz des Stammes einher; die Nachhut bildete die häßliche Armut.
Ich gestehe, daß wir paar Soldaten uns diesem orientalischen Prunk gegenüber recht armselig vorkamen, und daß ich mit meinem Gefühl nicht allein stand, bewies mir eine Äußerung unseres Sergeanten, der vor sich hinfluchte, als der Zug in einer Wolke gelben Staubes verschwunden war. und meinte: » On fait piteuse figure à côté de ces mécréants!« Man kommt sich vor diesen Ungläubigen ganz jämmerlich vor! Ich wäre nun sehr dankbar gewesen, wenn mir jemand nähere Aufschlüsse über das Wesen dieser Wüstenstämme gegeben hätte, die in ewiger haßvoller Abwehr gegen die eindringenden Eroberer an der Grenze der Wüste lebten: allein, da in der Legion keiner der Offiziere jeweils geruhte, uns über diese Wüstenfragen aufzuklären, so unterließ ich alles Fragen, zumal auch unser Leutnant und Kompanieführer, ein Nachkomme des berühmten Gastronomen Brillat-Savarin, bei der Mannschaft im höchsten Grade verhaßt war.
Vier Tage später trafen ein paar unserer Leute, die im Lazarett zu Sidi-bel-Abbès krank gelegen hatten und nun nach ihrer Genesung zu uns stießen, mit einer Nachricht ein, die mich tief erschütterte: der arme Hugo von Heimersdorf war vor ein paar Tagen im Negerviertel ermordet aufgefunden worden. Das Gefühl, mit dem mich diese jähe Todesbotschaft erfüllte, vermag ich nicht zu schildern. Wie war das gekommen? War Hugo in das arabische Tanzhaus geraten und da auf dem Heimweg durch die Winkelgäßchen erschlagen worden? Und trug ich selbst nicht auch eine gewisse Schuld an diesem Tode, weil ich im verflossenen Sommer nicht versucht hatte, den schwachen Menschen um jeden Preis vom Besuche des Negerviertels abzuhalten? Ein Gefühl eisiger Kälte senkte sich mir ins tiefste Mark, während ich gramvollen Gemüts diesen Fragen nachhing und alles, was uns begegnet war, mit peinvollster Deutlichkeit noch einmal erlebte. Wenn ich aber den Versuch machte, die Gestalt meines Schützlings und Freundes mir vor die Seele zu rufen, sah ich nur immer seine Augen, aus denen mich der grauenhafte Ernst der Tiere und Kinder anblickte, auf mich gerichtet, und der ganze Jammer eines unausgereiften Schicksals fiel auf meine Schultern.
Von den Kameraden, die uns die Nachricht brachten, wußte keiner etwas Näheres über die Umstände des Mordes auszusagen, und nur eines stellte sich heraus, daß das Unglück in der gleichen Nacht geschah, wo ich auf meinem Wachtposten den gespensterhaften Wüstentrommler vernahm. Schärtlin, dem ich von diesem Zusammentreffen Mitteilung machte, hörte nur mit halbem Ohre zu und lächelte in seiner versonnenen Weise vor sich hin; er war, wie er mir ohne Scheu mitteilte, nun fest entschlossen, bei der ersten Gelegenheit über die marokkanische Grenze zu flüchten, und lebte gar nicht mehr in unserer Mitte. Allen Bedenken, die ich ihm entgegenhielt, begegnete er mit einem leichten Kopfschütteln, und fast kam es mir vor, als ob er, blind und taub vor aller Wirklichkeit, wie ein Besessener in einem Traume wandle. Am gleichen Tage aber, spät in der Nacht, brachte ein Gum die Nachricht, Wüstenräuber hätten ein arabisches Grenzdorf geplündert und sich mit ihrem Raube gegen Süden gewandt. Wir wurden um Mitternacht alarmiert und waren eine Viertelstunde später schon hinter dem braunen Gesindel her, in dem ich den Stamm vermutete, dessen prunkvoller Zug mir beim Abstieg von unserer Bergwache Anlaß zu allerlei Gedanken gegeben hatte. Wir drangen ohne Rast gegen Süden vor. Um elf Uhr vormittags befanden wir uns noch auf dem Marsche. Auf die Kühle der Nacht