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In einem früheren Abschnitte überlieferten wir der allgemeinen Aufmerksamkeit einen Mann mit Namen Sassafraß. Man wird sich erinnern, daß dieser alte Junggeselle nach fünfunddreißigjähriger Dienstzeit seinen Abschied erhielt: »weil er zu früh alt geworden« – »weil er selbst nichts Gescheites mehr tue und nur andern Leuten im Wege stehe« – »weil man bei der steigenden Konkurrenz nur mit Jüngern Kräften fortkommen könne« – usw. Es ist genug, es wird dem Leser erinnerlich sein, daß der alte Sassafraß wie ein ausrangiertes Pferd auf halbes Futter gesetzt und als Kommis a. D. mit der angenehmen Aussicht davongeschickt wurde, den Rest seiner Tage darüber nachdenken zu können, inwieweit es ratsam sei, fünfunddreißig Jahre lang für einen ausgezeichneten Prinzipal Kopf und Herz auf den Markt zu tragen zum Preise von 400 Talern jährlich.
Die Seelenstimmung des exilierten Kommis war eben nicht die erfreulichste – als charakteristisches Merkmal der Konsternation des unglücklichen Mannes heben wir hervor, daß er nach der erwähnten Katastrophe während voller drei Tage nicht hinübereilte zu seinem langjährigen Freunde, dem Wirt in den »Drei goldenen Reichskronen«; daß er während runder zwei Wochen nicht die gewohnten zwei Gläser Rum trank, zu 2 Silbergroschen preußisch; und daß er, was das Schlimmste war, während eines ganzen Monats keinen Zug AB Reuter tat aus der irdischen, überirdisch geliebten Pfeife.
»Was fehlt Ihnen?« fragte der langjährige Freund, der Wirt in den »Drei goldenen Reichskronen«, als er seinen Gast ohne Rum und ohne Pfeife zuerst wieder auf der Ofenbank sitzen sah.
»Oh!« erwiderte Sassafraß und seufzte tief auf. »Es ist mir ein großes Unheil widerfahren, ein Malheur, das mich erschüttert und gebeugt hat, denn: den ich liebte, den ich pflegte, mein bester Kanarienvogel, er ist –«
»Oh, was Sie sagen!«
»Ja, er ist den Weg alles Irdischen geflogen, er ist gestorben – tot.«
»Ach, das tut mir doch sehr leid; der arme Vogel! Gott habe ihn selig.«
Und der Wirt fragte nicht zum zweiten Male, denn er war ein viel zu verständiger Mann, als daß er nicht begriffen hätte, wie es eines alten Junggesellen größester Kummer sein muß, wenn sein bester Kanarienvogel zu einem unbekannten Jenseits hinüberdämmert.
»Wie kommt es, daß Sie so still sind, Herr Sassafraß?« fragte die längjährige Freundin, die Wirtin in den »Drei goldenen Reichskronen«, als der Alte ihr holdes Grüßen nicht mehr erwiderte.
»Oh!« stöhnte Sassafraß und schlug die Augen gen Himmel. »Liebste Frau, ich habe vielen häuslichen Kummer gehabt; die Hand des Schicksals hat mich hart getroffen, denn die Gespielen meiner alten Tage, meine Goldfische, meine unvergeßlichen Goldfische, sie sind –«
»Jesus, Maria, Josef! Sie sind doch wohl nicht –?«
»Ja, sie sind alle krepiert, an der Lungenseuche – tot.«
»Ach, die armen Bestien, schenke ihnen Gott die ewige Ruhe – ihnen wird wohl sein; so geht es den Guten – früh dahin!« Und die Wirtin störte den Alten nicht zum zweiten Male, denn sie war eine viel zu zart besaitete Seele, sie besaß ein viel zu weibliches Herz, als daß sie das schreckliche Unglück eines alten Junggesellen, der seine Goldfische verliert, nicht im vollsten Maße mitgefühlt und mitgetrauert hätte.
Erst als der pfiffige Schneider, der dünne Ziegenbein, ein langjähriger Gesellschafter des Wirtshauses zu den »Drei goldenen Reichskronen«, immer naseweiser nach dem wirklichen Grunde der sassafräßlichen Betrübnis zu forschen begann: da lieh der Alte seinem Unmut den Ausdruck der tiefsten Entrüstung und stieß einen schrecklichen Fluch aus, nach dem alle Kanarienvögel in den Lüften und alle Goldfische in den Wellen elendiglich umkommen sollten am Schnupfen, an Rheumatismus, an der Lungenseuche und an Altersschwäche.
