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Der Major Johann Ignaz Reichsfreiherr von Rauchenegg warf sich gestiefelt und gespornt und samt seinem ungeheuren Schleppsäbel und den Pistolen im Halfter, wie er eben von einem Ritt aus der Stadt Cham zurückgekehrt war, in das hastig aufgerissene Bett. auf seiner Stirn, darauf die Zornader zum Platzen geschwellt hervortrat, braute ein Gewitter, seine Augen spien Feuer, der graue Schnauzbart stand gesträubt. Er zerrte an dem Halskragen, als wolle er sich vor dem Ersticken bewahren. Mit einer zerknitterten Zeitung schwenkte er sich Luft zu.
Seine Töchter beschäftigten sich jammernd um ihn. »Was ist Ihnen zugestoßen, lieber Vater? Was erzürnt Sie so sehr? Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich! Sollen wir den Arzt holen lassen?« riefen sie kopflos durcheinander und knöpften ihm dabei den Rock auf, zogen ihm die Reitstiefel aus und schnallten ihm den Säbel und den Gurt mit den Pistolen ab.
»Schweigt!« polterte er. »Euer Geseier ragt mich noch mehr auf. Nichts fehlt mir, nichts, nichts! Ein blöder Schwindelanfall, gleich ist er vorüber. Zum Henker, zetert mir nicht die Ohren voll!« Er starrte zu dem seidenen Betthimmel hinauf, dem Zelttuch eines türkischen Paschas einst, das der Ahne vor Belgrad erbeutet und dann daheim über das Ehebett hatte spannen lassen.
In der offenen Tür lümmelte ein junger Mann, ein Bein lässig über das andere geschlagen und die Arme verschränkt. »Gewiss hat Seine Erhabenheit, der französische Kaiser, Sie wieder einmal schwer beleidigt, Oheim, weil Sie so verstört sind«, sagte er.
»Was hat dich der Kuckuck wieder hergeführt, Jukundin?« erwiderte der Freiherr, ohne den Kopf zu wenden. »Brauchst du Geld?«
»Ich bin von Ottmanning herüber geritten, weil heute das Wetter gar so blau und angenehm ist«, sagte der Neffe. »Bei schönem Wetter ist jedermann guter Dinge und borgt darum viel leichter Geld her als bei verdrießlichem Nebel und kaltem Regen. Aber heute habe ich wohl kein Glück. Sie sind gar nicht bei gnädiger Laune, Oheim.«
Der Alte murmelte: »Kommst du wie ein Aasgeier geflogen, der ein verendendes Ross wittert? Du wirst nimmer lange warten. Der Napoleon bringt mich bald um.«
Der Freiherr Jukundin von Rauchenegg trat ans Fenster. Er nahm sein kraftlos zurückfliehendes Kinn zwischen die Finger, als erwäge er einen schwierigen Gedanken.
»Oheim«, sagte er dann, »Sie haben die mächtigsten Pläne in Ihrem Hirn gewälzt. Sie haben ein Heer von Freiwilligen aufstellen und damit die Franzosen aus Deutschland verjagen wollen. Sie haben die römischen Sümpfe trocken legen, das Rote Meer durch eine Wasserstraße mit dem Mittelmeer verknüpfen wollen. Dabei haben Sie auf das Drängendste, Nächstliegende vergessen. Ich beobachte eben, wie unsinnig Ihr Schloss Püdensdorf angelegt worden ist. Gerade an der gefährlichsten Stelle der ganzen Talweite erhebt es sich, an der scharfen Krümmung des Flusses. Wenn dieser einmal siedend wird, schert er sich keinen Pfifferling um sein Bett, kerzengerade schießt er dann auf das Schloss los. Indessen Sie, lieber Oheim, hier in bequemer Entlegenheit den Franzosen Rache schwören, bricht Ihnen das Dach über dem Kopf zusammen.«
»Püdensdorf hat schon hundertmal der Überschwemmung getrotzt«, knurrte der Major, »der Eisstoß wirft es nicht um. Wenn es eine Gefahr für uns gibt, so ist es nur der Napoleon. Hast du heute schon die Zeitung gelesen?«
Er stützte sich im Bett auf, und der kostbare persische Orden, den er auf den Samtrock geheftet trug, glomm mit seinen Edelsteinen und dem dreifachen Perlenkranz auf in dem Licht, das die Maiensonne durch das Fenster herein stieß. Der Major schüttelte heftig die Zeitung. »Da drinnen steht es. In Dresden hat der Napoleon seinen Hoftag gehalten. Die deutschen Fürsten sind dort um seinen Nachtstuhl gekniet. Bevor der Kerl jetzt Russland umrennen will, hat er sich den Herrschaften noch einmal in seiner Macht und Pracht gezeigt. Schrecken hat er sie alle wollen, dass sie keinen Verrat hinter seinem Rücken anspinnen. Schmählich hat er die Fürsten behandelt, ganz von oben herab, und sie lassen sich es gefallen und katzbuckeln noch um ihn her. Wenn ich ein Hund wäre, keinen Knochen nähme ich von ihm.« Und die Wut des alten Freiherrn entlud sich an der Zeitung, er zerfetzte sie und schrie: »So ein Lügenblatt!«
»Das haben wir trotz allem nicht vergessen«, kicherte Jukundin.
»Mädchen, was gäbe ich darum, wenn ihr Buben wäret!« rief der Major.
Die Freifräulein senkten vor dem ungestümen Wunsch ihres Vaters verschämt die Augen und zupften an den Kleidern, nur Lisabeth schaute kühn und trauernd vor sich hin wie in ein neues, fremdartiges Schicksal, das sich auf einmal vor ihr in abenteuerlicher Pracht aufriss.
»Wünschen Sie es nicht, lieber Oheim, dass meine zärtlichen Bäslein Männer geworden wären«, sagte Jukundin. »Wie wären am Ende ebensolche Müßiggänger geworden wie ich.«
»Buben sollten sie sein! Buben!« schrie der Alte leidenschaftlich. »Ich hätte sie dem Napoleon an den Hals gehetzt! Erstechen soll man den Kerl! Erstechen! Und du, Jukundin, wenn du ein Mann wärst und keine Memme, du müsstest ihn niederschießen!«
Der Neffe versetzte einem chinesischen Wackelgötzen, der grinsend auf einem Schrank hockte, einen leichten Stoß, dass er zu schaukeln anhub. »Wenn ich mich nun verpflichtete, den Kaiser der Franzosen abzukehlen«, sagte er, »würden Sie, Oheim, vor Ihrem allfälligen Begräbnis mich mit einer kleinen Erbschaft bedenken und mir etwa den Sonnen- und Löwenorden dort an Ihrer Brust hinterlassen? Glauben Sie mir, eine tiefverborgene Tapferkeit wohnt in mir. Ich nähre immer einen ganzen Rattenkönig von abenteuerlichen Absichten in meinem Hirn, die ich leider nicht ausführen kann. Alles scheitert an meiner spießbürgerlichen Umgebung.«
Der Major legte die Daumenspitze zwischen seine vergilbten Zähne. »Nicht so viel erbst du von mir! Bei der Tante Seraphita ist es dir gelungen, du hast dir von ihr das Gut Ottmanning erschlichen. Sie war eine alte Gans. Ich bin nicht so dumm. Aber ein Andenken will ich dir doch hinterlassen: vor sechzig Jahren haben Rat und Gemeinde Cham einen eisernen Maulkorb angeschafft, giftige und unbesonnene Zungen damit zu strafen; ich werde in meinem letzten Willen den Stadtrat bitten, dass er den Korb aus der Rumpelkammer hole und dir ihn von Amts wegen vor den Mund binde.«
»Es fehlt Ihnen nicht an gutem Willen, Oheim«, lächelte Jukundin. »Wenn ich Sie aber jetzt um die Hand einer Ihrer Töchter bäte?«
»Auf welche hast du es denn abgesehen, Freund?« lauerte der Alte.
»Es gilt mir gleich, Oheim. Lisabeth ist die schönste, Marianne die tollste, Anna die gescheiteste, und Christa führt eine himmlische Küche.«
»Du ganz elender Gesell«, rief der Major. »Liesel, Nanndel Mariandel, Christel, schaut euch den Spitzbuben da an! Den heirate mir keine von euch!«
Jukundin verneigte sich vergnügt und ungerührt. »Schelten Sie nur kräftig mit mir, Oheim. Sie erleichtern sich dadurch die Galle, und ich bin Ihnen darum nicht böse. Gern trage ich einst hinter ihren Leichenwagen auf seidenem Polster das funkelnde Ding, das Ihnen der Schah wegen Ihrer vielen Verdienste ums sein Reich verliehen hat. Und wenn Sie nicht ein so aufrichtiger Polterkopf gewesen wären, läge heute neben dem persischen Stern noch der Schwarze Adlerorden. Sie hätten höflicher sein sollen gegen den König von Preußen. Wie konnten Sie den hübschen Vogel, den er Ihnen anbot, so grob zurückweisen?«
Der Major eiferte glühend: »Ich habe dem Preußen nur das gesagt, was ich als ehrlicher Deutscher habe sagen müssen: dass er keinen Orden trage, den der Lump, der Napoleon, auch trägt.«
Lisabeth fuhr nun schroff auf: »Wir enden dieses Gespräch. Du, Marianne, spielst dem Vater ein heiteres Stück vor! Und du, Jukundin, höre auf, mit deinen Sticheleien einen herzkranken Menschen zu reizen. Bring keine Unruhe in dieses Haus, damit es dir nicht verboten werde. Du böser Geist!«
»Ei, ei, Frau Hochmut!« murmelte der Vetter, kehrte sich aber gehorsam zum Fenster und trommelte ein wenig an die Scheibe, bis Marianne im Nebenzimmer am Spinett ein Lied aus der unsterblichen Oper »Die Hochzeit des Figaro« zu spielen anhub. »O weile länger nicht, geliebt Seele!«
Sie spielte so weich und werbend und verführerisch, wie ihre dunklen, schweren Augen waren, und das Herz des alten Herrn wurde sofort von ihrer Kunst umsponnen und in den Ring der schmeichelnden Musik gebannt, und er hob leise den grauen Kopf und tat die Augen weit und glücklich auf und lauschte.
Da wussten die drei anderen Schwestern den Vater geborgen und hold beschäftigt, und sie entfernten sich heimlich.
Das Spinett war ein kostbares, mit Perlmutter eingelegtes Gerät, und darauf war ein Bild zu sehen, das den Sänger Orpheus schilderte, wie er mit seiner Harfe die reißenden Löwen zähmte. Mitten durch dieses Bild klaffte die Spur eines Hiebes, der von dem Säbel eines Panduren herrührte. Als um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Regiment des Freiherrn von Trenck in die Pfalz einfiel, hatte sich Vorreiter des Schlosses Püdensdorf bemächtigen wollen. Doch der Großvater des Majors, ein jäher Haudegen, verscheuchte mit seinen Dienern und Scharwerkern das gierige Gesindel und rettet das geliebte Spinett eilig über die Wiesen in die waldigen Höhen des Lamberges, alles andere den Feinden überlassend, eine erlesene Bücherei, den Glas- und Zinnschatz des Hauses, das herrliche Tafelsilber und den zierlichen Garten. Und indes die Rotmäntel, die sich wieder in Püdensdorf festgesetzt hatten, lärmend das Schloss durchstöberten und plünderten, ließ der Ahnherr droben im Wald das Saitenspiel behutsam in das Moos niederstellen unter die schweigsamen Tannen, sein Jäger musste ihm mit einer Fackel leuchten, und er spielte welt- und schicksalsvergessen das edeldüstere Largo des Antonio Vivaldi.
Nun aber verklärten sich unter dem rührenden Spiel der Urenkelin die Räume, die die Klänge des Hochmeisters Wolfgang Amadeus Mozarts aufnahmen, und sie sanft geschweiften Möbel, der Glasschrein mit dem weißen Porzellan, die mit brennenden Rosen und lachenden Fruchtstücken bemalten Türen, die feierlichen Spiegel, die dunkeln Bilder der Ahnen und die mit der Schere geschnittenen Schattenköpfe an der Wand, die Spieluhr und die vielen Kleinigkeiten, die jenes zierlustige Zeitalter geboren, alles schien selig und entrückt mit den süßen Klängen zu schwingen, die voller Verheißung eines nahen Glückes und voll sehnsüchtiger Beschwörung waren.
Jukundin gähnte. Er hatte für Musik nichts übrig. Lieber hätte er den alten Herrn geneckt und dessen Schrullen ans Licht gelockt. Aber der Major horchte lautlos und verzückt.
Also schaute Jukundin zum Fenster hinaus. Die Schlosskühe kehrten wie schwerfällige Bauernmägde von der Weide heim. Einförmig dehnte sich die mächtige Wiese des Gutes dahin, der Fluss zog langweilig vorüber, und langweilig in ihren sanften, ewig gleichen Formen grenzten ferne Berge die Landschaft ab.
Die süße Musik schwelgte noch immer in sich selber. »Wann hört das einmal auf?« murrte Jukundin. »Das ist ein langer Darm!«
Er sah sich nach dem Major um. Der rührte sich nicht und lag versteinert wie einer der fernen Berge.
Jukundin graute es auf einmal. »Was ist los, Oheim?« fragte er. Er rüttelte ihn. Da sank dem Alten der Kopf vornüber.
Der Neffe kraute sich betroffen das Kinn. Dann rief er in den Nebenraum: »Marianne, bemüh dich nimmer« Der Donnervater hat sich schon beruhigt, ganz und gar beruhigt.«
Das Spiel brach ab.
In der Küche fand Jukundin die anderen Fräulein. »Er ist dahin«, sagte er. »Der Schlägel Gottes hat ihn getroffen.«
Ehe die drei den Sinn seiner Worte fassten, wischte er davon. »Gehorsamsten Handkuss!« grüßte er zurück. Er was längere Zeit in dem schlemmerischen Wien gewesen und hatte dort manche landläufige Redensart aufgeschnappt, und die sorglose Lebensweise dieser Stadt angenommen.
Draußen schwang er sich auf sein Pferd, das der Knecht Franz am Zügel bereit gehalten. Er verließ das Schloss und sprengte pfeifend mitten durch die Wiesen davon.
*
Es war reines, blaues Wetter, das Gebirge lagerte wie hinter einem zarten Schleier, und eine Wachtel schlug irgendwo im hochgewachsenen Gras an. Über die Püdensdorfer Wiesen hin schob sich auf verwuchertem Flurweg gen Chammünster der große Leichenzug.
Der Knecht Franz lenkte den mit plumpen Ackergäulen bespannten Wagen, darauf die Truhe mit dem Leib des alten Freiherrn lag. Dahinter trug ein schlanker Knabe auf schwarzseidenem Polster die vielen glitzernden Ordenssterne, womit einst der tatenreiche Mann von den Fürsten, die sich seiner bedient hatte, ausgezeichnet worden war. Begleitet von dem Adel der Landschaft, dessen Edelsitze von den grünen Bergen rings niederdrohten, an der Felsmauer des Pfahles klebten oder in der ruhigen Flut des Regenflusses sich spiegelten und aus verschwiegenen Wäldern oder schlichtem Bauernland wuchsen, begleitet von den Beamten und Bürgern der nahen Stadt Cham und von dem rauen Volk der Dörfer, schritten die vier Freifräulein dahin, Anna, Marianne und Christa gebeugt und verweint, Lisabeth in aufrechtem Stolz, trotzig und tränenlos, und der Wiesenwind spielte mit ihren schwarzen Schleiern.
Sie zogen feierlich an dem schwermütigen Fluss vorbei, darin die Schwalben badeten, dann an verschilften Altwassern und toten Armen des Regens, darüber schleierzarte Wasserjungfern schillerten, an Totenbrettern, mit Zifferblättern bemalt, deren Weiser die Sterbestündlein derer andeuteten, denen diese hölzernen Denkmale gewidmet waren.
Vor der uralten Kirche zu Chammünster hoben sechs adelige Herren den Sarg vom Wagen und trugen ihn in den Friedhof zur Grube. Der Geistliche erhob seine Stimme und lobte den Verblichenen als frommen Christen, als hilfreichen, verlässlichen, freimütigen Mann, als guten, besorgten Vater, als treuen Bayer; er schilderte das Leben des unruhigen Freiherrn, dessen Tatenwut ihn in entlegene Erdteile getrieben, der als tapferer Kriegsmann gestritten, zahlreiche Bücher mit durchdringender Weltkenntnis geschrieben habe, mit hohen Ehren überhäuft worden sei, für andere viel getan habe und für sich nichts. Nun könne der Rastlose ruhen in dem stillen Garten zu Chammünster, der zwanzig Adelsgeschlechtern des Gaues die letzte Stätte geworden sei.
Andächtig hörte der dunkle Haufe der Begräbnisgäste dem Prediger zu. Die vier nachgelassenen Töchter standen hart an dem Grab. Christa schluchzte zuweilen auf; Marianne sah stumpf einem Windfähnlein zu, das auf einem Grabstein leise mit der Luft spielte. Lisabeth senkte die Augen in die Grube, weniger um des Toten willen, als vielmehr, weil einer der Trauerleute, ein stattlicher Offizier, sie unablässig mit brennendem Blick umfing und weil ihr da peinlich war. Anna aber las immer wieder die Grabschrift der Mutter und eines Schwesterleins, des erstgeborenen, das sie nicht gekannt hatte. Auf dem Stein vor ihr, der nun auch den Namen des Vaters aufnehmen sollte, stand: »Hier rasten die zarten Knöchlein des edeln Reichsfreifräuleins Maria Klara von Rauchenegg, des holden, frommen Kindes zweier zu Tode betrübter und ihm bald nachfolgender Eltern. Die nun Verklärte starb im zweiten Jahre ihre Knospenlebens.« Vater und Mutter hatten hernach noch einen Sohn und vier Töchter gewiegt und darüber das Gelöbnis baldiger Nachfolge in den Tod vergessen müssen. Anna dachte über die früh vollendete Schwester nach, die Mutter hatte von dieser erzählt, dass sie sehr lieblich gewesen sei. »Warum musste sie sterben, und ich Verkrüppelte lebe?« fragte sich Anna, und sie nestelte an ihrem Schleier und ordnete ihn so, bis sie annahm, er verhülle nun ihren Höcker.
Hernach fielen die Schollen in die Grube hinunter, und leidübermannt umarmten sich die Schwestern und fingen zu weinen an.
Nach dem Totenamt in dem dämmerigen Gotteshaus verabschiedeten sich die adeligen Freunde mit tröstlichen und aufmunternden Worten und stiegen in ihre Kutschen, die auf der Straße warteten, und der Haufe des Volkes verlief sich.
Die Fräulein gingen zu Fuß heim. Sie überließen sich einer dunkeln, gedankenlosen Trauer und übersahen die heitere, sonnenbeseelte und mit der silbernen Musik der Lerchen erfüllte Landschaft ganz und gar. Sie hatten den Vater sehr geliebt, trotz seiner oft kränkenden, harten Aufrichtigkeit und trotzdem, dass er, verstrickt in die unglaublichsten Geschäfte -- er gründete in Ägypten Gewehrfabriken und macht italienische Sümpfe urbar -- und viele Jahre abenteuerlich irrend, das Erbe der Kinder schlecht verwaltet hatte. Sie wussten nicht, wie sie es fernerhin auf Schloss Püdensdorf aushalten sollten, in dessen Einöde sein ewig planender, kluger und schrulliger Geist bunten und ergötzlichen Wechsel gebracht hatte.
Die Schwestern wanderten an den grünvermoosten Holzhütten der Scharwerker vorbei, die der Herrschaft Püdensdorf untertänig waren, und dann über die Brücke, die den trockenen, mit Gras und Binsen begrünten Schlossgraben überspannte. Das einstöckige Herrenhaus trug ein silberiges Schindeldach und zwei gemächlich geschwungene Barockgiebel mit aufgesetzten Steinurnen und war mit verworren aneinander gebauten Stallungen, Scheuer und Backhaus umgeben.
Der maienhaft blühende, schneeweiße Garten floss zu einer breiten Hufeisentreppe hin, die ein späteres Geschlecht dem ursprünglich etwas nüchtern angelegten Schloss hinzugefügt hatte. Über dem Tor hing ein dürrer, brauner Kranz, herrührend von irgendeinem verschollenen Fest.
In der geräumigen achteckigen Stube, wo das Spinett stand und die Ahnen von den Wänden herunterschauten, ließen sich die vier Fräulein nieder.
»Wir übernehmen jetzt Schloss und Gut Püdensdorf«, begann Lisabeth. »Wir dürfen uns nicht verheimlichen, dass der Vater schlecht gewirtschaftet hat. Für die vielen Kleinlichkeiten eines ländlichen Betriebes hatte er wenig Sinn. Und dann stieß er in seiner Leichtgläubigkeit, die ihm die bittersten Erfahrungen nicht abgewöhnen konnte, einen großen Teil seines Vermögens in Unternehmungen, die sich nicht bewährten, Püdensdorf ist überschuldet.«
»Sprich nicht so hart über den Toten!« bat Christa.
»Ich schmähe ihn nicht. Ich muss dies alles nur sagen, damit wir unsere Lage klar erkennen. Auch ist der Vater nicht an allem schuld. Der Niedergang hub schon an, als der Baron Trenck mit seinen Panduren das Schloss verwüstete, die Familienschätze raubte und Scheuer und Ställe verbrannte. Dann kam die Franzosenzeit, dann traf und Misswachs und Viehfall. Es half eben vielerlei zu unserm Unglück zusammen. Es wird uns nicht leicht werden, ein standesgemäßes Leben zu führen.«
»O doch!« rief Marianne. »Ich will bald heiraten.«
»Das hat noch seine guten Wege«, erwiderte Lisabeth. »Hier in der Einöde besteht wenig Aussicht, dass eine von uns bald eine würdige Ehe eingehe. In einer Stadt zu leben, wo sich eher eine günstige Gelegenheit dazu schicken könnte, dazu reichen unsere Mittel nicht aus. Übrigens würde ich es verschmähen, nach einem Mann zu fischen.«
»Ei was!« rief Marianne, und sie setzte sich ans Spinett und klimperte ärgerlich und sinnlos mit einer Hand darauf los.
Anna verwies ihr dies. »Es schickt sich nicht, gleich nach dem Begräbnis des Vaters zu spielen. Kannst du nicht zuhören, was wir da zu beraten haben?«
Marianne fuhr mit einem zornigen Ruck auf, sprühte die Schwester mit ihren schwarzen Augen an und rauschte hinaus.
»Sie ist nur ein schöner, nutzloser Schmetterling«, sagte Anna.
»Wir müssen uns sehr einschränken«, fuhr Lisabeth fort. »Aber wir dürfen es nicht zeigen. Viele Augen ruhen auf uns. Wir müssen unsere Armut verschleiern. Immer müssen wir daran denken, was wir unserem Namen schuldig sind.«
»Wir werden jetzt selber zugreifen und arbeiten müssen«, sagte Christa.
»Doch nur heimlich!« unterbrach sie Lisabeth. »Und unsere Hände müssen fein bleiben.«
*
Brautweiß schimmerte der Mai in den Kronen der Obstbäume. Der Lustbrunnen in dem gemauerten Becken mochte niemals gesprüht haben, und der steinerne Delphin, den zwei feiste Putten gepackt hielten, unterließ es beharrlich, den Doppelstrahl aus seinen Nüstern zu schießen.
Lisabeth saß auf der Gartenbank, ihr zu Füßen lagerte züngelnd der Windhund Trenck. An dem efeuvermummten Steinbild eines Flügelgottes, der seinen zerbrochenen Bogen betrauerte, lehnte der Offizier, der heute am Friedhof mit seinen brennenden Augen das Freifräulein betrübt hatte.
»Lisabeth«, drängte er, »entscheide dich! Morgen muss ich fort.«
»Ja, du musst fort«, sagte sie. »Du ziehst in den Krieg als ein Knecht Napoleons, der meinen Bruder und nun auch meinen Vater getötet hat! Habt ihr Männer keine Schande?«
Sie verabscheute den französischen Kaiser, von ihrem Vater hatte sie den Hass gegen ihn geerbt, in dem sie den grausamen Landzwinger und Menschenfeind sah und den das Weib in ihr dunkel als den Männermörder hasste.
Der Rittmeister Maximilian Freiherr von Willmering errötete tief. »Ich bin bayerischer Offizier«, verteidigte er sich, »meinem König habe ich zu gehorchen, und meine Pflicht ist es, jeden widerspenstigen Gedanken in mir zu unterdrücken.«
»Sei glücklich in deiner Dienerei!« sagte sie unwillig.
»Lisabeth«, flehte er, »lass in dieser Stunde des Abschiedes Hass und Krieg und Weltschicksal gehen und lass uns nur unserer eigenen Zukunft gedenken. Sage mir, dass ich dich holen darf, wenn ich aus Russland heimkehre! Sage es mir, Lisabeth!« Er sank vor ihr nieder und küsste ihre weißen, vornehmen Hände so wild, als wolle er sie totküssen. Trenck der Hund, richtete sich mit drohendem Geknurr auf; als er aber merkte, dass seine Herrin dem Fremden ihre Hand ohne Gegenwehr überließ, so gestattete auch er es.
Sie wehrte sich nicht. Doch ihr schöner, grausamer Mund zuckte, und die eisgrünen Augen glommen, und sie raunte: »Nur unter einer Bedingung verlobe ich mich dir.«
»Du bist wie ein schönes Feuer«, flüsterte er berauscht. »Alles, alles tue ich für dich, Weib, ich, dein Knecht schon seit dem Schlangenbaum im Paradies!« Und er dachte an die Helden alter Sagen, die, um das herrlichste Weib der Welt zu erstreiten und zu erbeuten, gefährliche Meerfahrt wagten und Wildnisabenteuer ungeheure Scheusale siegreich bestanden. Und er rief: »Verlange von mir, was du willst!«
Sie atmete hoch auf. »Du sollst Napoleon töten!«
Aufs Äußerste erschrocken, schnellte er empor. In wilder Fremdheit öffnete sich ihm das Wesen dieser Frau. »Töten -- ihn -- den Kaiser?!« stammelte er. »Welch ein Scherz!«
»Es ist nicht mein Scherz, nicht Laune«, sagte sie. »Wenn dir mein Besitz wirklich so wertvoll ist, wie du es mir tausendmal beteuert hast, so wirst du ihn beseitigen.«
Er drückte die Hände über die Stirn, als fürchte er, der übermächtige Gedanken, der eben in seine Seele geschleudert worden war, könne ihm das Haupt zersprengen. »Du bist irrsinnig! Weißt du, was du verlangst?!«
»Den Tod eines Unterdrückers, eines Bösewichtes, des größten Verbrechers der Welt! Die Menschheit wird dich segnen, wenn du ihn richtest.«
»Lisabeth, ich weiß, du bist schonungslos und kühn wie selten ein Weib. Aber du begehrst Fruchtbaren. Wie soll ich ihn töten? Ich kann ihn doch nicht zum Zweikampf fordern. Soll ich ihm meuchlerisch auflauern? Und wenn ich schon ein feiger Mörder aus dem Hinterhalt wäre, wo bietet sich die Gelegenheit zu solcher Tat?!«
»Das ist deine Sache, Max.«
»Geliebte, wie kannst du nur so unsinnig sein! Du betrachtest die Welt wie eine Träumerin. Du hast das Leben bisher wie von einem sicheren Balkon aus angeschaut, du bist noch nie hinabgestiegen in den gefährlichen und enttäuschenden Garten. Du kennst die Wirklichkeit nicht. Alles stellst du dir zu leicht vor.«
»Und du bist um dein eigenes kleines Wohl besorgt, Max!«
»Ich bin nicht feig«, entgegnete er. »Ich bin bereit, für einen hohen Gedanken mich zu opfern. Im Krieg bin ich nie dem Tod ausgewichen. Aber einen nichtsahnenden Mann zu überfallen und umzubringen, das vermag ich nicht. Lisabeth, besinne dich! Das bist nicht du, die so Verstiegenes von mir fordert! Der tolle Geist deines Vaters ist in dich gefahren.«
»Langwierige Erwägungen haben hier keine Zweck«, sagte sie kühl. »Entscheide dich schnell! Sag ja oder nein!«
»Lisabeth, ich kann nicht!«
Sie erhob sich und sagte: »Ich habe mich in Ihnen getäuscht.«
»Bleib!« rief er bestürzt. »Höre mich an! Nach dem Feldzug komme ich zu dir.«
»Nimmermehr!« antwortete sie.
Gebüsch schlug hinter ihr zusammen.
Ein Vogel stammelte ein paar launische, verzierte Noten. Verblüfft starrte der Freiherr von Willmering dem Fräulein nach.
*
Trenck, der Hund, öffnete die Tür, mit der Pfote die Klinke niederdrückend, trat dann zurück und ließ ritterlich seiner Herrin Lisabeth den Vortritt in das Haus.
Im Flur begegnete ihr der Vetter Jukundin. Der Hund knurrte ihn wie einen Landstreicher an, er mochte ihn nicht leiden.
»Gehorsamsten Handkuss, Base«, lachte Jukundin. »Ist das Paradiesspiel schon aus und der Herr Bräutigam fort? Und was sagst du zu der Leichenpredigt? Der Herr Pfarrer hat sein Lob etwas übertrieben. Denn erstens war der Oheim kein guter Christ. Er hat mir selber erzählt, dass er in Tunis einmal zum Islam übergetreten ist. Zweitens war er kein braver Vater. Auf eine ganz verrückte Weise hat er das Erbe seiner Kinder geschmälert.«
Lisabeth ging schnell an ihm vorüber. Sie konnte ihn vor Zorn nicht einmal anschauen.
Im Ahnenzimmer warteten die Schwestern.
Anna rief ihr entgegen: »Hast du dich mit Max verlobt?«
»Beruhige dich, Eifersüchtige!« entgegnete Lisabeth. »Es ist alles aus.«
»O, jetzt bleibst du bei uns!« jubelte die Bucklige.