war die glühende Hitze des Tages gefolgt, und in äußerster Erschöpfung stapften wir durch den gelben Sand des Karawanenwegs dahin, auf dem zuweilen ein bleichendes Skelett den Weg der Wüste anzeigte. Mein Nebenmann Schärtlin hatte sein Lächeln verloren: er stöhnte jämmerlich und bat mich alle halbe Stunden um einen Schluck Wasser. Ich gab ihm meine Flasche, obwohl ich wußte, was mir bevorstand, wenn ich nicht das schuldige Maß zum Kochen abliefern konnte. Es war uns strengstens verboten worden, unterwegs Wasser zu schöpfen, weil der arabische Gendarm vermutete, die Räuber hätten, um ihre Verfolgung unmöglich zu machen, die Brunnen ringsum vergiftet. Doch der Durst ist mächtiger als alle Verbote: als wir an einem Tümpel vorbeikamen, trat Schärtlin aus, um seine Flasche zu füllen. Unser Leutnant bemerkte es und brüllte den Durstigen an: »Sie Schmutzfink, Sie werden den ganzen Marsch zu Fuß machen!«
Schwankend und stöhnend marschierte nun der Dicke, triefend vor Schweiß, hinter unserem Maultier » Fraise« einher. Unser Korporal, ein gutmütiger Rheinländer aus Bacharach, erlaubte ihm endlich auf seine Bitte, sich bei dem andauernden Geschwindmarsch der Abteilung am Schwanze unseres gemeinsamen Reittiers zu halten. Als der Leutnant Brillat-Savarin aber diese Schärtlinsche Methode der Marscherleichterung bemerkte, geriet er in einen Berserkerzorn und überhäufte uns beide mit den unflätigsten Schimpfworten. So ging es bei glühender Sonne unter einem weißlichen Himmel weiter. Der arme Schärtlin marschierte noch einen Kilometer weit; dann brach er mit einem Wehlaut zusammen. Vergebens reichte ich ihm meine Flasche, und vergebens flehte ich ihn an, doch aufzustehen und tapfer mit uns weiterzumarschieren. Ich wagte sogar eine Anspielung auf seine bevorstehende Flucht über die Grenze – es war alles umsonst, Schärtlin blieb liegen. Als ich mich niederbeugte, um ihn noch einmal auf die Gefahren der Wüste aufmerksam zu machen, gewahrte ich über seinem glühenden Kopf eines jener wunderbaren Naturspiele, die den Gedanken nahelegen, daß der Geist der Wüste selbst im Winde lebendig sei: zur Seite seines Kopfes ragte eine zierliche Sandrose, wie sie der Windhauch aus den Fluten der Dünen bildet, empor und erfüllte mich mit seltsamen Gefühlen. Doch in unserer Lage blieb mir keine Zeit, das kleine Wüstenwunder zu betrachten: ich mußte meinem Reittier nachhasten. Der Leutnant Brillat-Savarin aber schickte einen Korporal zurück, damit er dem Maroden das Gewehr abnehme und ihn durch diese Maßregel auf die Beine bringe. Schärtlin blieb aber trotzdem röchelnd im glühenden Sande liegen, und die dampfende Kolonne stampfte im Legionärszeitmaß weiter, in den weißglühenden Tag hinein.
Als wir endlich nach achttägigen nutzlosen Kreuz- und Quermärschen zu Tode erschöpft nach Ain Sefra zurückkehrten, war das Ende des unglücklichen Schärtlin schon unter den Legionären der Besatzung bekannt: Schakale und Hyänen hatten den Maroden bei lebendigem Leib angefressen, und eine Abteilung der berittenen Kompanie hatte auf einer Felddienstübung nur noch sein Skelett aufgefunden. Es fehlte auch unter uns, wie ich bemerken muß, nicht an rohen Gesellen, die sich damit trösteten, daß der Kamerad ein noch schlimmeres Ende genommen hätte, wenn er in die Hände arabischer Weiber gefallen wäre.
Aber der Vorfall machte doch Aufsehen und wurde, wie wir gelegentlich erfuhren, sogar in einigen Pariser Zeitungen besprochen; aber ich habe nichts davon gehört, daß dem Mörder meines Kameraden in irgendeiner Weise Unannehmlichkeiten erwachsen wären.
