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Fragment
Warum soll ich in der dritten Person erzählen, was mir in der ersten begegnet ist. Der Leser wird sich vielleicht bekreuzigen vor dem Erzähler, aber das ist immer noch besser, als wenn er gähnt. Zudem ist die Geschichte ja auch nicht so außerordentlich. Es gibt Leute genug, denen sie passiert ist und die mich daraufhin kontrollieren können, ob ich die Wahrheit sage. Für den einen ist sie entscheidend, für den andern nicht. Was sie für mich sein wird, weiß ich heute noch nicht.
Es war gestern abend, als ich im Restaurant bezahlte, zählte ich meine Habe. Ich hatte noch einen Louisdor und einige Soustücke. Ich rechnete aus, wie lange das noch reicht. Höchstens vier Tage. Und dann? – Sehet die Lilien auf dem Felde, sagte ich mir. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater nährt sie doch.
Sollte ich nach Hause gehen? – Was tun? Geld verdienen! – Aber bis der Louisdor zu Ende war, konnte das Geld, das ich mir verdienen wollte, unmöglich eingetroffen sein. Ich war übrigens in ausgezeichneter Stimmung. Ich fühlte so frisch und frei. So beschloß ich denn, auf Abenteuer auszuziehen. Ich ging über den Pont St. Michel zur Opéra Comique und sah mir das Publikum an, das hineinströmte, um ›Carmen‹ zu hören. Nachdem mir das zu langweilig geworden, ging ich die Rue St. Antoine hinaus. Aber es war Sonntag, und das Publikum entbehrte jeglicher Distinktion. Kleine Bourgeois mit Kind und Kegel, Rotten betrunkener Ladenburschen, Sonntagsradfahrer, alles von oben bis unten in Schwarz, alles aus geordneten Verhältnissen kommend; nichts, was gleich mir dem Glücke die Hand bieten, etwas Außerordentliches erleben wollte und bereit war, alles auf eine Karte zu setzen. Ich fühlte mich nicht zu Hause. An einer Laterne zeigte ein Transparent nach der nächsten Volksbibliothek, die bis zehn Uhr geöffnet sein sollte. Aber als ich hingelangte, fand ich die Tür verschlossen. Indessen gärte etwas in mir. Ich fühlte es wie Wehen vor einer Geburt; mir war, als könnte ich heute abend etwas noch nie Dagewesenes schreiben, etwas, das, so klein es werden mochte, die Welt in Erstaunen setzen mußte und mich durch irgendeine wunderbare Verknüpfung aus meiner verzweifelten Lage erlösen konnte. So setzte ich mich denn auf der Place de la Bastille aufs Imperial und fuhr trotz der Abneigung, die ich gegen meine Wohnung hege, nach der Rue Monsieur le Prince.
Auf meinem Zimmer zündete ich zwei Kerzen an, schob das Papier zurecht, warf mich in meinen Lehnsessel und tauchte die Feder ein. So saß ich drei Stunden. Was sollte ich denn auch schreiben? Wird denn nicht schon genug geschrieben in dieser Welt? Und habe ich selber nicht genug geschrieben? Wenn es niemand lesen will, werde ich dem etwa abhelfen, wenn ich noch mehr dazu schreibe? Werde ich in vier Tagen zu essen haben, wenn ich meine Zeit derweil mit Schreiben vertrödle? Das ist nicht die Art, wie sich der Mensch heutzutage zur Geltung bringt. Man muß handeln, etwas in Szene setzen, selber unter die Menge treten und sagen: Da bin ich. Wie gut hat es doch ein Maler, der sich mit seinem Bild aufs Trottoir stellen kann; oder gar ein Musiker, der dem ganzen Hause die Ohren volltrommelt. Und dabei das Sinnberückende, das in der Musik liegt. Was ist das schönste Liebesgedicht an elementarer Kraft gegen die schmachtenden, flehenden, aufregenden, überwältigenden Laute, die der Violinist einer einzigen Saite entlockt. Warum, warum habe ich nicht Geige spielen gelernt.