Endlich war der wildeste Schmerz überwunden. Sassafraß fand sich wieder regelmäßig in den »Reichskronen« ein; Sassafraß trank wieder Rum; Sassafraß rauchte wieder AB Reuter. – »Der Kanarienvogel ist vergessen!« meinte der Wirt. »Er hat sich getröstet wegen der Goldfische!« dachte die Wirtin. »Sassafraß ist wieder ein Mensch, mit dem man umgehen kann!« versicherte der Schneider, und alles war wieder wie sonst.
Doch nur auf der Ofenbank des Wirtshauses fand der Greis sein früheres Glück wieder; denn schrecklich war ihm an jedem neuen Morgen das Erwachen in der eigenen Wohnung, wenn er den langen lieben Tag sich dehnen sah, an dem er nicht zu der gewohnten Beschäftigung auf das Comptoir des Herrn Preiss eilen konnte: die Briefe zu lesen, so die Frühpost gebracht, die Rechnungsposten nachzusehen, welche am Tage vorher durch die Bücher gegangen, Empfangsanzeigen zu schreiben an geehrte Geschäftsfreunde oder Mahnbriefe auszufertigen an höchst verwerfliche Kunden.
Jammernd rang er in solchen Augenblicken die Hände und rief: »Oh, Herr Preiss! Warum haben Sie mir das getan! Warum haben Sie mich verstoßen aus Ihrer Nähe, mich, Ihren treusten Diener! Habe ich gefehlt, so will ich mich bessern. Habe ich gesündigt, so will ich Buße tun. Irrte ich in der Addition, so will ich es wieder gutmachen durch Wunder in der Multiplikation; schoß ich einen Bock beim Subtrahieren, so soll mich aus aller Schmach erretten die korrekteste Division! Oh, Herr Preiss, Sie haben nicht wohlgetan, mich zu entlassen! Ich war Ihnen unentbehrlich; ich war der gute Geist Ihres Geschäftes! Wer bürgt Ihnen jetzt dafür, daß alles pünktlich nachgerechnet wird? Wer garantiert Ihnen, daß jeder schlechte Schuldner überwacht wird mit Argusaugen? Wer wird Zucht und Sitte aufrechterhalten unter dem jungen Personal? Wer wird dem Buchhalter Lenz, diesem unseligen Manne, jene schauderhafte Phiole entwinden, wenn er sich nicht schämt, in dem Heiligtume des Geschäftes, vor dem Pulte, auf dem das Hauptbuch liegt, ja, vor diesem Hochaltar des Comptoires jener entsetzlichen Leidenschaft des Wacholdertrinkens den Zügel schießen zu lassen, die ihn und das ganze Geschäft zugrunde richten und Öde und schauerliche Stille zurücklassen wird, wo unter meiner Leitung Kapitalien auf Kapitalien emporgeblüht sind wie goldne Wunderblumen! – Oh, ich meine, ich sähe ihn, diesen zügellosen Menschen, diesen Buchhalter Lenz, in der engen Hose, in dem schäbigen Frack, mit der grünen Brille und der roten Nase, wie er aus Freude über meinen Abschied täglich einen Zentner Tabak schnupft – ich meine, ich sähe ihn, der an allem schuld ist, der mich verleumdet und gestürzt hat, wie er mit faulen Ohrenbläsereien das Herz des besten Menschen, meines unvergeßlichen Prinzipals, zu vergiften strebt, wie er ihn in schnödem Wacholderdusel zu den tollsten Unternehmungen verleitet, zu Spekulationen in Aktien, zu Schwindeleien in Fonds, die bald seinen ehrlichen Namen mit Schande an die große Glocke bringen und endlich den Fall eines Hauses herbeiführen werden, an dessen Größe ich fünfunddreißig Jahre rastlos gearbeitet!« –
In solche und ähnliche Jeremiaden verfiel der alte Sassafraß an jedem neuen Morgen, so daß er sie zuletzt mechanisch herleierte und dann in ein dunkles Brüten und Sinnen verfiel, aus dem er erst abends in den »Reichskronen« wieder erwachte. Ja, dieser Zustand artete momentan in, vollständige Geistesabwesenheit aus, in der er den eigentlichen Grund seines Kummers ganz vergaß und dann unwillkürlich zu Hut und Stock griff; um den gewohnten Weg, direkt nach dem Comptoir des Hauses Preiss, einzuschlagen.