Marianne sagte erstaunt: »Das hätte ich nicht erwartete. Einen solch schönen und bedeutenden Mann abzuweisen!«
»Es ist aus«, wiederholte Lisabeth. »Ich habe Schweres von ihm verlangt, er hat versagt. Nun kann er froh sein, dass wir uns geschieden haben. Denn er würde immer wieder fürchten müssen, dass ich ihn in außerordentliche und entscheidende Dinge jage.«
Nach diesen Worten zog sie sich in ihr Zimmer zurück, einen schmalen Raum, auf dessen Waldtapeten allerliebste Chinesereien gedruckt waren. Sie setzte sich an das offene Fenster und schaute über das Tal hinüber gegen das Gebirge, das in mächtigen, blauen Bergungeheuern dahin strömte, und eine Sage kam ihr in den Sinn, die aus dem Schatten jener dunkelfernen Bergwälder dort geronnen war und die sie in ihrer äußersten Kindheit erfahren hatte.
Auf einem hohen Felsen wohnte der Otternkönig mit seinem Volke, den gleißenden, schönen und verderblichen Schlangen, und sie rieselten im Gras nieder zu den Stätten der Menschen und erschreckten und ängstigten die Leute des Tales, und zuweilen starb wohl auch einer an dem Stich des schleichenden Gewürmes. Da beschlossen die Menschen, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten, und sie legten rings um den Waldberg dürres Reisig und Dornwerk und zündeten es an. Tagelang rauchte und flammte es, und der Brand rückte in immer engerem Ring bergan, die Wildnis sank in Asche, und die sterbenden Nattern sangen so lieblich, wie es noch nie ein Menschenohr vernommen. Aber einmal verstummten sie, denn das Feuer hatte den Felsen erreicht, der wie ein Kern im Innern des Waldes lag, und es umzingelte ihn und leckte stürmisch daran empor. Plötzlich sprang ein wunderbar schöner Mann gepanzert und gekrönt aus dem Kreis der Flammen, schrie schmerzlich auf und stürzte wieder in Qual und Glut zurück. Als der Brand verloschen war, fand man von ihm nichts als ein Schwert, das auf einem aschebedeckten Stein lag.
Das Kind Lisabeth hatte sich in den rätselhaften Helden dieser Sage verliebt und ihm Treue geschworen. Als sie dann herangewachsen war und den Vater in jenes Gebirge begleiten durfte, wo er drüben an den Hängern der Kaitersberge und des Hohen Bogens Hirsche und Bären jagte, da schlich sie oft den Schlangen nach und wollte ihren König mit der spiegelfunkelnden Rüstung und dem Schmerzschrei auf der Lippe finden. Und als sie hernach in die großen Städte kam, suchte sie sein Gesicht, das sie aus ihren Träumen heraus genau kannte, in den Gesichtern der Männer und fand es nicht.
Kaum war sie damals aus Regensburg, wo sie bei Verwandten gelebt hatte, heimgekehrt, als ein junger Offizier in Püdensdorf vorsprach und bei der Mutter -- der Vater weilte gerade in Schottland -- um ihre Hand anhielt. Die Freifrau sagte verwundert zu ihm: »Meine Tochter hat mir niemals von Ihnen erzählt.« »Aber sie kennt mich gut«, erwiderte er, »sie war ja jeden Morgen auf unserem Exerzierplatz. Nur wagte ich nicht, sie anzusprechen, weil sie so unnahbar aussah. Und sie in Gesellschaft zu treffen, war mir leider nie vergönnt.« Kopfschüttelnd ließ die Freifrau Lisabeth rufen. Das Mädchen kam und betrachtete fremd und forschend den jungen Mann. »Dass du mir nie von dem Herrn von Willmering erzählt hast!« rief die Mutter vorwurfsvoll. Lisabeth aber sagte zu dem Werber: »Ich kenne Sie gar nicht.« »Sie waren aber doch täglich auf dem Platz, wo ich mit meinen Reitern übte«, sagte er. Sie errötete. »Ja. Aber Sie habe ich dort nie gesehen.« »Verzeihen Sie«, sagte er in einiger Verlegenheit, »und halten Sie mich nicht für überheblich, wenn ich mir einbildete, dass Sie mich häufig ansahen!« Da fragte die Mutter streng: »Lisabeth, sofort wirst du mir gestehen, was du auf dem Reitplatz zu suchen hattest!« Das Mädchen schloss die Augen und flüsterte: »Mutter, es war ein sehr schönes weißes Pferd dort, das sah ich mir immer an.«
Dem jungen Willmering wurde damals bedeutet, er möge später einmal nachfragen, wenn das kindische Ding ernster und reifer geworden sei. Und er konnte das seltsame Mädchen nimmer vergessen und schrieb viele sehnsüchtige Briefe und zeigte sich dann und wann in Püdensdorf.
Heute aber war der Riss geschehen, der die zwei Menschen für immer trennte.
Nein, Max trug nicht die schmerzlich erhabenen Züge des Helden, der in den Flammengarten gesprungen war. Max lehnte die große Tat ab. Er hielt wohl ihre Forderung für die spielerische Laune eines müßigen Mädchenhirnes. Ihr aber war es damit todernst. Mit allen ihren Fasern hasste sie den Kaiser, unter dessen Geißel die Menschheit zuckend blutete. Und sie ehrte dieses Gefühl als ein Vermächtnis des Mannes, der heute zu Grabe getragen worden war.
Sie erinnerte sich des Großvaters, der auch von der wilden Kraft eines Hasses besessen war. Sie hatte ihn nur noch als einen alten, halb verloschenen Menschen gekannt. Doch wenn er auf die Habsburger zu reden kam, da lebte er wie verjüngt auf und fluchte: »Der verdammte österreichische Geier! Zwei Hälse muss er haben, weil ihm einer allein zum Fressen nicht genügt!«
Dieser Bonaparte! Fand sich denn kein Held, der den verheerenden Drachen erschlug? Wenn er nicht von der Macht sich aufbäumender Staaten zermalmt werden konnte, so musste ein einzelner ihn vernichten. Die Erde musste von diesem wahnwitzigen Untier befreit werden!
Lisabeth ballte die feinen Fäuste. O, dass sie kein Mann war!
*
Der Freiherr Jukundin von Rauchenegg hatte sich unterdessen zu den anderen Fräulein gesellt, und er schwätzte über die Trauergäste, hing jedem ein Zöpflein an, riet den Basen, schleunig die Pferde zu satteln und auszureiten auf die Männersuche, bedauerte dabei lächelnd, dass er als Freier verschmäht werde, und nahm es nicht krumm, dass die drei, noch befangen von dem jähen Ende ihres Vaters, auf seine Reden gar nicht hinhörten.
Lüstern schnupperte er an dem Glasschrank. »Ihr habt feines Zeug da drin, ich wohlgeschätzten Bäslein«, lobte er. »Zerschlagt es mir nicht! Denkt an euern Erben Jukundin! Ich erinnere mich jetzt gern der Tante Seraphita, die eitle Alte beugte sich, wenn sie Kaffee trank, mit der Tasse immer so weit zurück, dass die Gäste, die zu Besuch auf Ottmanning waren, die berühmte Marke des Porzellans von dem Boden des Geschirres herunterlesen konnten.«
»Du hast wenig Grund, die Frau lächerlich zu machen, der du so viel verdankst«, sagte Christa empört.
»Allerdings war Seraphita freigebiger als der Oheim«, seufzte Jukundin scheinheilig und fuhr sich durch sein straffes schwarzes Haar. »Hätte er doch mir, dem einzigen überlebenden männlichen Sprossen der Rauchenegge, die Diamanten seines Perserordens hinterlassen können! Ihr, seine Töchter, habt dieses Versäumnis wieder gutzumachen, sonst findet der Alte keine Ruhe unter der Erde.«
Jukundin galt bei seinen Verwandten als Erbschleicher und verschlagener Tollkopf. Die vereinsamte, ältliche Tante Seraphita, eine schwerhörige Dame, hatte geschworen, ihr Gut Ottmanning jenem zu vererben, der am lautesten und deutlichsten mit ihr rede. Jukundin bekam davon Wind und kehrte hurtig aus Wien, wo er in lockerer Weise sein elterliches Erbe verschwelgt hatte, in die heimatliche Pfalz zurück, setzte sich in Ottmanning fest, sang der Tante heuchlerisch die Ohren voll und wusste sich mit seiner kräftigen Lunge die Gunst der Schwerhörigen und, als sie im Sterben lag, ihren Edelsitz zu erschreien. Von jener Anstrengung her hatte er eine etwas heisere Stimme behalten. Die vier Freifräulein waren von Seraphita mit keinem Knopf bedacht worden, sie hatten es nicht verstanden, der grämlichen Frau zu schmeicheln, und schließlich schlug es dem Fass den Boden aus, als sie durch Jukundin erfuhr, dass die Mädchen sie nur die Frau Holle hießen, weil sie, wenn sie mit ihren schauspielerischen Handbewegungen aus dem unausbleiblichen Muff fuhr, immer ein paar Wollflocken mitriss und verstreute. Als hernach dem Vetter seine Hinterbringerei vorgeworfen wurde, verteidigte er sich: »Habe ich mir die Erbschaft nicht sauer genug verdienen müssen? Ich habe viel erduldet von der bösen Belferin. Besonders gestraft bin ich durch ihren täglichen Anblick geworden: wie eine bloß zur Hälfte ausgestopfte Eule hat sie ausgeschaut.«
Heute, wo er die Herzen der Basen müde und stumpf wusste nach dem schmerzlichen Erlebnis, nahm er die günstige Gelegenheit wahr und öffnete plötzlich den Glaskasten und fischte eine Taschenuhr heraus, die vom Gehäuse bis zum zartesten Rädlein ganz aus Elfenbein geschnitzt war, eines der erlesensten Schaustücke des Hauses.
»Es hilft nichts, ihr müsst mir das Ührlein überlassen«, sagt er. »Keine Widerrede! Ich betrachte mich damit als abgefertigt und erhebe keine weiteren Ansprüche auf Püdensdorf!«
Und trällernd verzog er sich mit seiner Beute.
*
In dem breiten, gewölbten Gang des Schlosses waren vier Stühle aufgestellt. Mit dem feierlichen Gepränge ihrer hohen, reich geschnitzten Lehnen schienen sie dem düsteren Chor einer alten Kirche zu entstammen. Doch saßen keine greisen, gottversunkenen Mönche drin, sondern die jungen Fräulein von Rauchenegg, in schweres Schwarz gekleidet und jede vor sich auf der Armlehne eine purpurnen Samt polster und darauf die rechte Hand ausgelegt zum Kusse.
Auf dem eichenen Estrich knarrte das grobe Schuhwerk der untertänigen Leute, die heute der neuen Herrschaft huldigen sollten nach alter Weise.
Da lag auf dem rotleuchtenden Samt die weiche, runde, sinnliche Hand Mariannens und zuckte in steter Unruhe wie ein erschrockenes, gefangenes Tier. Da ruhte auf dem prunkenden Stoff die derbe, braune, einfältige Hand Christas, funkelnd wie im gesunden Schweiß sommerlicher Ernte und leise in sich zurückgebogen, als umfinge sie den Stiel einer Sichel. Da hoben sich von der glühenden Farbe ab die kranken, gelblich hageren Finger Annas, jedes Knöchlein daran wie mit einem Höcker versehen, kraftlos und matt ruhten sie auf dem weichen Lager aus.
Aber die makellose, adelig schmale, schneeweiße Hand Lisabeths glich einem leuchtenden Lilienblatt, das auf rotem Dunkelwein schwamm.
Regungslos wie die Steinbilder heiliger Jungfrauen saßen die vier, und Franz, der treue Knecht des Hauses, näherte sich ihnen scheu, bog sein Knie und küsste einer nach der anderen ehrfürchtig die Hand. Und hernach senkten sich die borstigen und bärtigen, ungeschickten Lippen der Scharwerker zum Gelöbnis.
Das Kinn hoffärtig erhoben, sah Lisabeth über die Leute hinweg, die wie Schatten schweigend herankamen, sich neigten und schweigend wieder verschwanden, und sie empfand die Berührung dieser Munde an ihrer Haut peinlich und wünschte, die lästige Huldigung möge bald aufhören. Aber es war alter Herrenbrauch, der da geübt wurde, und so überließ die stolze Jungfrau den Untertänigen ihre schimmernde Hand.
Als sie wähnte, der letzte ihrer Leute müsse nun schon an der Reihe gewesen und die Feier zu Ende sein, fühlte sie es plötzlich leidenschaftlich mit heißen, saugenden Lippen auf ihrer Hand brennen. Das war nicht der Kuss eines Knechtes, in diesem glühenden Drängen lag nicht demütige Unterwerfung, so küsste nur ein Rasender, ein Verliebter. Ihr Herz bäumte sich wild auf ob solcher Vermessenheit. Ehe sie aber dem Wahnwitzigen die Hand entreißen konnte, schlug die endlose, weiche, betäubende Süße dieses Kusses jäh um in stechenden Schmerz, dass Lisabeth hätte aufschreien mögen. Und ihr Haupt, das in trotziger Hoffart erhoben gewesen, senkte sich. Auf ihrer Hand blinkte ein Tropfen Blut. Sie war gebissen worden.
Und wieder berührten sie die schwülen, lüsternen Lippen und tranken den Tropfen auf.
Und dann schaute Lisabeth auf eine todblasse Stirn und in zwei tiefe, flackernde, ungeheure Augen, in fremde und dennoch rätselhaft vertraute Augen, und sie meinte, sie müsse darein versinken wie in einen feurigen Abgrund. Abwehrend reckte sie die Hände wider die furchtbare Gefahr, dabei glitt das purpurne Kissen zu Boden, und ein schwarzes Gewölk sank donnernd über sie nieder.
Als sie aus einer Ohnmacht erwachte, erhoben sich eben die Schwestern von ihren Stühlen, und die Halle war leer. Nur der Knecht Franz wartete dienstgewärtig an der Tür.
»Franz«, rief sie, »wer ist der Letzte gewesen?«
»Der gottselige Herr Freiherr hat ihn am Tage seines Ablebens noch als Hirten gedungen, gnädigstes Fräulein. Ich weiß nicht, wie er heißt. Er ist fremd. Aus dem Gebirge soll er her sein.«
»Franz, gib mir die Reitpeitsche! Und dann hol mir den Hirten!«
Mit zitternden, kraftlosen Knien sank sie zurück in den Lehnstuhl. Aber die erhobene Peitsche hielt sie umkrampft.
»Lisabeth, was ist dir? Du fieberst!« riefen die Schwestern. Sie biss die Zähne zusammen und schwieg.
Franz kehrte bald wieder zurück und meldete, der Fremde sei vor einer Weile, seine geringen Habseligkeiten im Bündel, zum Tor hinaus.
*
Das Trauerjahr war um.
Die Schwestern hatten sich daran gewöhnt, selbständig zu wirtschaften, und da sie sich in die Arbeit teilten, ging alles leidlich von statten. Lisabeth führte Buch und ritt auf die Wiesen und Felder hinaus, mit ihren strengen Augen die Taglöhner des Schlosses zu überwachen. Anna ging den Geschäften des Hofes nach und kümmerte sich, von Franz unterstützt, dass das Vieh ordentlich betreut und dass allwöchentlich Butter, Eier und Käse auf den Weibermarkt nach Cham geschafft wurden. Christa waltete in der Küche. Marianne aber putzte sich hübsch auf, nippte hin und wieder bescheiden an der Arbeit, spielte Tänzlein am Spinett oder sang mit ihrer klaren Stimme aus den Fenstern hinaus, dass es weithin über die Wiesen scholl, und die Flößer, die auf den lenzgeschwellten Regen Holz trifteten, verwundert auf diesen Ruf unbewusster Lebenssehnsucht horchten.
In der Einförmigkeit ihrer Tage traf die Fräulein ein Brief des Freiherrn Nothafft von Weißenstein, der sie zu einem Besuche auf seine Burg Runding einlud. Das mächtige Gebäude mit seinen Türmen und Dächern lag wehrhaft auf einer ansehnlichen Bergkuppe vor den großen Grenzkämmen, und an klaren Abenden sah man von Püdensdorf aus seine Fenster blitzen und glühen.
Da stiegen die vier in die alte, mit verblichenem Karmesinsamt ausgeschlagene, schwanke Kutsche, deren Schlag mit dem überladenen Wappen der Rauchenegge geziert war. Auf dem schwindelnd hohen Bock saß Franz festlich ausgestattet mit einem dunkelblauen, bis zu den Knien reichenden Rock, aus dessen Tasche ein Schweißtüchlein guckte, die rote Weste mit einem Goldband gesäumt und mit Goldfaden übersponnenen Knöpfen versehen, die kurzen, schwarzsamtenen Hosen unterm Knie mit leierförmigen Schnallen geschlossen, die Strümpfe blendweiß und die Schuhe kohlschwarz. Zwar zogen keine hochgenüsterten, schlanken, vornehmen Zierpferde den herrschaftlichen Wagen, doch hatte Franz ihnen zu dieser Ausfahrt die Mähnen gewellt und die Stirnhaare schmuck gezöpfelt, so dass sie den weißen Ehrenjungfern ähnelten, die zu Fronleichnam prangen und Blumen streuen.
Dieser Aufzug tat denn seine Wirkung, und die Kinder an den Wegen bekamen große, staunende Augen, und die Bauern rückten ehrfürchtig die Hüte und schauten dem wappenblitzenden Gefährt nach und den hochzeitlich geschmückten Pferden und dem bunten Fuhrmann, neben dem ein weißes, spitzfindiges Hündlein, zottig und sauber, sich auf dem Kutschbock behauptete und zuweilen auf das Volk am Straßenrand giftig hinunter kläffte. Und im Wagen drin saßen die edeln Freifräulein, kleerot und himmelschlüsselgelb und vergissmeinnichtblau und birkenlaubgrün angezogen, ein völliges Blumenbeet, ein lächelnder Feldblumenstrauß. Alle vier genossen mit freudigen Herzen die tauige Frühe und fühlten, wie ein ganzer, voller, unerschöpflicher Sommertag vor ihnen lag.
Und der Franz schnalzte mit der Peitsche und redete die Pferde an: »Wie meint ihr, Fritz und Hans, wenn wir jetzt ein bisslein rennen täten?« und die Tiere setzten sich in Trab, und hernach sagte der Kutscher: »Jetzt lassen wir es wieder ein bisslein langsamer gehen!« und der Fritz und der Hans fielen sogleich in einen behaglicheren Schritt. Also rückte man der Burg Runding, die anfangs unerreichbar blau gelegen, immer näher und konnte bald die Dachluken und Rauchfänge genau unterscheiden.
Einmal kam ein junger Wanderer daher, er stieg eben aus einer Wiese, darin er einen Strauß gepflückt hatte. Lachend hielt er die Blumen in den Wagen hinein, ein sonnverbrannter, hübscher Bursch mit dem Felleisen auf dem Rücken, und Christa griff nach dem betauten Geschenk und legte es sich auf den Schoß. Und der Bruder Straubinger schwenkte zum Abschied den Hut, setzte sich auf einen Meilenstein und sah der Kutsche nach. Lisabeth rückte die Brauen unmutig zusammen, das Benehmen Christas gefiel ihr nicht, und als der Kutscher vom Bock über die Achsel herunterrief: »Das ist der Michel Preißler, der kommt von der Wanderschaft heim!« erwiderte sie scharf: »Franz, wie sind nicht neugierig!« Der Knecht schwieg gekränkt, doch Christa versöhnte ihn, indem sie sich erhob, eine feurige Blume aus dem Strauß zog und ihm sie an den Dreispitz heftete.
Weiter rollte der Wagen, und Marianne erzählte eine Legende von der seligen Klausnerin Alruna, die einst auf Runding gewohnt hatte, und wenn sie nach Cham, in die Stadt, die den silbernen Kamm im Schilde führt, hernieder stieg, dort den Armen Almosen zu spenden, da heiterte sich der Himmel immer auf, und wenn noch ein so trostloses Wetter geherrscht hatte.
Und Himmel und Erde waren so weit und erwartungsvoll und das Land so grün und noch wie in Morgenträumen befangen, und die vier Fräulein gerieten in eine wunderliche sehnsüchtige Stimmung, als müssten heute Wunder aus den lichten Wolken fallen, und dann wurde ihnen wieder unerklärlich bang, es teilte sich ihnen die Einsamkeit eines Baumes mit, es schauerte sie der schweigsame Wald an, und auf einmal begann Marianne zu singen, und Anna und Christa stimmten mit ihren dunkleren Stimmen ein, und es hallte schwermütig und geheimer Wünsche trächtig über das Land hin:
»Geht dir's wohl, so gedenk an mich,
geht dir's aber übel, so kränkt es mich.
Wie froh wollt ich sein, wenn dir's nur wohl ergeht,
obschon mein junges Leben in Trauern steht.
Ach, herzlieber Schatz, ich bitt dich noch eins:
du wolltest auch bei meinem Begräbnis sein,
bei meinem Begräbnis bis an das kühle Grab,
dieweil ich dich so treulich geliebet hab.«
Lisabeth sang nicht mit, sie hielt das Singen auf freiem Feld für wenig schicklich. Doch konnte sie sich der Gewalt der schmerzlichen Stimmung, die aus diesem Liede atmete, nicht verschließen, und auf einmal trat ihr das Wasser in die Augen, und sie kehrte sich von den Schwestern ab, weil sie sich dieser gerührten Wallung sehr schämte.
Bald schlug die ahnungsvolle Trauer wieder in eine glücklichen Übermut um, und die Fräulein ließen den Wagen halten und kletterten hinaus, holten sich aus einer überschwänglichen Weise Kränzlein, hängten sich grüne Ranken um die Nacken wie Priester ihre Stolen und entdeckten einen flammenden Rosenstrauch und ein gefülltes Vogelnest darin.
Nur Anna war im Wagen geblieben, etwas erschöpft von der Sonne und der Fahrt. Sie sah in einer gelinden Anwandlung von Neid die schlanken, geraden Schwestern am Rain spielen und einander haschen und sich mit Rosen krönen. Sie mochte nicht mittun, ihres verkrümmten Leibes gedenkend, der ihr mancherlei Schranken gebot.
Auf einmal schrak sie aus ihrer Versunkenheit auf. Eine dürre, hässliche Hand griff in den Wagen herein nach dem Blumen, die ihr Christa auf die Knie gelegt hatte, und draußen stand eine uralte, hämisch kichernde Bettlerin und weidete sich an dem Schrecken, den sie dem Fräulein eingejagt hatte. Sie trug ein Gewand von verschollenem, unbestimmtem Rot, verwittert im Verlauf eines überlangen Lebens. Der Spitz bellte fürchterlich, und der Kutscher murrte eine Verwünschung. Aber die Alte ließ sich nicht scheuchen, sie raunte: »Gelt, du armes Herz, du beneidest die dort drüben um ihr Lachen und ihre freien Sprünge? Ja, das tut weh, wenn eine andere schöner ist als unsereine. Du blutjunges Ding, den Buckel solltest du nicht tragen! Wie bist du so weiß und krank im Gesicht! Wie eine Klosterfrau, die nimmer an den Sonnenschein darf! Es ist schade um dich.«
»Was kümmert dich das?« rief Anna empört. »Kehr du vor deiner Tür! Es gibt kein garstigeres Weib auf Erden als dich!«
»Und doch ist die Schwabenkathel einmal die Allerschönste gewesen im Pfälzerland!« sagte die Bettlerin. »Sogar der wilde Trenck hat nach mir gegriffen und mich mitgenommen in die Welt! Ja, Schönheit verwelkt. Wie bald werden die Blumen tot sein, die jetzt auf deinem Schoß leuchten! Und auch deine feinen Schwestern werden einmal hinken und die weißen Zähne verlieren und mit triefenden Augen verdrossen hinterm Ofen hocken, und die Liebe wird sie nimmer freuen. Aber sie sollen nur ihre jungen Tage nützen und sich von den Mannsbildern halsen und küssen lassen!«
»Schweig still! Wie redest du schamlos!« unterbrach Anna das Weib.
»Wie schämig du bist!« lachte die Alte. »Du wärest anders, wen du wohlgewachsen wärest. Ich wüsste wohl, wie man es anstellen müsste, dass dein Buckel schwinde. In einem Jahr solltest du gerade sein wie ein Tannenbäumlein. Oh, ich habe viele Künste erlernt in der Welt!«
Da drohe der Franz mit der Peitsche. »Fahr ab, du schlimme Hex! Ich weiß deinen Zauber. Den Rössern ziehst du das Blut so stark zu Herzen, dass sie hinfallen. Fahr ab, du Bärentreiberin! Alle Männer hast du gehabt, nur den Mann im Mond nicht!«
»Du siehst mich bald wieder, weißes Fräulein!« sagte die Alte und flüchtete vor dem Zorn des Kutschers in ein verstrüpptes Wäldlein. Sie mochte sich dort versteckt halten, denn der Spitz bellte unausgesetzt das Buschwerk an.
Auch der Franz konnte sich lange nicht beruhigen. »Bis in den Tod soll sie sich schämen!« murrte er. »An den Trenck hat sie sich gehängt, wie sie noch jung gewesen ist. An den unbarmherzigen Krobaten, der ihre Vaterstadt ausgeraubt und die Leute dort umgebracht hat. mit einen Tolpatschen und Morlachen hat er Cham angezündet, der Räubersknecht. Und sie ist hernach mit ihm davon! Pfui Teufel! Die Haare in Ringlein gelegt, ist sie daher gegangen. In ihrem Kränzel hat das Demutskraut gefehlt. Und in Wien hernach hat ihr Schatz sie in den Flöhen liegen gelassen, wie sie ihm nimmer schön genug gewesen ist. Einen Rossdieb hat sie hernach geheiratet, und der ist gehenkt worden. Dann ist sie zurückgekommen. Jetzt ist ihr die Heimat gut genug. Aber in Cham spuckt sie kein Mensch an. Der Barmherzigkeit fällt sie zur Last. Zu trauen ist ihr aber noch lange nicht, und wenn ihr auch schon das Moos aus den Ohren wächst!«
»Ist sie wirklich so schön gewesen?« schauderte Anna. »Und wie kann Schönes gar so hässlich werden?«
Mit Blumen vermummt, mit Wangen, die von der wilden Begegnung brannten, stiegen die drei wieder zu der müden Schwester in den Wagen. Selbst Lisabeth war von dem Frohsinn der andern angesteckt, und sie vergaß ihrer stolzen Zurückhaltung und der düsteren, nebelhaft undurchdringlichen Gefühle, die sie gefangen nahmen, sooft sie die Narbe betrachtete, die der Kuss des rätselhaften Fremden auf ihrer Hand hinterlassen hatte. Und die Kusche holperte und wankte bergan zu der Burg, und das Land drunten entfaltete sich immer reicher und weiter, und das Gebirge wuchs höher und gewaltiger an.
Der Schlossherr von Runding gab ein Fest. Der Adel des Gaues war zu Gaste geladen. Das war ein Begrüßen und Fröhlichsein und Erzählen, denn die Menschen hier waren alle miteinander verschwägert oder vervettert oder zum Mindesten durch langjährige Nachbarschaft eng befreundet.
Doch gab es auch sorgenvolle Stirnen hier und leise, ernste Beratungen. Die neue Zeit hatte neue Verhältnisse geschaffen: die Leibeigenschaft, der Leibzins, das Besthaupt waren aufgehoben worden und die Herrschaften dafür nicht entschädigt worden; zur Fronarbeit, die der Gutsherr vormals nach seinem Belieben hatte bestimmen können, waren die Scharwerker nur noch an gewissen Tagen der Woche verpflichtet, und sie konnten sich sogar durch Geld davon befreien; auch der Zehent war ablösbar geworden. Für den Landadel waren schlimme Stunden gekommen. Viele fanden sich in der neuen Wirtschaft nicht zurecht und gerieten in Schulden. Zudem stand das Gewitter Napoleon über dem Reich, und sein blutiger Schatten verdüsterte die Zeit.
Diese Sorgen traten zurück, als die Gäste in dem mit Wacholderbeeren durchräucherten Saal vor dem schimmernden Tafelsilber weilten und Braten, süßes Gebäck und Wein aufgetragen wurden. Da freute sich alles des Überschwalles der guten Dinge, die man hier darbot.
Mitten in das Mahl kam der Vetter Jukundin hereingeschossen. Er war nicht eingeladen worden, den Windbeutel mochte man nirgends leiden. Er gebärdete sich, als sei er nur ganz zufällig in die Nähe Rundings gekommen und sei, ohne von dem Fest etwas zu ahnen, schließlich heraufgeritten, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Ohne Umstände sprach er den Speisen kräftig zu, zog dabei den Schlossherrn ins Gespräch und setzte sein unwahrscheinliches Verwandtschaftsverhältnis zu ihm breit und mit lauter, alle anderen Reden überkreischender Stimme auseinander und erzählte dann allerlei zweideutige Streiche, die er in Wien verübt hatte. Eine geraume Weile hörte man ihm mit missbilligendem Schweigen zu, dann fingen die Herren über seinen Kopf hinweg ein Gespräch über die Zeitläufe an, redeten über ihre Bauern, schalten sie falsch und treulos, kramten alte Geschichten aus und ärgerten sich aufs Neue darüber.
Der Freiherr von Thierlstein erzählte, dass er, als einmal von Regensburg her der Einfall der Franzosen drohte, alles, was in seinem Schloss köstlich gewesen war, eilends in Kisten und Truhen verpackt habe, um es vor den Klauen der Soldaten zu retten und in einem abgelegenen Ort des Gebirges zu bergen. Wie er nun von seinen Bauern forderte, sie sollten ihm als untertänige Leute die Fuhrwerke zur Flucht stellen, da lachen diese: »Seine Gnaden sollten es sich belieben lassen, in der allgemeinen Not mit ihnen zu hausen wie in den guten Jahren und das gleiche Schicksal mit ihnen zu erfahren.«
Und sie wollten keineswegs mit ihren Wagen und ihrem Zugvieh seine Habe in Sicherheit bringen. Ohnmächtig musste er sich ihre Antwort gefallen lassen.
Und in der unliebsamen Erinnerung schäumte der Thierlsteiner auf und fluchte, und seine Gemahlin konnte ihn nur mit Mühe beruhigen.
Dann redete man über den Kriegsrummel. Die Stimmung war gegen den französischen Kaiser gerichtet. Nach dem wilden Strafgericht im russischen Schnee war er wieder übermütig geworden und wollte das Heft nicht aus der Hand lassen. Die Herren wünschten, dass er von den Russen und Preußen geschlagen werde, glaubten aber nicht an seine Niederlage. Des ewigen Krieges war man satt.
