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Die Rosskirche

Die Wolke, die wie eine brennende Einschicht im Abend gestanden war, erdunkelte und sank.

Nun schwankte kaum merklich im zwitternden Lichte das Korn. Es war gelb und reif, längst schon hatte der Sommer der Erde das Jungfernkränzel geraubt.

Einem wallfahrenden Volke gleich, strebte Halm an Halm in hellen Feldbreiten den Bühel hinan schier bis zur Schwelle des Kirchleins, darin auf buntem Hochaltar der Dorfheilige Lenhart rastete.

Finster ringten die Berge die Tiefen. Der Grill läutete im Gras und von einem fernen Einödhaus klirrte der Dengelhammer.

Ruhigen, erdvertrauten Schrittes zog der Lenhartbauer der einsamen Kapelle zu.

»Morgen scheren wir dir das gelbe Haar«, nickte er in den Kirchenacker hinein, dessen Ähren den hochwüchsigen Mann überragten.

Hinter ihm her säumte sein Bub. Der ließ die Hand sänftlich im starren Stroh rascheln und ihr von den duckenden Halmen schmeicheln.

Nun verharrte auch der Mann und wandte sich. Unten an der Ferse des Hanges lag sein Gut, der Lenhartshof.

»Da, schau, Liendl, wie breit unser Haus steht! Und unsre Felder und Wiesengründe, wie die heuer wachsen und tragen!«

Der Bauernblick ward froh und stolz.

»Wie das Vieh, das um die Kirche da wallfahren gangen ist, gedeiht und im Stall strotzt, so liegt auch der Segen auf meinem Korn, weil es um das heilige Haus da geblüht hat.«

»Dann muss es dem Bach unten auch allweil gut gehen«, klügelte der Bub, »sein Wasser rennt so fleißig um den Lenhartsbühel.«

»Ob es dem Fluss gut geht«, schmunzelte der Vater in den großen Bart, »das weiß ich nit. Ich bin ihm noch nit weit nachgangen.«

»Wo rinnt er denn hin?«

»In die Mühle, dort dreht er das große Rad, hernach an den Hütten vorbei, wo er den Hammer hebt, und dann verliert er sich halt in die Welt.«

»In die Welt?«

In wundersamer Fremdheit pochte dies Wort an des Kindes Seele.

»Die Welt? Vater, wo ist das? Wie schaut das aus?« –

Die beiden waren an der schiefen Holzhütte des Betvaters, der das Kirchlein betreute, vorüber und hielten vor dem Heiligtum.

Die Tür hatte gläubiger Opfersinn mit Rosseisen reichlich benagelt, mit Viehketten über und über behängt.

Nun ward es rege oben im Türmlein. Die Glocke, die liebliche Abendruferin, streute ihre Lockung trautsam den Fernen hin. Und der Bauer sagte, den Kopf entblößend: »Es ist Freitag, Liendl, wir wollen beten gehen.«

Tiefster Feldfriede rings. An der Mitternachtseite des Bühels eindämmend das Dörflein ...

Ein Hauch lag auf dem sanft gebeugten Korn, das sich blass im waldaufbrennenden Mondschein hindehnte. Der ferne Dengelhammer meldete sich nimmer. Fürwitzig gloste ein Sternlein.

Wie ruhsam, wie träumig heut alles war!

Der Liendl musste des Ostertages denken, wo der Lärm des Lenhartsritters die Kirche umrasselt. Da fangen tausend Bauernfüße zu wallfahren an, eh noch die Frühe graut, von allen Seiten, auf allen Steigen kommen sie daher. Und wenn die Knechte nach altem Herkommen dreimal den Bergfried des Heiligen umreiten, da glänzt das Geschirr, die Geißeln schnalzen über die braunen und roten und scheckigen Rosshäute, da wiehert und stampft es, da wird gebetet und gesungen um den Segen in Stall und Stadel – und kupfern und silbern tropft es in den Opferstock. Denn der heilige Lenhart ist der starke Fürsprech für alles Vieh vor Gottes goldnem Stuhl.

Und wenn es dann finster wird, dann vergehen sich die fremden Leute wieder – durch den Atzelwald über die Grenze, in die künischen Berge – und ein paar müssen am Ende gar den Chodenbach entlang hinein – in die Welt ...