Von diesem Augenblick an aber war auch ich entschlossen, auf irgendeine Gelegenheit zu lauern, um dieser Hölle gemeinster Unmenschlichkeit zu entfliehen. Freilich, an eine Flucht über Marokko durfte ich, da ich kein Arabisch verstand und kein Geld besaß, unter keinen Umständen denken; auch machte eine schwere Erkrankung, die ich von diesem höllischen Hetzmarsch durch die Wüste heimbrachte, bald allen meinen ungewissen Plänen ein Ende: ich bekam den Typhus. Drei Wochen lag ich mit einem Dutzend Kameraden im schwersten Fieber in dem luftigen Lazarett zu Ain Sefra. Rechts und links von meinem Bette trugen sie heute den einen, morgen den anderen weg zur ewigen Ruhe im Wüstensand, und auch ich war, wie ich aus allem merkte, bereits aufgegeben. Doch gegen alle Erwartung der Ärzte trat nach drei Wochen eine plötzliche Besserung bei mir ein, und als ich mich nach einem weiteren Monat transportfähig fühlte, wurde ich mit einem Dutzend anderer Legionäre zur völligen Erholung nach dem Küstenort Argens geschickt, wo wir auf der Festung oben lagen, uns die freie Zeit mit Fischen am Meeresstrand vertrieben. Ich guckte das weiße, saubere Städtchen, wo ich einst nach meinem Onkel Thum gefahndet hatte, beim Wiedersehen mit ganz anderen Augen an: von hier war ich vor anderthalb Jahren als freier Mensch nach Algier zurückgefahren, und nun mußte ich mir an der gleichen Stelle sagen, daß ich nur den Ring eines Höllenkreises umschritten hatte und, als Gefangener, bestenfalls nichts als einige weitere Jahresringe dieses französischen Infernos vor mir liegen sah. Während der ersten Tage meiner Krankheit war es mir zumute gewesen, als ob sich vor meinen Fieberaugen ein goldener Bohrer, der manchmal fast wie ein Paragraphenzeichen aussah, aus der Höhe auf meinen Kopf herabsenkte und sich in mein gequältes Gehirn eingrub; nun aber, da ich als Genesender in die Welt blickte, lag eine öde Dumpfheit wie ein eherner Ring um meine Stirn und machte mir alles, was ich sah und hörte, zu einem geisterhaften Lärm oder zu einem fremden Gesicht. Stundenlang konnte ich von der Höhe des Küstentafelgeländes auf das blauende Meer hinausblicken, das da, wo Flut und Himmel perlmutterfarben im Dufthauche des Horizontes ineinanderschmolzen, wie ein heller Ring funkelte und gegen den Himmel zu anzusteigen schien. Die Stille, die auf dieser Höhe um mich her waltete, empfand ich als etwas seltsam Geisterhaftes, und es tat mir geradezu weh, wenn sich ein plaudernder Kamerad zu mir setzte und auf ein Schiff deutete, dessen Rauchfahne einen langen dunklen Streifen in der Flut des Lichtes über der glänzenden See zurückließ. Es war ein seltsames Hindämmern im Augenblick, dem ich mich willenlos überließ. Alles Vergangene, was ich daheim und in der Kaserne erlebt hatte, lag, seiner Wesenheit entkleidet, grau und farblos vor mir da und besaß keine Macht mehr, Groll oder Bedauern in mir zu wecken, obwohl meine Gedanken oft in dieser gespenstigen Ferne verweilten. Und wenn mit zunehmender Kraft der alte Wendelin für einen Augenblick erwachte, kam ich mir wie ein armseliges Pfenniglichtlein vor, das in schwärzester Nacht im Freien steht und flackert, wenn ein Windhauch über die Weiten daherkommt und sein Seelchen zittern macht. Der Festungsarzt Duboc, ein grober Kerl, zu dessen Kunst ich wenig Vertrauen hegte, wunderte sich bei jeder Vorstellung über die Langsamkeit meiner Genesung. Und noch einer Seelenstimmung muß ich hier Erwähnung tun: manchmal lag ein Gefühl der Schuld auf meiner Seele, wie wenn ich für etwas büßte, das mit meinem eigenen Selbst aufs unheimlichste verknüpft und unzertrennlich war. Erst nach Wochen solchen Hindämmerns überstahl mich ganz langsam ein Gefühl, als ob ich mit ganz neuen Sinnen in die Welt blickte und mit jungfräulicher Seele etwas Unsagbares erlitte, wenn ich eine kühle Frucht in die Hand nahm oder am Meeresstrand einen silbernen Fisch im Netze zucken sah. Und nun empfand ich seltsamerweise fast ein Gefühl der Dankbarkeit gegen die Krankheit, unter deren Nachwehen ich einen neuen Menschen in mir zu entdecken glaubte, während doch nur ein altes Gesicht mit tiefen Leidenszügen in das Licht des müßigen Tages emporglänzte. Das Seltsamste war, daß ich jetzt ohne eigentliches Grauen an meine Rückkehr zum Regiment dachte. Anfang August konnte ich als genesen nach Sidi-bel-Abbès zurückkehren, wo ich neben den alten Kameraden, die den » père Crumols« mit den alten Scherzen begrüßten, eine Menge neuer Gesichter auf meiner Mannschaftsstube fand. Und hier erfuhr ich, daß der frühere Privatdozent Heinz Engelbrecht der Begleiter Hugos in der Nacht seiner Ermordung gewesen war.