Jukundin hörte eine Weile zu, dann erhob er sich feierlich, griff nach seinem Becher und rief: »Ihr hochgesehenen Herren zwischen Birnbaum, Pemfling und Grasfilzing! Ich trinke auf das Wohl des großen Kaisers von Europa.«
Niemand stieß mit ihm an, niemand rührte sich. Er erwartete auch keinen Beifall, den Wein goss er in sich hinab, ohne zu schlucken.
»Schäm dich!« rief ihm Lisabeth über den Tisch zu.
Die Herren verließen fluchtartig den Raum, so dass der Querkopf allein unter den Frauen und Mädchen zurückblieb.
Er benahm sich in dieser Vereinsamung ganz gesittet und folgte den Damen in das Gesellschaftszimmer und beobachtete, wie sich die Welt hier unterhielt.
Die Schlossherrin las in heiterer, menschenkennerischer Art den jungen Mädchen aus den Karten die Zukunft, was viel frohes Lachen entzündete. Hernach wurde Marianne zum Spinett gebeten, und nach einigem Zieren spielte sie eine Sonate Beethovens so leidenschaftlich und schwärmerisch, dass die Freifrau Nothafft, als der letzte Ton verklungen war, begeistert die Künstlerin umarmte, die von dem eigenen Spiel erschrocken und betäubt war.
Dann erschien das Töchterlein der Freifrau, ein liebliches Kind, in duftigem Kleidchen, ein blaues Kränzlein im elfenlichten Haar. Wie ein wandelndes Veilchen trat es in die Mitte des Raumes du begann mit zarter Stimme:
»Ein Blumenglöcklein
vom Boden hervor
war früh gesprosset
in lieblichem Flor.
Da kam ein Bienchen
und naschte fein:
da müssen wohl beide
füreinander sein.«
Bei den letzten Worten trippelte das jüngste Kind der Freifrau herein, ein Büblein, wie ein Mädchen in ein flatterndes Schleiergewand gekleidet, und tanzte um die Schwester wie ein trunkenes Immlein um eine Blüte.
Dieses winzige, von der Mutter der beiden Kleinen ersonnene Spiel gefiel in seiner Anmut so gut, dass die Kinder es wiederholen mussten. Dabei geschah es, dass das Mädchen, von der Andacht ihrer Sprache ergriffen, unwillkürlich die Hände dazu faltete, als spräche sie ein Gebet.
Nun trat Junkundin in den Ring der Frauen und sagte: »Lassen Sie, versammelte Liebreiz und Geist dieses Landes, mich nun zum Dank auch eine neue Kunst vorführen!« Er verneigte sich vor Christa. »Erlaub mir gnädigst ein Tänzlein!« Sie bot ihm lachend die Finger. Da rief er: »Marianne, spiel uns einen Walzer!« Blutrot vor Scham entriss Christa sich ihm.
Lisabeth maß ihn mit einem bösen Blick. »Vetter, dieser wilde, gegen Sitte und Anstand verstoßende Tanz wir sich bei uns nicht einwurzeln. Führe dich würdiger auf in dieser Zeit, wo unsere edelste Jugend sich zur Befreiung Deutschlands erhoben hat!«
»Willst du mich zu einer Freischar anwerben, liebe Base?« sagte er. »Ich bin leider nicht für den Heldentod geschaffen. Es ist angenehmer, als ein hungernder Hund zu leben statt für einen blauen Dunst zu sterben.«
Lisabeth kehrte sich verächtlich von ihm ab.
Die Schlossherrin legte ein Stammbuch vor. Da schrieb Christa mit treuherzigen, kindlichen Zügen hinein: »Alles selbst gemacht, ist die beste Kleidertracht.« Darunter setzte Marianne in launischer, fahriger Schrift ein geheimnisvoll unvollständiges Wort: »In der Ferne wie in der Nähe.« Anna schrieb hastig hin: »Schönheit und Verstand sind selten verwandt.« Lisabeths klare, kühle Schrift sagte: »Sich nie ergeben!«
Schließlich zeichnete Jukundin einen Fuchs in das Stammbuch, der eine Gans im Buckelkorb trug, und klitterte daneben hin: »Ich gehe meinen Weg.« --
Nachmittags vergnügte sich das junge Volk in dem Ziergarten, der außerhalb der Burgmauern angelegt war, und sie plauderten am Rande eines verhalten und lieblich plätschernden Springbrunnens, spielte in dem umlaubten Lusthaus um Pfänder und sangen zur Laute, die ein Offizier schlug, der sich auf Runding von einer schweren Kriegsverwundung erholte.
Marianne, sonst die beschwingteste und lebhafteste der Schwestern Rauchenegg, war heute sehr einsilbig und verträumt und gab auf die Huldigungen der jungen Männer zerstreute Antworten. In einem Augenblick, wo sie sich unbeachtet glaubte, zog sie sich aus der lauten Gesellschaft zurück und versteckte sich in einem Fasanenwäldlein. Durch jungen Tannenbestand sich drängend, erreichte sie eine kleine, blumige Blöße, wovon aus man weit ins Land hinein sehen konnte, und dort ließ sie sich nieder.
O gütiger Tag! O wie war das Leben schön und schmerzlich! Marianne wusste nicht wohin mit dem Überschwang flutender und erschütternder Gefühle. War in ihrer Brust heute etwas zersprungen oder etwas Fremdes aufgeblüht? Sie sehnte sich nicht nach den Freundinnen, nach den Schwestern, deren frohe Rufe in ihre Einsamkeit herüber irrten. Eine Wolke ruhte träumerisch im Himmel. Sie löste sich unmerklich. Marianne grüßte liebend hinauf. Was ist das Leben? Wie soll man es tragen? Ist es nicht Glück, ganz einsam zu sein und nur die Wolken zu lieben? In einer wunderbar wohligen Müdheit schloss sie die Augen vor der Überfülle der Welt.
Plötzlich fuhr sie aus dem leichten Schlaf, der sie überwältigt hatte. Der junge Lautenspieler stand vor ihr. Er war sehr schön mit seiner ernsten, blassen Stirn, und sie erschrak vor ihm wie vor einem Gott, der glänzend niederbraust.
»Was wollen Sie hier, Graf Kreuth?« stammelte sie.
»Wie klopfte mir das Herz, als ich Sie hier schlafend fand!« erwiderte er. »Sanft, ohne dass sie es spüren und davon erwachen sollten, wollte ich Ihnen die gesenkten Lider öffnen und durch die erleuchteten Augen hinabsehen, welcher Traum in Ihrer Seele seine Bühne aufgeschlagen habe, und durch Ihr Auge wollte ich dann meine Seele hinab senden in die Ihre, dass sie sich in Spiel und Tanz der Tiefe menge und der Schläferin bewusst werde.«
»Wie schön Sie sprechen!« staunte sie. »Aber Sie sind so blass!«
»Doch jetzt nicht von meiner Wunde«, lächelte er.
Sie sprang plötzlich auf, von wildem Lebensjubel ergriffen, entfaltete ihre schlanken Arme und spannte sie gegen den Himmel, als wollte sie auffliegen und strahlend über das Tal gleiten. Und er schaute sie umschimmert vom Licht, er sah einen Bergzug hinter ihr blauen, und es war, als habe Gott das Gebirge nur darum geschaffen, um sie damit zu schmücken und zu ehren.
Sie hatte die Augen schwarz wie nächtliche Bäche, die Brauen dunkel wie der Tann, darin sich die Finsternis der Sommernacht verhangen. Die dichten, schmalen Zähne glänzten feucht, bleckten auf zwischen den vollen, lockenden Lippen.
Da umfing er sie. Schaudernd wollte sie sich ihm entwinden, schaudernd drängte sie sich an ihn. »Graf Kreuth, ich weiß nicht, warum ich Sie liebe«, flüsterte sie. Die schicksalhaft schaffende, unbewusste Natur verkündete sich aus ihr.
Ihr Mund, der noch nie von einem Manne berührt worden war, bebte unter dem ersten Kuss.
Die Sonne donnerte über ihr, Himmel und Erde stürzten jauchzend ineinander und berührten sich in einem unerhört seligen Ton. Breit und leuchtend öffnete sich die Welt, Riegel sprangen, ersehnte Ferne, alle Ferne näherte sich, drang auf die Beglückte ein und nahm sie in sich. O süßes Verhängnis!
Fluss und Bäume und Berge schienen geronnenes Licht zu sein und entkleidet aller Schwere. Das ganze All war selig gesprochen. Blumen blühten überall ohne Aufhör und Grenzen, Blüten wurden zu Düften, Düfte wandelten sich in Farben, Farben fingen an zu klingen.
»Augenblick der Gegenwart, lass dich schmerzenselig umfassen!« raunte der Mann. »Lass dich trinken aus dem Kristall der Welt!«
Stürmisch umschlang und bedrohte er sie. Da rauschte ein Fasan im Gebüsch. Marianne stieß den Geliebten zurück. Sie fürchtete plötzlich, ihre verwirrten Sinne würden sie schwach machen. Sie meisterte ihr Herz, das zu rasen beginnen wollte. »Nicht! Nicht!« wehrte sie ihn ab. »Ich muss jetzt fort.«
Im Abschied ruhten die Hände der beiden überlange ineinander.
»Jetzt werde ich ruhelos sein!« sagte sie. --
Die vier Fräulein fuhren heim.
Wie silberner Streusand waren die Sterne hingeworfen über das dunkle Blatt der Unendlichkeit. Bäume warteten schwarz am Weg und rauschten still in sich hinein. Die Pferde schnaubten und zogen rüstig an.
Dann stieg der Mond aus dem Gebirge.
Jukundin ritt leicht betrunken neben dem Wagen dahin. »Wenn es nicht so finster wäre, müsstet ihr meine Fingernägel betrachten«, sagte er. »Ich habe darauf mit Bleistift etliche Gesichter der heutigen Gesellschaft festgehalten. Daheim will ich sie auf das Papier übertragen. Ihr werdet euch darüber zu Tod lachen!« Er ließ den Zügel fallen und führte mit den Fingern eine Art Puppenspiel auf, darin er die Träger der abgezeichneten Köpfe geschickt in ihren Schwächen festlegte und veralberte.
»Du könnest Klügeres tun, als die Leute verspotten, bei denen du eben zu Gaste gewesen bist«, zürnte Lisabeth. »Und mit deinem Geld solltest du sparsamer umgehen. Du hast heute unter den Fuß eines wackelnden Spieltischleins ein Goldstück gelegt. Prahlhans!«
»Jawohl, Schulmeisterin!« erwiderte Jukundin. »Und hat dir niemand geklatscht, dass ich in den dunkeln Gängen die Mägde geneckt und gewürgt habe? Habe nur Geduld mit mir! Im hohen Alter, wenn ich etwa auf der höchsten Sprosse der Galgenleiter stehe, will ich Buße tun und im Sinne meiner frommen Basen leben.«
Die Fräulein horchten nicht auf ihn. Sie ergaben sich dieser Nacht von Mondscheins Gnaden, träumten dem Feste nach und lauschten den Lauten der ungewiss gewordenen Welt.
Jukundin ärgerte sich, dass man seinen tollen Reden kein Gehör schenkte. »Ein schönes Wetter,ihr empfindsamen Jungfrauen!« spottete er. »Die Nachtigallen stöhnen do re mi fa so la si do. Ein Frosch quakt und meint, er sei die ganze Welt! Mai! Mai! Ich will weiter nicht stören. Schmachtet nur zu! Gehorsamsten Handkuss!«
Er hetzte sein Pferd an, und bald verklang das eilige Hofgetrappel in der Ferne.
Der Mond hatte das lange, süße Silber entzündet, das tagsüber von der grellen Sonne übertäubt worden war. Im schüchternen Wind trieb der Honigatem des Ahorns. Die Dörfer schliefen. Träume schweiften über die Erde.
Einmal weinte Anna auf: »Ich habe kein Fünklein Glück!«
Marianne hielt die Augen geschlossen. Dieser Tag war wie ein schönes, verwildertes Blumenbeet gewesen. Ihr Herz horchte sich selber zu. Aus allen Gründen stiegen und tönten die Brunnen des Lebens.
Des Lebens.
*
Einen ganzen Sommer lang wartete Marianne auf den Grafen Kreuth. Sie lebte neben der Welt dahin: am Tage träumte sie, und in den Nächten lag sie wach und ließ ihre Liebeswünsche in die Ferne zu ihm wellen, damit sie ihn aus dem Schlaf weckten und in mächtiger Rückflut ihn zu ihr brächten. Oft stand sie still und aller Geiser beraubt, überwältigt von einer geheimen Gewalt, und fragte dann erwachend: »Bist du es gewesen, Geliebter, was ich der Ferne jetzt mit mir gefühlt hat?«
Sie ging langsam über die Wiesen und sang die Worte seiner Briefe, die sie auswendig kannte. Auf der Fährte der Lerchen flog ihr Herz aufwärts und tönte, tönte stumm und überschwellend. Im Mondschein ging sie feierlich umher wie eine Priesterin, besuchte die Blumen des Gartens, küsste sie und redete mit ihnen.
Ihre Feder lief sanft über das weiße Papier, als wate sie in lindem Schnee. Sie hielt den Bogen sinnend gegen das Licht und betrachtete das Wasserzeichen, eine dornigen Rosenzweig. Sie schrieb: »Meine Seele harrt wie eine Harfe. Meine Seele flattert zu dir. Bei dir will sie weilen, dir will sie Freude und Spiel sein, Hilfe und Trost. Nichts anderes mehr will ich, als du willst. Nichts anderes mehr glaube ich, als du glaubst.«
Lisabeth und Christa kümmerten sich nicht um den verliebten Irrsinn der Schwester: die eine verfolgte leidenschaftlich den Verlauf des Krieges, der sich einer großen Entscheidung näherte; die andere ging völlig in den Sorgen des Hauswesens auf. Doch Anna beobachtete die Verliebte argwöhnisch und ängstlich.
Einmal waren die beiden allein im Speisezimmer. Die Verwachsene kämmte sich ihr überaus reiches, glänzendes Haar und spähte dabei verstohlen hinüber zu der Schwester, die mit fernen, leeren Augen vor einem angefangenen Brief saß.
»Woran denkst du jetzt?« fragte Anna.
Marianne zuckte zusammen, errötete und log: »Ich bewundere dein goldrötliches Haar. Der Glanz der Luft widerleuchtet darin.«
»Unsere Mutter hatte es genau so üppig und schön«, sagte Anna. »Als sie mich gebar, verlor sie das reiche Haar. Sie hat es mit übergeben. Etwas Schönes sollte ich doch auch haben, ich buckliges Mädchen.«
Sie war ein feiner, magerer, fast zerbrechlicher Mensch, ihr Mund war sehr klug.
»Weißt du noch«, fuhr sie fort, »wie wir als kleine Mädchen so inständig zum Storch gebetet haben, er möge uns ein Brüderlein in die Wiege legen. Und als unsere Mutter dann das Brüderlein gebar, verblutete sie daran und wurde mit dem toten Kinde begraben.«
Marianne verkauerte sich wie eine Frierende in sich selber. »O, dass wir Frauen gebären müssen! Es ist furchtbar. Die Mutter ist noch so jung gewesen. O, ich fürchte den Tod. Ich glaube oft, ich muss sterben, wenn ich bloß an ihn denke.«
»Wenn du so sehr am Leben hängst, so heirate nicht!« sagte Anna. »Bleib lieber bei uns, deinen Schwestern! Verlass uns nicht. Gestern musste ich um Lisabeth kämpfen. Ich ertappte sie in den Kleidern unseres Vaters, gegürtet mit seinen Waffen. Mir entgeht nichts. Sie gestand mir, sie wolle als Mann verkleidet in den Krieg gehen. Unter vielen Tränen bewog ich sie davon abzustehen. Aber ich zittere noch um sie. Sie ist ein Held. O, welche Sorgen bereitet ihr mir!«
Marianne war nur mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt. »Aber ich liebe doch den Grafen Kreuth. Ich kann ohne ihn nicht leben!«
Die Verwachsene flüsterte: »Wenn du ihn nicht lassen kannst, dann bereite dich jede Nacht auf den Tod vor. Denn der Mann kommt in Liebe zu dem Weib. Und seine Liebe ist nichts anderes als ein Mordversuch an der Geliebten, denn sie führt zu der tödlichen Gefahr des Gebärens.«
»Warum ist da so eingerichtet?« stöhnte Marianne.
»Gott hat es so wollen. Das Verlangen, das Mann und Weib zueinander zwingt, ist die Urschuld. Und die Urschuld schafft alles Elend auf Erden.«
Marianne fuhr heftig auf. »O, jetzt weiß ich, warum du Gott und seine Schöpfung so beschimpfst! Du falsche Grete, du redest so schlimm, weil du mir ihn nicht gönnst. Ich durchschaue dich!«
»Was hätte ich davon?« sagte Anna. »Ich kann doch den Grafen nicht für mich gewinnen. Ich komme für die Liebe oder gar für eine Heirat nicht in Betracht. Du weißt doch warum. Und dann bin ich vielleicht zu geistig und könnte keinem Mann ein Heim bereiten und traulich machen. Ich habe dich nur gewarnt. Tu, was dir gefällt!«
Marianne bangte auf einmal vor dem Leben. Sie sah das Wesen der Liebe in einem neuen, düsteren Licht, sie sah sie entblößt von dem täuschenden Mantel der Zärtlichkeiten, der holden Lügen. Sie erkannte sie in ihrer grauenhaften Notwendigkeit als den bunten Steg, darüber die in der Nacht des Nichtseins noch Weilenden herüber tanzen ins Leben. Das Geheimnis enthüllte sich ihr in nüchterner Ungeheuerlichkeit. Jeder Kuss, jeder glühende Blick, jede Umarmung diente nur dem Zweck, die Kette der Menschheit zu verlängern ins Endlose hinaus. Warum aber musste das liebende Weib, die Gebärende, in Blut und Schmerzen sich winden, mit ihrer Gesundheit, mit ihrer Schönheit und gar mit ihrem Leben die selige Stunde bezahlen?
Sie klagte auf: »Ich will ihm dienen, ihm untertan sein, wie es die Heilige Schrift will+...«
»Du willst sein Lasttier sein«, unterbrach sie Anna. »Armer, zarter Schmetterling, dein Flügelstaub wird bald von dir sinken!«
»Nein, Kinder darf er von mit nicht verlangen!« rief Marianne. »Dieser Gefahr darf er mich nicht aussetzen.«
Sie blickte empor, als suche sie droben über sich einen Rat. Die Stubendecke war ganz und gar mit silbernen Spiegeln bedeckt, und ein schönes, hilfloses Menschengesicht schaute daraus hernieder.
Marianne betrachtete ihr Bild. Dieser feste, frische Mund sollte erschlaffen, dieser dunkle Brandblick ermatten, das schwarze, weiche Haar frühzeitig ergreisen, die schimmernden Zähne zerbrechen, die blühenden, glatten Wangen vergilben und verrunzeln! Und dies alles um Kinder willen, die sie gar nicht kannte, die vielleicht einmal hässlich und undankbar werden sollten! Nein, sie wollte jung bleiben und schön, sie wollte nicht diesen schneidenden Schmerz des Gebärens erfahren, diesen grässlichen, verwüstenden Vorgang, sie wollte nicht früh sterben wie die Mutter!
Und plötzlich sah sie den Tod rätselhaft und doch so ahnungsklar in seinem drohenden Umriss vor sich, und in kopflosem Entschluss, von schwarzer Angst gejagt, strich sie die Worte des begonnenen Briefes vor sich durch, alles, alles, Beteuerung der Liebe, Schwüre und Wünsche, Hoffnung auf Wiedersehen, holde Bilder der Zukunft. Mit dicken, unbarmherzigen Strichen vernichtete sie dies alles. Und sie schrieb darunter: »Schreiben Sie mir nimmer! Ich kann nicht Ihre Frau werden. Vergessen Sie mich und werden Sie mit einer andern glücklich!« Mit flimmerndem Blick überlas sie noch einmal die Absage, strich den letzten Satz durch und versiegelte eilends den Brief, als wolle sie sich jede Möglichkeit des Widerrufes abschneiden.
Dann lehnte sie die hämmernde Stirn an die Fensterscheibe. Drunten im Garten schillerte der Herbst in seiner Niederglut. Eine letzte Rose hing kränkelnd an ihrem Zweig. Feuerbelaubt brannte ein Ahorn.
Unendlich fern blaute die Burg Runding.
*
Im Schatten eines Strauches kauerte die Schwabenkathel, betete und zählte gleichzeitig den Erlös eines Bettelganges. Anna gewahrte sie erst, als der Windhund mit dem wilden Gebell, womit er alles Verwahrloste und Zerlumpte zu begrüßen pflegte, über die Landstreicherin herfiel.
»Trenck!« rief das Fräulein gebieterisch. Da kehrte das Tier unwillig und tückisch knurrend zu seiner Herrin zurück.
»Trenck!« lachte die Alte. »So hat mein Liebster geheißen. Jetzt tauft man die Hunde nach ihm. Er hat es nicht besser verdient.«
In zaghafter Neugier näherte sich Anna dem Weib. »Es heißt, dass du viele Männer geliebt hast«, sagte sie leise.
»Es ist keine im Land gewesen, die die Buben so gern gehabt wie ich. He, lass mich in deiner Hand lesen, ob du auch so viel Schätzlein kriegst wie ich!«
Anna schüttelte den Kopf. »Nein, ich will von meiner Zukunft nichts wissen. Ich erfahre das zeitig genug. Sieh doch einer, was für Künste du triffst! Du bist wohl zu den Zigeunern in die Schule gegangen?«
»Man wird nicht umsonst so alt, schönes Fräulein. Ich kann allerlei. Nur glauben muss man mir. Ungläubigen ist nicht zu helfen.«
»Du hast mir einmal gesagt, Schwabenkathel, dass ich -- gesund werden könnte. Ach, wenn mein Rücken so gerade würde wieder meiner Schwester Lisabeth! Was gäbe ich darum! Doch dir trau ich nicht. Es gibt ja leider keine Zauberei.«
Da murmelte die Alte: »Ich weiß Gebete, die sonst keiner kennt. Sie reißen wie die Springwurz das verschlossene Glück auf. Ihre Kraft bringt alles Gute und alles Arge, wie es der begehrt, der mit den Auftrag gibt.«
»Du schlimme Hexe, du lügst mich an«, sagte Anna.
»Hab ich verlangt, dass du mir glaubst?« erwiderte die Bettlerin.
»Aber wenn du wirklich Kräfte und Heilungsarten kenntest, die den gelehrten Ärzten verborgen sind? Weib, wie würde ich es dir danken!«
»Lass mich es doch versuchen! Du brauchst mich ja nicht zu bezahlen. Ich darf kein Geld annehmen, sonst versagt meine Kunst. Du musst mir nur freiwillig etwas schenken, Schlossfräulein. Gib mir den Ring an deinem Finger!«
Anna erschrak. »Den Ring kann ich dir nicht geben. Er ist von meiner Mutter und gehört uns Schwestern gemeinsam. Verlange etwas anderes!«
»Gerade den Ring brauch ich«, beharrte die Alte. »Der Gnadenfrau von Heiligenblut will ich ihn in deinem Namen aufopfern.«
Anna lockerte den Reif an ihrem Finger. Sein Gold umschloss einen finster glühenden Edelstein, davon das Gerücht ging, dass er vor einem nahenden Unglück schwarz werde. Seit Jahrhunderten hatte sich dieses Schmuckstück in der Familie der Mutter fortgeerbt.
»Der Ring muss bei unserm Haus bleiben, Kathel. Was würden meine Schwestern dazu sagen, wenn ich ihn wegschenkte?«
»Sie würden sich freuen, dass du jetzt deinen abscheulichen Buckel verlierst.«
Zaudernd und doch schon verführt von törichter Hoffnung sagte Anna: »Wenn nun aber alles, was du beginnst, nichts helfen sollte?«
»In sieben Wochen bist du gerade wie eine Kerze oder du kriegst den Ring wieder zurück«, erwiderte die Bettlerin schnell.
»Ich will dir glauben, Kathel«, sagte das Fräulein traurig. »Hilf mir! Ich leide zu viel unter meiner Missgestalt. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich es ertragen. Als Weib ist es mir unmöglich.«
Seufzend ließ sie den Ring in die gierigen Hände der Alten gleiten, und diese steckte ihn gleich an und ließ ihn in der Sonne glitzern.
»Vom Ringfinger laufen ganz besondere Äderlein zum Herzen«, sagte sie. »Und jetzt gehab dich wohl, mein kluges Töchterlein. Vertrau nur! Und merk dir, verrate keinem Menschen, wem du den Ring gegeben hast! Wenn deine Schwestern dich danach fragen, sag, du hättest ihn verloren, in den Bach ist er dir gefallen, ein Fisch hat ihn geschluckt. Verrätst du mich aber, dann zerrinnt meine Kraft, und du bleibst, wie du bist: bucklig!!«
Sie raffte ihren Bettelkorb an sich und hinkte davon.
*
In den folgenden Wochen schaute sich Anna wohl an die hundert Male täglich in den Spiegel, sie betastete sich mit zaghaften, hoffenden Fingern den Rücken, sie wähnte, im Rückgrat einen leisen, ziehenden Schmerz zu verspüren, als strecke es sich aus seiner Verkrümmung gerade. Nachts horchte sie oft hoch auf, ob die Knochen in ihrem Leib nicht knisterten und knackten, und in glücklichen Träumen sah sie sich hoch und aufrecht über die Wiesen Püdensdorfs und durch die Stuben Rundings schreiten. Manchmal aber ergrimmte sie in ihrer Ungeduld über ihr Gebrechen, dass sie sich, die Missgebildete, am liebsten selber mit der Faust geschlagen hätte.
Als sieben Wochen vergangen waren und sich in ihrem unseligen Zustand gar nichts geändert hatte, hub sie an zu zweifeln. Die Schwabenkathel ließ sich nimmer auf Püdensdorf blicken, dass sie ihr hätte Rechenschaft ablegen können. Anna forschte behutsam nach, ob die Alte nach Heiligenblut gewallfahrtet sei, aber niemand wusste davon, und man erzählte nur, dass das Weib öfters betrunken und unflätig über ihren Liebhaber, den Freiherrn Trenck, fluchend durch die Gassen Chams getaumelt sei.
Lisabeth entdeckte, dass die Schwester den Ring nimmer trug. Anna erzählte sogleich die volle Wahrheit. »Ich habe den Ring verschenkt, damit ich gesund würde wie die anderen Menschen«, schloss sie. »Heute weiß ich, dass ich betrogen worden bin.«
Die Schwestern überhäuften sie mit Vorwürfen, sie nahm alles schweigend hin.«
»Wie konntest du nur so leichtgläubig sein?« rief Lisabeth nicht ohne Hohn. »Du bist doch sonst so aufgeklärt, so bodenlos gescheit!«
»Ich begreife mich jetzt selber nicht«, antwortete Anna. »Wer unglücklich ist, hofft auf das Unmöglichste.«
Am Abend desselben Tages traf eine Nachricht des Freiherrn Nothafft ein, dass Graf Kreutz in der Schlacht bei Leipzig geblieben sei.
Marianne benahm sich wie wahnsinnig, als sie das erfuhr. Der Graf hatte ihr nimmer geschrieben, als sie ihm die Absage geschickt hatte. Sie hatte im Stillen auf eine Antwort gehofft. Und nun war der Geliebte dahin, unwiederbringlich dahin. »Wenn ich ihm das nicht angetan hätte, würde er noch leben!« schrie sie. »Aus Leid hat er den Tod gesucht!«
Sie rannte zum Spiegel und schrie: »Warum bin ich jetzt noch schön?«
In wildem Weinkrampf wälzte sie sich auf der Erde und stieß die Schwestern von sich, die sie beruhigen wollten. »Lasst mich! Sterben will ich und bei dem Toten sein!«
Als aber Anna sich ihr mit leisem Trostwort näherte, da sprang sie auf und sprühte sie an: »Du Abscheuliche, du Hässliche, du Neidische, du hast ihn mir getötet! Aus Eifersucht hast du uns entzweit. Meine Feigheit hast du ausgenützt, meine alberne Todesfurcht. O du Elende, du hast dich nicht wie eine Schwester benommen!«
Anna verließ wie ein gezüchtigtes Tier die Stube.
»Deine Vorwürfe waren zu hart, Marianne«, sagte Christa.
»Sie ist schuld«, wiederholte Marianne und hub in grenzenlosem Schmerz an zu weinen.
Christa aber suchte, von schlimmen Ahnungen betroffen, die verwachsene Schwester. Der Franz hatte sie über die Brücke in die Nacht hinaus gehen sehen.
Christa eilte vor das Schloss und rief den Namen der Verschwundenen laut in die Finsternis. Sie bot die Tagwerker auf, die in den Hütten von Püdensdorf wohnten, und diese leuchteten die halbe Nacht die bereiften, herbstlichen Wiesen ab, sie suchten an den Ufern des Flusses und spähten in seine Tiefe. Doch fanden sie Anna nicht.
Am andern Morgen kam sie heim, scheu und verstört. Sie sagte nicht, was sie in der Nacht erlebt und wo sie sie zugebracht hatte. Drei Tage lang aß sie keinen Bissen, bis Schwindel und Schwäche sie befielen und sie endlich, den Bitten Christas nachgebend, wieder Nahrung zu sich nahm.
Sie und Marianne aber blieben einander noch lange nachher fremd, und sie redeten nichts miteinander, und wenn einmal die vermittelnden Schwestern nicht zugegen waren, so schrieben sie einander die dringlichsten Dinge auf Zetteln, nur dass sie sich nicht anzusprechen brauchten.
*
Sonntag für Sonntag geschah ewig das Gleiche.
Der Mesner zu Chammünster gab das erste Zeichen zum Hochamt, wenn er die herrschaftliche Kutsche von Püdensdorf her über die Wiesen schwanken sah, und der Pfarrer begann mit der frommen Handlung, wenn die vier Freifräulein in die Kirche eingetreten waren. Dann setzte auch die Orgel ein, und der Schulmeister hub gar bemühsamlich das Kyrie zu singen an.
Die Fräulein saßen in dem braunen Chorgestühl, Eve Elisabeth vornehm und regungslos auch ihrem Gott gegenüber, neben ihr Anna Eleonora, das blasse Gesicht über das samtene Betbuch geneigt, dann Maria Anna mit schwärmerisch erhobenen Augen gläubig auf den Altar gerichtet, der Welt in dieser Stunde ganz und gar entronnen und in Einfalt Gott und seiner Himmelsschar in unmittelbarster Nähe vermutend. Auf dem Estrich vor den Vieren lag faul hingestreckt Trenck, der Hund.
