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Ein inhaltreicher Monat ist inzwischen verflossen. Ich sitze in der kleinen Kajüte an Bord der »Krabbe«, die am Ostufer der Upernivik-Insel nach Süden fährt. Es ist Mitternacht vom 13. zum 14. Juli, vom Samstag auf Sonntag. Die Polarsonne wirft durch das Bullauge einen hellen goldenen Fleck auf die nicht mehr ganz saubere Wand, und dieser Fleck wandert jedesmal zur Seite, wenn die »Krabbe« einem Eisberg ausweicht. Durch den offenen Eingang der Kajüte kann ich von meinem Platz aus gerade die schwarze Ledermütze von Tobias sehen, der an der Maschine steht, und hinter ihm Loewe, der das Ruder bedient. Und dahinter phantastische Bergketten und Gletscher. Über mir hängt die zusammengerollte Fahne, und hin und wieder erscheint vor dem Bullauge ein Hundekopf und blickt interessiert zu mir herein.
Der Motor rattert, aber jede fünfte Zündung etwa setzt er aus, immer noch. Sonst herrscht vollkommene Ruhe. In der Kajüte ist so herrlich viel Platz und eine ungewohnte Ordnung. Das ist kein Wunder, denn wir hausen jetzt hier nur zu zweit. Sorge und Georgi sind in Umanak zurückgeblieben, nur Loewe und ich haben mit Tobias gestern die lange Fahrt nach Kekertarsuak (= große Insel) gemacht, um den dort in Nugaitsiak wohnenden Grönländer Johann Davidson als Hundekutscher anzuwerben. Er hat sofort eingewilligt, für 3 Kronen und freie Kost, und ist gleich mit den drei Hunden, die er nur noch besitzt, an Bord gekommen. Jetzt schläft er vorn in Tobias' Koje, denn er war gerade von einer langen Seehundsjagd heimgekehrt.
Die Hinfahrt in der gestrigen Nacht war zauberhaft. Es fing an mit Regen, hoher See und Wind schräg von vorn, so daß ich ins Ölzeug kam. Die »Krabbe« tanzte einen lustigen Tanz und wälzte sich ausgelassen auf den Wogen herum.
Zwischen Sagdlek und Storö ging es hindurch. Die tausend Meter hohen Steilwände dieser riesigen Felsklötze verloren sich oben in der Wolkendecke, auch das Mövengewimmel an der Brutwand am Nordende von Sagdlek. Phantastische Eisberge zogen an uns vorbei, gleich schön in der Architektur wie in den Farben. Ihr Unterwasser-Eisfuß strahlte unsagbar grün und ließ auch den über Wasser liegenden Teil grün aufleuchten. Einer der Eisriesen hatte eine ungeheure Plattform dicht unter Wasser, auf der das Meer brandete.
Alles war gestern seltsamer und märchenhafter als sonst. Schneebedeckte Zinnen tauchten auf, in unwahrscheinlicher Höhe über den Wolken schwebend. Wir fuhren durch den Sund, der die Upernivik-Insel östlich begrenzt. Hier, im Schatten der Felswände, war das Fjordwasser von einer entzückend sattgrünen Farbe. Und dicht neben uns hing eine fette Gletscherzunge breit aus den Wolken herab.
Jetzt, auf der Rückfahrt, ist das Wetter ganz still und klar geworden. Wundervoll war die gletscherbehangene Gipfelkette am Nordufer der Upernivik-Insel, wie sie da in das rötliche Licht der Abendsonne hinausragte. So etwa müßte die Montblancgruppe aussehen, wenn sie so weit ins Meer gesenkt wird, daß nur noch die obersten Kilometer herausragen! Eben haben wir Süßwasser eingenommen bei einem kleinen Bach, der ganz fassungslos die riesige Steilwand neben uns kopfüber herabstürzt, um dann, zwei Schritt vom Ufer, im Geröll zu verschwinden.
Ich kann mich nicht entschließen, schlafen zu gehen. Die Landschaft ist zu schön. In einer Stunde soll ich auch schon Loewe ablösen. Dieser ganze Umanak-Distrikt ist ein Märchenland! Was haben wir hier alles in den letzten drei Wochen erlebt! Wie haben hier die Eindrücke einander gejagt, in rastloser Folge, der eine immer stärker als der andere, bis wir kaum noch aufnahmefähig waren.
Rastlos, ja das waren wir wirklich in dieser Zeit! Kaum war die Landgruppe von ihrer Berg- oder Gletscherfahrt wieder zur »Krabbe« zurückgekehrt, so wurden auch schon die Anker gelichtet und es ging in den nächsten Fjord hinein. Und kaum waren hier die Anker gefallen, so ging auch schon die nächste Landgruppe auf ihren Erkundungsmarsch. Sorge hat neulich zusammengezählt, wieviel Stunden jeder von uns im Laufe dieser dreizehntägigen Erkundung gegangen ist. Für ihn selbst ergibt sich 109 ½, für mich 79 ½, die Zahlen für Georgi und Loewe liegen dazwischen. Meine längste Tour war eine Gletscherwanderung von 26 Stunden. Außerdem haben wir mit der »Krabbe« noch 190 Seemeilen zurückgelegt, großenteils in dichtem Kalbeis und also mit langsamer Fahrt.
Aber was bedeuten hier Zahlen! In einer Nacht wäre ich, am Ruder stehend, um ein Haar über Bord gefallen, weil ich im Stehen eingeschlafen war, und ein andermal ging es Loewe ebenso. Wir waren hart angespannt und geizten mit jeder Minute, denn noch hatten wir den Ort nicht gefunden, wo die Hauptaufgabe dieses Sommers gelöst werden sollte, und die Zeit drohte uns wegzulaufen.
Wie wuchs die Spannung, aber auch die Befürchtungen, als die eine Aufstiegstelle nach der anderen sich als unbrauchbar erwies, und wie erlösend kam es dann, als sich fast im letzten Augenblick der auf der Karte noch gar nicht vorhandene kleine Kamarujuk-Gletscher in der nördlichen Seitenbucht des Ingneritfjords als brauchbarer Aufstiegsweg auf das Inlandeis erwies! Und als Hintergrund dieser Erlebnisse eine Landschaft, die an Großartigkeit und Wildheit ihresgleichen auf der Erde sucht.
Aber nun will ich lieber der Reihe nach erzählen. Die Arbeiten in Jakobshavn – Telegramme, Briefe, Berichte, Petroleumeinnahme, Abrechnung und eine Menge Kleinigkeiten – hatten längere Zeit in Anspruch genommen, als wir gedacht hatten. Wir schrieben schon den 20. Juni, als wir mit der »Krabbe« ins Baigat hineinliefen, mit Umanak als Ziel.