Mehrere Male war er schon bis vor die Tür seines alten Herrn gedrungen und erst da entsetzt zurückgewichen. Eines Morgens, als er ungewöhnlich fieberte, überschritt er aber die Schwelle und trat bis in das Comptoir.
Der Buchhalter, der Korrespondent und der Lehrling waren nicht wenig erstaunt, als sie den alten Kollegen so ohne weiteres an sein großes Pult, eilen sahen. Lenz steckte die Feder hinter das Ohr und nahm eine bedeutungsvolle Prise. August, der Korrespondent, erhob sich von seinem Stuhl und folgte dem tiefsinnigen Alten mit Blicken, in denen Neugier und Mitleid miteinander wechselten. Der Lehrling schlich auf Zehen näher und umspähte ihn, wie man einen Nachtwandler belauscht, von dem man fürchtet, daß er erwachend stolpern und fallen wird, um sich ein Leid anzutun. Niemand wagte aber, den Eintretenden zu stören.
Sassafraß rückte indes mit der sorglosesten Unbefangenheit den Dreifuß näher an das Pult, setzte sich, tauchte die Feder, in das Tintenfaß und begann in jenen ungeheuern Schriftzügen, welche einer alten Kaufmannshand eigentümlich sind, den folgenden Brief zu schreiben:
»Herr Buchhalter Lenz. Dahier.
(privatim)
Wohlgeborener Herr!
Das Gefühl der unaussprechlichsten Wehmut beschleicht mein Herz, wenn ich bedenke, daß ich vom Schicksal dazu ausersehen bin, eine Sache zur Sprache zu bringen, welche in den Annalen des bürgerlichen Lebens nicht ihresgleichen hat.
Mein Herr! Von einem Manne, ja noch mehr: von einem Familienvater, mit dem ich so viele Jahre lang in dem nächsten und angenehmsten Verkehr gestanden, hätte ich nie erwartet, daß er mit so bedauerlicher Hintenansetzung aller freundschaftlichen Rücksichten, aller Konvenienzen und aller merkantilischen Pflichten ein Vertrauen erwidern würde, das ich zwar noch keinem Ehrenmanne versagte, daß ich aber Ihnen vor allen andern in so umfangreichem Maße bewiesen.
Die Freundschaft, mit der ich Ihnen in den dunkelsten Zeiten Ihres Leben entgegenkam, die Achtung, die ich Ihnen sogar in den delikatesten Epochen Ihrer Karriere nicht versagte, und der Kredit, mit dem ich Sie selbst dann noch auszeichnete, als die Gefühle der Wertschätzung mehr und mehr in mir erkalteten – mein Herr! Diese wohlwollenden Gesinnungen meinerseits, ja, diese Grundpfeiler unsrer frühern Verbindung, sie sind durch Ihr rücksichtsloses Benehmen, durch Ihre unverzeihliche Leichtfertigkeit bis in ihre tiefsten Tiefen erschüttert!
Mein Herr! Sie schulden mir 27 Silbergroschen! – Das Schreckliche ist gesagt. Der Alp ist gerollt von meiner Brust. Ich bewege mich freier.
Was sind 27 Silbergroschen!?
Eine kleine Summe, allerdings; ein Tropfen in jenem ungeheuern Meere des Kredits, das belebend hin- und herüberrollt von Kontinent zu Kontinente; ein Sandkorn in jenem kolossalen Gebirge von Kapital, das die menschliche Tätigkeit, Chimborasso gleich, aufgetürmt hat zu einer Grundlage für alle fernere Entwicklung; vielleicht die kleinste Ziffer in der großen Betriebsamkeitssumme aller Völker des Erdballs. Ja, eine kleine Summe scheint in der Tat: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroschen.