Es war nicht allzu viel Volk in der weiträumigen Kirche zugegen; die Bauern gingen sonntags lieber nach Cham, wo sie neben dem Gottesdienst ihre Geschäftlein abwickeln konnten. An dem schwachen Zulauf mochte auch der langweilige -- obzwar bei den Landedelleuten als bequemer Beichtvater beliebte und gesuchte -- Pfarrer schuld sein, der oft mitten in der Christenlehre einzuschlafen drohte und seit undenklicher Zeit immer dasselbe predigte, so dass schon die Dohlen auf den Türmen seine Predigten krächzten. Als Christa einmal den struppigen, greisen, pausbackigen Herrn fragte, warum so wenig Leute seine Predigten anhörten, schmunzelte er: »Die andern glauben schon alles.«
Wenn die Fräulein das Gotteshaus verließen, bildeten die Leuten eine Ehrengasse, und der Schulmeister, der der Sippe der Rauchenegge schon manche fröhlich gesetzte Messe und manches feierliche Magnifikat gewidmet hatte, orgelte mit allen Stimmen ein rauschendes, lobsingendes Nachspiel, und der Geistliche fand sich bei der Kutsche ein und verabschiedete sich ehrerbietig. Dann rollte der Wagen durch die demütige Bauernlandschaft hinein in die weite Püdensdorfer Wiese.
Zuhause saß hernach Marianne am Putztischlein und bespiegelte sich. Sie hatte erfahren, dass es im Wesen des Schmerzes liegt, dass er vergessen wird, und das Leid um den Verlorenen, das anfangs sie zu zerstören gedroht hatte, war in den barmherzigen Abgrund der Vergessenheit hinab gesunken. Anna holte aus der Bücherei eines der dichterischen Taschenbücher jener Zeit, da noch der verliebte Damon schäferlich seiner Doris flötete. Lisabeth rechnete in den Wirtschaftsbüchern, auf dem Schoß das Haupt des Trenck. Sie hatte das Tier sehr lieb, weil es so stolz war und es nicht leiden mochte, dass einer seiner Artgenossen in einen Karren eingespannt war; mit bösem Geheul und beißend fiel Trenck über jedes Hundefuhrwerk her, das ihm begegnete, ein Rächer der Erniedrigung seines Geschlechtes.
Christa tat sich mit der Magd in der Küche um, sie schnitte und wusch den Salat, schwängerte die Suppe mit Salzkörnern, beträufelte den Festtagsbratenmit goldenem Fett, besorgte kundig alle Zutätchen und griff mit regsamen Händen überall zu und war hier nicht minder eifrig bei der Sache als vorher im Dienste Gottes.
Die Küche war der geräumigste Ort des Gebäudes. Die Ritter, die das Schlösslein hier auf dem grünen Rasen errichtet hatten, hatten dieser Stätte der Gesänge des siedenden Wassers, des klappernden Geschirres, des unmutig prasselnden Harzholzes und des gedeihenden Bratens die wichtigste Bedeutung zugemessen. Und auch von den Herren von Rauchenegg, die vormals im Rufe gewaltiger Schleckermäuler gestanden, hieß es, sie hätten das Schloss nur um dieser stattlichen und fast schwülstig eingerichteten Küche willen von den früheren Besitzern gekauft.
Über dem gewaltig gemauerten Steinherd öffnete der Rauchfang den rußigen Schlund und schlang Rauch und Dunst der Küche ein. An der Decke war ein kranzförmiger, schmiedeeiserner Ring angebracht, mit spitzen Dornen versehen, Schinken und Selchfleisch daran zu hängen. Da waren Aufzüge für die Kessel, das waren Spieße, die mittels Kurbeln geleiert werden konnten, durch die Wandnischen gezogen, man hätte können zwölf Gänse auf einmal daran braten. In den Gestellen war hunderterlei Küchengerät zu schauen, manches darunter von denkwürdiger, veralteter Form und vergessenem Zweck. Da waren einst Häslein gespickt und alle Sorten Wildbret an dem Spieß gedreht und in den Kesseln gesotten worden, in den Töpfen hatte es gesaust und gebraust und in den Pfannen gebrodelt. Das Leben war hier üppig geführt worden. Die lange Kette derer von Rauchenegg bis herab zu dem letzten Herrn von Püdensdorf, dem wohlseligen Vater der Fräulein, waren Männer des Ordens vom dreifachen Kinn gewesen, die sich reichlich aufschüsseln ließen und dabei tüchtig in den Maßkrug hineinleuchteten. Ansonst waren es kernige bayerische Männer gewesen, rauflustig, kühn und verlässlich, geradeaus und grob.
Jetzt aber wog in Püdensdorf diese Art von Wohllebigkeit nimmer so wichtig. Besonders Lisabeth und Anna waren schon als Kinder voller Unlust zum Essen gewesen und mussten bei Tisch immer gezwungen und gescholten werden. Sie hatten sich als Erwachsene kaum gebessert, hielten die Esslust für den niedersten Trieb des Menschen und nippten nur von den Tellern, worüber Christa sich heimlich kränkte.
Der Vetter Jukundin hingegen würdigte ihre Kunst aus Leibeskräften. Er als der einzige unter den entarteten Nachfahren hatte von den Ahnen den lüsternen Gaumen und den weiten, nimmervollen Magen geerbt, und wenn ihn Lisabeth darob verhöhnte, berief er sich auf Wolfheinrich, den ersten Rauchenegg, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts Vorschneider an der Tafel eines bayerischen Herzogs gewesen und sich -- wie es wortwörtlich in den Urkunden zu lesen war -- »mit seinem künstlichen Tranchieren allerorten beliebt gemacht hatte«. Als Wolfheinrich einst nach einer Hetzjagd seinem heißhungrigen Herrn mit dem Dolch den Hirschbaten zerlegte und dabei in geschickter Rede die Gesundheit des erlauchten Weidmannes ausbrachte, fiel es diesem ein, seinen verdienten Tranchiermeister zu adeln, und er verlieh ihm als Wappen drei dreizinkige, blaue Gabeln im silbernen Schild, der von zwei übermäßig beschwänzten, gähnenden Leuen gehalten und mit einem Kronhelm bedeckt war, daraus ein kohlschwarzer, mit einem güldenen Halsband geschmückter Windhund stieg und die rote Zunge bleckte.
Jukundin schnüffelte an Festtagen gern in die Püdensdorfer Küche hinein und trällerte die Litanei: »Rippenbraten! Lendenbraten! Nierenbraten! Essigbraten!« oder rief: »Lamm, Lamm! läutet des Wolfes Mittagsglöckel.« Und er hob die Deckel der Töpfe und roch hinein. Zuweilen kam ihm in seiner Gier auch ein Geiferlein, und da schlug ihn Christa mit dem Kochlöffel in die Flucht. Dann pflegte er wohl auf seinem Pferd über das Wiesenland zu sprengen und sich damit ein erhöhtes Gelüst anzureiten, und Schlag mittags kehrte er zurück und ruhte nicht eher, bis der letzte Rest des Mahles von Gottes Erdboden vertilgt war.
Christa hielt das ganze Hauswesen in Püdensdorf zusammen. Sie war fortwährend auf den Beinen, sah in den Viehställen nach und in Stadel, Backhaus und Waschküche, sie überwachte die Scharwerker, pflanzte und jätete im Gemüsegarten und hielt die Obstbäume im Stand. Die Schwestern hatten sich allmählich von der Arbeit zurückgezogen, sie passte nicht dazu, und so gewandt sie sich in Gesellschaft benahmen, so ungeschickt waren sie in der Führung des ländlichen Haushaltes. Auch verstanden sie es nicht, mit den Taglöhnern des Schlosses freundlich zu reden und wurden darum von diesen nicht geliebt.
Junkundin hatte seiner Base Christa bald nach dem Heimgang des Majors seine Hand angetragen. Sie nahm das als einen seiner launischen Scherze und gab ihm ein lachendes Körblein zurück. Sie hatte ihm seit je keinen Ernst zugetraut. Als Knabe hatte er einmal mit branntweingetränkten Semmelbrocken die Püdensdorfer Dohlen trunken gemacht, die bezechen Vögel hatten unsinnig zu schwätzen begonnen, waren wie toll herumgefludert, getaumelt und auf den Rücken gefallen. Seit damals bemutterte Christa mit vielem Mitleid den Vetter und suchte ihn zu erziehen, soweit es bei diesem Tollkauz noch möglich war.
Einmal winkte ihr auch eine ernsthafte Verbindung. Ein benachbarter Gutsherr, der sie nicht nur um ihrer hausfraulichen Tugenden willen schätzte, kam öfters ins Schloss herüber. Doch offenbarte er sich ihr lange nicht, beirrt durch die wache Klugheit ihres Blickes und durch ihre sachlichen Reden, die sich niemals auf die Welt der Gefühle bezogen. Er vermochte sie trotz ihrer Sachlichkeit nicht zu durchschauen. War es doch im Grunde selbst ihren Schwestern unbekannt, ob sie verständig sei oder albern; man konnte von ihr weder das eine noch das andere behaupten, ebenso wenig man einen Strauch oder eine Blume klug oder dumm nennen kann. Bei der ersten Begegnung dünkte sie vielen hausbacken und einfältig, zumal da sie beim Sprechen ein wenig mit der Zunge lispelte.
Der verliebte Nachbar kam immer häufiger, und langsam wandelte sich das wunschlose, sachlich nüchterne Mädchen. Tief unten, wo die Seele ihren warmen, dunkeln, nährenden Erdboden hat, wo es nicht Denken noch Wissen und Willen gibt, am Seelengrund regte sich ihr traumhaft ein Keim und wuchs und baute über sich eine seligverschwiegene Blüte aus. Christa verliebte sich in den Verliebten.
Einmal zeigte sie dem Freund ein fleckiges Kälblein, das eben in der vergangenen Nacht geworfen worden war, und als sich die beiden allein und nur von den Kühen beobachtet im Stall gegenüberstanden, da gewahrte er in ihren kindlich treuherzigen Augen die helle Liebe und sah ihre Wangen wie Blutpfirsiche glühen, und da wurde auch ihm seltsam heiß, und er drückte plötzlich seine Stirn an ihre kühlen, braunen, vollen Arme.
In diesem Augenblick, da er die glücklichste Entscheidung seines Lebens nahe wusste, erschollen draußen schleichende Schritte. Unwillig ob dieser Störung flüsterte er: »Das ist gewiss die Buckelige!«
Da sah ihn Christa schmerzlich an, und ihr Blick verkristallte sich zu einer Träne. Und dann ging sie mit kalter, fremder Miene an ihm vorüber und ließ ihn stehen.
Er kam dann nimmer zu Besuch. Dieses Mädchen, das jedes harmlose Wörtlein auf die Goldwaage legte, diese rätselhafte, zimperliche Veilchenseele passte nicht für ihn. Es war nur schade um die gute Haushälterin in ihr. Er heiratete später eine reichte Bräuerstochter aus Amberg, vierschrötig an Leib und Seele, und die Fräulein von Rauchenegg brachen dann den Verkehr mit ihm ganz ab.
*
Die Schlossbücherei war nur noch der geringe Rest einer vormals bedeutenden Sammlung. Die Panduren hatten sie stark vermindert und die Urkunden und Schriften zerrissen, weil sie das Papier zum Laden ihrer Flinten gebraucht hatten.
Jukundin kramte wieder einmal in dem Schrein. Lisabeth sah das nicht gern, sie wusste, dass die Bücher, die er sich auslieh, verloren gingen. »Was wühlst du dort herum?« sagte sie verdrossen. »Dort ist nichts für dich. Das sind lauter Kochbücher.«
Er schlug eines davon auf. »Wahrhaftig, ein geschriebenes Kochbuch!« rief er entzückt. »Uralte Geheimnisse, wie man die köstlichen Imbisse bereitet, Imbisse, wie sie in solcher Pracht noch nie meinen unerfahrenen Gaumen geletzt haben!« Er schnalzte mit der Zunge und las eine der in altertümlichen Fügungen verfassten Anweisungen vor. »Marianne, schlage die Saiten dazu!« rief er. »Begleite diesen Gesang, der herrlicher ist als alle geistlichen Lieder Gellerts zusammengenommen! Was starrst du mich so missbilligend an, Lisabeth? Verachtest du mich, weil ich gerne gut speise? Du unwürdige Enkelin eines Geschlechtes, das mutig gegen die Kälber gefochten und furchtlos seine Schwerter in den Speck der Spanferkel getaucht hat! Ich betrachte die Vertilgung eines andächtig zubereiteten Fraßes als den reinsten und gründlichsten Kunstgenuss. Ich genieße damit mehr als du, wenn du ein Menuett des Kanarienvogels Mozart zu dir nimmst. Ich nehme das Kunstwerk der Köchin in mein Fleisch und Blut auf, ich verleihe es mir ein, es verwandelt sich in mich, in Jukundin den Gefräßigen, es hält die Seele in mir aufrecht.«
»Lass dir es recht wohlschmecken!« zürnte Lisabeth. »Auf deiner genäschigen Zunge werden Schloss und Gut der sparsamen Tante Seraphita zerschmelzen.«
»Ja, ja, ich sage es immer, es ist der größte Unsinn, für jemand anderen zu sparen«, lachte Jukundin.
»Dir genügt deine Verschwendungssucht nicht«, fuhr Lisabeth fort, »du übst noch andere Stücklein, derer wir uns schämen müssen. In Ottmanning schleichst du nachts zu den Fenstern der Viehmägde. In der Kirche zu Cham setztest du dich mutwillig in die Bänke der Frauen. Unlängst hast du wieder die schlafende Stadt wachgeschrien mit deinen Duzfreundlein!«
»Du wirst gut berichtet«, sagte der Vetter. »Ich habe damals nur meinen Hut zum Himmel geworfen und gerufen: »Da, ihr bloßköpfigen Heiligen, rauft euch zusammen!«
»Und dann bist du ohne Hut durch die Gassen gegangen!« rief Lisabeth. »Ohne Hut!! Entsetzlich! Unser Wappen steht auf den Glocken des Landes gegossen, und du benimmst dich so niedrig! O, wenn unsere Ahnen aufstünden!«
»Unsere Ahnen!« äffte ihr Jukundin nach. »Was waren sie denn gewesen? Der erste war ein Salatmacher, der wahrscheinlich eine abgenützte Zofe geheiratet und sich an ihrer Mitgift bereichert hat. Und die andern Rauchenegge? Woher stammten sie und welchen Zweck hatten sie? Sie wurden von Lakaien gemacht und waren da, die Dorfbevölkerung zu vermehren.«
»Unverschämter!« rief Lisabeth.
Er spuckte auf den Finger und blätterte in einem kunstvoll in Leder gebundenen Büchlein.
Anna biss sich in die Lippen. Sie pflegte zu sagen, die Höhe der Gesittung eines Menschen erkenne man daran, wie er mit einem Buch umgehe. Jukundin bemerkte sofort ihre Entrüstung. »Verzeih, du schöne Seele!« spöttelte er.
Sie sah ihn feindlich an. »Spotte nur! Einmal wirst du gekrochen kommen, wir vier sollen dich erhalten!«
»Kann ich es hindern, wenn es in den Sternen bestimmt ist, dass ich all mein Hab und Gut verschlemme?« sagte er. »Soll ich vielleicht gar arbeiten? Ich will mein großzügiges Herz nicht an den Kleinlichkeiten des Lebens verderben lassen. Arbeit, Sparsamkeit, Tugend, Treue, Mäßigkeit, lauter Krimskrams! Man starrt so lange einen Fliegenschmitz an, bis er immer größer und größer wird und einem schließlich wie ein Gestirn oder gar als das Weltallsrund und der Weltallskern erscheint und einen in sich hineinzieht. Gelt, Miaulis, du bedarfst der oben genannten Begriffe ebenfalls nicht?« Und der Vetter strich über das Fell eines Katers, der ihm auf den Schoß gesprungen war, und der prächtige, tückische Mausfänger erwiderte so fein wie eine Geige und gestattete Jukundin großmütig und gleichgültig, dass er ihn streichle.
Christa, die eben den Kaffee auftrug, sagte freundlich: »Vetter, darf ich dir eine Predigt halten?«
»Von dir nehme ich sie gern an, Christa. Du tust alles in hübscher Form.«
Sie nahm ihm das Büchlein aus der Hand und schlug eine Erzählung auf. »Da steck deine Nase hinein und besinne dich!«
Er griff nach der Tasse und schlürfte so geräuschvoll, das es den Fräulein durch Mark und Bein schnitt, und nachdem er noch einen Kaffeeklecks auf das blütensaubere Tischtuch gemacht hatte, schaute er in das Buch. »O weh, ein Märchen setzt man mir da vor!« Und er las laut:
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»Der Junker Schlump
Der Junker Schlump ritt übers quere Feld, er hatte einen ledernen Helm auf dem Schädel und darauf einen Pfauenwedel.
Aus dem Sattel stieg er und band seinen Schecken an einen Wispelbaum und lümmelte sich ins Gras. Die Wälder rauchten, der Fuchs braute, und der Hase kochte. Da schrie der Junker hinüber in den dunstenden Wald: ‚Du Fuchs und du Has, ihr allzweibeiden, siedet mir ein Regensburger Würstlein in euerm Kessel!' Und der Junker Schlump dachte an dies und an das, und auf einmal war er eingeschlafen und träumte von allerlei Lustigem, von der Schlaraffei und den Wildbächen dort, darin süße Krapfen schwimmen, und von den roten Springbünnlein aus Wein. Und als er erwachte, lag ein Würstlein säuberlich auf einem bunten Teller vor ihm und dampfte. Er ließ es sich nicht zweimal schaffen und aß es. ‚Scheck', sagte er, ‚nun gesteh mir, wer mir das Würstlein da gebrungen!' Und das Rösslein lachte: ‚Wihahaha!'
Da meldete sich der helle Kuckuck im Laub. Ei, wie klug sind doch die Tiere, sie wissen mehr als wir hoffärtigen Menschen! ‚Vogel, wie viel Jahre versprichst du mir?' fragte der gut Junker. Der Kuckuck räusperte sich und schrie siebenmal hellauf gugu. Des wurde der Frager gar traurig, und er klagte: ‚Sieben Jahre nur soll ich noch leben? O wie kurz!'
Traurig stieg er auf sein fleckiges, scheckiges Rösslein und trabte heimwärts. Er ritt durch einen Kirchhof, da stand seines Vaters schiefer Grabstein, und darauf war zu schauen der betrübliche Spruch:
‚Wär nicht der Hirsch und der Has
und der Nachbar mit der kupfernen Nas,
ich läg noch allweil nicht unterm grünen Gras.'
Der Junker Schlump schlug ein Kreuz und nickte. Zu arg des Weidwerks beflissen war sein wohlseliger Vater gewesen und zu viel des Weines hatte er geschwenkt mit seiner Kumpanei, und allzu viel ist nicht gesund.
Wie aber der Junker sein edles Gut vor sich liegen sah, sein Turmhaus auf dem Hügel, das Dorf, die Wälder und die Wiesengründe, da wurmte es ihn, dass er schon in sieben Jahren sollte den Weg alles Fleisches fahren, und er pfiff sich in den Bart und sagte: ‚Hojoh, wo will ich die sieben Jahre herrgöttlich leben und die Tage genießen und nichts übrig lassen. Meine guten Erben sollen nichts zu lachen haben.'
Und er schepperte mit seinen silbernen Talern und ließ sich flugs einen riesigen Gugelhupf backen, schnitt sich Türen und Fenster hinein und höhlte mit seinem Leckermund das wohlschmeckende Haus und aß es auf. Und er aß gebrannte Nusskerne und Eierkuchen und knusprigen Braten und Zuckerbrot, wie es in den Nonnenklöstern bereitet wird, und Rindsbraten in Essig und leckte süßen Schmetten und brockte sich weiße Semmeln in den gelben Wein. Und als das blanke Geld flöten gegangen war, vertat er den lautergoldenen Vogel auf dem Kirchturm um Mainwein und um Rheinwein und verschlemmerte die Bäche und die Mühlen daran und dann die Wiesen und Wälder und dann das Dorf mit allen Zubehörden und darauf ruhenden Gerechtigkeiten und zuletzt sein Burgnest auf dem Felsen und ganz zuletzt sein scheckiges Rösslein. Und da ihn der alte Schlosspfarrer warnte, er möge nicht alles mit Pauken und Trompeten vergeuden, rief er: ‚Donnerwetter, zehn Klafter in die Erde, lass dein Geschwätz, es ist hohl, es ist nur Dampf und kein Braten darunter! Ich habe nur sieben Jahre zu leben, und da muss alles hin sein.'
Also saß der Junker am Montag im Blauen Bock und am Dienstag im Rosenstock, am Mittwoch im Kleebaum, am Donnerstag im Roten Igel, am Freitag im Wilden Mann, am Samstag in der Goldenen Eichel und am Samstag im Weißen Hirschen. Und sein Leiblied war:
›Ich bin das edel Blut,
das wenig hat und viel vertut.›
Sieben Jahre lag er in Saus und Braus. Dann fluchte er: ‚Donnerwetter, zehn Klafter in die Erde, jetzt habe ich alles verjuxt!' Und er hatte kein Bröcklein Brot mehr und kein Krümlein Salz darauf und nichts mehr zu beißen als Pfefferkorn, das ihm von gestern her im Zahn war stecken geblieben.
Da setzte er sich wieder unter den Wispelbaum und wartete auf den Tod. Die sieben Jahre waren um.
Aber der Tod ließ ihn warten. Statt seiner kam der grimmige Hunger und trieb ihn auf. Und der Gutzgauch hatte sich überschrien und stand stockheiser und struppig und katzenjämmerlich auf einem dürren Knorren.
Not lehrt demütig pfeifen. Und so musste der gute Junker Schlump noch fünfzig Jahre lang bloßfüßig betteln gehen, und er murmelte vor den Türen und Toren das Vaterunserlein und sagte: ‚Gebt ein Bröcklein Brot dem armen Mann, den der Kuckuck betrogen hat'! --
Jukundin schlug befriedigt das Büchlein zu und räumte es in seine Tasche. »Ich nehme es mit mir. Jeden Morgen will ich diese auferbauliche Rittergeschichte lesen. Sie geht mich ganz besonders an. Denn ich bin das edel Blut, das wenig hat und viel vertut.«
Hernach aber schien doch ein Rest von Ehrgeiz in dem leichtsinnigen Mann aufzuleben, denn er murrte: »Was soll ein Mann wie ich heutzutage auf der Welt beginnen? Seit Napoleon im Käfig sitzt, ist nichts mehr los. Der Mann hatte Leben in den schläfrigen Ameishaufen gebracht. Er ist gefangen, und die Weltgeschichte hat aufgehört.«
»Schweig mir von ihm!« rief Lisabeth wild.
»Ein Adlermensch war er, der Kaiser«, entgegnete Jukundin, »ein Gott war er; seine Größe zu messen, fehlt uns jegliches Maß. Ewig schade, dass die Heringskrämer ihn an den Meerfelsen gebunden haben!«
Aufs Höchste gereizt, griff Lisabeth in einen Kasten, riss einen blutbefleckten Waffenrock heraus und schleuderte ihn vor Jukundin auf den Tisch. Es war der Rock, darin die französische Kugel ihren Bruder getroffen hatte.
*
Lisabeths tiefer Hass gegen den Kaiser ließ erst nach, als dieser gestorben war. Sie erkannte auch, wie töricht es gewesen war, von dem Mann, der um sie geworben, die Ermordung des großen Gewalthabers zu verlangen. Der Freiherr von Willmering nahm nun einen hohen Rang im Heere ein und hatte sich längst schon verheiratet und besaß drei hübsche Kinder. Lisabeth erfuhr dies in einer Gesellschaft. Sie selber hatte nie nach ihm gefragt.
Mancher Edelmann hätte sich gern um sie beworben, ihre Schönheit bezauberte noch immer alle, die sich ihr näherten. Es wagte sich aber keiner an sie heran, den ihre Art war von eisigem, abweisendem Stolz.
Einmal erhielt sie ein Schreiben eines sterblich in sie verliebten Mannes. »Gletscher, ich fürchte dich nicht«, stand darin, »ich will dich an meine Brust ziehen, und du wirst daran verbrennen.« Und daran knüpfte sich die Drohung, er werde sich vor ihrem Fenster erschießen, wenn sie ihm absage.
Sie sah die feine Narbe an ihrer Hand blinken und schrieb höflich zurück: »In meinem Leben ist einmal etwas Schreckliches geschehen. Ich werde nie heiraten. Ich bin einem Fremden, Unbekannten für immer verbunden. Ich bitte Sie, denken Sie nimmer an mich, und leben Sie wohl!«
Marianne bekam es zuweilen mit Angstzuständen zu tun, dass sie wie die ältere Schwester unverheiratet bleiben werde. Dann aber vertraute sie wieder auf die aufreizende Glut ihrer schwarzen, zündelnden Augen und auf ihr Spiel, das immer meisterlicher und ausdruckvoller wurde. Sie gefiel, aber sie hatte kein Glück. Man wusste, dass sie keine Hausfrau war. Auch war es ein offenes Geheimnis, dass es um die Vermögensverhältnisse auf Püdensdorf windig stand. Und die Männer fürchteten, wenn sie Mariannen freiten, müssten sie die anderen Schwestern auch mit in den Kauf nehmen, und schließlich drohte im Hintergrund der liederliche Vetter Jukundin und schreckte ab.
Marianne lag auf einem mächtigen Bärenfell, das der Vater einst einem herrlichen Untier in den Klüften der Kaitersberge abgenommen hatte. Sie herzte den Kater Miaulis, tätschelte und küsste ihn. »Alle meine heiße Liebe schenke ich nur dir!« seufzte sie. »Mit gerösteter Leber will ich die füttern, dass du deine klaren Augen behältst, mein süßer, falscher Freund!«
»Mit gerösteter Leber?« sagte Lisabeth. »Gibst du es nicht billiger? Als ob es uns das Geld schneite!«
Marianne presste das Tier ungestüm an sich, dass es sich gegen so viel Liebe fauchend zur Wehr setzte. Sie trotzte: »Bevor er darben soll, verkaufe ich meine Brautwäsche. Sie vermodert ohnehin in der Truhe.«
Miaulis entschlüpfte ihrer schmerzenden Zärtlichkeit und schielte erpicht zu dem Kanarienvöglein empor, das in seinem messingenen Käfig sorglos trillerte.
»Der Kater verdient kein gutes Wort«, sagte Anna mürrisch. »Tagelang streunt er in den Dörfern herum und lässt sich nicht blicken.« Sie ärgerte sich, dass das Tier auf die Brautfahrt ging.
»Soll er auch so dahindämmern wie ich?« lehnte sich Marianne auf. »Wir hausen hier wie die Nonnen, vom Welttanz ausgeschlossen. Ich bin schon so weit, dass ich mir nichts mehr wünsche.«
»Was nützen einem die Wünsche?!« sagte Anna. »Sie sind ebenso hohl wie die Träume.«
»Wünsche führen zur Erfüllung«, widersprach Marianne, »Und ein erfüllter Wunsch ist ein neuer Quell des Lebens, er erfrischt und stärkt die Hoffnung.«
»Wie weise du bist!« spottete Anna. »Ein erfüllter Wunsch verfault an sich selber.«
»Wie kannst gerade du das wissen?« fragte Marianne spitzig.
Die Verwachsene wurde leichenblass und schieg. Sie fühlte sich durch diese Frage tief beleidigt. Sie war sehr empfindlich geworden und glaubte überall verdeckten Spott gegen sich gewendet. Sie erschien sich selber minderwertig, weil noch nie ein Mann nach ihr verlangt hatte.
Christa sah von einer Näherei flehend zu den beiden auf. »Streitet nicht wieder! Seid lieb zueinander!« In ihrem Haar schimmerten schon weiße Fäden, obwohl sie die jüngste der Schwestern war.
Marianne war sehr erregt, sie wischte sich mit ihrer zierlichen, mit zarten Spitzen gezackten Tändelschürze die Tränen von der Wange. »Oft möchte ich aus dieser Einöde davonrennen«, sagt sie, »und irgendwo durch ferne Länder abenteuern, in die Abgründe des Zufalls springen und etwas erleben. Erleben!«
»Du wirst das unterlassen«, rief Lisabeth. »Unser Ansehen ist ohnedies sehr gesunken. Der neue Geistliche in Chammünster wartet nicht mehr, bis unsere Kutsche ankommt, Schlag zehn Uhr beginnt er rücksichtslos mit dem Hochamt. Es gilt ihm gleich, ob wir in der Kirche sind oder nicht. Und man kann gegen diesen anmaßenden Umstürzler nichts unternehmen.«
»Ich merke nichts, dass es uns an Verehrung fehlt«, sagte Marianne. »Wenn ich durch Cham gehe, halten die Leute auf der Gasse im Reden inne und kehren sich nach mir um.«
»Ach, diese Lebzelter!« murmelte Lisabeth und krümme die Mundwinkel verächtlich abwärts.
Marianne raffte sich von dem Bärenfell auf. »Mit euch Schwestern ist gar nicht mehr zu reden! Ihr seid schon ganz verdorrt. Und du, Lisabeth, und du, Anna, seid gegen mich verbündet. Ich spüre es. O, warum wohne ich noch bei euch? Bin ich euch denn verwandt? Wir sind einander doch so fremd!«
Bald scholl ihr Spiel gedämpft durch die Wände herüber. Der seligheitere Mozart flötete aus seien Himmeln herab, der grimme Beethoven drohte aus der Hölle auf. Die drei Schwestern versanken in den geheimnisvollen Abgrund der Musik, versöhnt mit der Welt.
*
Cham feierte allsommerlich ein kleines, trauliches Fest: in einem Fenster der Propsteigasse wurde in einer Nacht ein schwelgerisch blühender Kaktus zur Schau gestellt, und die Leute der Stadt kamen und bewunderten die große, traumhaft reich geformte Blume und freuten sich ihrer und redeten Tage lang davon wie von einem weltgeschichtlichen Ereignis.