Den Besuch des Torsukatak hatten wir wegen Zeitmangels aufgegeben. Und doch sollten wir gerade jetzt in diesen Eisfjord hineinkommen! Im Baigat trafen wir nämlich so heftigen Gegenwind, daß Tobias zum Abwarten im Hafen von Sarkak riet. Aber das paßte uns nicht. Wir wendeten und fuhren schnurstraks in den Torsukatak hinein. Kamen wir jetzt doch nicht weiter, so wollten wir wenigstens noch die Zeit für diesen Versuch verwenden. Im Eisfjord konnte uns ja der Wind nichts anhaben.
Es ging besser, als wir hoffen durften. Im äußeren Teil der Fjords waren zufällig nur wenige Eisberge. Weiter innen wurde zwar das eisfreie Wasser immer spärlicher, aber wir arbeiteten uns, wenn auch langsam, doch immer weiter vorwärts.
Als richtige Eisfahrer hätten wir hier eine Ausguckstonne, ein »Krähennest«, gut gebrauchen können. Das hatten wir nun nicht. Aber wenn man auf die Gaffel kletterte, so hatte man von diesem erhöhten Punkt immerhin einen besseren Ausblick und konnte durch Winken mit dem Arm dem Rudergänger die Richtung angeben. Wir arbeiteten uns nach und nach ganz gut in diese Methode ein.
Wir kamen so bis etwa ein Kilometer vor dem kleinen eisfreien Hafen bei Nuk an der Nordküste des Fjords. Hier fanden wir das Kalbeis so dicht gepackt, daß ein Hineinkommen in den Hafen unmöglich war. Wir waren so töricht, doch einen Versuch zu machen, und arbeiteten uns etwa 100 m weit in das unter Druck stehende Eis hinein, unmittelbar vorbei an einem großen Eisberg mit einem prachtvollen Portal. Aber hinter uns schloß sich sofort die Fahrrinne, und als wir es aufgeben mußten, weiter zu kommen, waren wir gefangen; wir konnten nicht vorwärts und nicht rückwärts und erst recht nicht umdrehen. Und immer stärker preßte uns das Eis.
Aber wir ergaben uns nicht. Wir gingen aufs Eis hinunter und begannen fieberhaft mit Bootshaken und Eisaxt zu arbeiten. Besonders Sorge leistete Erstaunliches im Abhauen der vorstehenden Schollenränder. Sobald die Schraube nur einigermaßen Platz hatte, mußte der Motor mithelfen, was freilich fast immer mit dem fatalen Geräusch endete, mit dem die Schraubenflügel gegen das Eis ballern. Zoll für Zoll rückten wir vor, und nach vielstündiger Arbeit erreichten wir in einem Bogen, immer vorwärts gehend, wieder das Uferwasser.
Sorge und auch ich hatten uns durch das Stemmen gegen den Bootshaken Verletzungen an den Rippenmuskeln zugezogen, die uns mehrere Wochen lang zu schaffen machten; unsere Schraube war verbogen, und der Holzkörper der »Krabbe« hatte manchen Kratzer erhalten, aber wir waren der Umarmung des Eises entronnen und hatten unsere Bewegungsfreiheit zurückerobert.
Ein kurzer Ausflug an Land, den Tobias und ich machten, zeigte uns, wie sinnlos unser Versuch gewesen war: das Innere des Eisfjords war noch lückenlos mit großen Tafeln zusammengefrorenen Kalbeises angefüllt. Es war eben so, wie Tobias uns gesagt hatte: vor Mitte Juli ist hier im Innern nichts zu machen.
Ich schlug meinen Kameraden vor, einen Versuch zu unternehmen, die großen Gletscher, deren Lage wir vermessen wollten, über Land aufzusuchen. Freilich war dabei ein Fluß zu überwinden, dessen Brausen wir schon gehört hatten und den Tobias für unpassierbar erklärte. Aber ob es wirklich unmöglich war, hinüberzukommen, mußte doch wohl erst der Versuch zeigen.
Begeistert stimmten sie zu, und nach einer schnellen Mahlzeit gingen sie an Land. Tobias und ich blieben als Bootswache auf der »Krabbe«. Es wurde eine lange Wache, und sehr gemütlich verlief sie auch nicht.
Wir hatten die Nacht eingeteilt, und zuerst sollte Tobias schlafen. Aber kaum lag er in den Federn, als der Teufel los war. Es kamen 2 m hohe Kalbungswellen, und die Eisschollen und -berge gerieten in wilde Bewegung. Über einem blinden Riff dicht an der Küste bildeten sich ein Wasserfall und ein gewaltiger Wirbel von 30 m Durchmesser, der die Eisbrocken polternd herumwirbelte. Mit unglaublicher Wildheit schlugen die Wellen brandend an der steilen Felsküste empor. Hätte die »Krabbe« so gelegen, wie noch kurz zuvor, nämlich fast auf Grund stehend, so wäre sie rettungslos zerschmettert worden. Es war ein Glückszufall, daß sie etwa 50 m von der Küste abgetrieben worden war, kaum genug, um nicht in den Wirbel hineingezogen zu werden.
Tobias und ich arbeiteten, was wir konnten, um sie mit dem Bootshaken an den Eisschollen entlang immer weiter hinauszuziehen. Den Motor anzuheizen, wäre zwecklos gewesen, da die ganze Wellenfolge nur etwa 20 Minuten dauerte.
Uns war die Erscheinung damals noch ziemlich neu, und wir wurden durch sie sehr erschreckt. Wie wir bemerkten, war nicht etwa die erste Welle schon die höchste, sondern es überboten sich immer die ersten drei oder vier Wellen. Auch ging das Abklingen nicht gleichmäßig vor sich, sondern es kam mehrmals vor, daß die Wellenhöhe wieder zu wachsen anfing. Die Wellenlänge war so groß, daß die Vertikalbewegung der Wellen nur am Ufer zu erkennen war. Aber die ganze Wasseroberfläche führte dabei leicht erkennbare Horizontalbewegungen aus von etwa 20 m Ausmaß abwechselnd auf das Ufer zu und von ihm fort. Die flacheren Kalbeisschollen machten diese Bewegung mit, während die tiefer reichenden Eisberge wenig oder gar nicht folgten. Hierdurch entstanden abwechselnd Pressungen und Öffnungen in dem Eise, das ja fast die ganze Wasseroberfläche bedeckte. Die »Krabbe« war dadurch in Gefahr, zwischen einem Eisberg und einer größeren flachen Scholle zerdrückt zu werden. Im übrigen hatten wir insofern Glück gehabt, als wir frei zwischen den Eismassen trieben. Wären wir verankert oder mit der Trosse am Land befestigt gewesen, so wäre es weit schlimmer gewesen. Das haben wir allerdings erst später dazu gelernt.