Aber wie der Lenker der Sterne dort oben in dem Blau der Unendlichkeit dem Großen seine Bahn gezeigt und dem Kleinen seine Stelle gegründet; und wie der Weise das Große als Großes zu begreifen und das Kleine als Kleines zu würdigen versteht, ja, wie jedes Ding aufhört, klein zu sein, sobald es betrachtet wird nach seiner Eigentümlichkeit, so hört auch auf, eine unbedeutende Summe zu sein, nach ihrer wahren Natur betrachtet: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroscben.
Welches ist die wahre Natur dieser Summe? Ich will es Ihnen sagen. Mein Herr! Jene 27 Silbergroschen bilden ein Darlehn meinerseits und eine Schuld Ihrerseits; sie sind ein Denkmal des Höchsten, was es auf Erden gibt: des Umgangs des Menschen mit dem Menschen; sie legen Zeugnis ab von einem zugestandenen Vertrauen, von einer übernommenen Verbindlichkeit; sie sind das Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses, der stündlich an allen Orten, verschieden nach Form und Umfang sich erneuend, das Leben der Völker schafft, der Wüsteneien in wogende Felder verwandelt, der Städte aus dem Boden zaubert und die Meere belebt mit Schiffen, ja, in ihrer sozialen Bedeutung ist eine heilig große Summe: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroschen.
Sie schulden diese Summe! Sie sind verantwortlich für diesen Betrag! Sie werden also erlauben, mein Herr, daß ich Sie in nahe Verbindung mit dieser Summe bringe. Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen dieselbe vorhalte wie einen Spiegel, damit Ihre Zahlungsfähigkeit sich darin beschaut. Sie werden mir zugestehen müssen, daß ich, hervorgegangen aus einer Zeit, welche alles auf Zahlen reduziert: den Verstand, den Witz, das Talent, den Glauben, die Liebe..., daß ich, wurzelnd in der Moral eines Jahrhunderts, welche den Preis der menschlichen Tätigkeit zu dem Werte des Menschen gemacht hat, daß ich durch alles dieses berechtigt bin, Sie nicht nur als Mitglied der Gesellschaft, als Staatsbürger, als Kaufmann, sondern auch als Mensch zu messen: nach dem Maßstabe von siebenundzwanzig Silbergroschen!
Es ist entsetzlich; ich schaudre; ich verhülle mein Antlitz – denn selbst diesem Maßstabe haben Sie nicht genügt! Wollten Sie nicht? Konnten Sie nicht? Es ist dasselbe! Sie haben nicht bezahlt – das ist die Hauptsache. Sind Sie denn wirklich keine 27 Silbergroschen wert? Sie werden mir antworten, daß Sie mehr wert sind, daß in dem Preiskurant der Gesellschaft, in dem die Tätigkeit eines Bankiers mit einer Million, die Tätigkeit eines Philosophen mit 3 Louisdor per Druckbogen, die Tätigkeit eines Bettlers mit einem Almosen von 3 Pfennigen verzeichnet ist: Ihre Tätigkeit aufgeführt steht mit 600 Talern jährlich, für Mühe und Arbeit, daß aber die Gesellschaft, wie in so vielen anderen Fällen, auch Ihren wirklichen Wert nicht hoch genug zu ihrem Preise ausdrückt – kurz, daß Sie eine verkannte Größe sind, daß Sie benachteiligt wurden eben um jenes verhängnisvolle Bruchteil und daß Sie, zwar anerkannt mit 600 Talern, dennoch zugrunde gehen müssen wegen jener schrecklichen Differenz von siebenundzwanzig Silbergroschen.
In dem, was Sie sagen, steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich gestehe es, in der Differenz zwischen Wert und Preis liegt die halbe Not unsres Jahrhunderts. Aber habe ich dies nicht stets anerkannt? Allerdings! Als Sie im Beginn unsrer Bekanntschaft jenen großen ökonomischen Fehler begingen, der Stimme der Liebe zu gehorchen, und ein edles Weib heirateten, da zerriß ich alle Ihre Schuldscheine, denn ich erinnerte mich dunkel, daß auch ich geliebt hatte und daß die Liebe keine Ökonomie kennt und keine Schuldscheine. Als Sie einige Jahre später vergebens versuchten, der Stimme der Vernunft zu gehorchen, und auf eine überschwengliche Weise zur Bevölkerung des Erdballs beitrugen, da machte ich zum zweiten Male einen Strich durch unsre Rechnung, denn ich dachte: ›Wer weiß, wozu es gut ist, daß ich diesen Kindern Strümpfe und Schuhe kaufe, auf daß sie wandern durch alle Jahrhunderte.‹ Und als Sie endlich zum dritten Male, zwar nicht ein Opfer der Liebe und der Überbevölkerung, sondern die Beute jener entsetzlichen Leidenschaft wurden, welche, ach, so viele große Geister mit den gemeinsten Schlingeln geteilt haben, da machte ich abermals tabula rasa mit Ihren Schulden, denn ich sagte mir: ›Wer weiß, ob der Trunk dieses Mannes nicht vorgesehen in der göttlichen Weltordnung und schmählich vergessen worden ist in dem Preiskurant der Gesellschaft.‹ Aber soll ich deswegen verzichten auf diese siebenundzwanzig Silbergroschen?