Mein erster Gang war nach dem Legionsfriedhof, wo armselige Reihengräber die zahllosen Toten des Fremdenregiments bergen. Vas kleine schwarze Holzkreuz, das ich suchte und auch gleich fand, trug die Inschrift: C. G. (Ci-gît) Hugo von Helmersdorf, de la Légion étrangère. Numéro 17 315. Das war alles, und doch verdeckte und verschwieg diese Inschrift das letzte Wort eines raschen Jugendschicksals, vor dessen jähem Abschlüsse mich ein namenloses Weh durchschauerte. Einen Augenblick dachte ich daran, an die Eltern des Gemordeten zu schreiben; aber der Gedanke, daß eine unbekannte ferne Stimme kein Recht habe, sich in einen fremden Schmerz zu mischen, hielt mich davon zurück, obwohl mich dann ein seltsames Schuldgefühl tagelang zu keiner inneren Ruhe kommen ließ.
Indessen ist die Legionskaserne kein Ort, wo man Gefühlen nachhängt, die doch nur bei einem Unwiederbringlichen verweilen und das Unsagbarste aufstacheln konnten. Und mein Entschluß, dieser Hölle vor Ablauf meiner Dienstzeit um jeden Preis zu entfliehen, verlieh meinem Wesen eine Ruhe, die mich für vieles Unleidliche um mich her blind und taub machte. Da ich bei der Rückkehr zu meiner Kompanie wohlgenährt und frisch aussah, wurde ich bei einer ärztlichen Untersuchung für tropendienstfähig erklärt. Trotzdem die ausgelesenen Legionäre wußten, daß den meisten in den Sümpfen Tonkins der sichere Tod winkte, freuten sich doch alle, dem Elend des qualvollen afrikanischen Garnisondienstes enthoben zu sein und endlich einmal an einen Feind zu kommen. In mir war aber sofort der feste Entschluß emporgetaucht, die Überfahrt nach Asien zur Flucht zu benutzen. Die einzige Möglichkeit, ohne allzu große Fährlichkeiten dem ehernen Legionsjoche zu entrinnen, bot und bietet nämlich heute noch die Fahrt durch den Suezkanal, besonders wenn sie, was vom allgemeinen Seeverkehr abhängt, zur Nachtzeit erfolgt.