In einer Wallfahrtsnacht schlichen sich Marianne und Christa heimlich von Püdensdorf weg. Denn sie wussten, Lisabeth, die alle beherrschte, hätte ihnen in ihrem Adelsdünkel nie erlaubt, eine Blume zu besuchen, die sich in einem bürgerlichen Haus entfaltete.
Es war eine laue, angenehme Nacht, die Leute wandelten in der Propsteigasse auf und ab und drängten sich vor dem Fenster, darin die große Blüte zwischen zwei brennenden Kerzen wie ein Heiligtum zwischen wachsamen Edelknaben ausgestellt war. Die Schwestern sahen sich das wundersame Gebilde an, die zackige Ringmauer des Kelches, die atlasschillernden Blütenblätter, die Fülle der zarten, seidenen Staubfäden, die Narbe, di in ihrem verästelten Reichtum förmlich eine Blüte für sich war. Es war, als müsse ein glutfarbener, riesiger Falter aus der Dunkelheit flattern, dieses einsame Prunkwesen zu küssen, daraus zu trinken und sich daran zu berauschen.
Während Christa die fremde Schönheit dieses Wunders der einen Nacht mit ruhig sinnendem Auge betrachtete, schauderte Marianne vor der Blume zurück, die nur dem Geheimnis ihres Samens blühte, die lockte, ohne eine Erfüllung zu finden.
Die Blüte hatte die in der Einsamkeit des Wiesenschlosses hoch aufgestaute Neugier der beiden nicht völlig zu befriedigen vermocht, und so streiften sie, angeregt durch die ungewohnte Freiheit und durch eine ferne, liebliche Nachtmusik, durch belebte und verödete Gassen, und Marianne wurde übermütig und klopfte im Vorübergehen an ein verhangenes Fenster.
Bald merkten sie, dass zwei junge Leute sie verfolgten. Christa wurde ängstlich, und sie schlug der Schwester vor, sich in einem Hausflur zu verstecken, bis die Verfolger vorüber wären. Marianne aber verlachte ihre Bedenken. Warum sollten sie nicht auch einmal ein harmloses Abenteuer wagen? Und sie warf ein leises, girrendes Lachen als Köder nach den zwei Männern aus und wusste es einzurichten, dass diese sie im Stadttor einholten.
Die jungen Leute hatten schon längst erraten, wer die beiden leicht vermummten weiblichen Wesen waren, sie zogen höflich die Hüte und baten, es möge ihnen gestatte werden, die gnädigen Fräulein auf der einsamen Straße zu begleiten und gegen Wegelagerer und fahrende Geister zu beschützen. Sie waren die Söhne geachteter und wohlhabender Bürger, beide Kaufleute und unverheiratet, der eine hieß Michael Preißler; der andere, Hans Staudigl, war etwas verrufen wegen seiner vielen Liebschaften, die er leicht einging und ebenso leicht wieder löste.
Christa erlaubte ihnen mitzugehen, doch sollten sie hundert Schritt vor dem Schloss bei der Kapelle des verspotteten Heilands mit dem Mooskolben sie verlassen. Lisabeth durfte nichts erfahren.
Michael Preißler schritt ehrfürchtig und ein klein wenig befangen neben Christa dahin. Sie kannte ihn wohl, hatte sie doch mit ihm schon manches Geschäft abzuwickeln gehabt, und sie wusste, dass er ihr zugetan war, ob er auch nie darüber eine Silbe verloren hatte. Er begann zu erzählen, dass sein Vater sich auf den Altenteil zurückziehen wolle und das große Handelsgeschäft auf ihn, den einzigen Sohn, übergehen werde, er beschrieb sein künftiges Heim und zählte die Liegenschaften auf, die ihm nun bald gehören sollten, und brachten schließlich herfür, dass er eine gute, verständige Hausfrau suche, und von der Dunkelheit kühn gemacht, erinnerte er Christa, wie er sie, nach langer Wanderschaft heimkehrend, an der Schwelle der Heimat getroffen und ihr Blumen geboten habe, und gestand, dass er sie jahrelang heimlich beobachtet habe und sich kein größeres Glück wünsche, als sie in Ehren heimführen zu können.
Christa überlegte lange, was sie erwidern solle, ohne Preißler zu kränken. Sie wusste, dass eine Ehe mit dem ruhigen, klugen, lebenstüchtigen Mann neben ihr wie der Lauf eines freundlichen Zwiegestirnes sein würde, friedvoll und sorglos, und so gern hätte sie auch kleine Kinder gegängelt und ihnen die feuchten Näslein geputzt und sie in den Schlaf gewiegt. Dennoch sagte sie: »Herr Preißler, ich kann Sie nicht heiraten.«
»Ach, Sie sehen wohl ebenso hochmütig wie Ihre älteste Schwester auf uns einfachen Leute herab!« meinte er traurig.
»Nein, gewiss nicht«, erwiderte sie, »aber ich muss bei meinen Schwestern bleiben, meinen Sorgenkindern.«
Er seufzte hart auf. »Ihre Schwestern sind schuld, wenn Sie sich einmal werden ganz verlassen fühlen«, sagte er. Da bat sie: »Seien sie meinen armen Schwestern nicht böse!« Und dann gingen sie ohne Worte nebeneinander hin.
Das andere Paar säumte weit hinter ihnen. Berechnend hatte Hans Staudigl das Gespräch auf die köstliche Blume, die sich nur der Nacht voll und hingebend öffnet, zu lenken gewusst und damit die schwärmerische Begleiterin in eine seine Wünschen günstige Stimmung versetzt. Und die silberne Brandung des Mondscheins auf der Wiese, die werbende, weiche Luft halfen ihm. Das Fräulein wehrte den stürmischen Küssen des Mannes nicht und war beglückt von seinen feurigen Beteuerungen, dahinter die Umrisse kommender seliger Stunden aufzuckten. Aber als er sie plötzlich rau anfuhr: »Komm!«, als er ihren Arm presste und, in ihr das gleiche hitzige Verlangen wähnend, sie in das Gebüsch zerren wollte, da übermannte sie die alte Furcht vor dem Mann und die Erkenntnis der schrecklichen Verwandtschaft der Liebe mit dem Tod. Und blitzartig tauchte in ihr die Erinnerung an ein Familiengeschehnis auf, das, ob auch noch so streng verheimlicht, ihr dennoch zugesickert war: die Mutter hatte sich in der Brautnacht vor dem jungen Gatten in ihrem Zimmer versperrt, und als er liebesrasend mit der Axt kam, die Tür zu sprengen, floh sie durch das Fenster und lief stundenweit in kühler Herbstnacht und in leichtem Gewand bis zu dem Haus ihrer Eltern.
Und jetzt fühlte Marianne in banger Schwüle den verbotenen Baum atmen, und einen Augenblick lang schloss sie willenlos die Augen. Dann aber stieß sie den Mann von sich, dass er strauchelte. Und sie jagte der Schwester nach, nahm sie bei der Hand und riss sie mit sich und schrie: »Lauf, lauf, Christa! Das sind Räuber und Mörder!«
*
Die Schwestern fürchteten die Besuche des Vetters wie das heilige Donnerwetter. Lisabeth räumte, wenn sie ihn über die Wiese daher reiten sah, alles Wertvolle vor ihm weg wie vor einer Elster. Denn er ließ immer etwas mitgehen: einen Humpen aus Eichenholz oder eine bauchige Zierkanne, die er gegen seinen Durst brauchte, oder ein Buch. Kürzlich erst hatte er sich eines Daumenringes bemächtigt, womit die Urväter gesiegelt hatten, das Wappen der Rauchenegge war dareingegraben.
Diesmal benahm er sich gegen seine sonstige Art sehr gemessen und still, er zeichnete mit tiefsinnig gerunzelter Stirn auf einem Blatt, und als Anna in der Angst, er entwerfe ein Zerrbild von ihr, ihm über die Schulter guckte, gewahrte sie, dass er sich in der Nachahmung des Namenszuges Napoleons übte.
»Sieh da«, spottete sie, »du schreibst seinen Namen schöner, als er selber es je getroffen! Wenn du nur auch seinen besessenen Willen hättest!«
Jukundin murrte: »Wie kann man in diesem träumerischen Deutschland und auf der belanglosen Halbinsel, die zu bewohnen ich verurteilt bin -- ich glaube, Europa heißt sie --, wie kann man da auf einen grünen Zweig kommen? Lauter Überlieferung, Zusammenhang, Herkommen, Erbkrankheiten! Mir ekelt davor. Mir ekelt überhaupt vor dieser gebundenen, freiheitlosen Welt, darin selbst die Gestirne an Gesetze gefesselt sind und das ungeheure Nichts von Satzungen gehemmt wird. Überall Zwang, überall Zäune! Und kein Gott, der sie zerbricht! Und unsere Zeit? Was ist noch Großes darin?«
»Wo hinaus soll das alles?« lauerte Lisabeth.
»Seit der französische Kaiser tot ist, gefällt es mir in Europa nimmer.«
»Und da willst du dich erschießen?«
»Ich will hinüber nach Amerika. Und ich schwöre dir, Lisabeth, dass ich drüben arbeiten und sparen will. Ich will Büffel jagen, mit Pelzen handeln, Gold graben. Ich werde bald reich sein.«
»Warum gelobst du das mir? Was habe ich damit zu schaffen?«
»Weil du und deine Schwestern mir die Mittel zu einem Anfang drüben vorstrecken sollet!«
»Ach so!« sagte Lisabeth gedehnt. »Wir werden uns zu beherrschen wissen.«
»Soll ich auf der Ofenbank hinwerden am goldenen Aderleiden?« brauste er auf. »Wozu braucht ihr das viele Geld? Wollt ihr es euerm Kater vererben oder dem Kanari?«
»Du irrst dich, Vetter. Wir sind verarmt. Das Wenige, was wir noch haben, brauchen wir für unser Leben.«
Da fuhr es ihm heraus: »Ach, was braucht den so eine alte Jungfer?!«
Lisabeth schnellte steil empor. O dieses zermalmende, unbarmherzige Wort! Sie hatte es kommen sehen, doch nicht gar so bald. War es schon so weit mit ihr?
Sie zeigte dem Vetter die Tür.
Verdutzt zog er sich zurück.
Die Schwestern saßen eine Weile wie vom Donner betäubt.
»Er hat das Kind beim rechten Namen genannt«, flüsterte endlich die Bucklige. »Uns allen haftet schon ein vergrämter Zug an dem Mund. Wir müssen uns langsam in unser Schicksal fügen. Wir alle vier.«
*
Jukundin zeigte sich nun lange nimmer in dem Schloss. Daran war beileibe nicht Reue über das böse Schimpfwort oder Scham oder ein böses Gewissen schuld. Er hatte eine andere Ursache.
Alles, was von seinem Gut gerüchtweise nach Püdensdorf herüberklang, lautete peinlich. Es hieß, dass ein Freund aus Jukundins jungen Jahren, ein Wiener, in Ottmanning angekommen sei, den der Vetter als seinen Verwalter anredete. Jukundin wollte durch ihn sein verwahrlostes Gut in die Höhe bringen. Seine Wälder waren so lange dicht und unberührt geblieben, als darin der alte, verknorrte Förster spukte, den ihm Tante Seraphita hinterlassen hatte. Der hatte keinen Baum abschlagen lassen und mit seinem neuen Herrn um jede Tanne gerauft. Als er aber in die ewigen Jagdgründe hinüber gewechselt war, fiel ein Stamm um den andern. Denn Jukundin brauchte Geld.
Der Verwalter Leopold Gleißner begann sofort mit dem Bau einer zweistöckigen Scheuer, die höher werden sollte als das Schloss Ottmanning, denn er hoffte sich von seinen neuen Einführungen so ägyptisch fette Ernten, dass die altwürdige Holzscheuer nimmer genügte. Die Scharwerker schüttelten über ihn die Köpfe, ansonst waren sie mit ihm zufrieden, denn er ritt ihnen nicht so teuflisch am Genick, wie es der alte Förster getan hatte, und sein Sprüchlein war: »Leben und leben lassen!«
Jukundin überließ nun alles dem neuen Verwalter, auch die Geldgebarung, und widmete sich nur noch seinem Reitpferd und den zwei bildhübschen Schwestern Gleißners, die dieser mitgebracht hatte. Es war unbeschwertes Wiener Blut, und Jukundin liebte die beiden in gleichem Maße. Da ging es gerade nicht klösterlich zu auf Ottmanning, ein Fest ums andere wurde gefeiert, und man trank und trällerte und tanzte, und die hübschen Schwestern Franzi und Resi bekamen schlanke, falbe Pferde und schmucke Reitkleider, und hernach wurde ausgeritten und ausgefahren und tief im Wald auf grünem Moos gespeist, Kerzen brannten auf den Felsen, der Verwalter spielte weich und buhlerisch dazu die Geige, und am nächsten Tag stand man erst zu Mittag auf.
Auf Püdensdorf saßen die vier Basen schwarzmütig und besorgt beieinander. Wenn da nicht bald Ordnung geschafft würde, konnte der leichtfertige Vetter betteln gehen. Er war ein unartiges, sorgloses Kind, man musste ihn warnen. Und die vier beschlossen, ihn heimzusuchen und in seinem Haus reinen Tisch zu machen.
Franz musste sie nach Ottmanning fahren. In dem veralteten Wagen, dessen Kasten wie eine Wiege schaukelnd in den Federn hing, saßen sie, schwarz angezogen und mit strengen Mienen, als wollten sich Gerichtstag halten. Es war trübes Wetter, der Regen lauerte, der Himmel war verschlossen und voller Absage, die Vögel schmollten und hockten niedergeschlagen und stumm in den Zweigen.
Die Kutsche holperte über die schlechten, steinigen Fahrwege und rumpelte mit mächtigem Getöse über bröckelnde Brücken, und als sie in einer Waldgasse um die Ecke bog, kam ihr hurtig der Ottmanninger Jagdwagen entgegen, Jukundin kutschierte, ein junges Frauenzimmer auf dem Schoß und ein anderes ihm lüstern angeschmiegt.
Lisabeth zückte die Stielbrille, ihr Gesicht versteinerte. Der Unverschämte aber schüttelte die zwei Dämchen nicht ab, sondern schien sich jetzt in seinem lästerlichen Zustand doppelt wohl zu fühlen, da er sich ertappt sah. »Küss die Hand! Küss die Hand!« Viermal rief er es herüber, dass sich ja keines der Bäslein benachteiligt fühle. Und der Jagdwagen flog vorüber, und eine lachende Stimme rief: »Eine Arche!« Und ein weißes Tüchlein flatterte und winkte.
Die Freifräulein begehrten nimmer weiter, Franz musste sie sofort auf einem andern Weg wieder heimkutschieren.
*
Am nächsten Tag kam Jukundin mit seiner lockeren Gesellschaft angefahren.
Anna flüchtete sofort, sie wollte um keinen Preis mit den Wienern bekannt werden.
»Ihr habt mir gestern das Vergnügen eures Besuches erweisen wollen«, sagte der Vetter zu den Fräulein, die ihn im Ahnenzimmer erwarteten. »Leider war ich nicht daheim. Heute erwiderte ich eure Aufmerksamkeit. Darf ich meinen Verwalter vorstellen? Herr Leopold Gleißner, ein anerkannter Tugendbold, ein Schlaumeier, vorn und hinten beschlagen!«
»Du Hallodri, musst du mich schwärzer machen als ich bin?« meckerte der Verwalter lustig. Er war ein fetter, doch beweglicher Mensch, kahlköpfig, die Brauen ferkelblond, die Augen ferkellistig, die Nüstern breit und hoch und offen wie ein Mops. Das seichte Lächeln an seinen Lippen wurde nicht müde, er bot es einem jeden und gewiss auch denen, die er hasste.
Er küsste Mariannen die Hand. Als er an den beiden andern die gleiche Artigkeit anbringen wollte, hielten diese die Hände so entlegen, dass er davon absah.
»Was habt ihr gegen den Poldel?« zürnte Junkundin. »Er ist mein treuester Freund. Und zu wirtschaften versteht er, der alte Fuchs! Lisabeth, Christa, macht euch gut mit ihm!«
Dann winkte der Vetter seinen zwei Schätzlein, die in lustiger Neugier auf der Schwelle waren stehen geblieben. »Kommt doch, Kinder! Fürchtet meine lieben Bäslein nicht! Sie sind viel freundlicher und netter als sie ausschauen. Komm, Franzi! Komm Resi! Und versucht euern schönsten Knicks!«
Die Püdensdorferinnen waren höchlich unangenehm davon berührt, dass ihr Verwandter sich mit den dahergelaufenen Leuten duzte, denen man es sofort ansah, dass ihre Heimat der abenteuerliche Zufall war. Lisabeth und Marianne nahmen darum eine eisige Stellung der Abwehr ein, als die fremden Mädchen anmutig vor ihnen knicksten, und nur Christa brachte es nicht übers Herz, sie so feindlich abzulehnen, und sie reichte ihnen die Hand.
Das Gespräch kam schwer in Gang. Die gute Lebensart der Freifräulein verdeckte nur wenig ihre Abneigung. Sie taten äußerst zurückhaltend. Der Verwalter suchte eine Zote zu erzählen, scheiterte aber damit an den frostigen Gesichtern.
»Wo ist Anna?« fragte Jukundin. »Ihr sperrt sie wohl in eine Truhe, wenn Besuch kommt?«
»Sie hat Kopfgicht«, sagte Lisabeth kurz.
Die Wienerinnen spähten öfters nach den Ahnenbildern und baten um die Erlaubnis, sie näher besichtigen zu dürfen. Lisabeth gewährte es mit stummem Nicken.
Da fragte Franzi den Vetter: »Du, Jux, wer ist denn der närrische Herr dort?« Sie deutete auf ein Gemälde, dessen Held das Gewand eines Gecken des sechzehnten Jahrhunderts trug, zerschnitten und zerhauen vom Barett bis herab zum Schuh.
Jukundin erwiderte feierlich: »Das ist unser Ahne Alram Wolfheinrich. Ich habe einmal die Schlitze seines Wamses gezählt, zwölfhundert waren es, und am Rücken wären wohl ebenso viel zu finden. Sein Schneider hatte zu schaffen. Diesem himmlischen Mann bin ich nachgeraten.«
»Du bist viel fescher als er«, schmeichelte Resi. »Und wer ist der Dicke dort?«
»Ihr seht ihn in Plattenausrüstung und Ehrenkette prahlen, den Helm spießig wie ein Stechapfel, die Linke auf dem Schwertknauf. Sein Name sagt nichts von ihm, drum sei er verschwiegen. Doch seine Taten seinen gerühmt. Er schlug mit einem Faustschlag einen Ochsen, er fraß ihn auf einem Sitz auf. Er pflegte an einem Tag sieben geräucherte Rindszungen zu vertilgen und zum Nachtisch einen ganzen Schafbauch. Ein Gelehrter ließ ihm zum Zwecke der Forschung ein Senkblei in den Magen hinab, es fand keinen Grund. In hohem Alter wurde der Ahne dickblütig und schwermütig vom Genuss allzu vielen Ochsenfleisches. Ochsenfleisch verdaut sich mühsam. Friede seiner Asche!«
Jukundin wies auf das Bild eines Pilgers mit Schattenhut, Muschel, Stab und Kürbis. »Der ist fünfzehnmal in Santiago di Compostella gewesen, auf seiner letzten Wallfahrt ist er verschollen. Er ist entweder ein sehr frommer Herr oder ein arger Sünder gewesen, der die weite Bußfahrt vonnöten gehabt.«
Der Vetter zeigte dann noch eine Reihe Männer mit Schwedenbärtlein, Perücken und Zöpfen und auch etliche Frauen, die unzugänglich, streng und gelangweilt herniederblickten.
»Hu, gespenstert nicht eines von diesen Ahnfräulein? Fragte Franzi mit drolligem Entsetzen.
»Der einzige, der auf Püdensdorf umgeht, ist dort das zopfige, gutmütige Männlein. Wir wissen nimmer, wer es gewesen und wie sein Bild da hereingekommen ist. Er heißt Vetter Paul und ist ein harmloser Geist.«
»Nein«, sagte Resi, »in diesem Schloss könnte ich nicht leben!«
»Wir leben schon über dreihundert Jahre hier«, sagt Lisabeth hochmütig.
»Aber in der Nacht, wenn es oben am Dachboden in Pantoffeln klabastert und Schritte durch den Gang schlurfen!« rief Resi. »Auch dem guten Vetter Paul würde ich nicht trauen. Gnädigstes Fräulein, ich würde mich fürchten, ohne Mann da zu hausen.«
»Warum haben Sie eigentlich nicht geheiratet, gnädigstes Fräulein Lisabeth?« fragte Franzi. »Sie müssen doch einmal ganz hübsch gewesen sein. Und Sie, Fräulein Christa, Sie sollen doch eine gediegene Köchin sein. O leugnen Sie es nicht! Der Jux hat es uns verraten.«
»Ja, warum haben die gnädigen Fräulein nicht geheiratet?« wiederholte die Resi. »Es muss doch schrecklich sein, ledig zu bleiben. Unserer Mutter ihr schwerster Traum war, dass sie noch immer nicht verheiratet war und sich erst einen Mann suchen musste. Und sie träumte diesen Traum immer wieder, ob sie auch die Stube voller Kinder hatte.«
Die Püdensdorferinnen ließen die Flut der Fragen und Reden über sich ergehen, ohne mit einer Wimper zu zucken.
»Warum bist du einschichtig geblieben, Poldel?« lachte Junkundin.
Der Verwalter erwiderte: »Du wirst meine Gründe billigen. Ich möchte weder durch eine schöne noch durch eine hässliche Ehefrau die Augen anderer auf mich lenken. Auch bringt eine Heirat neue Verwandte, und angeheiratete Verwandte sind gewöhnlich Neider und Anfeinder, kurz -- mit Verlaub! -- Gesindel! Ein wohlerfahrenes Sprichwort -- Jux, es ist durchaus nicht auf dich gemünzt -- ein Sprichwort sagt: ‚So viel Schwäger, so viel Spieße!' Und hernach kommen gar noch Kinder und hängen einem an der Brieftasche. Und schließlich die Windelwirtschaft! Gott bewahre mich davor!«
»Du treibst das Leben wie eine Kunst«, lobte Jukundin.
Franzi rückte näher an Marianne heran. »Wissen Sie, was ich gar so gern sehen möcht'? Die Brautwäsch' in dem Schloss da. Mein Gott, vierfache Brautwäsch'! Ich bitte Sie gar schön, zeigen Sie mir die schönen Sachen!«
»Meine Schwester Anna hat den Schlüssel zu den Wäschetruhen. Sie ist krank. Wir wollen sie nicht stören«, erwiderte Marianne unfreundlich.
Franzis Wunschzettel war noch nicht zu Ende. »Gnädiges Fräulein Christa, Sie sollen gar so feine Lebernockerln kochen, hab' ich gehört. Gelt, Sie schreiben mir es auf, wie man sie zubereitet!«
Ehe Christa antworten konnte, fuhr Lisabeth schroff darein: »Unsere Kochanweisungen sind unveräußerlich. Es sollen nicht alle Leute dasselbe essen.«
Betreten über diese beleidigende Schroffheit schwiegen alle und starrten in den spiegelnden Tisch und vernahmen das nüchterne Ticktack einer trägen Uhr, das früher unhörbar gewesen war.
Der Weltkünstler Leopold Gleißner fand einen Ausweg aus dem unbehaglichen Schweigen. »Wenn es erlaubt ist, will ich mir die Stallungen und die Scheuer ansehen. Wer sich mir anschließt, ist willkommen.«
Es begleiteten ihn aber nur seine Schwestern und Jukundin. Die Freifräulein entschuldigten sich.
Sie besichtigten die Wirtschaftsgebäude, und der Verwalter gefiel sich in weitschweifigen Erklärungen, er fand alles veraltet und vernachlässigt und weissagte den nahen Einsturz der Scheuer. Der Knecht Franz ballte hinter ihm die Fäuste.
Dann schritten sie über die Schlossbrücke in die Wiesen hinaus. Es war eine gewaltige Grasfläche, die sich, nur von geringem Buschwerk durchsetzt, längs des Regen fast bis vor die Tore Chams hinzog. »Wiese, Wiese, nichts als Wiese!« gähnte Franzi. Ihr Bruder entwarf sogleich einen großzügigen Plan zur ersprießlichen Ausnützung der Fläche, auch dachte er daran, den nach Süden gewendeten, anrainenden Galgenberg mit Wein zu bepflanzen, da die Anhöhe ohnehin nimmer ihrem alten, hochnotpeinlichen Zweck diene, und er verflog sich in rasch aufschäumende und sofort wieder verdunstende Pläne.
Sie kamen hernach zu der Kapelle, darin der zergeißelte, gestäupte Herrgott in seinem Elend saß, ein Spott der Welt. Eine empfindliche Seele hatte dem Holzbild ein Hemd angezogen, weil sie seine Nacktheit nicht vertrug, ob diese auch blutig war.
»Das hat die Bucklige getan«, sagte Jukundin, »sie macht aus der Not eine Tugend und ist schamhaft geworden.«
Die Gesellschaft verabschiedete sich bald von dem ungastlichen Schloss, in dessen Luft etwas Gezwungenes, Kaltes lag.
Im Vorhaus wurde der Verwalter verwegen und kniff Marianne heimlich in den Arm, wofür er eine halb strafenden, halb verführerischen Blick einheimste.
Als die ungebetenen Gäste zum Tor hinaus waren, rief Lisabeth in höchster Erregung: »Das also auch noch! Das boshafte Volk erkeckt sich, und zu besuchen! Diese ungezogenen Weibsbilder! Was für eine Kinderstube mögen sie gehabt haben!«
»Sie sind losmäulig und flach«, sagte Marianne. »Doch ihr Bruder ist ein Weltmann.«
»Was? Dieser Mensch, dem der Schuft auf die Stirn gezeichnet ist?« empört sich Lisabeth.
»Er ist ein gesetzter, erfahrener Mann«, erwiderte Marianne. »Eben hat er mir die Heirat angetragen.«
»Und du hast diese namenlose Keckheit geduldet? Und hast ihn nicht mit dem Hund davon hetzen lassen? Hast vielleicht diesem zweifelhaften Ritter gar noch Hoffnungen erweckt mit deiner Liebäugelei?!«
Marianne packte die erzürnte Schwester bei der Nase und schüttelte sie heftig. »Ei, du neidest mir ihn!«
*
Lisabeth wurde schwindelig, als sie sich an einer harten Brotkruste, die sei sparsamkeitshalber nicht hatte verderben lassen wollen, einen Zahn zerbrochen hatte. In leidvoller Neugier schaute sie in den Spiegel. Die elfenbeinerne Reihe der Vorderzähne war schartig, entstellend klaffte die Lücke. Das Alter meldete sich mit diesem gebrochenen Zahn.
Sie betrachtete unbarmherzig scharf ihr Bild. Sie gewahrte die feinen Runzeln der erschlaffenden Haut, den müden Mund und die Enttäuschung in den Augen. Wie eine Ruine kam sie sich plötzlich vor. Wie waren doch diese Zähne einst glitzernd und gesund gewesen, im Bergwald hatte sie damit Haselnüsse aufgebissen. Und jetzt? Ach, in wenigen Jahren wird sie zahnlos sein.
Marianne schoss ganz außer Atem in das Zimmer herein und störte diese trüben Betrachtungen. »Wo steckst du, Lisabeth?« keuchte sie. »Ich suche dich schon lange. Denk dir nur, wer jetzt gekommen ist! Nein, du errätst es nicht!«
»Was weiß ich! Und was liegt mir daran!« sagte die Schwester. »Mich freuen Besuche nimmer.«
»Max ist gekommen. Der Freiherr Maximilian von Willmering!« frohlockte Marianne. »Der verwitwete Freiherr!!!«
Lisabeth hielt sich an dem Spiegeltischlein fest, als sie diesen Namen hörte. »Max? Was will der hier? Und gerade jetzt?« Mit dunkelrotem Gesicht erhob sie sich. Was gespenstert da noch in ihrem Blut?
»Wie siehst du aus?« schrie Marianne gedämpft. »Du bist irgendwie verändert. Um Himmels willen, dir fehlt ein Zahn!«
»Gerade jetzt musste ich ihn verlieren, jetzt, so Max kommt!« stammelte Lisabeth hilflos. »Sag mir, was soll ich tun? Soll ich Max nicht empfangen? Er darf mich nicht so verunstaltet sehen!«
»Geschwind, drück dir ein Tüchlein vor den Mund!« riet Marianne. »Du hast Zahnweh.«
Lisabeth riss in blindem Gehorsam ein Tüchlein aus einer Lade und presste es an die Lippen. Und flüchtig sah sie an sich hinab. Sie hätte sich in diesem Augenblick gern in einem andern Kleid geschaut. Auf Püdensdorf folgte man schon lange nimmer den Wandlungen der Mode.
Dann saß sie mit fiebrischen Wangen dem Mann gegenüber, der sie einst so sehr geliebt und der ihr dennoch entsagt hatte aus Angst vor den Stürmen des Herzens. Er war schöner und männlicher als früher, Kampf, Leiden und Erfolge schienen seine Stirn geadelt zu haben.
»Was führt Sie wieder einmal in unsere Einsiedelei?« fragte Lisabeth. Der Atem wollte ihr nicht aus der Brust.
Er hätte nun bekennen müssen, dass seit jenem schroffen Abschied im Garten kein Tag vergangen war, da er nicht an sie gedacht hätte, und dass nicht das Glück einer friedlichen Ehe noch die Freude an heranwachsenden, lieben Kindern die Erinnerung an die Geliebte hatte verdrängen können. Aber er blickte sie betreten an und zog im Geist eine Furche nach, die ihr die Stirn zerriss. Diese also war einst das weiße, zahnige, berauschende, unbarmherzige, wunderbare Ungeheuer gewesen! O Eitelkeit der Eitelkeiten!
Sie glaubte seine Gedanken zu fühlen und drückte das Tuch fester vor den Mund. Was half das? Er musste doch an ihrer Stimme erkennen, dass ihr ein Zahn fehlte.
Er wusste nicht, was er reden sollte. Die Ferne hatte ihm das Bild Lisabeths geadelt, in seinen sehnsüchtigen Träumen hatte er sie immer so strahlend geschaut, wie sie damals gewesen. Nun fand er ein verblühendes Weib.
Vielleicht war ihr Mund noch voll und fest und küssenswert. Doch war er nicht zu sehen, sie versteckte ihn.