Nimmermehr! Es hieße dem Schicksale auf die frevelhafteste Weise in den Arm fallen. Ich würde Sie abhalten, in jener Differenz zwischen Wert und Preis endlich einen Sporn zu finden für rastlose Arbeit; einen Sporn, jenen großen Männern nachzustreben, die, gezwungen von der Not des Lebens, Berge geebnet und Felsen emporgetürmt. Drum, wie das Licht von der Sohne, den Regen von der Wolke, die Stille von der Nacht und die Frucht vom Baume, so fordre ich von Ihnen Zahlung Ihrer Schulden und mahne Sie feierlich um siebenundzwanzig Silbergroschen!
Wie können Sie zögern, abzuschütteln diese furchtbare Schuld! Wenn Sie den Fischer sehen, wie er immer wieder das Netz auswirft; wenn Sie den Jäger sehen, wie er rastlos dem Wilde nacheilt; wenn Sie den Matrosen sehen, wie er sich mutiger stets in Sturm und Gefahr begibt, und den Krieger, wie er entschlossener die Stirn dem Feinde entgegenträgt – wenn Sie alles dieses sehen, gelüstet es Sie dann nicht, ebenso unverdrossen zu fischen, zu jagen, zu segeln und zu raufen, und wäre es auch nur um siebenundzwanzig Silbergroschen!?
Ja, wie können Sie es wagen, der Welt ein Antlitz zu zeigen, auf dem in flammender Frakturschrift geschrieben steht: Keine siebenundzwanzig Silbergroschen! Hätten Sie einen Rest von Scham in sich, wollten Sie einen Augenblick innehalten auf der Bahn des Schwindels und des Leichtsinns, Sie müßten ausrufen: ›Berge, bedecket mich, Ströme, rauschet über mich, denn ein Ebenbild Gottes, ein Herr der Schöpfung gebietet nicht einmal über siebenundzwanzig Silbergroschen!‹
Das Gefühl unaussprechlicher Wehmut beschleicht mein Herz. Möge der Geist dieses Mahnbriefes Sie wachend und träumend umsäuseln. –
Von Herzen wünscht dies höflichst
Ihr Sassafraß.«
Während der alte Sassafraß, um seiner Melancholie über die Dinge im allgemeinen und seinem Groll über den Buchhalter Lenz im besondern Luft zu machen, in diesen Variationen über 27 Silbergroschen seine langgeübte Kunst des Mahnbriefschreibens zu einer so enormen Höhe steigerte; war Lenz allmählich näher getreten und hatte die für ihn bestimmte Epistel über die Schulter des Schreibenden hinweg ungestört von Anfang bis zu Ende gelesen.
Zur Ehre seines Herzens und zum Beweise, daß alle bessern Gefühle noch nicht in ihm erstorben, müssen wir ausdrücklich bemerken, daß, nach der Aussage des Korrespondenten und des Lehrlings, die Lektüre des Briefes ein höchst wunderbares Wechselspiel von Regenbogenfarben in dem Antlitze des Buchhalters hervorzauberte, so daß sein Kopf bald einem flammenden Nordlicht, bald einem verfinsterten Monde, bald einem bleiernen Regenhimmel glich.
Glücklicherweise trug Lenz keinen Dolch unterm Gewande; er trug nur eine Schnupftabaksdose in der Tasche, und zum zweiten Male rettete vielleicht eine Schnupftabaksdose die Welt vor dem Verderben.