Und diesmal hatte ich Glück: unser Transportschiff, der »Admiral Kersaint«, trat am 7. September – das Datum werde ich nie vergessen – nachts um ein Uhr von Port Said aus die Fahrt durch den Kanal von Suez an. Da die schmale Wasserstraße nach dem Roten Meer als neutrales Gebiet gilt, war das Verdeck mit Wachtposten übersät, um jeden Fluchtversuch der Legionäre unmöglich zu machen. Alle drei Schritte stand ein Soldat mit aufgepflanztem Gewehr. Ich saß traurig auf dem Verdeck, an einem der großen schmalen Tische, wo wir unter Tags zu essen pflegten, und belauerte mit schiefem Blick den nächsten Posten, der schlaftrunken an der Brüstung lehnte. Schon hatten wir den Bittersee passiert, und schon tauchten aus der nächtlichen Ferne, gleich winzigen Sternchen, die Lichter der Stadt Suez auf. Ich wußte, daß mir keine Hoffnung auf Entkommen blieb, wenn ich nicht innerhalb weniger Minuten den Sprung über Bord wagte. Also vorwärts: langsam und gähnend richtete ich mich auf – ein Stoß, der Posten taumelte, und in weitem Bogen springe ich hinaus. Ein schwerer Fall, und schon schwimme ich der steilen Uferböschung zu. Als ich oben auf dem steilen Uferrande anlangte, sah ich beim Lichte eines Scheinwerfers, daß sich ein Offizier mit dem Manne zu schaffen machte, an dem vorbei ich in den Kanal gesprungen war. Ich schwenkte in einem Anfall plötzlicher Frechheit, die gar nicht meinem Wesen entspricht, mein Käppi und schrie zurück: » Bon voyage!« und der Mann erwiderte zu meinem Erstaunen den Gruß, indem er leicht salutierte. Dann lief ich, um aus dem Bereich des Schiffes zu kommen, wie ein Besessener in das Land hinein. Als der langsam dahinziehende »Kersamt« im Dunkel der Nacht verschwunden war, näherte ich mich wieder vorsichtig dem Kanal und schwamm eiligst auf die ägyptische Seite zurück, wo ich mich auszog, um meine Uniformstücke und Unterkleider zu trocknen. Um mich nicht zu erkälten, lief ich flüchtiger Adam im gewöhnlichen Legionärstempo in dem bleichen Sande auf und ab, wobei ich zuweilen mein triefendes Hemd wie eine weiße Heilsfahne schwenkte.
Trotzdem ich wohl wußte, welche Gefahren mich in Suez erwarteten, ging ich in aller Frühe doch in die Stadt hinein und fragte mich nach dem deutschen Konsulat durch, wo mich ein Schreiber, den man erst wecken mußte, nicht sehr freundlich empfing: er erklärte mir rundweg, da ich französische Uniform trüge, könne er es nicht verhindern, wenn ich verhaftet und an Frankreich ausgeliefert würde! Das also war der Schutz, den mir die Vertretung meines Volkes in der Hafenstadt gewährte! Ich verfehlte zwar nicht, dem Manne meine Meinung zu sagen, und es war meine alte Igelseele, die sich gegen diese Preisgabe eines Menschen aus dem gleichen Geblüt empörte und das Sprichwort, daß der Ton die Musik mache, an der feigen Schreiberseele gründlich zur Wahrheit machte.
Als ich, tief niedergeschlagen, auf den Hof des Konsulats hinaustrat, um da meine Lage zu überdenken und schlimmstenfalls meines weiteren Schicksals zu harren, sprach mich ein Landsmann in unverkennbarstem sächsischen Dialekt an. Ich erzählte dem Manne in heller Empörung meine Geschichte, ohne auf Teilnahme oder Beistand zu hoffen; aber der Brave war sofort Feuer und Flamme: »Nee,« sagte er zwinkernd, »die Bande soll Sie nicht wieder haben, und dem Mann da drinnen werd' ich ooch ein Licht aufstecken. Aber jetzt machen Sie einmal fix und kommen Sie mit, daß Sie die roten Hosen vom Leib kriegen.« Er nahm mich in ein nahegelegenes kleines Hotel mit, wo er mir in einem Zimmer einen seiner Anzüge gab, der mir zwar etwas eng war, mich aber trotzdem in ein Gefühl unsäglicher Ruhe und Bequemlichkeit versenkte. Meine Hände zitterten, als ich zum ersten Male nach so langer Zeit wieder einen Kragen anknöpfte und eine Halsbinde band. Aus meiner feuchten Legionsuniform machte ich in fieberhafter Hast ein Bündel und warf es mit kühnem Wurf in den Hof eines Nachbarhauses hinab, und nun erst, da kein Stück meines Sklavenkleides mehr in meinem Handbereich lag, fühlte ich mich endlich frei und geborgen.
Zwei Stunden später schon saß ich mit dem braven Herrn Wuttke in dem Schnellzug nach Kairo, und unterwegs hatte ich Zeit, meinem Landsmann meine Schicksale zu erzählen. Der Gute war, wie ich sofort merkte, durch und durch Geschäftsmann und betrachtete die ganze Fremdenlegion, in der ich die beiden bösesten Schicksalsjahre meines Lebens verbracht hatte, als ein schmieriges Unternehmen, bei dem eine ganze Nation, ohne jede Scham, mit dem Blute fremder Volksgenossen wuchere und Löhne zahle, wie sie der ärgste Leuteschinder und Schlotbaron nicht zu bieten wage. Es war das erstemal, daß ich mein vergangenes Elend in kaufmännischer Beleuchtung erblickte; aber ich mußte dem Manne recht geben.