Erst am nächsten Mittag, nach 17 ½ stündiger Abwesenheit, kamen meine Kameraden zurück. Es war ihnen alles geglückt. Den 40 m breiten reißenden Fluß hatten sie gerade eben mit knapper Not durchschreiten können. Sie hatten sich dazu halb entkleidet, und das eiskalte Wasser ging ihnen bis zum Nabel. Es fehlte nicht viel, so hätte der Strom sie weggerissen. Leichter war der Übergang über einen zweiten Fluß, der sogar noch breiter, aber weniger tief war. Und dann hatte es einen langen Marsch bis zu dem nördlichen der beiden Gletscher gegeben, die vom Inlandeise kommend in den Fjord hinabsteigen und ihn mit Eisbergen füllen. Der Blick auf die beiden Riesengletscher sei das Großartigste gewesen, was sie bisher gesehen hätten. Die Front des südlichen Gletschers hätten sie vermessen, den nördlichen, für die Vermessung schwer zugänglichen, photographiert. Die Basisendpunkte und den photographischen Standort hätten sie durch Zeichen im Felsen und Steinmänner gekennzeichnet.
Das war alles, was man billigerweise von uns erwarten konnte. So hatten wir trotz der frühen Jahreszeit beim Torsukatak alles erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Triumph!
Während meine Kameraden schliefen und Tobias und ich die »Krabbe« wieder durch den Eisfjord hinausführten, war es mir, als ob unser Motor mit seinem einförmigen, gehackten Eintakt immerfort sang:
Tor–su–ka–tak
Tor–su–ka–tak
Jetzt – hab'n – wir – dich
In – un–serm – Sack!
Hin und wieder freilich bekam er dabei den Husten und stieß, eine Zündung auslassend, eine dichte blaue Petroleumwolke aus dem Schornstein. Vorläufig dachten wir uns nichts Schlimmes dabei. Erst viel später bekamen wir heraus, daß auch dies eine Folge unseres Kampfes mit dem Torsukatak war.
Vor dem Ausgang des Torsukatak stand eine Musterreihe prachtvoller Eisberge. Wir nahmen, ganz dicht vorbeifahrend, die Parade ab. Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich wieder eine solche Häufung interessanter Formen gesehen. Kühne Zinnen, an Dolomittürme erinnernd und wohl 100 m hoch, wechselten mit riesigen Brückenbogen und phantastischen Säulen wie bei den ägyptischen Felsentempeln. Einen unerhörten Formenreichtum boten die Erscheinungen der Wasserlinien und -kehlen, Kannelierungen von kleinsten bis zu größten Dimensionen, kammartig gezackte Berge, polygonale Felderungen in verschiedenen Größen, aber auch gekreuzte Blaubänder mit Verwerfungen, Moränenschichten und anderes. Doch unser Photograph schlief den Schlaf des Gerechten, und ich brachte es nicht übers Herz ihn zu wecken.
In Sarkak mußten wir doch noch eine Nacht liegen. Im Vaigat stürmte es. Ein sicheres Anzeichen dafür war der weißliche Dunst, der das unterste Drittel der Basaltwände von Disko vollständig unsichtbar machte. Er bestand aus Salzstaub vom Gischt der überkämmenden Wellen. Wir benutzten den erzwungenen Aufenthalt, um Süßwasser einzunehmen, denn Umanak ist ein Typhusnest und hat überhaupt kein brauchbares Wasser; man nimmt dort Kalbeis, was oft mehr als erwünscht den Hafen füllt.
Am nächsten Tag ging es bei kräftigem Rückenwind, der uns den »Moses« an Deck zu nehmen nötigte, durch das Vaigat. Es ist wegen seiner Schönheit berühmt und kann doch den Vergleich mit dem Umanak-Distrikt in keiner Weise bestehen. Es ist zu breit, die Basaltwände von Disko und Nugsuak (= große Halbinsel) sind zu wenig gegliedert; sie wirken einförmig, auch tragen sie zu wenig Gletscherschmuck. Heute verdeckten auch noch die Wolken manches.
Unterwegs verankerten wir uns einmal an einem Eisberg, und Georgi nahm den Motor wegen seines Hustens in Behandlung. Er fand auch eine Ursache, stellte sie ab, und – der Motor hustete weiter. Erst als wir uns den flachen Basaltschären näherten, die am äußersten Ende der »großen Halbinsel« der gleichnamigen Ansiedlung vorgelagert sind und ihr einen natürlichen Hafen schaffen – den einzigen weit und breit – wurden die Fehlzündungen seltener. Wir brauchten deshalb diese für kleine Boote unangenehme Fahrt hinüber zur Nordostbucht nicht zu unterbrechen, sondern fuhren gleich weiter, bis die elegante Zinne des Umanak-Berges vor uns auftauchte und höher und höher in den Himmel hinaufwuchs.
Unser erster Besuch in der Kolonie Umanak, die am Fuße dieses Riesenbollwerkes liegt, war nur ein flüchtiger. Wir begrüßten den Kolonieleiter Winterberg und seinen Assistenten Dan Möller, empfingen unsere Post, besichtigten unser hier angekommenes Gepäck, nahmen drei Kisten davon an Bord, füllten eine Tonne Petroleum in unsere Tanke nach und fuhren noch am selben Abend weiter, um im Karajakfjord unsere Erkundung der Aufstiegslinien auf das Inlandeis zu beginnen. Die großartige Gebirgsszenerie wollte uns wach halten. Aber um frisch und arbeitsfreudig anzukommen, mußten wir uns schlafen legen. Nur Georgi ging Solowache und bediente gleichzeitig Motor und Ruder.
Erst als wir in den eigentlichen Eisfjord eindrangen und die immer dichter gedrängten Eisberge zum Langsamfahren und Manövrieren zwangen, kam ich wieder auf Deck. Eine ungeheure Menge von Eisbergen füllte den Fjord, aber langsam rückten wir doch weiter vorwärts, vorbei an dem ehemaligen Wohnplatz am Eingang zum kleinen Karajakfjord und in diesen hinein.
Auch er war stark mit Eisbergen besetzt, doch so, daß wir überall leicht durchschlüpfen konnten.
Die Ufer sind mäßig hoch, aber unfreundlich, denn die kahlen Gneisklippen werden um so steiler, je mehr sie sich dem Wasser nähern. Bei der ehemaligen Station von Drygalskis ist die einzige Stelle, wo das Ufer etwas flacher ist. Aber auch dort herrscht der Eindruck des Unfreundlichen vor.
Wir gingen vor Anker und begaben uns an Land. Es ist ein seltsames Gefühl, an der Stelle zu stehen, wo Landsleute vor uns gearbeitet haben. Ich erinnere mich deutlich, wie mich das gleiche Gefühl packte, als ich im November 1906 in Nordostgrönland am Germania-Hafen auf die Spuren der »zweiten deutschen Nordpolexpedition« stieß. Auch jetzt ist es, genau wie damals, gerade 36 Jahre her, seit Professor von Drygalski hier mit seinen Begleitern überwinterte, um Gletschermessungen zu machen. Er ist heute noch so rüstig, daß er wohl jederzeit, wenn es sein müßte, diese Überwinterung wiederholen könnte. Und doch ist sie schon Geschichte geworden. Nicht einmal sein Haus steht mehr da, es ist verkauft und abgerissen, nur die Grundsteine bezeichnen noch die Stelle.