Jetzt kamen auch die andern Andachtsucher die Raine und Feldsteiglein herauf, aus den hohen Kornwegen traten sie heraus wie aus Wäldern: müdes Dorfvolk, stille Einödmenschen. –

Zwei Lichter, die auf dünnen Kerzen flackten, hellten sparsam und ängstlich den geweihten Raum und ließen je und je die eherne Kette des geschnitzten Lenhart funkeln.

Der Betvater hatte begonnen. Seine schmale, schneidende Stimme wechselte mit dem Gebrause der betenden Gemeinde. Sie beteten die sieben Himmelsriegel und die sieben Schlösser, die dem Anlauf des Bösen wehren.

Im Winkel aber hockte an einer Truhe ein dreizöpfig Dirnlein. Der Talgstumpf, der angezündet neben ihr auf der Steinfliese lichtelte, machte ihr rundes Kinn hell und die großen Augen schimmernd und verriet ein armselig Kittlein.

Sie tändelte mit eisernem Gerät, das sie aus der Truhe hob. –

»Hörst, Marci, mit dem heiligen Vieh darfst du nit spielen, das gehört ja dem Lenhart.«

Die Winzige schrak auf, strich sich die Strähnen von der Wange und ließ ihr ebereschenrot Mündlein flüstern: »Der heilige Mann greint nit, ich hab ja gebetet.«

»Was hast denn gebetet?« fragte der Liendl.

Da bog sie sich verschämt zu seinem Ohr und sagte:

»Ich hab gebetet:

Meise! beisel,
Schneck im Häusel,
Reck deine Hörner,
Reit durch die Dörner,
Reit auf der silbernen Stiegen,
Dass du den Himmel kannst kriegen.«

»Das wird den Lenhart gefreut haben«, lächelte der Bube, nun auch die hurtige Fingerschar auf die flachen Eisenstücke loslassend.

Der Dorfschmied hatte ihnen die Umrisse jener Nutztiere gegeben, um deren Gedeihen der Bauer fleht. Mit diesen Eisenwesen umwandelt der Wallfahrer den Altar, mit ihnen berührt er das Gröschlein, das er opfern will.

Der Liendl stellte das Getier auf die Beine.

»Siehst, Marei, der mit den Hörnern ist der Stirar, unser Ochs; der mit dem Strick im Maul, das ist unser Schimmel; der mit den vielen Füßen« – es waren acht Beine – »das ist ein Bienvögerl.«

So baute er auf dem Pflaster einen sonderbaren Tierkreis auf und die Dreizöpfige half ihm dabei, doch mit manch süßzagem Streifblick auf das finstere Schnitzbild.

Nun war die ganze Herde der Truhe entnommen; und der Liendl hob die Gespielin vorsichtig in den Ring und lachte ihr in die Augen. –

Noch immer stieg die eintönige Stimme des Voranbeters aus der Masse der Andächtigen.

»Jetzt wollen wir ein Vaterunser beten für die armen Seelen im Fegefeuer, an die niemand nit denkt!« – und wieder »Lasset uns beten für die Seel, die jetzt vor dem Richterstuhl Gottes steht!« – und wieder »Lasset uns bitten für die Seel, die von uns die erste in der Ewigkeit sein wird!«

Plötzlich verloren die spielenden Kinder ihr Lächeln. Ihnen war, als mengten sich in das Murmeln der Frommen fremde Laute, Laute wie von pochenden Hufen und klingenden Eisen, immer schärfer, immer näher – und nun rief es rau und roh – und tobend umschwoll es das Heiligtum des Dorfes.

Schauernd sprang das Marei auf, ihr spinnwebdünnes Stimmlein, ihre großen Augen flehten: »Hilf mir, Liendl! Der Lenhart reitet, weil ich sein Vieh genommen hab.«

Jählings riss das Gebet der Gemeinde ab, nur eine schwachhörige Greisin sprach ihr Vaterunser zu Ende, und die morsche Stimme rührte in ihrer Einsamkeit unheimlich an den Mauern.

Ein Grauen war lähmend auf die Beter gefallen, sie vergaßen des Atems im Leib und sahen sich erbleichen im elenden Licht der Armesünderflämmchen.

An die Kirchenmauer brandete die erste Woge, die der schrecklichste Krieg, der jemals deutsches Land durchfiebert, schäumend in dieses Tal sandte; die unbarmherzige Faust des Söldners erschütterte rasselnd das Kettentor.