»Was treibt der Freiherr Jukundin?« fragte er endlich. »Ist er schon aus den Flegelschuhen heraus?«
Sie erkannte an der Frage, wie fern er ihr war. Doch fasste sie sich und erwiderte: »Unser sehr ehrenwerter Vetter zeigt sich wenig bei uns.« Sie nannte schmückende Beiworte, weniger um sein gesunkenes Ansehen nach außen hin zu heben, sondern vielmehr um den guten Ruf der Familie zu betonen, den Jukundin gefährdete.
Dann sagte der Freiherr von Willmering: »Der französische Kaiser ist nun längst schon dahin. Es hat meines Zutuns nicht bedurft.« Es klang wie ein Vorwurf.
Und er hatte recht. Man soll Menschen, die man liebt, nicht so unbarmherzig erproben, dass sie darunter vergehen.
»Ich habe mich damals kindisch benommen«, entgegnete sie. Mehr nicht.
Er begann von den Kriegsjahren zu reden, von dem Tode seiner Gattin, von seinen Kindern, von seinen äußeren Verhältnissen. Sie spürte, dass er einer Aussprache über Dinge, die sie beide betrafen, auswich. Das war gut. Nur nicht zurückdenken, nur das Geschehene begraben sein lassen und nicht wühlen in der Verwesung!
Nach einer endlosen Stunde gesellten sich die Schwestern zu ihnen, die sie -- o, es hatte einen kupplerischen Beigeschmack! -- allein gelassen hatten. Kahle Redensarten wurden nun gewechselt.
Er erhob sich bald.
Lisabeth begleitete ihn über die Brücke hinaus.
Der Tag war unfreundlich und nasskalt. Erlengebüsche trieften. Zuweilen tönten die grämlichen, zürnenden Rufe eines Ackerers. Krähen krakehlten. Nebel zog auf. Treulose Sonne!
Lisabeth sah den verlorenen Freund in dem grauen Dämmer verschwinden. Ihr Herz war wie tot. Sie dachte an nichts.
Plötzlich aber fühlte sie sich hinab gerissen in den Unterstrom ihrer Gefühle. »Er hat mich verworfen, wie man eine sterbende Blume wegwirft und verschmäht«, klagte es in ihr auf.
Zaghaft rief sie seinen Namen, fürchtend, hoffend, er könne sie hören.
Aber ihr Ruf verscholl ungehört im Nebel.
Dann sah sie träumerisch die Narbe an ihrer Hand an. Was wollte sie noch von dem, der sich ihr jetzt durch die Flucht entzogen? Sie war doch dem Fremden, dem Geheimnisvollen verfallen, der sie mit seinem Biss geschändet hatte.
*
»Unser sehr ehrenwerter Vetter!« sagte Lisabeth. Es war dies eine müßige Anstrengung, da jedermann um den üblen Leumund Jukundins Bescheid wusste.
Er lud allerlei fragwürdiges Volk zu sich auf Ottmanning, mulmige Glücksritter, landverschriene Säufer und Schuldenmacher, Schmarotzer und zweideutige Frauenzimmer und vertoste mit ihnen die Nächte. Schlimme Nachrede, die Warnungen seiner Verwandten und die drängenden Briefe seiner Gläubiger erschütterten ihn nicht.
Als er hörte, dass im Kreis des heimatlichen Adels seine unverhohlene Weiberwirtschaft arg getadelt worden war, rächte er sich, indem er mit den Schwestern Gleißner uneingeladen in ein Fest auf Schloss Thierlstein eindrang und dort die Gesellschaft mit vorgehaltener Pistole in Schach hielt und zwang, einen Tanz zuzuschauen, den seine zwei Schätzlein halbnackt auf einem Tisch aufführten. Seither wollten die Edelleute mit ihm nichts mehr zu tun haben und sahen über ihn hinweg, wenn sie ihm irgendwo begegneten.
Einer der adeligen Nachbarn fand sich auf Püdensdorf ein und wies den Freifräulein einen Brief Jukundins, darin dieser zweimal nacheinander sein Ehrenwort gab, eine entliehene namhafte Summe binnen Jahresfrist zurückzuzahlen. Der Nachbar klagte: »Wenn er nur eines von den zwei Ehrenwörtern gehalten hätte, wäre mir geholfen.«
Lisabeth schmerzte es unsäglich, dass der Vetter immer wieder das blanke Wappen der Rauchenegge befleckte, und sie beschloss daher, den Unwürdigen in seiner Höhle aufzusuchen und ihm ins Gewissen zu reden und den Entgleisten wieder in die Bahn der Ehre und des Ansehens zurückzuleiten.
Franz fuhr sie nach Ottmanning. Selbst dieser geringe Knecht, der sich nur auf die Pferde verstand, wusste, wie es um Jukundins Wirtschaft stand, und er deutete unterwegs oft auf die kahlen Forstflächen und brummte: »Ja, ja, die Bäume versäuft er samt den Ästen!« oder »Ein jeder Bauernhof kann einen Lumpen ertragen, nur der Bauer darf keiner sein.« Lisabeth verwies es diesmal dem Knecht nicht, dass er so wegwerfend von einem Glied des Geschlechtes der Rauchenegge redete.
Das Schlösslein Jukundis lag wie schlafend mitten im lichten Tag. Tor und Türen standen offen, ein Dieb hätte hier leichtes Spiel gehabt. In dem Gebäude rührte sich nichts, es mochte noch alles in den Betten liegen oder schon ausgeflogen sein. Kein Diener war zu sehen.
Lisabeth fand den Verwalter auf einer Treppe hingestreckt. Er schnarchte dröhnend.
In dem Saal, wo nachts gehaust worden war, lagen umgestürzte Kannen und Stühle, der Fußboden war mit Lachen verschütteten Weines und mit Scherben edler Gläser bedeckt, die im Mutwillen zerschlagen worden waren.
Sie stand vor dem Schlafzimmer des Vetters. Weil ihr ekelte, die Türschnalle mit ihrer reinen, weißen Hand anzufassen, drückte sie sie mit dem Ellbogen nieder.
Der Vetter lag in Kleidern und Schuhen in dem verwüsteten Bett, den Mund geifernd offen, das Haar zerrauft in der Stirn, das Gesicht hochrot, als wolle er einen Schlaganfall erleben.
Lisabeth stieß ihn mit dem Sonnenschirm an. »Trunkenbold!« rief sie.
Er fuhr auf und stierte sie an, als habe er sie noch nie gesehen. Es währte lange, ehe er sich zurechtfand. »Schön, schön von dir, Liesel, dass du dich des verlumpten Vetters erinnerst!« murmelte er. »Hol dir eine Flasche Wein!«
»Das sollte Tante Seraphita sehen!« stöhnte die Base. »O, wie gehst du mit ihrem Eigentum um!«
»Lass die Toten schlafen!« sagte er. »Schick mir nicht Gespenster auf den Hals!«
Eine Flut von Vorwürfen entlud sich über ihn. »Schulden machst du und bezahlst sie nicht! So eine Schande! Dein Ehrenwort brichst du! Und der Umgang mit diesen -- diesen --, ich schäme mich, den diesen Weibern gebührenden Namen auszusprechen. Sie werden dich ins Unglück hineinreiten! Du bist ein Dummkopf, ein Narr! Und dein Verwalter? Draußen auf der Stiege liegt er wie ein Tier. Ein Dieb ist er, er bestiehlt und betrügt dich!«
»Geh, schimpf nicht über den Poldel!« bat Jukundin weich. »Er soll nicht der Sündenbock sein. Schuld ist das raue Land da. Da pflügen und säen wir unser Geld in den undankbaren Boden. Schau dir nur die dürren, borstigen Wiesen an, die kalten, unträchtigen Felder! Und jedes Jahr Schauer und Reif! In der Pfalz gibt es drei Bauernhöfe, der eine heißt Jammer, der zweite Elend, der dritte Not. Unsere Rittergüter haben schönere Namen, aber die Armut ist da wie dort gleich. Ach, wär ich weit von da! Wär ich drüben in dem freien, fruchtbaren Amerika!«
»Unser Land las ich nicht schelten«, erwiderte Lisabeth. »Und du könntest herüben ohne Sorgen leben, wenn du nur ein wenig spartest.«
»Sparen? Das auch noch?« wunderte er sich. »Bis jetzt hab ich noch keine Zeit dazu gefunden. Und bin ich denn schon ein Murmelgreis, dass ich mir Abbruch tun soll?«
»Und dein fürchterliches Leben!« fuhr Lisabeth fort. »Du treibst ja die reinste Doppelweiberei. Überall heißt dein Schloss jetzt die kleine Türkei!«
»Nun, nun, Liesel, dein Vater hat sich, als er damals in Tunesien mohammedanisch worden ist, einen ganzen Harem gehalten. Und einmal hab ich ihn in München gesehen in einer feuerroten Kutsche daherfahren, sechs Esel vorgespannt und drei Weiber bei sich. Und was heißt ‚sittenlos', und was ist denn sittlich? Sittlich ist eine Handlung, wozu man säuerlich lächelt. Soll ich solch ein Säuerling werden, wo ich noch im süßesten Saft stehe? Soll ich der Welt eine gute Nacht wünschen und zu den Kapuzinern flüchten? Kannst du das von mir verlangen?«
Er richtete sich im Bett auf, und sein Gesicht zuckte, das Hirn schien ihm zu murren nach der durchschlemmten Nacht. er tastete nach seiner Stirn. »O weh, mein Tabernakel!« jammerte er.
Lisabeth band ihm in einer Anwandlung von Erbarmnis ein feuchtes, kühles Tuch um den Kopf, doch nicht gerade sanft.
Da fasste ihn das heulende Elend. »Es ist wahr, diese Gleißnerbande geigt mir den letzten Groschen ab. Mit mir wird es schlimm enden. O, ich unseliger Mensch! Warum hat man mich in die Welt gesetzt!« Er begann zu weinen.
Lisabeth schob ihm mit dem Fuß einen Spucknapf hin. »Da hinein lass deine Tränen rinnen!«
»Auch du verachtest mich!« murmelte er. »Wo soll ich jetzt noch einen Halt finden, wenn nicht bei meinen nächsten Verwandten?«
»Lass die großen Worte, Vetter! Ich hoffe von dir nichts mehr, keine Reue, keine Besinnung. Du machst uns nur Schande. Wir haben nichts mehr als unsern edeln Namen, und den ziehst du herab. Am besten wäre es, du verschwändest von diesem Schauplatz, wo du dich unmöglich gemacht hast. Geh übers Meer! Dein Gut ist überschuldet, es wird dir nichts übrigbleiben, wenn du es verkaufst. Und darum will ich dir Geld beschaffen, dass du drüben von Neuem anfangen oder es vergeuden kannst, wie es dir belieb.«
Er horchte hoch auf. »Endlich! War das eine langsame Gnade! Der Gedanke hätte dir schon viel früher einfallen sollen, und du hättest dir manchen Ärger mit mir erspart.«
»Lass das!« sagte Lisabeth. »Wir wollen rechnen. Deine Schulden müssen bezahlt werden, ehe du abfährst. Wie groß sind sie?«
»Was weiß ich!« sagte er.
»Mensch, hast du dir denn nichts aufgezeichnet?«
»Doch, doch! Auf Zetteln habe ich mir manchmal aufgeschrieben, was ich mir ausgeborgt habe.«
»Das ist schlimm. Wir werden auf die Ehrlichkeit deiner Gläubiger angewiesen sein. Du hast dein Geld nicht immer aus sauberen Quellen gefasst, und darum wird Betrug Trumpf sein. Gleichwohl! Jede Forderung muss bezahlt werden.«
»Alles?« sagte er. »Teufel, da geht ja mein Schloss mit aller Gehörnis darauf. Dann steh ich da wie der Junker Schlump.«
»Ich werde mit meinen Schwestern reden. Du wirst aus unsern Mitteln tausend Gulden zu deiner Reise erhalten.«
Er sprang aus dem Bett und wollte der Base um den Hals fallen. »Liebe Liesel, jetzt bin ich gerettet! Jetzt nur schnell ins Schiff und übers Wasser!«
Sie wehrte ihn ab. »Zuerst versprich mir, dass du den Verwalter entlässt!«
»Den Hund schmeiß ich auf der Stelle hinaus«, rief er begeistert. »Und seine Schwestern, diese Spinnen, diese Blutsaugerinnen, ich will sie auftreiben! Auf der Stelle! Du sollst sehen, wie sie fliegen!«
»Nein, nicht, während ich hier bin! Beginne das neue Leben nicht mit unwürdigem Lärm! Fertige die zwei ab! Bring sie ohne Aufsehen aus dem Haus!«
»Und das Geld?«
»Wir lassen es dir noch in dieser Woche von unserm Anwalt in Cham auszahlen, dass du sobald wie möglich abreisen kannst. Wir brauchen das Geld nimmer, wir sind absterbende Äste«, sagte Lisabeth mit gesenkter Stimme. »Jetzt aber wasch und kämm dich! Es ist beinahe Mittag. Ändere dich! Du bist vielleicht der Letzte aus dem Haus der Rauchenegge, darum trachte, dass unser Geschlecht nicht mig einem Schandfleck trübselig ende!«
*
Auf Püdensdorf war die Zwietracht eingekehrt, und die Stimmen der Zänkerinnen schollen wie ein verstimmtes, verdrießliches Geläute durch das Haus, das vormals immer in eine vornehme Stille gehüllt war. Anna und Marianne warfen Lisabeth vor, dass diese sie überredet habe, das ganze Barvermögen der Schwestern dem Vetter zu leihen, das jetzt unwiederbringlich wie in einen Abgrund geworfen sei. Lisabeth verteidigte sich, es sei nur mit Einwilligung der Schwestern dem Vetter ausgefolgt worden, und niemand habe vorauswissen können, dass dieser seien Beteuerungen und Gelöbnisse nicht halten und das Geld so schändlich vergeuden werde.
Junkundin ging arg mit dem Geld um, das ihm zu einem neuen, verständigen Leben hätte verhelfen sollen. In den Nächten taumelte er volltrunken durch Cham, seinen Verwalter auf allen Vieren neben sich her, und schrie wie ein tückischer Waldgeist: »Helft, helft!« Und wenn dann die Bürger, aus dem Schlaf geschreckt, das Fenster aufrissen und fragten, wie sie helfen sollten, da lachte er: »Helft mir das Geld versaufen!«
Lisabeth erkannte, dass das Opfer, womit sie sich und die Schwestern ihres Barvermögens beraubt hatte, vergebens gewesen sei, und sie suchte nun zu retten, was zu retten war. Jeden Sonntag ließ sie einspannen und sich in die Kleine Türkei hinüberfahren, und dort drang sie zu Jukundin vor, wie listig auch er sich verleugnen ließ, und hielt ihm eine heftige Predigt und zieh ihn des Wortbruches, weil er dem Verwalter und dessen Schwestern noch immer nicht den Laufpass gegeben hatte und weil er gar nicht an die Auswanderung zu denken scheine, und sie klagte, dass das sauer ersparte Püdensdorfer Geld an einen ganz Unwürdigen verschwendet worden sei und wie Schnee auf seiner Hand zerrinne. Jukundin aber schwur, böse Verleumderei sei, und dass nur sein gutes Herz ihm bisher verboten habe, die Geschwister Gleißer, die übrigens kreuzbrave Leute seien, so mir nichts dir nichts auf die Gasse zu setzen, und er schwur neuerdings, alles zu tun, was Lisabeth von ihm verlange, und binnen einem Monat die Meerfahrt anzutreten.
Doch waren dies nur leere Ausflüchte, und alles blieb beim Alten.
Lisabeth aber kam beharrlich Sonntag für Sonntag nach Ottmanning, heizte dem wortbrüchigen Vetter die Hölle und plagte ihn mit ihren Vorwürfen und Klagen.
Da griff er nach einem gründlichen Mittel, sie sich vom Leib zu halten.
Als das Freifräulein wieder einmal zu Jukundin besuchen fuhr, in Gedanken verloren und nach Worten suchend, die das Ehrgefühl des Vetters aufstacheln sollten, da hielt der Wagen plötzlich mit einem groben Ruck, der sein morsches Gerüst bedrohlich durchschütterte. Mitten in einem Hohlweg war eine tiefe Grube frisch aufgegraben. Zum Glück hatte Franz die Falle im letzten Augenblick wahrgenommen und die trabende Pferde zurückgerissen, sonst wären sie samt dem Wagen hinein geplumpst. Leichenblass starrte Lisbeth hinab in die Grube. »Umkehren!« rief sie. »Mein Lebtag fahre ich nimmer nach Ottmanning!«
Jukundin krönte seine Niedertracht, indem er die Wohltäterinnen öffentlich verhöhnte. Als sie nach Cham fuhren, sich mit ihrem Rechtsanwalt über ihre neue, ungünstige Lage zu beraten, sangen der Vetter und sein Verwalter ihnen aus dem Fenster eines Wirtshauses ein Spottlied nach.
»Hab mein Wage vollgelade,
voll mit alten Weibsen.«
Franz schlug auf die Pferde ein, dass sie zu rennen begannen und das schmähliche Lied nicht weiter die Herzen seiner Herrinnen verletze. Sie hatten keinen andern Ritter mehr, der sie beschützt hätte.
Kurz danach stellte sich Jukundin wieder im Schloss ein. Die Fräulein ließen ihn demütigend lange im Ahnenzimmer warten, ehe sie sich zeigten. Er benahm sich sehr höflich, wollte einer jeden die Hand küssen und bat, ihm seine Unart zu verzeihen.
»Du hast uns vor allen Leuten beleidigt«, rief Lisabeth. »Warum tust du das? Von uns hat du doch nur Gutes erfahren!«
Er erwiderte: »Ich weiß, es ist mein Fehler, dass ich niemals darüber nachdenke, was ich rede oder tue. Ich bin zu jeder Genugtuung bereit. Tragt mir nichts nach!«
Lisabeth sagte: »Wir verzeihen dir unter der Bedingung, dass du uns das, was du von unserm Geld noch nicht vertan hast, auf der Stelle zurückgibst und uns mit deinen Besuchen nimmer belästigst.«
»Wie ihr es wünscht!« brummte Jukundin, drehte sich schroff um und ging.
»Du hast ihn zu hart angefahren, Lisabeth«, tadelte Christa. »Nun haben wir ihm den Weg zur Besserung abgeschnitten. Er ist ernstlich beleidigt.«
Die Schwester hörte nicht auf sie. Von dunkler Unruhe getrieben, öffnete sich ein Geheimfach des Schreibtisches des verstorbenen Vaters. Mit ersticktem Schrei deutete sie hinein: »Er hat uns bestohlen!« Der Diamantenorden war verschwunden.
Franz musste sofort nach Ottmanning mit einem Brief hinüberlaufen, darin die Fräulein drohten,d en Diebstahl anzuzeigen. Der Bote sah Jukundin im Fenster liegen, den glitzernden persischen Stern an der Brust, neben sich die lachenden Wienerinnen.
Der Verwalter nahm ihm den Brief an. »Was will denn die Püdensdorfer Kammerzofe?« lachte er. »Der Freiherr ist nicht daheim.«
»Ei, lüg du nur zu!« murrte Franz. »Am Fenster steht er zwischen den zwei falschen Katzen!«
»Das kümmert dich einen Schmarren!« sagte der Herr Gleißer grob. »Scher dich zum Teufel!«
Nun wandten sich die Schwestern an ihren Anwalt um Hilfe. Der schrieb nach einer Woche die Neuigkeit, der Vetter sei mit seiner Gesellschaft spurlos verschwunden. Wahrscheinlich sei er auf dem Weg nach Amerika. Und Ottmanningwürde wohl im Winter auf die Trommel kommen, wenn der Besitzer sich bis dahin nicht melde.
*
Im Herbst kehrte Junkundin mit seinem Verwalter wieder zurück. Sie hatten in Wien äußerst vergnügte Zeiten verlebt. Das Geld war nun verjubelt. Die Schwestern Gleißer waren in der lebenslustigen Stadt geblieben, die Pfalz reizte sie nimmer zu Rückkehr. In der Pfalz habe Sankt Langweil ihren Altar, sagten sie.
Lisabeth lud den Vetter mit einem sehr heftigen Schreiben vor, sich zu rechtfertigen.
Er stellte sich. Christa empfing ihn an der Tür; ihr glühte schon leises Silber an den Schläfen. Sie begrüßte ihn mit einem traurigen Blick.
Die anderen Schwestern saßen finster und richterlich wie Nornen um den Tisch. Lisabeth sah streng auf sein verbeultes Hosenknie. Sein Äußeres war verwahrlost.
»Wo hast du den Orden?« herrschte sie ihn an.
»Ich habe mir ihn angeeignet«, erwiderte er leichthin. »Für euch Frauenzimmer hat er keinen Wert gehabt. Wo er jetzt ist? Was weiß ich! Ich habe ihn versilbern müssen.«
»Das Geld dafür kann dir nicht gut tun!« rief Marianne entrüstet.
»Geld ist Geld, liebes Bäslein. Es tut immer gut. Besonders wenn man gesund und gefräßig ist.«
»Du bist ein in Grund und Boden verdorbener Mensch!« fuhr Lisabeth auf. »Wie eingezogen, wie sparsam haben wir gelebt! Wir haben nichts genossen! Und du hast mir einem Wurf all unser Geld hinausgeworfen!«
»Warum seid ihr so dumm gewesen! Hättet ihr doch auch ein wenig vom Sündenbaum genascht! Übrigens dürftet ihr nicht gar so leer ausgegangen sein, eine kleine Liebschaft hat eine jede von euch gehabt.«
»Luft! Luft! Mir wird übel!« rief Lisabeth und sprang auf, als wolle sie sich entfernen.
»Es gibt keine Gemeinheit, die wir nicht von dir erfahren hätten, Jukundin«, sagte Anna. »Wen wir dich anzeigen, wirst du vor Gericht auf der Diebesbank sitzen!«
»Das haben mir Vater und Mutter schon an der Wiege prophezeit, dass ich einmal den Galgen bevölkere. Zeigt mich getrost an! Ich werde vor dem Richter alles eingestehen.«
»Und die Gesellschaft, die dir mundet!« rief Lisabeth. »Dieser Gleißer, der schändliche Zogenschmied, der Diebshehler! War würden die da droben dazu sagen?!« Sie tat eine Gebärde zu den Ahnenbildern hin, als wolle sie Gespenster zur Zeugenschaft aufrufen.
»Hör mir endlich einmal auf mit diesen Bauchdienern!« sagte er. »Bilde dir ja nicht ein, unsere Vorfahren seine ehrfürchtig einhergegangen wie Oblatenbäcker! Sie haben genau so wie ich gewusst, dass alles in der Welt um des lieben Bauches willen geschieht, und haben sich danach eingerichtet.«
»Das ist deine Weisheit!« rief Anna. »So spiegelt sich die Welt in der Jauche. Du hast es weit gebracht, du achtest nicht Gott und nicht Teufel mehr und nicht, was zwischen den beiden liegt!«
»Warum regt ihr euch so auf? Kann es nicht stiller von statten gehen? ‚Viel Geschrei und wenig Wolle!' seufzte der Teufel, da balbierte er eine Sau. Ich gebe zu, ich habe mich hämisch, hündisch und bübisch benommen. Aber bin ich ganz allein schuld an meinen Lumpereien? Ich bin ein ebenso vollblütiger Schuft wie vormals mein Erzeuger. Und meine Mutter hat eine Perlenschnur gestohlen, als sie mit mir schwanger gegangen. Und diebische Art erbt ins Geschlecht. Habt ihr mir noch etwas zu sagen?«
»Nein, nein!« rief Lisabeth. »Behalte unser Geld und tanz damit auf unserem Grab!«
Er verneigte sich lässig. »Also gehorsamsten Handkuss!«
Ihre Lippen wurden schneeweiß, sie beherrschte sich nimmer. »Dieb! Dieb!« schrie sie ihm nach.
Da klang etwas auf. Eine schöne gläserne Schüssel auf dem Tisch hatte einen Sprung bekommen.
Lisabeth sah schmerzlich nieder. »O, meine Stimme!« flüsterte sie. »Wie scharf ist sie geworden! Sie schneidet Glas.«
*
Nach den bitteren Erfahrungen mit Jukundin wurde Lisabeth sehr sparsam, ja geizig. Sie fing mit der Magd und den Schlosstagelöhnern zu rechnen an, sie sah genau auf jeden Kreuzer, schrieb die geringste Ausgabe auf und bewog die Schwestern, zu knausern und sich jedes Vergnügen zu versagen. Sie selber gönnte sich nichts und kam zu keiner reinen Freude mehr, weil in jeder der Wurm des Selbstvorwurfes saß. Der Geiz prägte sich in ihrem Gesicht aus und machte es befangen. Und sie wurde immer härter und herrischer und erlaubte keinen Widerspruch mehr.
Auf Püdensdorf waren nur noch die Tiere glücklich, denn sie wurden gehätschelt wie seit jeher. Allerdings mussten die starken Ackerpferde verkauft werden und einem mageren Gaul Platz machen, auch der Spitz kam außer Haus, doch die Nachkommen des Katers Miaulis und der alternde Hund Trenck blieben, und auf sie entlud sich viel Liebe. Und ein Kanari rollte und sang verhalten süß in seinem gelben Bauer und wurde verwöhnt und hielt die Freifräulein für seine Dienerschaft.
Auch Christa war nicht ganz unglücklich, ihr heiteres Wesen und die ständige Arbeit halfen ihr über vieles hinweg. Und dann war noch das Bild des Vetters Paul da, von dem niemand wusste, wer er gewesen. Seine gütigen, nachtblauen Augen folgten einem überall nach, wo immer man in dem Zimmer stehen mochte. Und nachts schlurfte er, angetan mi Schlafrock und Hauskäpplein, ein wollenes Tuch um den Hals, durch die Gänge, doch gar nicht so unheimlich wie andere Schlossgeister, sondern fürsorglich und beruhigend. Sein Dasein erfüllte jene, die ihn zuweilen wahrnahmen, Christa und der Knecht Franz, mit Trost. Diese zwei Begnadeten hörten das kärgliche, zopfige Geistlein oft aus ihrem Schlaf heraus durch die Räume wehen und wussten sich bewacht und das nächtliche Haus samt Mensch und Vieh einer wohlwollenden Macht anvertraut.
Marianne war noch immer das nutzlose Geschöpf wie einst, und obwohl der feine Flügelstaub langsam von ihrer Falterschönheit gewichen war, weilte sie doch stundenlang vor dem Spiegel, pflegte sich die Nägel, putzte sie rosig blank, lockte sich das Haar mit dem Kräuseleisen und schmückte den Hals, der nimmer so rund und schlank, sondern etwas fett und welk war, mit einem verblassten blauen Band. Sie merkte nicht, dass ihre Wangen leise erschlafften, dass die Haut ihres Gesichtes schon von vielen winzigen Fältlein zerrissen war. Sie hielt sich immer noch für jung.
Mi den Resten einstiger Festkleider altmodisch und feierlich aufgeputzt, saß sie im Empfangszimmer, wartete und seufzte. Sie hoffte, das Glück werde eines Tages aus den Händen des gnädigen Zufalls sinken, und der Rechte werde schon noch um sie kommen. Manchmal lächelte sie glücklich: »Das Ohr klingt mir, einer denkt an mich!«
Ihre Eitelkeit wuchs in demselben Maß, als die Schönheit sie verließ. Sie ließ sich auf ihrem Betbüchlein einen kleinen Spiegel anbringen, darin sie selbst während des Hochamtes die hübschen Augen spiegelte, die ihre dunkle Glut nicht verloren hatten.
Einmal beobachtete sie eine seltsamen Vorgang: ein lahmer Besenbinder, der im Armenhaus zu Cham wohnte, ein jämmerlicher Mann, wurde von seinem jungen, kräftigen Weib im Karren zu dem Fluss geschoben, wo die wilden Weiden wuchsen. Marianne schaute den beiden sehnsüchtig nach. Lisabeth ertappte sie bei diesem Blick und sagte höhnisch: »Da hast du das Elend. Wünsch dir es nicht!«
Lisabeth gebärdete sich immer stolzer und unnahbarer. Seit je hatte sie die Bauern mit ihren qualmenden Hälsen, unbehauenen Reden und schlechtgelüfteten Stuben nicht leiden mögen, und die schwülen, unreinlichen Ställe und die Düngerhaufen hatten sie immer betrübt und mit verhaltener Nase war sie daran vorübergeeilt. Als sie einmal eine schmutzige Kuh gesehen hatte, trank sie wochenlang keine Milch. Sie konnte sich nicht an ihre bäuerliche Umgebung gewöhnen, ob sie auch schon so lange darin lebte. Nun vermied sie noch ängstlicher allen Verkehr mit dem Volk, und in ihrem Adelsdünkel wies sie auch die leiseste Annäherung reicher bürgerlicher Frauen kühl zurück. Sie mischte sich nur dort unter die Leute -- und erlaubte das auch den Schwestern --, wo sie die Rolle der herrschenden Schlossfrau spielen konnte oder sich verpflichtet glaubte, ihren adeligen Stand zu vertreten.
*
Es schickte sich gerade, dass eine bescheidene Schauspielertruppe das benachbarte Chammünster mit ihren Ritter-, Trauer- und Schauerspielen unsicher machte, deren Handlung, ob die Stücke sich auch auf die Normandie oder die ungarischen Wälder bezogen, sie insgesamt in die wohlbekannten Schlösser und verfallenen Burgen des Chamer Gaues verlegten, um die Neugier zu reizen, das Schaugelüste zu entzünden und das Theater zu füllen.
Das geschäftstüchtige Haupt dieser Truppe schickte einen seiner gewandtesten Leute mit einer Einladung nach Püdensdorf. Der Mann war mit verschossener, ärmlicher Eleganz gekleidet, die blatternarbige Haut seines Gesichtes war durch vieles Schminken ganz zerstört, doch sein biegsames Auftreten, sein durchbohrendes Auge und die höfliche, schmeichelnde Stimme blieben bei den Freifräulein nicht ohne Eindruck. Er kramanzte eine gute Weile mit weitläufigen Anreden und Titeln herum, ehe er sein Anliegen hervorbrachte, dass sein Gesellschaft die wohledelgeborenen Reichsfräulein -- hier redete er eine jede besonders an, wobei er die Doppelnamen der vier Schwestern voll und feierlich ausklingen ließ -- untertänigst zu einer Aufführung des berühmten und zu Tränen rührenden Stückes »Genovefa« einzuladen sich erkühne und hoffe, dass sie dem Abend die hohe Ehre ihres Besuches geben würden. Dabei begleitete der Schauspieler seine Rede mit den ehrwürdigen und hochtrabenden Gebärden der Edelväter und greisen Könige und wiederum mit der zuckenden, verruchten Miene der Schurken und Ränkeschmiede, die er in buntem Wechsel viele Jahre hindurch dargestellt hatte in den Dörfern längs des Gebirges.