Viele Besucher sind inzwischen hier gewesen, denn der Große Karajak-Eisstrom, der dritte der Schnelläufer unter den Abflüssen des Inlandeises, gilt als eine der Stellen, wo man verhältnismäßig leicht aufs Inlandeis hinaufkommt.
Wir gingen den steilen Abhang hinauf und oben auf dem Plateau an den zwei Seen vorbei zu dem mächtigen Großen Karajak-Eisstrom, dessen Rand wir abwärts folgten bis zum Ende, wo er die Eisberge abstößt. Es war sehr warm, und wir ließen uns Zeit. Neben der Gletscherfront fanden wir die beiden kleinen Steinmänner, die die Endpunkte der Vermessungsbasis von Drygalskis bezeichneten. Sorge und Loewe benutzten sie, um die heutige Lage der Front nachzumessen, die für das Auge nicht erkennbar von der damaligen abweicht.
Georgi und ich gingen unterdessen zum Rand der Gletscherfront hinab, die, aus der Nähe gesehen, ungemein großartig wirkt. Vier junge Blaufüchse, die wir in ihrem Spiel zwischen großen kantigen Blöcken störten, bellten uns dabei an. Den Rückweg wählten wir bis zu der Stelle, wo wir quer über das Land zur »Krabbe« hinabmußten, auf dem Gletscher, dessen nordwestliche Randzone sich als gangbar erwies. Wir hatten freilich weder Steigeisen noch Seil, ja ich ging in weißen Segelschuhen mit Gummisohlen, eine nicht sehr passende Fußbekleidung für Gletschertouren. Aber der Weg war so leicht, daß es auch damit ging.
Trotzdem konnte der große Karajak als Aufstiegslinie kaum für uns in Frage kommen. Das Stück über Land war für größeres Gepäck zu schwierig und zeitraubend, und eine Landung vor der Gletscherfront war wegen des dort dicht gepackten Kalbeises unmöglich, wäre auch durch die häufigen Kalbungen zu gefährdet gewesen.
Es war uns bekannt, daß es südlich vom großen Karajak, an der Wurzel der Halbinsel Nugsuak, einen bequemen Aufstieg auf das Inlandeis gibt. Wir haben diese Aufstiegstelle, wie auch gewisse andere, So soll ein bequemer, aber ziemlich langer Weg vom Innern des Sermidlet-Fjords zum Rand des Inlandeises führen, das hier leicht besteigbar sein soll. Diesen Weg wollte man sogar dem dänischen König als den besten im Umanak-Gebiet empfehlen. ganz außer Betracht gelassen, weil sie einen Anmarsch über Land von 10 bis 15 km besitzt, der im Sommer für die Beförderung großer Lasten eine ungeheure Schwierigkeit bildet. Vielmehr gingen wir darauf aus, womöglich einen Gletscher als Aufstiegslinie zu finden, auf dem wir auch im Sommer Schlitten verwenden konnten. Einstweilen freilich sollten wir damit kein Glück haben.
Zunächst ging es zur Front des nördlich gelegenen »Kleinen« Karajakgletschers. Die Fahrt zwischen den dicht gedrängten Eisbergen hindurch war prächtig. Am Nordwestende der Gletscherfront gingen wir an Land. Sorge und Loewe suchten wieder die jetzige Lage der Front durch Messungen festzulegen, während ich allein einen Spaziergang neben dem Gletscher machte.
Auch der Kleine Karajak hat eine fahrbare Randzone auf seiner Nordwestseite. Das Land neben ihm ist weniger steil und kahl und von freundlicherem Aussehen. Aber leider hat der Randbach, der sonst außerhalb der großen Randmoräne fließt, diese kurz vor dem Ende des Gletschers durchbrochen und hier die ebene Randzone des Eises auf einer Strecke von 300 m vollkommen zerstört. Für große Transporte mußten hierdurch schwer zu überwindende Schwierigkeiten entstehen. Auch hatte der Gedanke, größere Landungsarbeiten in so unmittelbarer Nahe einer recht produktiven Gletscherfront vorzunehmen, wenig Zusagendes. Auch der Kleine Karajak war also nicht das, was wir suchten.
Es war spät, als meine Kameraden von der Vermessung wieder an Bord kamen. Sie gingen schlafen, und als sie wieder aufwachten, fanden sie sich dem Sermilik-Gletscher gegenüber. Tobias und ich hatten die »Krabbe« in der Nacht aus dem Karajak-Fjord heraus und in den Sermilik-Fjord hineingefahren. Der innere Teil des Sermilik-Fjords ist ein schlimmes Föhnloch. Aber in der Südostecke lagen wir gut vor Anker und Trosse und bekamen nur ab und zu einen Sturmstoß von rechts oder links, sowie Kalbungswellen, die aber harmlos waren, weil der Föhn alles Eis weggeblasen hatte.
Wir hätten ebensogut sofort umkehren können, denn der Sermilik-Gletscher stürzt sich mit so wilden Brüchen über die Steilstufe des Landes ins Meer hinab, daß eine Benutzung als Aufstiegslinie von vornherein ausgeschlossen war. Sorge und Georgi unternahmen trotzdem eine Erkundung längs dem südlichen Seitenrand des Gletschers und teilweise auch auf ihm, die aber an Schwierigkeiten in Fels und Eis schweren Besteigungen in den Alpen gleichkam. Und Loewe benutzte die Zeit, um auch hier die Lage der Gletscherfront in die Karte einzumessen.
Wundervoll war die Nachtfahrt vom Sermilik zum Itivdliarsuk-Fjord. In den jetzt so stillen Fjorden spiegelten sich die Felsenriesen und verdoppelten ihre Pracht. Unbeschreiblich großartig war die Wand des Kakordlursuit (= Sturmvogelfelsen), unter der wir, ganz dicht am Ufer, entlang fuhren. Ihre Nordwestecke hat einen messerscharfen Grat abgespalten, der mit einer haarsträubenden Kühnheit aus über 1000 m Höhe geradlinig ins Meer hinabstößt. Der Anblick, als wir, die Hälse reckend, dicht unter diesem Wunder entlang fuhren, war über alle Maßen überwältigend! Ich konnte nicht anders, ich mußte Sorge wecken, ich mußte diese Offenbarung mit irgend jemand teilen! Daß es so etwas überhaupt gibt!