Eine wilde, bange Weile – – –

Endlich löste sich die männliche Gestalt des Lenhartshofers von der Masse, die zag und angstvoll wartete.

Die Hand in den breiten Bart grabend, ging er zur Tür und riss sie auf.

Mondschein vor ihm und Fackelgeblend.

Ein fremdgreller Tross, Gäule und Reiter, drängte heran. Erzplatten blitzten, Eisen kurzer Feuerrohre, Spieße und Wehrgehäng, böse Augenpaare – dies alles voll Rauflust, voll stechenden Glanzes. Schnaubende, ungetüme Tierschädel nickten.

Der Bauer sah den Mund eines Karabiners knapp vor seinem Kinn, und ein Lachen krähte auf: »Willst die Pulverdirn aufs Maul küssen, Betbruder, Großbärtiger?«

Der Mond im engen Tor, das funkelwirre Rüstzeug, die wüste Horde, – dem Bauer war das wie ein schlimmer Traum, ein Spuk, der zerrinnt, wenn die Hand übers Hirn wischt.

Mit ungewisser Stimme hub er an: »Seid ihr Geister oder Fleisch? Wenn ihr aber rechte Leut seid, so sagt mir, seit wann ist es der Brauch, dass man mit Umritt und Rossweihe bei der mondscheinigen Nacht kommt und mit Spiel und Kugelröhren?«

Seine Brust arbeitete unter dem Bart, Aufregung schüttelte seinen Leib.

Aus dem Knäuel vor der Kirche antwortete brüllend die Habgier.

»Herfür mit dem Opferkasten, herfür mit Kelch und Silberwerk!« gröhlten sie – und eine lustige Stimme fügte hinzu: »Herunter mit den Speckseiten aus seinem Rauchfang!«

In breitem Trotz stellte sich der Bauer ins Geviert des Einganges, er streckte die Arme torsperrend und schwieg.

Eisenstangen zielten nach seinem Leib, Rohrmündungen starrten ihn an – und hinter ihm erwachte der Jammer.

Zuerst weinten die Kinder und bargen die Augen in den Kleidern der Großen. Doch auch diese verwirrte bald heiße Furcht, sie fingen zu beten an, zu heulen und flüchteten hinter den Altar. Eine Magd versteckte sich auf der Kanzel, und der Lenhartsmessner erklomm, auf dem Kopf des Heiligen Fuß suchend, den Altar.

Schirmend, mit geweiteten Armen aber stand der notfeste Mann wie ein in den Mauern eingelassenes Erzgitter.

Auf schwarzem Tier ritt einer heran, dem ließ die böse Gilde hurtig eine Gasse. Scharf an dem Bauer hielt er. Der Schein der Pechleuchten belebte die glitzernden Ringe und Kleinode der um die Zügel geschlossenen Hand.

»Weg, Knecht, dass ich mein Ross in den Stall da stellen kann!«

Steil bog sich der Eisenumrindete zurück, dass der Sattel knarrte. Die Füße hatte er steif und stattlich in den Stegreif gestemmt. Seines Tieres erregter Atem wühlte in des Lenhartsbauern Bart, flockender Schaum nässte ihn.

Aber der Mann im Tore bat: »Herr, ich seh, Ihr habt den Knechten da zu schaffen. Drum bitt ich Euch, lasst unsre arme Bauernkirche gehen. Ihr findet darin nit viel, nur alte, arme Leut und Kinder. Um der fünf heiligen Wunden bitt ich Euch! Und treibt den Frevel nit so arg, vorm Altar könnt das Ross mit Euch verrecken, wenn Ihr hineinreitet.«

»Weg! Zum letzten Mal red ich, – oder ich lehr dich auf gut heuschreckisch hupfen!«

»Was?!« rang es sich aus des Bauern Kehle, »heut am Freitag, wo der Herrgott für dich gestorben ist, da willst du Schelm sein Haus zum Rossstall machen?«

Zornig schleuderte der Reiter die reichberingte Hand in des Fragers Gesicht.

Dem Wankenden aber stieg die grelle Wut aus dem Herzen in die verzerrte Miene und geiferte ihm aus den Mundwinkeln. Das Messer entriss er dem Gurt, er stach es blind in des Rappen Hals und wühlte wie ein Abersinniger darin herum. Röchelnd hob sich das Tier und schlug mit dem Reiter nieder.