Herr Wuttke lebte als Vertreter einiger sächsischer Baumwollfirmen in Alexandrien und dachte just daran, ein eigenes Geschäft zu gründen. Als er erfuhr, daß ich von Haus aus Philologe sei, machte er mir den Vorschlag, seine beiden Knaben, die er sonst nach Deutschland schicken müsse, als Hauslehrer für eine höhere Gymnasialklasse vorzubereiten. Ich grinste, als ich hörte, daß ich mein neues Leben wieder als Schulmeister beginnen sollte: wieder war es die höhnische Macht, die ich über meinem Leben fühlte und der ich auch jetzt wieder verfallen sein sollte; aber da ich nicht wußte, wovon ich überhaupt am nächsten Tage leben sollte, sagte ich zu.
Ich blieb vier Jahre als Lehrer im Hause des braven Herrn Wuttke. Aus dieser ersten Zeit meines Hauslehrertums ist mir die merkwürdige Tatsache im Gedächtnis geblieben, daß ich mich meiner neuerlangten bürgerlichen Freiheit zunächst gar nicht so recht freuen konnte: es war ein Rest des halb und halb schon eingewurzelten Gemütszustandes, der sich in einer versteckten Mürrischkeit bemerkbar machte und meinen neuen Hausgenossen vielleicht gar nicht einmal auffiel. Ich erfuhr, daß man auch die Freude wieder lernen muß, und begriff nun, warum manche der ausgedienten Legionäre freiwillig wieder in ihr Sklavenjoch zurückkehrten: eben weil es ihre Seele für immer gezeichnet und zu jedem andern Leben untauglich gemacht hatte.
Im übrigen blieb ich auch in der Familie Wuttke, wo mich der Hausherr durchaus als Gleichstehenden behandelte und die Mutter meiner Schüler meinem sterblichen Adam nichts abgehen ließ, ein Einsamer: denn die Weltanschauung, die da herrschte, war durchaus kaufmännisch und die ganze sichtbare Welt somit ein Gegenstand des Handels oder eine Gelegenheit, Geld zu verdienen, was mir, nebenbei bemerkt, bis heute etwas Fragwürdiges und Unheimliches geblieben ist.
Ich merkte bald, daß ich aus dem Franzosentum, dem die Gockelhaltung Bedürfnis ist, in ein verkapptes Angelsachsentum geraten war, und machte mir auch darüber meine Gedanken, die übrigens keine Stacheln mehr nach außen trieben und nur mich selbst verletzten, wenn sie über meine Schicksale und das damit zusammenhängende Weltgefüge gerieten und nach innen stachen. Davon, daß ich dem Franzosentum aber für immer entflohen war, konnte in Alexandrien keine Rede sein: denn in den reichen griechischen Familien, mit denen wir in Berührung kamen, blühte die Nachäfferei jener Kultur, als deren Beschützer ich einstens die rote Hose getragen hatte, in aufreizender Weise. Wenn ich die fetten Weiber mit den lässigen Bewegungen, dem protzigen Schmuck und den Pariser Kleidern ansah, oder mit gerissenen Geschäftsleuten, den östlichen » faiseurs de cravattes« (auf deutsch »Halsabschneidern«), in Berührung kam, fielen mir immer die Predigten meines Legionskameraden Mazard ein, und meine Igelseele geriet in die Erregung früherer Tage, die mir übrigens noch immer wie etwas fast Unwirkliches in einer weiten Ferne lagen. Wenn ich mir nicht über den Islam meine Gedanken machte, suchte ich in dem Volksleben, das die Stadt erfüllte, nach den Spuren der antiken Kultur, und manchmal meinte ich den Pulsschlag des antiken Lebens, das die Gedichte Horazens vor uns aufschlagen, im blinden Rhythmus des Treibens um mich her zu gewahren: der Esel und sein Treiber, der Spaßmacher und seine Gegner, der Stock, der auf dem Rücken tanzte, und die alten Vetteln unter den Türen waren mir Zeitgenossen eines anderen Daseins und doch Gestalten, an denen ich mein eingetrocknetes Berufsgeschmäcklein kühlte und mich in Verbindung mit einer Welt erhielt, als deren Studiosus ich einst mein Stücklein Brot verdient hatte.