Die Riesenwände im Umanak-Disirikt bestehen alle aus denselben eigenartigen Gesteinen. Der Fachmann bezeichnet sie als Paragneis und nennt die ganze Formation nach der Insel Agpat die Agpatformation. Der Laie würde sagen: es sind alte Sedimente, deren Einschmelzung zu Gneis im Gange war, aber nicht beendet wurde. Die Schichtung ist überall noch gut erhalten, und man sieht schon an der Farbe, was einstmals Tonschiefer, was Sandstein und was Kalkstein gewesen ist. Sogar die Fossilien, die ehemals diese Schichten füllten, haben noch Spuren hinterlassen, sind aber durch die Einschmelzung verdorben. An vielen Stellen kann man an dem schlierenartigen Verlauf mancher Zwischenschichten und anderen Anzeichen erkennen, daß sie wirklich geschmolzen waren. Aber die Temperatur kann den Schmelzpunkt doch nicht weit überschritten haben, denn in diesen Schichten mit Fließstruktur stecken oft kantige Blöcke von etwas schwerer schmelzbaren Nachbarschichten.
Der Paragneis sitzt auf dem viel festeren alten Gneis, der von gleichem Charakter ist wie überall in Grönland. Wo der Paragneis fehlt, wie auf den flacheren Inseln und im Inneren namentlich der südlicheren Fjorde des Distrikts, bietet die Landschaft nichts anderes als sonst in Grönland. Was den Umanak-Distrikt zu dem schönsten von Westgrönland macht, das sind stets die mächtigen Klötze aus Paragneis mit ihren himmelhohen Steilwänden.
Auch die Ufer des Itivdliarsuk-Fjords bestehen aus altem Gneis und entbehren daher des Großartigen. Aber es war ein entzückendes Bild, das sich uns auftat, als wir an dem Wohnplatz Tugdlitalik vorbei in den Fjord einbogen. Über den stach und zugänglich erscheinenden Landsilhouetten lag in seinem bläulichem Glanz unter der aufsteigenden Morgensonne die weite Fläche des Inlandeises. Alles sah leicht und harmlos aus. Hier mußte es doch glücken, einen Aufstieg zu finden!
Aber es kam anders als wir dachten. Je mehr wir uns dem Lande näherten, um so höher und steiler wuchsen seine Felsen aus dem Meere empor, um so unfreundlicher und abweisender wurde die Landschaft.
Wir wollten alle drei Gletscher in diesem Fjord untersuchen und mit dem innersten beginnen. Doch bald hinderte uns dichtgepacktes Kalbeis, weiter vorzudringen. Wir kamen nur bis zum Westende des ersten, größten Gletschers. Hier, an einem freundlich grünen Landvorsprung, ankerten wir und gaben die Trosse an Land. So friedlich und einladend waren die grasigen Terrassen!
Als wir gerade im Begriff waren, an Land zu gehen und Tobias auf dem, wie wir meinten, gut gesicherten Boot allein zu lassen, kamen Kalbungswellen. Erst von mäßiger Höhe, dann höher und immer höher! Wieder bewegten sich Wasser und Eis abwechselnd auf das Land zu und von ihm fort. Ankerkette und Landtrosse wurden dabei abwechselnd schlaff und wieder bis aufs Höchste gespannt. Wäre der Anker gerutscht oder abgerissen, so hätten uns die Wellen zweifellos auf die Klippen hinaufgeworfen. Wir standen daher bei der Ankerkette und Trosse, gaben etwas nach, wenn die Spannung eine gefährliche Höhe erreichte, und holten wieder ein, wenn sie nachließ.
Auf diese Weise machten wir aber doch nur einen kleinen Teil der Horizontalbewegung mit, die das Eis ausführte. Und das hatte zur Folge, daß die Kalbeisstücke mit furchtbarer Gewalt gegen unseren Vordersteven und gegen das Ruder stießen. Bei der Abwehr zerbrachen wir den Bootshaken, und das Ruder erhielt eine große Narbe. Wir atmeten auf, als die Wellen nach einer Viertelstunde wieder aufhörten, ohne daß wir schwereren Schaden genommen hatten. Und wir hatten nun gelernt, daß man das Boot am besten im Eise treiben läßt, wenn Kalbungswellen zu erwarten sind.
Übrigens haben wir hier wie in den meisten anderen Fällen die unmittelbare Ursache der Kalbungswellen nicht beobachtet. Die oft kanonenschußartig dröhnenden Abbrüche oder Abspaltungen von Eisbergen pflegen nur ganz unbedeutende Kalbungswellen zu geben. Große Wellen scheinen hauptsächlich durch Vorgänge zu entstehen, die wenig Geräusch machen, vielleicht wenn bei der Spaltung eines Eisberges die eine freigewordene Hälfte ganz untertaucht, um dann wieder aufzutauchen und mehrmals um die Gleichgewichtslage hin- und herzuschwingen. Stets aber gerät bei größeren Kalbungswellen der ganze Eisfjord in Aufruhr. Die Eisberge wanken, Türme und Ecken fallen krachend herab, sich wälzend streben die Kolosse ihrer neuen Gleichgewichtslage zu, und oft wirkt der erste Wellenzug überhaupt erst auslösend für eine viel wirksamere Kalbung.
Ich wagte nach dieser Warnung doch Tobias nicht allein zu lassen und blieb mit ihm an Bord. Georgi ging auf eine photographische Razzia an Land, und Sorge und Loewe unternahmen eine große Erkundung. Sie gedachten erst wieder in der Anatbucht zu uns zu stoßen, wo wir die Nacht liegen wollten.
Die Anatbucht ist ein nach Nordosten gerichteter Seitenarm des Itivdliarsukfjords. Kein Gletscher mündet in sie, und sie ist deshalb auch ziemlich frei von Eisbergen und Kalbeis. Nach der Karte mußte aber das Inlandeis sehr dicht an sie heranreichen.
Wir sahen freilich gleich bei der Einfahrt, daß es nicht möglich sein würde, vom Ende der Bucht aus einen unmittelbaren Aufstieg auf das Inlandeis zu finden. Denn hier ragt eine düstere, kahle Gneiswand, die lückenlos die Bucht umschließt, bis zu Höhen von 800 m empor. Aber am Nordwestufer mündete ein Bach, dessen Lehmwasser verriet, daß er vom Inlandeise kommen mußte. Vor seiner Mündung ankerten wir.
Hier fanden uns Loewe und Sorge. Ihr Weg um die Anatbucht herum, immer am Fuß der steilen Wände, war schwierig gewesen und voller Spannung, ob sie überhaupt durchkommen würden. Aber im übrigen brachten sie gute Nachricht: Vom Südostufer der Bucht, wo sogar ein winziger Hafen liegt, zieht sich ein gangbarer Weg über einen Sattel quer über Land bis zum Itivdliarsuk-Gletscher, der an dieser Stelle leicht zu besteigen ist und eine fahrbare Randzone zu haben scheint. Erprobt war der Gletscher allerdings nicht, und man sagt mit Recht, daß man einen Gletscher nicht kennt, so lange man ihn nicht begangen hat. Und der Landweg bot Unannehmlichkeiten in Gestalt von Halden aus großen kantigen Blöcken, die für den Transport großen Gepäcks ein arges Hindernis bilden mußten.