Schmähschreie prallten an die quarzweiße Bauernstirn.

»Greift den Hundskragen! Reißt ihm das Leder vom Leib! Gebt ihm sein Gedärm zu fressen!« –

Drin im Kirchenwinkel schmiegten sich die beiden Kinder an einander, das Marci drückte das Gesichtlein in des Knaben Joppe, um nicht schauen zu müssen.

Der Liendl aber sah das Furchtbare, sah es stockenden Atems, staunenden Auges: zuerst wie sein Vater unterlag, dann wie sie das Tor aus den Angeln rissen und mit Fackeln und hellen Waffen einbrachen wie ein brennender Bach.

Sie rannten hinter den Altar. Dort hob sich ein unsäglich wildes Winseln, ein Schreien, dass die Mauern gellerten.

Ein Söldner stemmte das Gewehr vor die Brust und holte den Betvater von seinem hohen Versteck herab, dass er auf den Estrich aufschlug und bewegungslos liegen blieb.

Andere eräugten die Magd. Sie wurde von der Kanzel geschleift, den Glockenstrick knotete man ihr um die Hüften und trieb sie unter Mutwillen und Büberei im Kreis herum, so dass das Glöcklein im Dachreiter jämmerlich schrillte.

Plötzlich stand einer wie dem Stein enttaucht vor den Kindern. Er wog den abgehackten Kopf des heiligen Lenhart in der Hand.

»Da habt ihr euern Nothelfer! Wollt ihr Kegel scheiben?« grinste er – und schrie dann, die wüsten Augen schier pflugradgroß aufsperrend, den Buben an: »Ha, du bist wohl die Brut des Rossschinders?!«

Sein Säbel zuckte nach den sich umschlungen haltenden Kleinen, – leise lösten sich Mareis Hände von Liendls Rock und sie sank blutend hin ins eiserne Getier.

Über den Rossleib hinweg hetzte der Bauernbub zum Tore hinaus.

Glühender Wind empfing ihn: des Vorbeters Hütte brannte, das alte Gebälk, das dürre Strohdach. Vor der Brunst wich die Nacht zurück, grell und unruhig ragten Sankt Lenharts Mauern.

Doch auch das Dorf stand in Rauch und Schmauch und – ach – aus dem Heimatsgehöft zackten die Flammen in die rote Düsternis.

Ächzende Klage störte den Liendl auf.

An das ausgehobene Tor hatten sie den Vater gefesselt, mit den Opferketten war er gebunden, der starkmächtige, der liebe Mann. Wie den Herrgott auf der Schädelstätte hatten sie ihn gebunden. Ein bluttropfender Marterer, ein Mann der Schmerzen, hing er an dem Holz. In Grimm und Not bog sich sein gepeinigter Leib.

»Ihr Leutschinder!« stöhnte er, »ihr Höllteufel!«

»Stutzt ihm das Kinn!« kicherte einer.

Ein lodernder Span fuhr in des Bauern Bart, aufwärts ins Antlitz schoss die Flamme.

Ein Gellschrei tiefster Körperqual ...

Mit Augen, weitoffen noch nach dem Anblick dieser Untat, rannte der Liendl rainabwärts, vorüber an dem Geheul geplagter Menschen und im Rauch erstickenden Viehes. Über die Wiesen jagte er in den Wald.

Als er sich scheu zu wenden wagte, sah er die Getreidefelder den Kirchhang hinabbrennen, Feuerwellen grasten funkend und in hastigem Hunger über das Stroh, über das reife Korn, das heilige Brot ...

Nun ging es weiter über Knüppel und Knorren, über Strunk und Storren, und er spürte den Rauch der gesengten Heimat, den Geruch des verkohlten Getreides – und sah den Heerwagen unruhig am Himmel zittern – und auf einmal stand er am Bach, der im Mondschein die gleißende Straße wies.

Trostlos, rollende Tränen im Auge, zog er dem Wasser nach.

In die Welt.

Böse Jahre suchten hierfürder das Tal heim: Heere, katholisch und lutherisch, wanderten über die Grenzhöhen und markten grässlich den Weg, woran das Dorf wie eine beraubte Leiche lag.