Doch ich gerate ins Uferlose.
Als meine beiden Schüler, Hans und Adolf, zwei liebe, fleißige, aufgeweckte Burschen, ihr Freiwilligenexamen bestanden hatten und nach Leipzig gingen, um ihr Jahr abzudienen, machte mir der glückliche Herr Wuttke den Vorschlag, eine Stellung als Korrespondent in seiner Firma anzunehmen und damit, zu guter Letzt, auch noch Kaufmann zu werden. Ich sagte nach einigem Bedenken zu und mußte nun noch allerlei Dinge lernen, von denen sich ein richtiger Philolog nichts träumen läßt: aber ich konnte nun wenigstens ohne Futtersorgen in die Zukunft blicken und sogar daran denken, ein bißchen von dem Mammon, an dem diese Welt der Händler mit so inbrünstiger Liebe hängt, auf die Bank zu legen. Einer meiner Pultkameraden, ein gewisser Neuhellene namens Papadopulus, ermunterte mich hie und da, eine kleine Spekulation in Baumwolle zu wagen, und da ich nicht frech hineintappte und an der Quelle saß, schlugen diese Wagnisse in den meisten Fällen zum Vorteil meiner heimlichen Kasse aus. Ein richtiger Kaufmann, dem Geldverdienen das höchste ist, bin ich aber trotzdem bis heute nicht geworden, und ich muß sogar gestehen, daß ich mich im stillen selbst verachtete, wenn ich ein Sümmlein einsteckte, das ich nicht durch reine Arbeit verdient hatte. Doch wer in Afrika, am Rande der Wüste und nicht weit von der echten Sphinx lebt, blickt mit anderen Augen in die Welt als die guten Europäer, deren Leben ja so ungeheuer kostbar ist, und wenn mich meine alte Igelhaftigkeit hie und da wieder übermannte, redete ich mich selber an und fragte, was wohl einmal zutage kommen werde, wenn der wirkliche Wendelin Krummholz aus seiner Höhle hervorstürzte, um etwas zu tun, worüber er sich selbst wundern würde. Die Seele der Menschen hat die Kunst geerbt, aus alten Flicken und Fetzen der Erinnerung die schönsten Feiertagskleider für dunkle Tage und hohe Seiten zurechtzuschneidern; nur mir blieb diese Gabe, mich schön zu putzen und an alten Feuern zu wärmen, stets versagt, und ich weiß nicht, ob die dunkle Unruhe in mir mit einem allzu zarten Gewissen oder mit der Angst der Erkenntnis zusammenhängt, daß wir alle, hoch und nieder, als Spielbälle oder Dienstgeister einer dunklen Macht leben und unsre Päcklein tragen.
Im übrigen möchte ich betonen, daß gerade die Fremde diesen Gedanken und Dämmerstimmungen ihre besondere Färbung gab. Meinen Landsleuten, deren lautes Wesen mich oft genug ärgerte, wenn sie mir als skrupellose Profitmacher oder als aufgeblasener Reisepöbel in den vornehmsten Luxushotels Ägyptens entgegentraten, ging ich aus dem Weg, wo ich nur konnte. Oft nahm ich wochenlang keine deutsche Zeitung in die Hand. Ich sah aus der Ferne, die den Blick schärft, übrigens gar manches, was mir im deutschen Leben, das in alle Breiten ging, nicht gefiel, und vielleicht muß man in der Verbannung gelebt haben, um Allzubedenkliches am eigenen Volke wahrzunehmen. Die Heimat lag mir im übrigen in weiter Ferne, und wenn ich ihrer gedachte, sah ich nur einen Fleck auf einer Karte, auf der Italien wie ein Stiefel in das blaue Meer stach, an dessen südlichen Grenzküsten ich als Mißgestimmter festsaß. Meine Sommerferien verbrachte ich in Italien, auf Ischia oder in Rimini, und der Verlockung, einmal über den Brenner zu rutschen, ging ich mit echt Krummholzscher Verbissenheit aus dem Wege.