Immerhin war hier doch so etwas wie ein Erfolg errungen. Es war eine Aufstiegslinie gefunden, die wesentlich leichter und besser zu sein schien als die von uns bei Quervains-Havn erprobte und auch als alle sonst bekannten im Umanakdistrikt. Und sie war offenbar neu und noch von niemand benutzt. Aber das was wir suchten, war es doch nicht. Dazu war der Landweg zu weit.
Eine andere Möglichkeit schien der Bach zu bieten, an dessen Mündung wir lagen. Wir kamen auch, ihm folgend, bis zum Rande des Inlandeises, aber dieser Weg kam wegen seiner Länge und der zu passierenden Blockhalden überhaupt nicht in Betracht. Das Tal, in dem der Bach fließt, ist eine wilde Schlucht mit unpassierbaren Steilwänden, von denen eine Reihe von Wasserfällen herabstürzt. Der Talboden ist mit langgestreckten Seen erfüllt, so daß man, um überhaupt weiter zu kommen, mühsam über Riesenblöcke klettern muß. Der größte Teil der Wassermengen, die in dieses Tal hinabfließen, muß den Weg unterirdisch durch die Blockfüllung des Talbodens nehmen. Denn an der Mündung steht die geringe Wassermenge des sichtbaren Teils in schroffem Gegensatz zu dem starken lehmigen Strom, der von der Mündung in die Bucht hinaussetzt, und auch mit der Wassermenge der Wasserfälle, die schon einzeln mehr Wasser führen als der Bach an seiner Mündung. Eine Bestätigung für diese Annahme bot uns der Wasserfall, der gerade über der Bachmündung von der Wand herunterkommt. Denn er verschwindet im Geröll, wenige Schritte von dem Talbach entfernt.
Auf einer Alleintour – sie war, mit 8 Stunden Dauer, nach unseren Begriffen nur ein Spazierweg – gewann ich den Eindruck, daß die beschriebene Schlucht einen Riß in der Erdrinde darstellt, der erst vor, geologisch gesprochen, ganz kurzer Zeit entstanden ist. Das Plateau ist nämlich, wie leicht festzustellen, einstmals vom Inlandeis überschritten worden. Hätte die Schlucht aber damals schon bestanden, so hätte das Eis sie ausgehobelt, und sie sähe dann ganz anders aus als jetzt.
Da wo der Bach aus dem Inlandeis entspringt, hatte ich mich von Georgi und Sorge getrennt. Denn diese wollten von hier aus eine Durchquerung der Halbinsel vornehmen, die den Itivdliarsuk-Fjord vom Ingnerit-Fjord trennt. Hierdurch sollte auf die sicherste Weise entschieden werden, ob der Hochlandfirn dieser Halbinsel, wie auf der Seekarte angedeutet, mit dem Inlandeise zusammenhängt. In diesem Falle würden auch Aufstiegslinien über den Hochlandfirn in Betracht kommen.
Diese Tour war lang und ermüdend, entbehrte aber nicht einer gewissen Spannung, da es keineswegs feststand, daß man hier am Rande des Inlandeises überhaupt durchkommen konnte.
Als wir unsere Kameraden 18½ Stunden nach ihrem Abmarsch als winkende Gestalten im inneren Teil des Ingnerit-Fjords wieder fanden, konnten sie uns nur bestätigen, was wir inzwischen auch schon vom Wasser aus gesehen hatten, daß nämlich der Hochlandfirn auf den äußeren, höheren Teil der Halbinsel beschränkt und vom Inlandeise durch eine breite Lücke etwas niedrigeren Landes getrennt ist. Die Karte ist in diesem Punkte unrichtig.
Im Ingnerit-Fjord erwarteten wir die Entscheidung. Denn nach meinen Erkundigungen waren die beiden am Ende des Fjords vom Inlandeise herankommenden Gletscher vermutlich am ehesten als Aufstiegslinie geeignet. Ich kannte Photographien von ihnen, die nicht schlimm aussahen. Ihre Produktivität war als gering bekannt, und der Fjord pflegte nur wenig Eisberge und Kalbeis zu enthalten. Auch wußte ich, daß Peter Freuchen einmal im Frühjahr vom Inneren dieses Fjords aus, allerdings über einen Umweg durch ein Tal am Nordufer, mit Hundeschlitten auf das Inlandeis gefahren war.
Um so größer war hiernach unsere Enttäuschung. Wir fanden das von Freuchen benutzte Tal und sahen ein, daß es im Frühjahr bei Schneebedeckung einen brauchbaren Zufahrtsweg zum Inlandeise bilden mußte. Aber jetzt im Juli wäre es nicht einmal für Packpferde geeignet gewesen, die sich in den großen Blockhalden die Beine brechen und im oberen Teil auf den glatt polierten, abschüssigen Gneisplatten fallen mußten.
Und wie stand es mit den beiden Gletschern? Den größeren südlichen hatten bereits Sorge und Georgi mit kritischen Augen gemustert und ihn ganz ungangbar gefunden. Eine Erkundung, die Loewe und ich vom Nunatak zwischen beiden Gletschern vornahmen, bestätigte nur dies Urteil. Kam überhaupt einer der beiden Gletscher in Frage, so konnte es nur der kleinere nördliche sein, der weniger zerrissen und offenbar viel weniger produktiv war. Loewe und ich unternahmen deshalb eine Wanderung auf seinem unteren Teil. Wir gingen am Nunatak an Land und von da auf den Gletscher. Das war nicht ganz leicht, und Loewe verlor einmal seinen Rucksack, der in lustigen Sprüngen die steile Felswand hinabkollerte und unter dem hohl liegenden Gletscher verschwand. Aber er kletterte hinterher, bis 5 m unter den Gletscher, und holte den Ausreißer wieder zurück. Freilich hatte die Moräne etwas abgefärbt, und als Loewe wieder herauskam, sah er nicht mehr so schön aus wie vorher.
Anfangs ging unsere Eiswanderung leidlich gut. Aber dann kamen wir an den Gletscherbruch, wo der Gletscher die Hauptstufe seines Abstiegs überwindet, und mußten umkehren. Wir hätten als Fußgänger nur mit großer Gefahr, auf Schritt und Tritt bedroht von den Eislawinen zusammenbrechender Türme, in schwieriger Kletterei unter überhängenden Eismassen diese Bruchstufe passieren können. Leider hatten wir keinen Photographie-Apparat, um die interessanten Bilder festzuhalten. Für Transporte war dieser Weg offenbar nicht geeignet.
Gleichzeitig war Georgi in ziemlich schwieriger Kletterei auf den 600 m hohen Gipfel des Nunataks gelangt, um von dort den Gletscher zu Photographieren, und Sorge auf der Nordseite des Gletschers auf einen 1100 m hohen Berg, die »Breite Kuppe«, wie wir ihn nannten. Beide bestätigten, was auch Loewe und ich zu erkennen glaubten, daß man nämlich den fatalen Gletscherbruch auch auf keiner Seite umgehen kann.