Einmal aber, nach langer, langer Zeit, als die Lärchen seidig wieder das Gewipfel in den Lenz streckten und durchsichtiges Zitterlaub die Birke schönte, kam einer mit feuchtem Heimwehauge aus dem Irrwald der Welt zurück.

Er fand das Dorf öd und öd den Lenhartshof. Nadelstauden saßen wie Vögel oben am rauchgeschwärzten Gemäuer, das kein Dach mehr bürdete; Brombeergeheck wucherte zu den Fenstern heraus, in Schutt und Dorn lag der Stadel. Nur der Rauchfang stand noch und trug wie ehedem die Donnerwurz, die der Erbauer darauf gepflanzt hatte.

Eiliges Krähenkrächzen grüßte höhnisch über die unwohnliche Stätte.

Der Fremde neigte sein bärtig Haupt.

Schier durch dreimal zehn Jahre hatte er die böhmischen Wolken nicht wandern sehen. Aber dem Schlummernden, dem Sinnenden war es Tag nach Tag vor den geschlossenen Lidern emporgestiegen, hell und grün, das Kinderland mit all seinen himmelsverstiegenen, gottnahen Lerchen, mit den jungen Feldern, die samtbraum den Lenhartsbühel emporwellten, mit dem Duft des Kornes und dem Haus des Vaters, das breit und stolz an der Straße den Giebel hob. Und seine Heimwehseele war voll schwerer Äcker und großer Wälder, und Tannenschluchten rauschten in seinem Blut.

Herbe Wehmut nahm jetzt den Heimgekehrten bei der Hand und führte ihn die verwischte Feldmarch, die mit Tännling und Föhrenstaude bebäumt stand, empor zur wüsten Kirche.

Verkohlt und faul starrte das letzte Gesparr des Steildaches, morsch und schief daran das Türmlein, eine Beute dem nächsten Sturm. Ein Schwalbennest klebte an der entzungten Glocke. Die mürben Mauern trugen Moos.

Unten aber duckte sich das geschändete Land. Das Dorf tot, die Feldung dürr und dornbebuscht, die Weiden verdorben, sumpfig und übersandet die Wiesen. Die alten Waldhaue waren neu bestockt und die Forste von den Höhen weit in die Niederungen herabgeronnen. Kein Räuchlein kringelte daraus.

Verwildert bis zur Unkenntlichkeit war das Antlitz der Heimat.

Aber wie sah es in Sankt Lenharts Prunkkammer aus?

Der Schuh des Fremden knirschte im Getrümmer der zur Hälfte eingestürzten Decke. Moder durchdumpfte das Ödkirchlein. Der Altar faulte, und das Licht in dem ewigen Lämplein war verdurstet. Der entköpfte Lenhart ragte traurig, seiner Ketten beraubt, ein. hässlicher Stumpf.

Des Mannes Augen feuchteten sich leise.

»O du Kirchlein!« kam es über ihn. »O Vater, o Mutter, wo schlafet ihr?«

Schwer wie Blei ward ihm der Blick und sank zu Boden.

Ach, da lag in Schutt und Wust ein rostig Eisen, ein ungestalter Tierleib, acht Beine daran, und daneben ein gehörnter und dann ein gezäumter – und schon kniete der Fremdling, aus Schutt und Splittern die verstreuten Opfertiere wühlend.

Den Staub wischte er ihnen vom rostigen Röcklein, mit hartem Finger bog er ihnen die zertretenen Glieder zurecht und stellte sie im Bogen auf, Ross und Rind, Geiß und Imme.

Eine verschüttete Kindheitssage erhob sich ihm leise wieder: zurückträumend sah er in dem Kreis eine feine, lichtgewobene Erscheinung, ein Kind im armen Kittel, ein blutend Gesichtlein, das ihn anlächelte und wieder in nichts verblasste.

»Kleines Marei – tot – längst tot – du wohl auch ...« –

Draußen trottete eine kurzhörnige, braungescheckte Kuh um die Kirche. Ihre Führerin trug einen enzlangen Spieß, um den ein Kranz Osterveigeln gewunden war.

Dreimal schon hatten sie den Rundgang um des heiligen Lenharts Stätte vollendet. Nun pflockte das Weib das Tier an.

Auf einmal erschrak sie so, dass sich die tiefe Narbe auf ihrer Wange rötete. Entschlossen aber richtete sie den Mordhaken gegen den starkbärtigen Mann, der aus der Kirche getreten war.