Und dabei tauchte ein Blondköpfchen mit blauen Augen vor mir auf, eine echte Teufelschönheit, wie die Franzosen sagen, ein Kind, dem sich das Laster nur mit seinen Reizen ins Antlitz geschrieben, ein Geschöpfchen, das der Himmel nicht zur Gattin, nicht zur Mutter, sondern zur Sünde geschaffen und für das es schade wäre, hätte es einen anderen Beruf erwählt. Ich sah sie zum erstenmal vor etwa vierzehn Tagen an einem Sonntagnachmittag in Begleitung einer Freundin vor dem Café Vachette. Beide Mädchen trugen Velokostüme. Das der Freundin ist mir so wenig im Gedächtnis geblieben wie die Freundin selber, aber das Blondköpfchen mit den blauen Augen trug helle Lederschuhe, schwarzseidene Strümpfe, weite weiße Beinkleider, hellblaue Blusentaille, einen dunklen Bolero und ein dunkelblaues Strohhütchen, alles elegant und fein, als käme es direkt aus der Puppenfabrik. Ich trat aus dem Café und zündete mir eine Zigarette an, um sie mir genauer ansehen zu können. Warum sie mir gefiel? Nicht ihres reizenden kleinen Fußes in seiner entzückenden Fassung, auch nicht der kindlich schmalen, übereinandergelegten Knöchel wegen. Auch nicht ihrer Figur wegen, die übrigens nichts Außerordentliches aufwies. Auch nicht ihrer Stupsnase wegen, wiewohl ich freilich auf dieser Welt noch keine anderen Nasen geliebt habe als Stupsnasen. Und ihr Mund? Hm. Jedenfalls kam mir das damals noch nicht zum Bewußtsein. Sie gefiel mir instinktiv, weil ich die sterbliche Hülle durchschaute, weil ich auf den ersten Blick ihre Seele erkannt hatte, ihr Temperament, ihre Denk- und Empfindungsweise, ihre Liebhabereien. Sie gefiel mir, weil das Eigenste, das Intimste in mir, was der Mensch in sich hat, das Tier, weil das seine Kompensation witterte. Sie lächelte mir zu. Ich bin kein Geck, wenn ich das niederschreibe. Mir lächelt nicht jede zu. Etwas witterte sie dabei immerhin nicht: meinen leeren Geldbeutel.
Und dann sah ich sie vor vier Tagen wieder, nachts um zwei Uhr im Cafe d'Harcourt. Sie bemühte sich um mich. Sie strich an mir vorbei. Ich hatte mich also nicht getäuscht. Sie war ausgelassen, von einer kindlichen Heiterkeit, anmutig, dabei in ihren Gebärden ihren Begleitern gegenüber um eine Idee unzüchtiger als die übrigen Mädchen. Aber keine Unzucht als Mittel zum Zweck wie bei den ändern, sondern die angeborene Lasterhaftigkeit, die von Herzen kommt und zu Herzen geht. Sie tat sich Gewalt an, um die dicken Spießbürger nicht noch mehr zu skandalisieren. Ich hatte mich in nichts getäuscht. Ich studierte ihren Mund. Er war groß, riesengroß, breit, wenn sie lachte, mit feingezeichneten, aber schmalen Lippen, dahinter zwei Reihen blendender Zähne, jeder Zoll Charakterlosigkeit, ein Mund, der mir alles bestätigte, was ich auf den ersten Blick in der ganzen Erscheinung gelesen. Sie hätte mich gerne mit sich nach Hause genommen. Sie ließ ihre Begleiter im Stich und wartete geduldig, bis der letzte Gast hinaus war. Das war ich. Aber mit mir war mein Schutzengel, mein besseres Ich, die Stimme des Gewissens, das Göttliche im Menschen, das das Tier überwindet und zu Boden hält: mein leerer Geldbeutel.
Diese Erinnerung war es, die mich veranlaßte, als es drüben im Lycée St. Louis Mitternacht schlug, die eingetrocknete Feder beiseite zu legen, meinen Hut aufzusetzen, die Kerzen auszulöschen und ins Café d'Harcourt zu gehen. Nicht daß es mit meiner Tugend schlechter bestellt gewesen wäre als den Abend vorher. Im Gegenteil. Aber ich wollte sie mir noch einmal ansehen. Es herrschen über die sinnlichen Triebe so verkehrte Ansichten in der Welt ...