Da sagte denn Marianne, sie wäre nicht abgeneigt, das Schauspiel sich anzusehen, doch fürchte sie, dass etwas mit Flinten und Pistolen hinter der Bühne geschossen werde, und das würde sie sehr erschrecken, und vor lauter Angst vor dem voraussichtlichen Lärm würde sie zu keinem rechten Genuss des Stückes kommen. Darauf erwiderte der Schauspieler verbindlich, es sein alles vorgesehen, dass das Vergnügen der hohen Herrschaften nicht vermindert werde, und bei solch lärmenden Anlässen würde, um ein empfindliches, hochgeneigtes Ohr zu schonen, statt des vorgesehenen Schusses ein Säbelhieb oder ein ganz geräuschloser Messerstich angebracht.
Auch Anna sagte, sie wolle gern das Theater besuchen, doch dürfe in den Stück kein derbes oder unflätiges Wort fallen. Sie fürchtete, es würde Anstößiges geredet werden, um das rohe Bauernvolk zum Lachen zu bringen, und in diesem Falle würde sie sofort aufstehen und die Vorstellung verlassen. Daraufhin besann sich der Schauspieler eine Weile, räusperte sich und meinte, das einzige anrüchige Wort des Genovefaspieles gebrauche der Pfalzgraf Siegfried, und zwar hat er -- mit aller schuldigen Ehrerbietung zu melden -- zu rufen: »Ha, mein Weib ist eine Buhlerin!« Dieses grobe Wort werde aber auf Wunsch der vornehmen Zuhörer gewiss gemildert werden.
Als Christa den Schauspieler fragte, wie er heiße, erwiderte er, er sein auf den bürgerlichen Namen Wunibald Muckenschnabel getauft, im Volke und in Kunstkreisen hingegen werde er allgemein ‚Golo' gerufen nach jenem Bösewicht, dessen Rolle er heute abends den edelgeborenen Fräulein vorzutragen die Ehre haben werde und den er mit solch ausgesuchter Feinheit darstelle, dass es ihm nicht leicht ein anderer Künstler nachmache.
Als Wunibald Muckenschnabel nicht ohne Schwung abgetreten war, murmelte Lisabeth, dieser Mensch sei sehr zudringlich, und sie wolle der Unkosten wegen daheim bleiben, man müsse sparen, und übrigens sei das Spiel der Dorfkomödianten so albern, dass es sich für Leute ihres Standes gar nicht zieme, es mit ihrer Anwesenheit zu beehren.
Diesmal aber leisteten ihr die Schwestern keine Gefolgschaft. »Wir wollen wieder einmal unter die Menschen!« rief Marianne. »Wir versauern hier!« Und Christa sagte: Gönne uns doch den Spaß und die Tränen diese Rührspieles!«
»Tut, was euch gefällt!« erwiderte Lisabeth unmutig.«Ich bleibe daheim.«
Die Bühne war in einer von angenehmem Haugeruch erfüllen Scheuer aufgeschlagen. Der würdige Direktor empfing die drei Freifräulein und führte sie zu einer mit grünem Reisig ausgeschlagenen, stacheligen und nicht gar bequemen Ehrenbank ganz vorn an dem schwulstig und stümperisch mit Bugen und Wäldern und einem ritterlichen Jagdzug beklecksten Vorhang. Es wimmelte von schaulüsternen Leuten, und eine ältere Frau, wohl die Stammmutter der Truppe, nahm freundlich lächelnd das Eintrittsgeld ein und brachte es in einer blechernen Kasse unter. Heute war ein reicher Fischzug.
Die Vorbereitungen zu dem Spiel währten leidlich lange, und als Christa übermütig ein Zipfelchen des Vorhanges hob und in die geheimnisvolle Welt hineinspähte, bemerkte sie Herrn Wunibald Muckenschnabel, gemeinhin Golo genannt, er kramte eben vorsichtig das Donnerblech aus allerhand Gerümpel.
Dann hob sich der Vorhang, und unruhige Talgkerzen beleuchteten eine mit pfälzerischem Bauernhausrat einfältig ausgestattete Fürstenstube und wilden Wald und düstere Felsenhöhle, brennende Liebe und höllischen Hass, Treue und Unheil, Verrat und Verstoßung. Die Schauspieler spielten flink und fließend, zwei greise Ritter ausgenommen, die, wohl ein wenig schwerhörig, mehrmals um den günstigen Platz vor dem Versteck des Einflüsterers zu raufen schienen. Die dörflichen Zuschauer gaben sich ergriffen den Vorgängen auf den Brettern hin, und der rote Bösewicht, die himmelblaue Unschuld, die ritterlichen Kleider und besonders die hölzerne Hirschkuh auf ihren vier Rädlein wirkten stark. Die unzüchtige Rede, die Wunibald Muckenschnabel heute angedeutet hatte, unterblieb, auch wurde kein Schuss gelöst, obwohl die gräflichen Jäger mit tollen Pulverrohren ausgestattet waren, an deren zeitwidrigem Auftauchen sich niemand stieß. Dafür aber wurde der Fluch, den Pfalzgraf Siegfried über den hämischen Golo aussprach, mit einem Tusch untermalt, den die Ritter und Knechte, die gerade nicht auf der Bühne beschäftigt waren, mittels Trompeten und einer verdeckten Pauke ausführten. Schließlich wurde das Wiedersehen der getrennten Gatten mit einem rosigen Lichtschein begossen, was die allgemeine Rührung sehr erhöhte.
Der Golo hatte so wild und feurig gespielt, dass alles über seine bodenlose Schurkerei ergrimmt war und manche Bauernfaust sich ballte. Doch erweckte es ein erlösendes Gelächter, als sich ihm mitten in einer schwungvollen Gebärde der angepichte, brandrote Schnauzbart von der Lippe löste und wie ein welkes Blatt zu Boden wehte.
Nachdem sich die schmerzliche Spannung in wolkenloses Glück aufgelöst hatte und der elende Ränkespinner seinen Henkern ausgeliefert worden war, erschien Pfalzgraf Siegfried noch einmal vor dem Vorhang und verkündete, am übernächsten Abend werde das Raubritterstück »Kuno von Chareregg« oder »Der Triumph der Tugend« gegeben, darin ein Unhold und teuflischer Mörder naturgetreu geköpft werde, wozu die hochgeneigten Zeitgenossen höflichst eigeladen seien.
Als die Freifräulein über die Wiese heimgingen, gesellte sich der Golo zu ihnen, er hatte sich beeilt, aus seiner roten Bühnenpracht wieder in sein schlichtes Röcklein zu schlüpfen. Mit derselben girrenden Stimme, womit er die keusche Genovefa hatte berücken wollen, trug er den Fräulein der vorgeschrittenen Nacht wegen seinen Schutz an.
Sie nickten lächelnd und beglückwünschten ihn zu seinem leidenschaftlichen Spiel, und daraufhin fabelte er sogleich von rauschenden Erfolgen, die er in größeren Städten erfahren habe, bis die Falschheit und der Neid der Berufsgenossen ihm, dem Gefeierten, die Städte verekelt hätten. Nun befinde er sich auf dem stilleren Lande wohl, nur mangle ihm hier schmerzlich der Umgang mit gebildeten Menschen.
Er richtete seine Worte fast nur an Anna und zeichnete sie dadurch vor ihren Schwestern aus. Das verwachsene Fräulein war ganz benommen von der ungewohnten Huldigung eines Mannes, und wie der Mond so erschütternd schön herab leuchtete und die Welt zu einer Opernbühne verzauberte, da erhoben sich in ihrem Herzen dunkle, strömende Gefühle, wie sie in solch leidvoller Seligkeit die Bucklige nie gekannt hatte.
Der Golo drängte die drei, sie möchten sich das Trauer- und Tränenspiel »Kuno von Chameregg« nicht entgehen lassen, und als er merkte, dass sie vor der darin vorkommenden lebensechten Enthalsung eines Wüstlings Bedenken trügen, beruhigte er sie sofort, indem er ein Bühnengeheimnis entblößte und verriet, dass bei der Hinrichtung eine ausgehöhlte Rübe als Kopf und roter Rübensaft als Blut dienen werde.
Während seiner Rede berührte er einmal unversehens die Hand Annas. Er entschuldigte sich schüchtern. Sie aber fühlte lange diese leise Berührung wie ein Brennen nach.
Und in der Nacht träumte Anna: sie sei nicht bekleidet und auch nicht nackt, sie sei durchsichtig und ohne Leib, sie sei wie das Flimmern einer Schlangenhaut, wie das aufschimmernde Silber einer Woge und dann wieder glasklar; und ein fremder Mann griff hinein in ihren unleiblichen Leib, ohne ihn zu teilen, ohne sie fassen und halten zu können. In heißem Schrecken erwachte sie und schämte sich des Traumes, und eine gewaltige Sehnsucht wandelte sie an, ihrem missraten Körper zu entfliehen.
*
Das Eintrittsgeld, das die Schwestern beim Besuch des Raubritterstückes hatten zahlen müssen, war lächerlich gering, doch Lisabeth rechnete es ihnen immer wieder vor, bis es ihnen unverantwortlich bedeutend erschien und sie auf dieses Vergnügen verzichteten.
Der Verwachsenen fiel dies am schwersten. Sie war seit der Begegnung mit dem ältlichen Schauspieler verträumt und vergesslich und zog sich ganz in sich selber zurück. Oft entfernte sie sich von dem Schloss und ging den abendlichen, eisenschimmernden Fluss entlang oder lehnte an einem fahlen Weidenstumpf. Die Schwestern wagten sie nicht in ihrem veränderten Wesen zu stören, denn sie war sehr reizbar geworden und antwortete meistens mit Tränen.
Einmal besuchte sie den obersten Bergturm von Chameregg und freute sich dort einsam der Schönheit und des Zaubers des Zerfalles und vergaß, in der Unendlichkeit der Gefühle hängend, der Welt und der Zeit. Sie entfesselte ihr reiches Haar, so dass es ihr über den Rücken niederfloss und den Höcker bedeckte und verbarg. Auf dem Getrümmer rastend, den Schoß voller Blumen, wand sie sich einen Kranz um die Stirn. Dann stieg sie den waldigen Berg hinan und fühlte sich glücklich und schön.
Plötzlich presste sie die Hand an das aufstürmende Herz. Eine Gestalt in der grellbunten Tracht des ritterlichen Mittelalters, ein Mann, wie aus den Ahnenbildern zu Püdensdorf drunten gestiegen, trat aus den schattigen Baumstämmen auf sie zu. Der Atem versagte ihr. War es das Gespenst einer verklungenen Welt? Was sie selber zurückverwunschen in uralte Tage?
Es war mir Wunibald Muckenschnabel, der im Walde Bärlappstaub gesammelt hatte, Hexenmehl, ein notweniges Bühnenerfordernis, womit man bei besonders schauerlichen Auftritten das Leuchten des Blitzes nachahmt. Auch trug er ein Bündel bei sich, darin er einige duftende Steinpilze verhaftet hielt, die ihm unterwegs aufgestoßen waren.
»Sie haben mich erschreckt! Sie kommen daher wie aus einem Rittermärchen, Herr Golo!« stammelt Anna. Sein bürgerlicher Name fiel ihr nicht ein.
Er entgegnete nicht ohne Verlegenheit: »Unser Schneider muss etwas an meinem Anzug bessern, und indessen bediene ich mit dieser Tracht, darin ich häufig zu spielen pflege.«
»Sie passt Ihnen prächtig«, sagte Anna. »Es ist bedauerlich, dass die Männer sich heutzutage so nüchtern und farblos tragen.«
Darauf erwiderte er mit einem Feuerblick: »Und es ist auch bedauerlich, dass das weibliche Geschlecht sein Haar so selten offen in seiner natürlichen Pracht zeigt.«
Das Fräulein errötete. Der weiche, volle Wind, der das Laub zu leisem Rauschen bewegte, rührte an ihrem goldrötlichen Haar, ferne Glocken läuteten liedhaft durcheinander. Auf einem nahen Anger waren helle Blumen wie Gestirne verstreut.
Der Golo hub verhalten an: »Ach, in diesem kurzen Augenblick, wo mir ein gnädiger, unverdienter Zufall das Glück Ihrer Gegenwart beschert --.« Er brach ab, als sei er plötzlich auf einem schwindeligen Steig erwacht, als habe er sich auf einer überschwänglichen Kühnheit ertappt.
Und auch der Wind hielt inne, und die Bäume standen nachdenklich, und es war auf einmal eine müde, verführerische Stimmung rings.
Die beiden Menschen ließen sich auf dem Waldanger nieder und wussten lange nichts zu sagen.
Endlich nahm er sich ein Herz und begann: »Ist es nicht ein vermessener Frevel, dass ich, der geringe Mann, zu Ihnen, der Adeligen, der Unerreichbaren, den Blick aufhebe?« Er redete mit schwebender, bebender Stimme, als stünde er auf dem Schaugerüst mitten in einem schmachtenden Tugendspiel, und vielleicht waren dies Worte, die er einmal hatte auswendig lernen müssen, um sie in den Scheuern und Wirtsstuben den Bauern vorzutragen.
Anna fühlte den zärtlichen Wind wieder im Haar, die Tannen huben an zu flüstern. Sie sagte verwirrt: »Herr Golo, meinen Sie das ernst? Ich bin ja nicht schön. Sie wissen -- Sie sehen ja -- mein Gebrechen!«
»Das tut nichts«, sagte er einfach, »es ist ja nicht so arg.« Ihm fiel nichts anderes ein. Und er nahm ihr schönes Haar ehrfürchtig in die Hand und führte es an die Lippen.
Annas Herz, das so lange verschlossen gewesen, war jetzt wie von einer Springwurz aufgerissen, in ihrer Seele spannte etwas blaue Flügel und wollte sich erheben zu himmlischer Reise und den Leib mitnehmen.
Sie drückte ihm einen Kranz in das leise angegraute Haar. Dann deutete sie hinüber nach dem Gebirge, das in zerfließender Bläue der Wirklichkeit entrückt schien: »Golo, könnte ich Hand in Hand mit Ihnen in jene Berge wandern, wo uns niemand kennt! Dort würden wir einander die Schönheit der Welt zeigen und in menschenfernen Tälern rasten und unter bescheidenem Dach ganz einander leben.«
Er sah sie mit seinen durchdringenden Augen an und schwieg. Sie liebte sein Schweigen, denn es dünkte sie, dass Worte jetzt nur stören würden und dass Worte das Wesen des seligdunkeln Gefühles der Liebe nur erniedern, indem sie es erklären und umschreiben und es also dem Verstand ausliefern wollen, der es trübt.
Hernach aber machte sie sein Schweigen misstrauisch. »Warum reden Sie nicht? Fürchten Sie sich vor einem Gelöbnis? Spielen Sie mit mir? Heucheln Sie mir Liebe vor? Nein, ich glaube an Sie!« berichtigte sie sich leidenschaftlich. »Golo, ich habe noch nie das Vertrauen eines Menschen verlacht. Drum denke ich, Sie werden es auch nicht tun.«
Er schüttelte leise den Kopf und küsste sie. Schaudernd schloss sie die Augen.
Ein Specht trommelt, dass es weithin über den eindämmernden Wald scholl. Die Blumen verdunkelten sich. Irgendwo läutete ein schläfriger Mesner den Feierabend ein.
Anna erhob sich hastig. »Nun komme ich in der Finsternis heim, und meine neugierigen Schwestern werden mich fragen. Ich will ihnen sagen, ich sei im Wald eingeschlafen und erst spät erwacht.«
Arm in Arm und blumenbekränzt gingen sie ins Tal hinab.
Eine Bauernmagd drängte sich durch ein Gebüsch, sah die zwei und lachte grausam auf. Es war ein ungewöhnliches Bild: der närrisch gekleidete Komödiant und die Bucklige mit dem fliegenden Haar.
Die beiden lösten sich voneinander, sie nahmen die Kränze von den Stirnen, warfen sie in die Wiese und eilten fort.
»Wir müssen uns trennen, Golo«, sagte Anna. »Die Leute belauern uns. Schreiben Sie mir! Aber gleich, gleich! Mir ist jedes Warten schrecklich. Ich habe allzu lange warten müssen.«
»Abendstern meines Lebens!« flüsterte er.
»Schreiben Sie mir! Doch wohin? Ins Schloss? Nein, nein, die Schwestern dürfen nichts erfahren. Jetzt noch nicht. Schreiben Sie mir lieber nicht! Wir müssen andere Wege finden. Leben Sie wohl!« Sie riss sich von ihm los.
Alles federte in ihr, als sie dann den Wiesensteg allein dahin ging, eine nie erfahrene Leichtigkeit beschwingte sie. Wie Tanz kam es in sie. Und in überströmendem Glück kniete sie mitten auf den Weg hin.
*
Wunibald Muckenschnabel spazierte fortan täglich an dem Schloss vorüber, bedeckt mit einem hohen, weißen Zylinder, den er mit einem Band um das Kinn befestigt hatte, und gekleidet in eine blauen Frack, in blaue Hosen, eine weiße Weste und weiße Handschuhe. Er hatte es sich etwas kosten lassen. Ganz geckisch kam er daher.
Die eitle Marianne bezog diese augenscheinliche Huldigung sofort auf sich und erzählte in der leichten Verlogenheit, womit sie sich in den letzten Jahren lächerlich zu machen pflegte, allerlei schmeichelhafte Reden, die der Schauspieler ihr sollte gesagt haben.
Anna aber ging nur mehr mit aufgelöstem Haar herum. Die Wangen trug sie mit einer zarten, rosigen Schminke belebt, die Augen glänzten ihr überirdisch. In ihrem schönen Geheimnis fühlte sie ihr Leben erhöht und einer Erfüllung nahe.
Und Abend für Abend kauerte der Geliebte in einem Buschwerk und blies die Flöte wie ein schwermütiger Pan. Und die, der es galt, lauschte am Fenster und blickte in die aufbrechenden Sterne und wähnte, diese tanzten nach dem näselnden Spiel des teuern Mannes.
Schlief dann das Schloss, so schlich sie sich aus dem Haus, und die Verliebten saßen an dem stillen Fluss und führten empfindsame Reden und freuten sich der seligen Ruhe und Landschaft. Leuchtende, unendlich hohe Nachtwolken glitten langsam über den Himmel. Und Anna sagte wohl: »Lass uns in die Sternentiefen schauen und fühlen, wie du und ich und die Unendlichkeit uns rätselhaft umarmen!« Sie sprach viele Schöne und Befremdliche, was dem Schauspieler nie ganz klar wurde, und sie sprach es leise, als scheue sie die horchende Nacht.
Der Golo versicherte immer wieder, er wolle seinen missachteten Beruf mit einem angeseheneren bürgerlichen Amt vertauschen und sie dann heimführen. Und Anna schwur ihm, gegen ihre vom Adelsdünkel besessene Schwester Lisabeth anzukämpfen und, wenn nichts anderes helfe, von Püdensdorf davonzulaufen.
Wenn sie dann, eingeschlafen nach tapferen und feigen Gedanken, in ihrem Bette lag, suchte sie ein schmerzlicher Traum heim, der sich allnächtlich wiederholte und immer in derselben Bahn verlief. Sie sah den Golo hoch droben auf einer stolzen Bergspitze stehen und wollte zu ihm gelangen, ging aber immer im Kreis um den Berg, ewig in ein tückisches Irrgeleise gebannt, bis der Geliebte droben verblasste und entschwand.
*
Es hatte den Vetter Jukundin wieder einmal ins Haus geweht. Mit umgekehrten Hosentaschen trat er vor die Fräulein hin. »Da, überzeugt euch selber! In meiner Rentkammer ist kein Heller mehr. Leiht mir Geld, dass ich nicht fremde Leute darum anreden muss!«
Marianne, der noch jenes Schimpflied von Cham her in den Ohren klang, fuhr ihn an: »Hast du uns nicht schon genug ausgediebt? Nichts kriegst du mehr, du nimmersatter Geier!«
Er betrachtete die Aufgebrachte aufmerksam und sagte: »Dein Gesicht wird blau. Hüte die, du erlebst einen Schlaganfall! Schone dich! Dein Hals ist kurz. Kurzhalsige neigen zum Schlagfluss. Denk an unsern Großvater! Bums, ist er einmal umgefallen wie vom Donner getroffen! Drei Jahre ist er lahm und stumm gelegen; sein Testament hat er nur machen können, indem er mit den Augen gewinkt hat.«
»Dass es nur dich nicht einmal trifft, wie du es verdienst!« stöhnte Marianne.
»Ach, ich weiß, in diesem Haus gönnt man mir alles Übel!« seufzte der Vetter scheinheilig.
»Wie viel Geld brauchst du?« unterbrach ihn Lisabeth.
»Vorläufig nur fünfzig Gulden.«
»Da hast du zehn Gulden. Es ist das letzte Geld, was du von uns bekommst. Du jagst es ja ohnedies gleich durch die Kehle.«
Er steckte das Geld ein. »Ihr schnallt mich kurz, liebe Bäslein. Ich will doch die paar Gulden auf eine besonnene Weise verwenden. Ich kann doch nicht ohne einen Kreuzer Geld den Brautführer spielen bei der Komödiantenhochzeit.«
Lisabeth zog die Brauen finster zusammen. »Was für einen Unfug hast du wieder vor?«
»Nenne es nicht Unfug! Ich will als Zeuge walten, wenn das Reichsfräulein Anna Eleonora von Rauchenegg mit dem Lichtputzer einer Schmiere zum Traualtar schwebt.«
Anna stand wie eine entlarvte Verbrecherin, die Schuld war ihr von der totweißen Stirn abzulesen.
»Dir also gelten diese abendlichen Ständchen?!« fuhr Lisabeth auf. »Nur zu! Nur zu! Es wird immer schöner! An einen Komödianten wirfst du dich hin!«
»Dieser Golo!« lachte Marianne gereizt. »Dieser Mensch mit dem Armeleutegeruch! Dieses Gesindel kocht nur mit Knoblauch. Man riecht die Leute schon auf eine Meile.«
Die Bucklige aber heulte auf wie ein getretenes Tier: »Ich lasse mir von euch mein Leben nicht zerstören! Ich tue, was ich will!« Krachend warf sie die Tür hinter sich ins Schloss.
*
Nachts darauf trafen sich die beiden Liebesleute bei einem hohlen Weidenstumpf am Fluss. Anna fiel dem Golo in schmerzlichster Erregung um den Hals. »Jetzt müssen wir unser Glück verteidigen, Freund!« rief sie.
»Anna«, sagte er gedrückt, »es ist Herbst. Meine Truppe reist morgen mit Sack und Pack ab. Wir werden im einem Marktflecken an der Donau spielen.«
Durch ihre schleiernden Tränen sah sie ihn an. »Golo, du wolltest doch das unstete Leben aufgeben! Du wolltest dich doch um einen ehrbaren Beruf kümmern!«
»Ich habe es versucht«, murmelte er traurig. »Wer aber nimmt einen Komödianten zum Schreiber? Und zu anderen Dingen tauge ich nicht. Ich habe nichts gelernt.«
»Ich gehe mit dir«, schluchzte sie. »Es ist mir alles eins, was du bist.«
»Du bleibst«, sagte er unsicher. »Wir hätten nichts zu leben, mein Lohn reicht kaum für mich. Du musst warten, bis ich wiederkomme. Leider weiß ich, dass deine Schwestern mich verachten, weil ich nur ein Künstler bin. Und das macht mich hoffnungslos. Ich bin ein unglücklicher Mensch, mein Künstlertum ist mir zum Fluch geworden. O senkte doch der Tod die Fackel über mich!«
Er sprach dieses mit schauspielerischer Betonung und begleitete seine Worte mit einer Folge erklügelter Gebärden, Gebärden, die aus keinem Gefühl erwachsen waren und die darum kein Sinn erfüllte.
Dieser Mensch mit seiner hochtrabenden Rede widerte Anna auf einmal an. Was hatte sie mit ihm gemein?
Aber dann brach alle Sehnsucht eines verlorenen, unbefriedigten Lebens noch einmal in ihr aus. Sie klammerte sich an ihn, sie bettelte: »Nimm mich mit! Nimm mich mit!«
»Ich will es mir überlegen«, sagte er zögernd. »Lass mich nachdenken!«
»Nachdenken willst du erst, Golo? Denken?! Denken, wo nur das Gefühl sprechen soll?! Denken, wo jeder Blutstropfen erlöst aufschlagen soll: Ja! Ja!«
Ihr fröstelte. Die Nacht war herbstlich kühl. In den Höhen schimmerte die Geisterfahrt mondblasser Wolken.
Zerknirscht wollte er ihr die Hand reichen. Sie übersah es und ging.
Sie fand das Schlosstor, das sie offengelassen hatte, von innen verriegelt. Zornig rüttelte sie es, und als sich niemand meldete, nahm sie einen Stein und schlug daran.
Lange stand sie frierend in der Nacht.
Endlich öffnete der alte Franz. »Verraten Sie mich nicht«, bat er. »Das gnädigste Fräulein Elisabeth hat mir verboten, Sie einzulassen!«
*
Niemals mehr wurde auf Püdensdorf das Verhältnis Annas zu dem Schauspieler erwähnt, kein Vorwurf traf sie, und alles schien vergessen. Aber sie schlich mit ihrem buckligen Leib wie ein zielloses Gespenst durch das Schloss.
Manchmal, wenn sie allein war, kramte sie in verblichenen Bändern und Schleifen und anderem zärtlichen Wust, dessen Ursprung nimmer festzustellen war, oder in alten Briefen, die aus einer Zeit stammten, wo noch die gefühlvolle Träne im Schwang gewesen. Sie las die mit winziger Schrift geschriebenen Liebesbriefe der Mutter. Sie las mit abwesender Miene. Sie redete äußerst wenig, kaum das Notwendigste. Die Schwestern wussten nimmer, was in ihr vorging, weil sie dem äußeren Leben völlig abgestorben. Sie vergaß das Essen. Sie wurde krank und klagte nicht. Sie lachte auf, und es war kein Grund dazu; sie weinte ohne Anlass. Kam ein Fremder, so versperrte sie sich in ihrem Zimmer. Im Traum rief sie oft gellend um Hilfe. Ein ganzes Jahr lang führte sie dieses verstörte Leben.
Wieder beschlich der Herbst die Wälder an den Berghängen, die Lärchen erblondeten sanft, und schwermütige Nebel lagen über der Wiese.
In einer sommerlich lauen Nacht saßen die Schwestern schweigsam um die Lampe. Das Fenster war offen, und ein verspäteter Dämmerfalter brach ein und stieß, berauscht von dem Licht, an die Lampe und fuhr in unsinnigem Ungestüm im Zimmer umher.
Lisabeth und Christa nähten, die bucklige Schwester sah kindisch staunend dem Treiben des verwirrten Falters zu, und Marianne redete und redete, und es störte sie nicht, dass niemand ihr antwortete.
Sie vernachlässigte seit einiger Zeit ihr Äußeres, trotzdem dass sie nicht um einen Zoll weniger eitel geworden war und auch die Hoffnung auf eine baldige Verehelichung nicht aufgegeben hatte. In Gedanken beschäftigte sie sich viel mit den ihr bekannten Männern und trieb eine harmlose, verschwiegene Vielmännerei. Nach außen hin verfiel sie gern in einen wortreichen Weltschmerz, und sie sprach in solcher Stimmung viel vom Sterben und übte damit ein zu nichts verpflichtendes Spiel.
So sagte sich auch jetzt, angeregt von dem herbstlichen Duft, der von den Wiesen hereinwehte: »Das Leben, das wir in dieser Einöde führen, ist Strafe. Ich weiß nicht, was ich begangen habe, dass ich hier gefangen sitze. Ich frage mich oft, warum ich noch auf Erden bin. Wer zwingt mich, dass ich weiterlebe?«
»Was liegt mir daran, wenn die Leute hinter meinem Sarg zischeln!« sagte Marianne. »Wenn ich überzeugt wäre, dass ich nicht mehr die Macht hätte, einen Mann an mich zu fesseln, würde ich sofort Hand an mich legen. Ein Mensch, der sich wertlos weiß, hat die Pflicht, sich auszulöschen.«
»Warum hast du das nicht schon längst getan?« spottete Lisabeth.
»Ich habe es nicht nötig. Die Männer schauen mir wie gebannt nach, und bald werde ich verheiratet sein, ob ich mich auch nicht besonders darum bemühe. Ja, der Tod beschäftigt meine Gedanken viel, doch bin ich noch nicht bis zur Reife durchgedrungen. Auch hält mich, ich gestehe es offen, eine gewisse Feigheit vor der Selbsttötung zurück: ich fürchte, dass man meine Leiche straft, dass man sie verscharrt wie einen Hund. Und dass ich euch überlebenden Schwestern in Schande und Betrübnis setze. Wir leben ja in einer vorurteilsvollen Zeit. Und dann fühlt sich jedermann berufen, einem den Weg zu vertreten, der in die heilige Leere führt. Ich hoffe, eine kommende Welt wird die Selbsttötung erleichtern, indem sie denen, die es verlangen, die Mittel zum Heimgang freistellt, Waffen und einschläferndes Gift.«
»Du hat keine Ursache, an solche grässlichen Sachen zu denken«, sagte Christa bang.
Lisabeth höhnte: »Fürchte dich nicht um sie, Christa!«
»Mein Leben ist gewiss erträglich«, spann Marianne unbeirrt weiter und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich welke nicht so bald. Ich gehöre zu jenen edeln Dauergewächsen, denen der Herbst nicht ankann. Jahre kommen und schwinden: ich blühe, ich bleibe schön! Aber einmal, einmal -- entsetzlich, daran zu denken! -- nähert sich der Tag, wo der Leib sich ändert, wo der Reiz verfliegt, verblasst. Das macht mich schaudern. Ein schönes Weib soll sich beizeiten töten.«
»Worte, Worte, lauter Worte!« spottete Lisabeth.