»Gib den eisernen Kirchfahrtstecken weg, ich will dir nichts tun«, sagte der Fremde.

»Ich trau nit. Die Menschen sind Wölfe geworden.«

»Ich bin kein Schwed und kein Strauchgraf«, beteuerte er, »und der Krieg ist aus.«

Sie aber erwiderte grob: »Hast wohl in der Kirche nix gefunden? Deine Zunftleut, die Schächersknechte, haben nur die wurmstichige Glocke und das leere Nest daran dagelassen. Wann du aber die Kuh da angreifst, so stech ich dir die Stange in den Bauch.«

Traurig ließ der Fremde das verwilderte Wesen und ging wieder hin, vor dem Kreis der Eisentiere holdweher Erinnerung zu frönen.

Das Weib trat derweil vor den Stumpf des Heiligen und steckte den Veilchenkranz in seine bestohlene Hand. Dann kniete sie nieder, den Haken neben sich legend.

Bald aber glitt ihr Blick von dem Heiligen und forschte nach dem Mann. Der stand traumhäuptig und still, den breiten Kopf geneigt gegen die eherne Herde.

Ein tiefes, leidliebes Erinnern, aus Kindheitsfrieden geflochten und finsterem Geschehnis, sank auf das Weib. Ihr war, als leuchte unter dem mächtigen Mannesbart rosig ein nie vergessenes Knabenangesicht, den Tierkreis sah sie stehen wie vor längst verwehter Zeit – und sie sprang zu dem Menschen hin, zagte nach seinem Arm und tastete mit einer Stimme, scheuen Glaubens, scheuen Zweifels voll, nach seiner Seele.

»Du ... bist es du?«

Bleich starrte er sie an. Er sah in großgraue Kinderaugen, er erkannte die Züge, die unter der Präge rauer Einsamkeit sich tief verernstet hatten, er fasste die schweren, kältezerschrundenen Hände des Weibes: von übermächtiger Erinnerung gepackt, schrie er ihren Namen.

Nie war eine Stunde heiliger gewesen in dem schlichten Kirchhause. Aufs Neue weihte dieser Ruf das geschändete Heiligtum.

»Marci! Marci!«

Und wie er immer wieder diesen Namen stammelte, war ihm, als stünde die Mutter neben ihm, als wandle er mit dem Vater am Rande reifen Kornes, als dache über ihm das Heimathaus.

Jetzt erfuhr er, wie das blutende Marci in jener bösen Nacht von einer Muhme gerettet und in eine versteckte Holzerhütte mitgenommen worden war, wo die beiden in Furcht und Not nun viele Sommer und Winter lebten.

»Gehungert hat uns recht«, erzählte sie, »oft hätten. wir am liebsten Erde und Gras gegessen, und die Geschichte von der gebratenen Sau, die mit dem Messer im Bauch durch den Wald rennt und grunzt: ,Schneid und iss!' – die Geschichte ist erlogen.«

Durch die Barmherzigkeit eines Nachbarn wären sie in den Besitz der Kuh gekommen, und weil heut der zweite Ostertag sei, der Tag des Umrittes, so habe sie das Stückel Vieh den weiten Weg hergetrieben, treu dem alten Herkommen, das niemand mehr übe im wüsten Land.

Als dann der Liendl hörte, dass der Mutter Gebein verkohlt sei unter prasselndem Gebälk, dass des Vaters Leichnam verwesen musste unter offenem Himmel, da krallte sich aller Schmerz, der den Knaben voreinst in die Welt gescheucht, in den Mann und rüttelte ihn – mächtiger denn je – und warf ihn auf den Boden hin.

Da beugte sich das Weib, das, im Bergversteck verwildert, wie ein Waldtier auf nichts weiter bedacht gewesen als auf die Erhaltung seines Lebens, da beugte es sich mutterhaft über ihn, und alle Regungen entwöhnter Menschlichkeit hielten wie eine Frühlingsbrandung Einfahrt in ihr Herz.

Schwer erhob sich der Liendl.

»Ich bin nur ein Irrgast hier und keiner, der bleibt. Ich kann nimmer in diesem Land leben.«

Ihre grauen Augen trauerten. Sie nahm den Kranz wieder von den Händen des Heiligen und zog den Jugendgespielen zur Pforte hinaus. Dort wand sie ihm die Blumen um die Hände, dort deutete sie ins Land hinab. Dann trieb sie wortlos ihre Kuh von dannen.