Da geschah es, daß ich eines Tages in Kairo einen jener Morgenspaziergänge durch gewisse Viertel machte, die mich immer wieder anzogen, wenn ich ganz im Morgenlande untertauchen wollte. Es war im März, und ich sog mit Behagen die helle klare Luft und das herrliche funkelnde Licht ein, das vieles erträglich macht, was in Mitteleuropa oder Krähwinkel unerträglich wäre. Ich schlenderte durch die engen arabischen Gäßchen Muskys und guckte in die Kräuterläden, wo Räucherwerk dampfte und herkulisch gebaute Neger die Gewürze in ungeheuren Steinmörsern zermalmten. Ich sah den Handwerkern zu und drängte mich durch das Gewühl der müßigen Araber, die sich vor den Juwelierläden stauten und mit gierigen Blicken die ausgelegten Herrlichkeiten verschlangen, als deren Herr zuweilen ein alter weißbärtiger Jude aus dem Schattenwinkel auftauchte, um dies oder jenes Schmuckstück mit seinen knochigen Fingern zu betasten. Vor einem dieser Läden hielt eine verhängte Karosse, und ein Haremswächter in gesticktem Diplomatenrock lief hin und her, um das Kaufangebot seiner Herrin, die hinter den Vorhängen der Karosse sah, zu überbringen. Während ich diesem angelegentlichen Feilschen durch einen Mittelsmann zusah, gewahrte ich auf der andern Leite eine Gestalt, die meinem früheren Schüler Otmar Grimminger wie ein Ei dem andern glich, und mit einem Male war mir das längst entschwundene Leben aufdringlichste Wirklichkeit.
Als ich nun, um dies menschliche Naturspiel näher ins Auge zu fassen, an den Doppelgänger herantreten wollte, war er im Gewühl verschwunden. Aber dies Erlebnis bewirkte, daß ich nun wie in einem Traum, ohne Plan und ohne Ziel, durch das Leben um mich her dahinging. Ich habe mir niemals eingebildet, daß mir dieses Leben und Treiben mehr sein könnte als ein Bild: aber nun ließ ich alles mit seltsam wachen und doch verschleierten Sinnen an mir vorübergleiten: ich geriet aus dem düstern Schatten der heimlichen Basarwinkel in das grelle Sonnenlicht des steigenden Tages; ich vernahm das Schwatzen und Schreien der Menge, das Geklingel der Eselsschellen und den Klang der Scherbettbecher; ich kam an den bekannten Moscheen vorüber, in deren Höfen hagere Beduinen um den Waschbrunnen lagen. Ich durchschritt Wellen scharfer Düfte, die nichts mit Patriarchenluft zu tun hatten; ich sah breitschulterige Fellachen, die Gemüse zur Stadt brachten, mit ihren verschleierten Weibern und zerlumpten Kindern in Eselskarawanen an mir vorüberziehen; ich blickte in grinsende Negerfratzen und fette levantinische Gesichter; ich sah einem Trupp schottischer Hochländer zu, und die Grellheit der Farben und Laute um mich her bildete einen seltsamen Gegensatz zu der inneren Stille, in der ich durch den ewig gleichen Strom des morgenländischen Lebens einherging. Und mir ward allmählich zumute, als ob sich etwas Starres in mir gelöst hätte, und in die seltsame Sätze dieses Gefühls mischte sich etwas wie Groll auf mich selbst und all die Verbissenheit, die seit Jahren an ihrem eigenen Selbst herumdeutelte und die europäische Wichtignehmerei des Ichs im winzigsten zur Schau trug und – betätigte. Und in einem traumhaft dumpfen Gefühl, das fast einem Erschrecken gleichkam, ward mir die uralte Weisheit des Orients, den viele nur durch die Fata Morgana der Tausendundeinen Nacht sehen, kund. Alles, was ich im Lande der uralten Gräber gesehen und erlebt hatte, war da und war gewesen, und ich atmete im Licht und hatte doch keine Heimat, wo ich ruhen konnte.
Als ich bei dem alten Tor Bab Zuwele anlangte, war ich entschlossen, im Sommer eine Fahrt in die Heimat anzutreten: aber der alte Wendelin brauchte, wie ich nicht verhehlen darf, noch verschiedene Anlässe, um bei diesem Entschluß zu bleiben, und fast schäme ich mich, es hier einzugestehen, daß erst ein Auftrag meines Herrn und Freundes Wuttke meine immer wieder ausbrechende Igelhaftigkeit zur Ruhe brachte und mir die seelische Verantwortung für diese Reise abnahm.