Wie um uns zu warnen, führte uns der Gletscher auch noch eine andere Gefahr vor Augen. Wir hatten von Anfang an besonders seine nördliche Randzone, die relativ eben aussah, als Aufstiegslinie ins Auge gefaßt. Als wir aber unsere Eiswanderung beginnen wollten, wälzte sich hier, wo noch zwei Stunden vorher nichts von Wasser zu sehen war, ein mächtiger Schlammstrom, beladen mit Schutt und großen Steinblöcken, herab, um schließlich in großartigen Fällen ins Meer hinabzustürzen.
Wir ruderten zur »Krabbe« zurück und alarmierten Georgi und Sorge mit ihren Photographie-Apparaten und fuhren mit ihnen so nahe heran, wie wir wagten, um gute Bilder zu erhalten. Es war ein wildes Schauspiel. Große Felsblöcke flogen aus dem schlammigen Wasser heraus frei durch die Luft, und die festen Gneisfelsen neben dem Gletscher erzitterten. Der ganze Aufruhr dauerte knapp 24 Stunden, dann war alles wieder trocken. Offenbar handelte es sich um die Entleerung eines Randsees.
Für Georgis Kino-Kamera war es ein gefundenes Fressen, und auch wir anderen waren dankbar, ein so seltenes Schauspiel mit eigenen Augen gesehen zu haben. Aber im übrigen war doch der Gedanke, bei der Aufstiegsarbeit durch eine solche plötzliche Katastrophe gestört zu werden, wenig zusagend.
Meine Stimmung war nicht die beste, als wir die Untersuchung des inneren Teils des Ingnerit-Fjords beendet hatten. Es sah so aus, als stieße die Durchführung unseres Planes im Umanak-Distrikt doch auf größere Schwierigkeiten, als ich vorausgesehen hatte. Die wichtigste Stelle hatte vollständig versagt! Sollten wir aber gezwungen sein, den Umanak-Distrikt aufzugeben, so würde wahrscheinlich der Sommer mit weiteren Erkundungsfahrten in der Diskobucht vergehen, und es war dann sehr wahrscheinlich, daß unsere geplante Hundeschlittenreise und die Eisdickenmessungen auf dem Inlandeise nicht mehr zustande kamen.
Aber zunächst galt es, die Erkundungsarbeit hier bis zu Ende durchzuführen, und noch waren der nördliche Seitenarm des Ingnerit-Fjords und die beiden nördlich davon liegenden Fjorde zu untersuchen.
Zuerst kam der genannte Seitenarm an die Reihe. Auf der Seekarte hat er keinen Namen. Wir hörten später, daß die Grönländer ihn Kamarujuk (= helle Bucht) nennen. Im Gegensatz zum inneren Teil des Ingnerit-Fjords befinden wir uns hier schon in der Region des Paragneises mit seinen malerischen Steilwänden und hohen, firnbedeckten Plateaus. Aber im Vorbeifahren hatten wir bemerkt, daß hier ein auf der Karte gar nicht gezeichneter Gletscher gerade bis zum Meere herabsteigt, ohne zu kalben. Seine Oberfläche sah, von weitem betrachtet, leidlich eben aus. Wir nahmen zwar an, er käme nicht vom Inlandeise, sondern von einem örtlichen Hochlandfirn, aber wenn die Seekarte nicht ganz verkehrt gezeichnet war, so war es mindestens wahrscheinlich, daß dieser Firn mit dem Inlandeis unmittelbar zusammenhing, denn es war einfach kein Platz mehr für schneefreies Land zwischen beiden.
Wir gingen vor diesem Gletscher vor Anker, und Georgi und Loewe unternahmen den Erkundungsmarsch, wobei sie gleich den Gletscher als Aufstiegslinie wählten. Nach 14 Stunden kamen sie mit der überraschenden Nachricht zurück, daß der Gletscher ein unmittelbarer Abfluß des Inlandeises sei und eine brauchbare Aufstiegslinie darstelle. Im untersten und obersten Teil fanden sie die Oberfläche, wenngleich steil, doch fast vollkommen eben, und nur das Mittelstück, wo der Gletscher sich in einem Bruch über eine Stufe des Untergrundes herabsenkt, bot Schwierigkeiten, die allerdings recht ernst waren.
Diese Mitteilung wirkte elektrisierend. Sogleich gingen nun auch Sorge und ich den Gletscher hinauf bis oberhalb des Bruches, um auch unserseits die Schwierigkeiten zu besichtigen. Auch wir fanden den Bruch sehr schwer passierbar, aber anderseits sahen wir ein, daß in der Kürze des Weges hier ein großer Vorteil lag. Der ganze Gletscher war knapp 4 km lang und führte schon auf dieser Strecke bis etwa 800 m Höhe hinauf. Die schwierigen Strecken im Bruch waren nur etwa 50 m lang und konnten daher mit der Eisaxt verbessert werden. Es war uns sofort klar, daß diese Route gerade für große Gepäckbeförderungen allen bisher gesehenen ungeheuer überlegen war. Der Bruch in der Mitte bildete zwar einstweilen ein Fragezeichen, und unangenehm waren auch die 400 m Moräne und Flußschotter vor der Gletscherzunge, sowie eine Anzahl von Firnspalten im obersten Teil. Aber diese Schwierigkeiten waren doch nicht größer, als daß man den Kampf mit ihnen gern wagen konnte. Das war eine Erleichterung! Nun konnte doch noch alles gut gehen!
Aber der Vollständigkeit halber mußten wir doch unser Erkundungsprogramm bis zu Ende durchführen und fuhren daher nun in den Kangerdluarsuk (= besonderer Fjord) hinein.
Die Einfahrt in diesen Fjord ist beiderseits eingerahmt von himmelstrebenden gletschergeschmückten Bergketten, deren Kämme und Gipfel aus einer Ansammlung überschlanker Türme und Keulen bestehen. Sie recken sich empor über alpine Firnmulden und scharfe Schneegrate und stehen mit dem ernsten Charakter ihrer Unterlage in solchem Gegensatz, daß man sich kaum das Lachen über diese drolligen Gesellen verbeißen kann, wenn man unter ihnen vorbeifährt und sie mit langgereckten Hälsen und Gesichter schneidend heruntergucken. Freilich, wenn man zu ihnen hinauf käme, so würde man wohl mehr Respekt vor ihnen bekommen!
Zuerst ankerten wir mit der »Krabbe« in der kleinen Bucht am Nordufer des inneren, beckenartig erweiterten Teils des Fjords. Hier waren wir gegen den im Fjord herrschenden stürmischen Föhn vollkommen geschützt. Es regte sich kein Lüftchen, und es war schrecklich heiß! Die Mückenplage war groß, und die Flit-Spritze war in der Kajüte in fortwährendem Gebrauch.