Er aber blieb, blumengefesselt, und sah ihr nach, bis der Wald sie aufgenommen hatte. –

Und am Bache stand die Birke noch immer, stand wie ein Mautner vor der zerfallenen Brücke.

Zu diesem Baum war er oft in Frühlingsnächten geschlichen, hatte sich mit Birkenwein Lippe und Kinn genässt, auf dass ihm ein Bart sprosse von eitel goldner Seide. Ein jedes Königskind solle ihn küssen ...

Er griff in den rauen Bart.

Ja, das Knabenantlitz war verwildert wie dies Land!

Das Land!

Da ruhte es im Ostermorgen. Seine Kraft hatte lange gefeiert, nun wollte es wieder tragen und geben. Und die verwilderte Brache flehte zu dem Mann empor: »Bleibe, Bauernkind!«

Doch wieder verstellte ihm das Leid mit glüher Hellebarde den Weg. Ihm war dieser Boden der schreiende, nie verstummende Zeuge jener Nacht, die den Kettenfrieden der Kirche gesprengt, die ihn der Güte des Vaters und der Mutter beraubt hatte.

Süß schrie die Amsel auf und verschenkte sich den unbelauschten Wäldern.

»Schweige, du Vogel! – Ich kann nicht mehr weilen in diesem verfluchten Land.«

In süßem Magdtum dufteten die Veilchen von seinen Händen auf. Es waren Blumen, die dieser Boden erzeugt hatte. Der Mann schleuderte sie von sich wie einen nackten Wurm.

Wieder aber traf sein Blick die Birke und folgte der Krümmung des erlenbestandenen Baches. Es war noch die alte, vertraute Linie.

Und das Auge flog zu den Bergen auf.

Die standen da ruhig und sicher wie ehzeit vor vielen Jahren. Dort bauchte sich der gewölbte Dachsberg und zum Antasten nahe war die tannbaumgrüne Plattenhöhe mit den braunen Welkinseln vorsommerigen Buchenlaubes, immer noch kroch der Steig vom Steinwald nieder und das weite künische Gebirge sandte sein Baumrauschen herüber, bald schwellend, bald leiser.

Wie eine Geliebte fing nun die Heimatluft an, ihm, der müd und mild vom Frühling war, ihre seidene Rede zuzuflüstern, und er erkannte die alten, lieben Züge dieser Erde, ihr wonnereiches Antlitz überschimmerte alle Verwüstungen des Krieges.

Es sprach: »Auf mir liegt nur ein Schleier. Löse ihn und ich lächle wieder. Willst du, dass ich meine Kraft an Dornwerk und Unkraut vergeude?«

Und die Erde sang und rief nach ihm: »Sieh, noch gehen meine Quellen! Noch hab ich nicht vergessen, wie man Blumen gebärt und gelben Weizen. – Sieh mich an, wie ich schön bin auch in der Entstellung!«

Blaublank helmte der Himmel über das der Erde. Ruhe war gebreitet von Gebirg zu Tal.

O schön war das Land, wo schon die Vorväter den Bifang« gezogen!

Und des Einsamenen Auge gab für alle Schönheit, die es trank, eine feine, silberne Träne zurück.

Ein uraltes, von tausend erdetreuen Bauernleibern ihm vererbtes Gefühl erwachte und drängte: er sah die Wildnis dem Siege seines Pfluges weichen, er sah schweigende Furchen strahlenförmig gehen von der Lenhartskirche nach allen Seiten der Welt.

Der Wurzel ähnlich, die wachsend den Bann des Steines verreißt, war in ihm eine starke Liebe geworden, welche die Scheu vor der Vergangenheit verdrängte und seinen Geist zu neuer, freudiger Arbeit führte.

Und der schlichte Mensch wusste nicht, was ihn trieb, dass er niedersank und die Hände auf die Erde legte wie zu einem Segen.

Als ein tönendes Fieber den künischen Wald erfasste und der Amselhahn hochaufschwegelte, da tiefte eine Pflugschar die erste fromme Furche in die Brache.

Ein Weib half der vorgespannten Kuh ziehen, und des Pflügers Lächeln war wie ein Leuchten über dem auferstehenden Land.


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