Denn ist es nicht eine historische Tatsache, daß Napoleon, die Eroberung Englands beabsichtigend, von Calais in einem leichten Nachen hinausfuhr auf die hohe See und daß er, stets zurückgeschleudert von den schäumenden Wellen, plötzlich voll Zorn in die Tasche griff und, eine Brillantdose daraus hervorziehend, sie der ersten wiederkehrenden Woge fluchend ins Gesicht warf?!
Wie damals der große Korse statt einer Flotte nur eine Dose aus der Tasche zog und darauf verzichten mußte, den britischen Löwen zu bändigen, und wie er bald darauf durch den Neid der Götter stufenweise hinabsank und endlich ein »stiller Mann« wurde – so taumelte auch der Buchhalter Lenz hinab von dem Gipfel seines Zornes, als er statt des Dolches nur die Dose von Tombak fand, und verzichtete auf den schrecklichen Racheplan, durch einen mörderischen Stoß vom Leben zum Tode zu befördern: den alten Sassafraß!
Ja, es war in der Tat der wichtigste Moment in dem Leben des Herrn Lenz.
Dieser Moment, wo er die Dose statt des Dolches fand, wo er zum ersten und zum letzten Male dem größten Manne unsrer Zeit, dem großen Napoleon, so ähnlich sah.
Sage man nicht, daß wir leichtsinnig spotten und übertreiben! Denn welche Wendung würden die Dinge genommen haben, wenn Napoleon wirklich eine Flotte und wenn Lenz wirklich einen Dolch statt der Dose aus der Tasche gezogen hätte? Es ist gar nicht abzusehen. Wie Napoleon in einem solchen Falle die Briten vernichtet und zu doppelter Macht emporgewachsen, den letzten Winkel der Erde mit Krieg überzogen und unterjocht haben würde, so würde auch der rasende Lenz mit dem Dolche in der Hand nicht eher geruht haben, als bis Sassafraß den eignen Mahnbrief besiegelt mit dem roten Herzblut. Im Kampfe der Männer wäre das Hauptbuch vom Pulte hinabgestürzt, die Tintenfässer würden umgestoßen worden sein, das Comptoir hätte bis in seine Grundtiefen gezittert, das Haus Preiss, durch Mord und Totschlag verwüstet, wäre um allen Kredit gekommen, und hätte fallend andre Häuser mit sich zu Boden gerissen, so daß immer neue Schläge für den Handel und die Industrie daraus entstanden wären und schließlich eine große Geld- und Handelskrise die Welt bis in ihre letzten Dörfer erschüttert und namenloses Unglück verbreitet hätte über Millionen redlicher Menschen.
Aber Lenz fand statt des Dolches seine Dose – und wie Napoleon mit kaiserlicher Nonchalance dem Ozean jene historische Prise offerierte, so reichte auch Lenz, mit jener unbeschreiblichen Würde, die einem Schnupfer von Profession und Prinzip eigentümlich ist, eine Prise dem großen Antagonisten, dem alten Sassafraß – und gelöst war das grause Dilemma.
Sassafraß erwachte plötzlich aus seinem Trübsinn; er fand sich, im Widersprach mit dem Befehl seines gewaltigen Prinzipals, vor dem alten Pult des Comptoires; er sah den Buchhalter Lenz, noch die Stirne umlodert von Gewittern, wie er zu holder Versöhnung die Prise bot; er sah den Mahnbrief, den er geschrieben in einem Augenblick trauriger Geistesabwesenheit; er erinnerte sich der alten Freundschaft mit Lenz und der vielen seligen Stunden, die er verlebt in den Räumen dieses Comptoires; die Jugend wurde bei ihm lebendig und flutete, ein alles mit sich fortreißender Strom, in sein Alter hinein – Sassafraß wurde weich, er zitterte, und mit zitternden Händen zerriß er den schrecklichen Mahnbrief und sank weinend in die ausgebreiteten Arme des Buchhalters.–
Von diesem Augenblicke an gelang es dem alten Sassafraß, seine Verbannung von dem Comptoir des Herrn Preiss bis zu einem gewissen Grade mit Gleichmut zu ertragen und, im Hinblick auf so manchen großen Unglücklichen des Altertums, sich in jenen klassischen Mantel der Ruhe und der Weltverachtung zu hüllen, der das Gemüt endlich mit einer gewissen Heiterkeit zurückblicken läßt auf die Wechselfälle des Lebens.