Es war uns bekannt, daß hier ein Schlittenweg nach Norden zum nächsten Fjord, dem Kangerdlugsuak (= großer oder langer Fjord) hinüberführt. Wenn wir ihn benutzten, so konnten wir auch gleich den nächsten Fjord von hier aus erledigen. Georgi und Sorge übernahmen diese Erkundung, die 18 Stunden dauerte und sehr mühsam war, weil der Weg zu dieser Jahreszeit fast auf der ganzen Strecke über lockere Moränen und Schutthalden führte. Der Überblick, den sie über das Ende des Kangerdlugsuak und den dort kalbenden Gletscher erhielten, war ausreichend, um diesen als Aufstiegslinie auszuschließen. Er ist sehr produktiv, und seine Oberfläche ist stark zerrissen. Bei der Steilheit der Felsen bot sich auch keine andere Möglichkeit.
Nun blieb also nur noch der Fjord, in dem wir lagen; denn die allernördlichsten Fjorde der Nordostbucht, die inneren Arme des Karrat-Fjords, mußten wegen ihrer zu großen Entfernung von der Basis Umanak außer Betracht bleiben.
Wir verlegten unseren Ankerplatz weiter nach Osten möglichst nahe an das Nordende des Kangerdluarsuk-Gletschers.
Sobald wir aus unserer stillen Mückenbucht herauskamen, nahm uns wieder heftiger Föhnsturm in Empfang. Die befirnten Berge rauchten: Auf den Höhen Schneesturm! Wir konnten wegen des Sturmes und der wenig geschützten Lage nicht am Gletscher selbst ankern, sondern gingen etwas nördlich davon hinter einen Küstenvorsprung, wo wir Lee fanden.
Der Kangerdluarsuk-Gletscher bildet nicht den Fjordschluß, sondern strömt aus einer von Südosten kommenden Seitenspalte heraus. Den Fjordschluß bildet vielmehr eine wenig steile, überall leicht begehbare Glimmerschieferzone, die im Norden und Süden von den riesigen Steilwänden des Paragneises flankiert ist. Das Inlandeis liegt als breiter Lappen hinter diesem Fjordschluß und sendet nur zwei Bäche hinab, von denen der nördliche selbständig im Fjord mündet, während der südliche vorher den rechten Rand des Kangerdluarsukgletschers erreicht und sich mit dessen Randbach vereinigt. Diesen von den bisherigen Karten ganz abweichenden Sachverhalt stellten Loewe und ich auf einer kleinen Erkundung fest, bei der wir die etwa 600 m hohen Glimmerschieferhöhen erstiegen.
Die Aussicht, die wir von hier aus über den Kangerdluarsuk-Gletscher bekamen, zeigte doch so große ebene Flächen auf ihm, daß wir es für notwendig hielten, ihn durch eine Begehung näher zu untersuchen. Dazu mußten wir unseren Ankerplatz nochmals verlegen, nämlich an das Südende der Gletscherfront. Von hier wanderten Loewe und ich den langen, nur schwach geneigten Gletscher 7 km weit – etwa die Hälfte der Gesamtlänge – hinauf. Unseren Umkehrpunkt erreichten wir schon nach 8 Stunden. Aber der Rückweg kostete ungeheuer lange Zeit, weil wir den Versuch machten, einen anderen Weg zu gehen als beim Hinweg. Die aus der Entfernung eben erscheinende Mitte des Gletschers erwies sich als durchsetzt mit Spalten von Kilometerlänge, deren Umgehung schließlich nicht mehr möglich war. Als wir dann dem schräg zum Rande weisenden Rücken zwischen zwei solchen Spalten folgten, endete dieser, immer schmaler werdend, schließlich als dünnes Eisblatt hoch in der Luft, so daß wir fast wieder zum Ausgangspunkt zurück mußten. Und das gleiche geschah noch einmal später, als wir wieder vom Aufstiegsweg abzuweichen versuchten. Wir hatten eben beim Aufstieg den einzigen überhaupt gangbaren Weg gefunden.
Manches Interessante sahen wir auf diesem langen Spaziergang. Der Gletscher ist zusammengeschweißt aus einer ganzen Anzahl von Teilgletschern, die durch Moränen voneinander getrennt sind. Die seitlichen Zonen stammen von kleinen Zuflüssen her, die vom Hochlandfirn herabkommen. Das Eis dieser Randzonen ist weißer als das der Mittelzone, die den vom Inlandeis stammenden Teil darstellt. Auch das Gletscherkorn war sehr verschieden: in der Mittelzone hatten die Körner etwa 3–4 cm, in den Randzonen höchstens ½ cm Durchmesser. In der Mittelzone waren die Körner im obersten Dezimeter locker, so daß man sie bewegen konnte, und nur ihre gegenseitige Verzahnung bewirkte, daß man sie im allgemeinen nicht abheben konnte. Erst von 10 cm abwärts begann das feste Eis. In den Randzonen dagegen hielten die Körner auch an der Oberfläche fest zusammen. Das Ergebnis der Erkundung war aber auch hier, daß der Gletscher als Aufstiegslinie auf das Inlandeis nicht in Frage kam.
Diese Tour dauerte 26 Stunden. Unsere Kameraden befürchteten schon einen Unfall und waren ausgezogen, um uns zu suchen.
Damit waren unsere Erkundungsfahrten beendet, und – dank dem Kamarujuk-Gletscher – mit gutem Erfolg. Der glückliche Abschluß dieses zweiten Hauptabschnittes in unserem Programm gab Anlaß zu einem kleinen Fest. Wir öffneten zu diesem Zweck eine in Umanak an Bord genommene Kiste, die die verheißungsvolle Aufschrift »Wegener extra« trug. Sie enthielt die einzigen Alkoholika, die in unseren Proviantlisten vorkamen.
Wir fuhren nun nach Uvkusigsat, um bei Johann Fleischer, dem Leiter dieser Außenstelle, Schlitten, Hunde und Grönländer zu bestellen, und weiter nach Umanak, wo es wieder Berichte und Briefe zu schreiben und weitere Vorbereitungen für die Hundeschlittenreise zu treffen gab. Und gestern haben wir also Johann Davidson als Hundekutscher angeworben.
Aber jetzt habe ich wirklich die Zeit verplaudert. Der arme Loewe wartet sehnsüchtig auf Ablösung! Es ist Morgen geworden, ein strahlender Sonntagmorgen. Vor uns taucht lichtgebadet schon der kühne Umanakfelsen, das Matterhorn Grönlands, auf. Als ich mich vorgestern abend von Sorge und Georgi verabschiedete, sagte ich scherzhaft: »Ich wünsche Ihnen zu Ihrer Umanak-Erkundung gutes Wetter, aber nicht so gutes, daß Sie gleich ganz hinaufkommen!«
Bald fahren wir am Fuße des Berges vorbei, und auf dem Gipfel, von uns ungesehen, stehen unsere beiden Kameraden und freuen sich, wie die »Krabbe«, ihr Heim, still unter ihnen entlang zieht.
Aber das müssen sie lieber selbst berichten!