»Ach, was weißt du von mir?« erwiderte Marianne. »Du ahnst nicht, du dürres Herz, wie süß es ist, sich schweigend ins Nichts zu legen. Einmal schon stand ich hart an dem schönen Abgrund, alles war reif in mir und dem Tod wie einem Bräutigam zugewandt. Doch im entscheidenden Augenblick, da ich die Waffe schon an die Brust setzte, hemmte mich etwas mit ungeheurer Kraft. Eine ferne Macht. Vielleicht war es der unbekannte Geliebte, der zur selben Stunde seine ganze Seele aufbot, mich an dem letzten Schritt zu hindern, der ahnend und mit gehobenen Armen zu Gott flehte, er möge mich ihm erhalten.«
Lisabeth sagte unwillig: »Solche Erlebnisse behält man für sich. Du wirst unfein. Übrigens kommt mir das alles doch recht unwahrscheinlich vor.«
»Du sprichst so, weil du mir meine Träume nicht gönnst«, rief die Schwester.
»Träume meinetwegen, wovon du willst! Nur lass uns mit deinen faulen Hirngespinsten gefälligst in Ruhe und mach uns damit nicht in der Gesellschaft unmöglich!«
»Murre nur zu!« sagte Marianne böse. »Meiner Seele kannst du nichts befehlen.«
Sie beugte sich zum Fenster hinaus und horchte lange in die Stille.
Dann begann sie wieder schwärmerisch: »Wie sanft rauscht der Fluss! Ach, aus dem Leben gehen! Niemand mehr soll von mir erfahren. Keiner soll mein Grab kennen. Der weiche, dunkle Fluss nimmt mich mit.«
»Jetzt aber genug!« rief Lisabeth barsch und erhob sich. »Wir wollen das Licht sparen und schlafen gehen.«
*
Die Bucklige erwachte in jener Nacht plötzlich und beeinflusst von einem Traum, dessen sie sich nimmer erinnerte, darin aber ihr Schmerz bis zum Tod durchgedrungen war, kleidete sie sich an und begab sich geräuschlos aus dem Haus.
Im Garten weilten die Bäume in dunkler Verschwiegenheit. Zuweilen regnete es überzeitiges Obst aus den Ästen, es schlug zur Erde und verrollte im Gras.
Anna redete die Bäume an: »Wie stumm und zufrieden ihr da stehet! Euch schmerzt nichts.« Sie umfasste einen wilden Birnbaum, der, dem Zufall entsprungen, inmitten der edeln und gezähmten Stämme hier wuchs. »Baum, soll ich dir es neiden, dass du dein Genügen in dir hast? Bedauere mich, den Menschen, den seine Sehnsucht ewig aus sich selber schleudert! Wie wehmütig du duftest! Ach, Baum, wer weiß, ob du nicht noch mehr leidest als ich? Wer sieht einem andern Geschöpf in die Seele?«
Sie wartete auf keine Antwort. Durch die feuchte Wiese schritt sie langsam zum Fluss hin. Eine plötzliche Angst überfiel sie: der Weg, den sie gegangen war, schien ihr tückisch nachzuschleichen, und ihr graute vor ihm. Das Mondlicht stach. Ihr fieberten die Augen. Ein Bergrücken fing zu wogen an, die Ordnung der Sterne droben verwilderte. In ihren Ohren rauschte es. Weiter wankte sie, von einer dumpfen Gewalt beauftragt.
Dann stand sie am Ufer. Eine düstere Weide tastete in das Wasser hinab, tauchte die Äste in die ewig fliehende Flut.
*
Als Christa frühmorgens Anna vermisste, weckte sie eilends die Schwestern. »O Gott, wie ist davon!« rief sie ahnungsvoll.
»Ach was, sie hat sich schon oft genug versteckt!« sagte Lisabeth. »Sie weiß sich vor Trotz nicht zu helfen, und hat ihr doch niemand was getan.«
Franz fand eine Spur im Tau. Der alte, müde Hund Trenck lief unruhig am Ufer hin und her, schnupperte an den Stauden und heulte zum Himmel auf.
Da schlug der Knecht Lärm.
Alles jagte zum Fluss hin. Nur Marianne nicht. Sie brachte die Füße nicht vom Ort. Das Kinn schlotterte ihr. »Ich bin mit meinen Reden daran schuld!« murmelte sie. Trotz ihres Leides musste sie an die Trauerkleider denken, die sei nun tragen würde.
In einer Nische der Einfahrt stand ein hölzerner Heiliger, der hatte einen abnehmbaren Kopf. Der Knecht Franz trug das schwarzbärtige Johannishaupt zum Fluss und legte es trotz der ziehenden Flut an jener Stelle verharren, wo ein Ertrunkener versunken lag.
Der Kopf drehte sich und schwamm träg da gilbende Weidengestade entlang, glotzte stumpf zu den grauen Wolken auf, blieb an einem Zweig hängen und löste sich wieder. Franz und Christa begleiteten ihn und spähten ängstlich auf den dunkelklaren Grund des Flusses.
»Heiland der Welt!« schrie der Knecht auf einmal auf.
Die Tote hing mit ihrem aufgelösten Haar an einem Floß, das, an einen Baum gebunden, schaukelnd auf dem Wasser schwebte. Die weiche Flut war ihr Brautlager geworden.
Sie wurde auf einer Leiter heim in das Schloss getragen. Der Höcker sah ihr zwischen den Sprossen hindurch, das schöne, feuchte Haar funkelte. Von Chammünster her scholl das Sterbeglöcklein.
»Ich kann es nicht glauben!« ächzte Marianne.
Lisabeth kniff die Lippen zusammen, ihre Augen waren grell und weit. »Das hätte sie nicht tun sollen!« sagte sie.
Jukundin war von dem Tode des Fräuleins verständigt worden. Er betrachtete neugierig die Leiche. »Komödie!« brummte er dann.
Anna Eleonora wurde mit allen kirchlichen Ehren bestattet. Man nahm an, dass sie einem unglücklichen Zufall erlegen sei. Denn zu einem Selbstmord lag keine Ursache vor.
*
Und Trenck der Hund starb, und das gelbe Vogelhäuslein hing verödet an der Wand. Die Jahre gingen hin.
Zu allen heiligen Zeiten einmal fuhren die drei Fräulein über Land. Ein einäugiges, hinkendes Pferd war dem Wagen vorgespannt, und Franz kutschierte noch immer. Sein strohgelbes Haar war nicht ergraut, und er, der zeitlose Mensch, ergreiste nicht, er schien nur zu vertrocknen und zu verholzen. Die Zahl seiner Jahre konnte er nicht angeben. Seit je hatte er sich so unbedeutend geachtet, dass er auf den Tag seiner Geburt keinen Wert legte und ihn nach und nach ganz vergaß. In ungebrochener Treue hing er an seiner Herrschaft, und die Not des Hauses verscheuchte ihn nicht.
Er fasste die Peitsche grimmiger, wenn er die morsche, schütternde, altmodische Kutsche mit den blauen Rädern und dem verblichenen Wappen lenkte, die in den Federn gefährlich schwankte wie der Rumpf eines Weberknechtes auf seinen dünnen Spinnenbeinen, und wenn die Kinder spottend dem wunderlichen Wagen nachrannten, so klagte Franz hellauf:
»O ihr unartigen Buben! Über euch soll ein Herodes kommen!«
Die Sorge, die graue Zofe, geisterte durch die Stuben des Schlosses Püdensdorf.
Die Fräulein lebten ganz eingezogen, sie folgten keiner Einladung mehr, sie hielten sparsamen Tisch, nähten aus zwei alten Kleidern ein neues und kehrten jeden Kreuzer zehnmal um, ehe sie ihn hergaben. Sie hofften, das überschuldete Gut zu retten.
Die Magd, die Jahre hindurch die gröbsten Arbeiten in Haus und Stall verrichtet hatte, forderte zu Lichtmess ihren Lohn und verließ den Dienst. Es ging ihr auf Püdensdorf zu schmal her. »Die feinen Fräulein sollen sich ihre Schnittlein selber essen und ihre Trittlein selber tun«, sagte sie beim Abschied zu Franz.
Der Briefwechsel, der das Schloss mit der Welt verknüpft hatte, versiegte allmählich. Viele Bekannte meldeten sich nimmer, vielleicht fürchteten sie, die Verarmten würden von ihnen Hilfe verlangen; alte Freunde verließen das Zeitliche, und mit dem jungen Nachwuchs hatten die Fräulein nichts gemein. Und fand, selten genug, doch einmal ein Brief ins Haus, so bröckelte Lisabeth das Siegellack davon herunter und tupfte es mit einer erhitzten Siegelstange auf, dass es nicht unnütz verloren gehe.
Früher hatte Marianne den Briefwechsel für die ganze Familie besorgt, denn sie war schreibselig, reich an Einfällen, Schwung und Gefühl gewesen, und ihre Briefe lasen sich sehr hübsch. Seit ihre Handschrift zitterig geworden war, rührte sie die Feder nimmer an.
Auch das Spinett freute sie nimmer, es war ganz verstimmt, und die Saiten darin waren größtenteils gesprungen.
Schlampig angezogen und ungekämmt lungerte Marianne in den Zimmern herum, und wenn Christa, die auf peinliche Sauberkeit hielt, ihr auf die ungeputzten Schuhe deutete, so redete sie sich aus, sie habe in diesem Schuhwerk schon einen Morgenspaziergang unternommen, und die Straße sei staubig.
Sie flüchtete aus der eintönigen Wirklichkeit in eine selbstgesponnene Welt und erzählte oft verwickelte und weitschweifige Erlebnisse, die ihr nie begegnet waren. Mahnte dann Lisabeth sie, sie möge sich mit solch durchsichtigen Unwahrheiten nicht bloßstellen, so seufzte sie: »Man lügt nur, weil man nichts erlebt.«
In ihrer Geldnot veräußerten sie Schwestern das feine Tafelsilber des Schlosse. Ein berüchtigter Wucherer tauchte auf, zählte die Gulden hart und unbarmherzig auf den Tisch und packte dann das Geschirr auf seinen Wagen. Was hätte das funkelnde Zeug den dreien auch noch gefruchtet? Die geräumige Küche wurde sehr wenig benützt, leer war die Wildbretkammer, die einst von Rehfleisch, Fasanen und Hasen gestrotzt hatte, als die Rauchenegge noch Wälder besaßen und Jäger darin.
Jukundin setzte sich manchmal spottweise in die Küche, darin kein Braten mehr dampfte und kein Leckerbissen mehr gar gemacht wurde, und er sang in den Rauchfang hinauf der verschwundenen Herrlichkeit ein Jammerlied, oder er schlug Christa vor, die geschriebenen Kochbücher einmal von A bis Zet durchzuproben und ihm zum Geschmacksrichter über die altertümlichen Speisen einzusetzen.
Der Vetter sah sehr üppig aus, den Leib hatte er von vielem Genuss des dicken Bieres aufgeschwemmt, die Wangen hingen ihm wie kräftige Schinken auf die Schultern herab. Er verkehrte, da ihm der Adel geflissentlich auswich, nur noch in den Wirtshäusern der Stadt Cham und drängte sich dort an die Bürger heran und belästigte und neckte sie.
Am häufigsten schlug er sein Lager im Herrenstüblein des Einkehrhauses »Zum Schwanen« auf. Dem Wirt dort war er ein Dorn im Auge, denn es verfloss kein Abend, wo er nicht einen Streit vom Zaun gebrochen, die andern Gäste beschimpft und die gute Stadt lächerlich gemacht hätte. So hatte Cham vor alters den Brauch geübt, der Stadt Nürnberg an jedem Neujahrstag zum Zeichen freundnachbarlichen Handelsverkehres einen lebzeltenen Kamm auf vierspännigem Wagen zu schicken. Jukundin drehte und wendete diese und jede andere Überlieferung, derer er habhaft wurde, so lange, bis sie ein ganz schildbürgerliches Gesicht annahm, und schüttete dann den Pfeffer seines rücksichtslosen Witzes über die anwesenden Bürger aus, die mit Ingrimm ihre Vaterstadt verhöhnen hörten, von ihm abrückten und, wenn er kein Ende fand mit seinen wohlgespitzten Stichelreden, nach der Haube griffen und sich empfahlen.
Einmal saß er wiederum mit seinem Spießgesellen Gleißer im Schwanen beim Nachtmahl, und die beiden fraßen hastig und schlangen und schlürften und schnaubten dabei wie bei einer mühevollen Arbeit. Am Nebentisch hockten ein paar Gewerbsleute beim Dämmertrank, redeten über die Weltläufe und rauchten wohlgemut ihren Knaster. Dem Freiherrn Jukundin aber behagte dieser Fried nicht, er jagte zuerst die Kellnerin fort und verlangte, Hämlinge sollten ihn bedienen, und hernach erhob er sich zu einer Rede an die Gäste. »Heliogabal, von dem du Sauerbäck und du Senfkrämer dort noch nie gehört hast«, sagte er, »Heliogabal, der große Fress- und Saufkaiser, mein erhabenes Vorbild, ließ Löwen und Tiger an seinem Tisch mit sich speisen. Ich aber bin gezwungen, in Gesellschaft niederen Viehes das Chamer Bier zu vertilgen, das gar sehe mit Pechgesegnet ist. Hallo, ihr schneidet Gesichter? Missfällt euch meine Rede, ihr Zahnbrecher, ihr Ölmacher, ihr Lebzelten, ihr Schmerschneider? Wollt ihr mit mir anbinden? Hallo, ich habe den ersten Schuss!« Und er packte einen Teller Kuttelsuppe und schüttete sie den Gästen auf den Tisch hin, dass es klatschte und alle besudelt aufsprangen.
Der Schwanenwirt kam wütend gerannt. Aber er hielt an sich. »Zahlen, Herr Baron! Schleunig zahlen! Die Kreide ist mir ausgegangen!«
»Sie unverschämter Pantscher, wie können Sie sich erfrechen, mich öffentlich zu fordern? Sie sollte sich glücklich preisen, dass ein Mann wie ich Ihnen Geld schulde!«
»Nur keine Sprüche!« brüllte jetzt der Wirt. »Schämen Sie sich! Das Maß ist voll. Schauen Sie, dassSie hinauskommen! Ich lasse meine Gäste nicht von Ihnen beleidigen.«
»Du unterspickter Wanst, du alter Weinuhu, was heulst du mich so an?« schrie Jukundin. »Poldel, gib mir meine Pistole her! Niederschießen will ich jeden, der sich an mir vergreift!«
Mit dieser Drohung lief er übel an. Der Schwanenwirt langte mit seiner mächtigen Tatze herüber und versetzte dem Freiherrn eine ansehnliche, schallende Maulschell.
Da wichen die Gäste erblassend zurück. Sie meinten, Jukundin, der unter der Wucht des Hiebes an die Wand getaumelt war, würde sich jetzt fürchterlich rächen, er würde sich berserkerisch aufraffen und im Blutrausch darein schießen und darein stechen oder das Haus in die Luft sprengen, und der Wirt würde die Ohrfeige nicht lange überleben.
Jukundin aber unternahm nichts dergleichen. Er rieb sich die gerötete Backe und sagte verwundert zu dem Wirt: »Wer hat Ihnen denn verraten, dass ich so feig bin? Ich habe es selber nicht gewusst.«
Er wurde keiner Antwort gewürdigt. Schon schob sich der breite Hausknecht wie eine Mauer gegen ihn vor, griff ihn beim Genick und führte ihn hinaus. Jukundin ließ es sich geduldig gefallen.
Als der Knecht ihn draußen vor dem Tor aus seiner Pranke entließ, verneigte sich Jukundin vor ihm und sagte höflich: »Hochwürdiger Herr, ich danke Ihnen für Ihre Begleitung!«
Er wartete eine Weile in dem nächtlichen Gässlein, bis der Verwalter Gleißer aus dem Haus gestoßen wurde.
Hernach zogen sie johlend durch den Ort und gaben Ärgernis mit ihrem späten und unflätigen Geschrei. Bald waren alle Nachtwächter Chams hinter ihnen her, und Jukundin setzte ihnen, als er sich umzingelt sah, mit ehrenrührigen Worten zu, warnte sie vor sich und schrie, er sei tollwutverdächtig. Trotzdem wurde er verhaftet und in den Kotter gesteckt. Den Verwalter ließ man laufen.
Hinter Schloss und Riegel traf Jukundin einen alten Landstreicher, Landhütel geheißen, dem bot er sogleich die Bruderschaft an.
Am nächsten Morgen wurde er aus dem Loch entlassen, nachdem er von amtlicher Seite eine Verwarnung hatte zu hören bekommen, die er in katzenjämmerlicher Demut einsteckte.
*
Marianne holte aus der Bücherei, die unter den plündernden Griffen Jukundins kärglich zusammengeschmolzen war, die Hirtendichtungen des Schweizers Salomon Gessner. Sie liebte seine sanfte, verschollene und vielleicht nie auf Erden gewesene Traumwelt, darin glückliche Menschen inmitten erfüllter Wünsche sorglos und unschuldig wandelten. Lange betrachtete sie das Titelkupfer: eine griechische Jungfrau war eben am Werk, das drohende Steingesicht Saturns unter der lächelnden Maske Apollos zu verdecken und sich in diesem Sinnbild über die allzu schnelle Flucht der Zeit hinwegzutäuschen, sie vergessen zu machen unter dem holden Zauber der Dichtung.
Weltfern sah Marianne von dem Bildlein auf und sagte: »Mir träumte, ich wäre die Fürstin von Lima, und ein Inka liebte mich und gab mir den Namen Aventu. Ich zog in eine Stadt ein, die mit schweigenden Türmen erhöht war. Ich ritt ein Schimmelfüllen von vollkommener Schönheit, das war mit einem weißen Schleier geschmückt, und braune Knaben trugen ihm die lange Spitzenschleppe nach.«
»Ein weißes Pferd!« flüsterte Lisabeth, ergriffen von der Erinnerung an etwas unendlich Fernes, Eindunkelndes. Dann aber zankte sie: »Fängst du schon wieder zu faseln an? Geh in die Küche und hilf Christa das Geschirr waschen!«
Seufzend gehorchte Marianne. Sie schloss vor Ekel die Augen, als sie in das schmutzige, fette Spülwasser griff, es schüttelte sie, ihre adeligen Hände taten ihr leid. Christa schob sie gelind vom Waschschaff weg. »Lass das! Ich tu es mir schon selber.«
Christa stemmte sich mit jener zaubergleichen Willenskraft, die in Augenblicken der höchsten Not über manche Frauen kommt, dem Verfall des Gutes entgegen. Weil auf die unwillig verrichtete Arbeit der untertänigen Taglöhner kein Verlass war, so arbeitete sie selber in Stall und Scheuer, betreute das Vieh und besorgte die Wirtschaft und nahm den Schwestern jeden Handgriff ab, damit diese unter dem betrüblichen Umschwung des Schicksals nicht zu sehr litten. Dabei musste sie alle Arbeit ungesehen von den Menschen tun, und wenn je ein spärlicher Besuch kam, versteckte sie die rauen, geplagten Hände unter dem Tisch.
An dem Schloss wäre viel zu bessern gewesen. Das Dach verfaulte. Da wurde der hinkende Schindeldecker berufen, der schon oft mit seiner Schnapsflasche von den Dächern gestürzt war. Er besichtigte den Schaden, schimpfte, dass man diesen so lange habe anstehen lassen, und verlangte, bevor er das Schloss neu beschindele, ein Aufgeld. Die Fräulein konnten es ihm aber nicht geben, und so trollte er sich murrend über den Zeitentgang wieder fort. Christa und Franz flickten dann das Dach notdürftig, und wenn es regnete, stellten sie alte Schaffe und Wannen unter die löcherigen Stellen, damit darin das eindringende Wasser aufgefangen würde. Es war ein Wagnis, auf den Dachboden zu gehen, der auf faulenden Balken lagerte und von Wespennestern strotzte.
Auch die Wirtschaftsgebäude verwahrlosten. Der Frost mürbte die Wände. Ein Stück Hofmauer fiel ein. Franz zimmerte dort einen plumpen Zaun. Es waren noch viele Verbesserungen nötig, doch wenn Lisabeth und Christa deren Kosten überschlugen, ließen sie traurig davon ab.
Ein Himmel voller Unsterne stand über Püdensdorf. Schlimmes Wetter schädigte die Ernten. Die Rübenäcker wurden von Dieben geplündert. Den Fräulein gehörte von dem einstigen beträchtlichen Forstbesitz nur noch ein armseliges Wäldlein mit dürftigen Stämmen, kaum noch nutz, daraus Zaunstecken zu schneiden. Sooft Christa dorthin nachschauen ging, fand sie den Bestand von fremder Hand verringert. Das taten meistens Korbflechter, die die geschmeidigen Fichtenwurzeln brauchten und sie aus dem Wald der drei Fräulein holten, wo sie die Wurzeln von den lebendigen Bäumen schnitten. Wohl wurde ihnen dieser Forstfrevel verboten, doch kehrten sie sich nicht daran. »Ich kann nicht ewig im Wald sitzen und darauf achtgeben«, klagte Christa. »Ach, auf den Zorn einer Frau geben die Leute nichts!« Und Franz drohte: »Das Gesindel! Es verdirbt den letzten Flecken Wald! Soll ich ihnen auflauern? Ich schieße mit Sauborsten auf sie, jede Borste muss ihnen einzeln aus dem Leib schwären!«
Einmal bettelte der Landshütel vor der Tür, der Duzbruder des Freiherrn Jukundin. Auf seinem spitzigen, zerfransten Hut hatte er sich mit Kreide eine Feder gemalt. Seine Bundschuhe waren zerrissen, sein kapuzinerfarbener Rock roch fast betäubend nach schwarzem Brot. Er strich sich den großen, fuchsblonden Bart und murmelte: »Gebt mir was! Uns Bettelleuten geht es schlecht. Das Land soll sich mehr um uns kümmern. Aber es erinnert sich unser nur, wenn es uns einsperren will.« Und nach diesem mürrischen Angesang rief er: »Ich will beten für die klägliche Seele der Fräulein Anna, die jetzt im Fegfeuer prasselt!«
»Gebt ihm schnell etwas!« sagte Marianne. »Solange der böse Mensch für sie betet, muss sie drüben doppelt leiden.«
Christa suchte nach einem Almosen. Aber es fand sich kein Kreuzer Geld im Haus. Da bot sie dem Landshütel ein Stück Brot. Fluchend wies er es zurück, er wolle für sein ehrliches Gebet auch ehrlich entlohnt werden, und begehrte Geld.
Nun erinnerte sich Christa eines tönernen Sparkrügleins, das vergessen im Dunkel eines Schrankes stand. Sie holte es, und als sie es prüfend schüttelte, klang es verheißend darin. Sie musste das Krüglein zerbrechen, weil sie anders die Münze nicht herausbrachte. Ein veraltetes, längst nimmer gangbares Kupferstück fiel an den Tag. Der Bettler sah es an, spuckte dann verächtlich darauf und schleuderte es dem Fräulein vor die Füße. »Vergelt es der Teufel!« schalt er. »Das wäre mir ein liebes Geschäft! Da soll ein anderer betteln gehen! Der schäbigste Bauer gibt mehr her.«
Noch am selben Tag polterte Jukundin ins Haus. »Was habt ihr mit euerm Geld getrieben, dass die Bettler jetzt hier leer ausgehen und euch auf den Gassen lästern? Eure Weiberwirtschaft taugt nichts. Ihr drei gehört in Ausgeding. Übergebt mir den Besitz! Ihr seid müde und bedürft der Ruhe. Verschreibt mir das Schloss! Ihr soll bei mir ein gesichertes Auskommen fingen.«
»Bei dir?« lachte Lisabeth bitter. »Da wären wir ja herrlich aufgehoben! Mach dir keine Hoffnungen! Wir haben nichts mehr.«
»Entmündigen hätte man euch sollen!« rief Jukundin. »Ihr habt Püfensdorf auf den Hund gebracht. Wie komme ich dazu, euer Erbe? Gebt mir wenigstens ein Glas Wein! Ich dürste.«
»Unser Keller ist leer«, sagte Lisabeth trotzig.
Christa aber brachte ein Glas trüben Wein. »Es ist unser letzter«, sagte sie.
Der Vetter schwenkte das Glas. »Ich trinke auf mein eigenes Wohl. Denn das liegt mir an nächsten.« Er stürzte den Trank hinunter. »Pfui!« krächzte er dann. »Das Gesöff mäuselt! Brrr!«
Lisabeth erwiderte spitzig: »Du scheinst sehr verwöhnt zu sein.«
»O nein«, klagte er, »in Cham schenkt mir kein Wirt mehr ein. Die Undankbaren! So viel Geld haben sie von mir gelöst, und jetzt will mich keiner mehr kennen.«
»Sogar die Bürgerlichen haben dich ausgestoßen!« sagte Lisabeth. »In den elendsten Winkelschenken treibst du dich mit zweifelhaftem Gelichter herum. Du hast deiner Abstammung ganz und gar vergessen.«
»Zum Teufel mit deiner traurigen Großtuerei! Darauf leiht dir keiner einen roten Knopf. Was sind denn wir Rauchenegge jetzt? Mit den Bettelleuten können wir wallfahren gehen!«
»Hast du nichts Besseres mehr zu sagen?« brauste ihn Lisabeth an.
»Schmeiß mich jetzt du auch noch hinaus!« knurrte er und ging.
Gleich darauf meldete Franz, dass der Herr Michael Preißler aus Cham gekommen sei und mit den Fräulein dringend zu reden wünsche.
Christa wurde über und über rot und zog sich schnell zurück. Marianne saß über die Idyllen Salomons Gessners gebeugt und sah und hörte nicht, was um sie vorging. Also empfing Lisabeth allein den Besuch.
Preißler nahm auf ihre einladende Gebärde hin Platz und rieb sich in leichter Verlegenheit die Hände.
»Was verschafft mir die Ehre?« fragte Lisabeth geschäftsmäßig.
Er begann zaghaft: »Gnädiges Fräulein!«
Seine Stimme weckte Marianne aus dem milden Bann des Buches. Sie sah den Mann. Beglückt rief sie: »Nein, ist das nett, dass Sie auch einmal zu uns finden, Herr -- Herr --!«
»Preißler!« ergänzte er.
»Sehen Sie, mein Gedächtnis versagt, Herr Preißler!« jammerte sei. »Ich werde alt! Ich werde alt!! Mein Gott und Herr! Aber ich bin ja gar nicht zu einem Empfang angezogen!« Und mit eiem gezierten Schreckschrei entfloh sie und verlor dabei einen vertretenen Hausschuh.
»Was wünschen Sie?« fragte Lisabeth wieder.
Preißler holte weit aus, er redete von der Notwendigkeit einer vermehrten Viehzucht und von deren Bedingungen und lugte dabei immer nach der Tür, als müsse ihm von dorther Hilfe kommen. Endlich gestand er, dass er eine große Weidegenossenschaft gründen wolle, die für ihre Zwecke ein breites Stück Land brauche, und dafür scheine ihm nun das Gut Püdensdorf mit seiner mächtigen Wiese und seiner Lage am Regenfluss und in der Nähe der Stadt besonders tauglich.
Lisabeth schnitt die weitläufige Einleitung kurz ab. »Kurzum, Herr Preißler, Sie wollen Püdensdorf kaufen.«
»Ja, gnädigstes Fräulein! Und vielleicht nehme ich Ihnen damit eine schwere Sorge ab«, sagte er ungeschickt. »Eben habe ich den Freiherrn Jukundin das Schloss verlassen sehen. Mit dem Verkauf des Gutes könnten Sie sich auch von ihm befreien, der Ihnen gewiss sehr an der Tasche liegt.«
Vor Stolz senkte sie die Lider über die Augen und erwiderte schroff: »Ich beabsichtige gar nicht, mich von meinem sehr ehrenwerten Vetter -- zu befreien, wie Sie es zu nennen belieben.«
»Verzeihen Sie, ich meinte es gut«, sagte er betreten. »Auch würde ich mit Ihnen eine für Sie sehr günstigen Vertrag schließen, demzufolge Sie und Ihre Fräulein Schwestern so lange, als es Ihnen gefällt, in dem Schloss bleiben könnten. Verkaufen Sie mir das Gut!«
»Was glauben Sie den von mir?« erwiderte sie. »Das väterliche Erbe soll ich verfeilschen? Niemals!«
»Sie haben nicht allein hier zu bestimmen«, sagte e, von ihrer Erregung angesteckt. »Ich will Ihre Schwestern fragen und hoffe, diese begreifen die Sachlage besser als Sie.«
»Sie irren sich. Ebenso wenig als ich werden meine Schwestern darein willigen, dass Püdensdorf in die Hände eines Bürgerlichen fällt.«
Michael Preißler fuhr empört auf. »Sie reden, als ob unsereiner unehrlich wäre wie ein Schinder. Sie lohnen meinen guten Willen übel. Ich kenne Ihr Gut besser als Sie. Die Wiese um Püdensdorf verwahrlost, versumpft. Weil sie so groß ist, können Sie sie nicht bewirtschaften. Die Kräfte Ihrer Taglöhner reichen dazu nicht aus. Jahrelang schon sind weite Teile der Wiese nicht gedüngt worden, drum trägt sie schlecht. Zehnmal so viel Heu, als jetzt geerntet wird, könnte darauf wachsen. Es ist eine Sünde, wie der Boden hier vernachlässigt wird. Sie werden das Gut bald um einen Spott losschlagen müssen!«
»Das hat Sie gar nicht zu bekümmern«, erwiderte Lisabeth eisig. »Wir ändern nichts, alles bleibt, wie es ist.«
Da trat Christa in die Stube. Sie verheimlichte es nicht, dass sie an der Tür gehorcht hatte. »Herr Preißler«, sagte sie bittend, »ich begreife Sie. Freundschaft zu uns hat Sie hierher geführt. Aber wir können unser Land nicht verkaufen. Wir würden uns in der Welt nimmer daheim fühlen, wenn uns das alles nimmer gehörte. Und wenn wir auch in diesen Räumen ungestört weiter wohnen dürften, wir müssten uns nur als geduldet betrachten. Seien Sie uns nicht böse, Herr Preißler!«
Sie bewog ihn, noch zu bleiben, und begütigte wieder, was die jähe Schwester verschuldet hatte, und er musste ihr von seiner Frau erzählen -- er hatte jüngst geheiratet -- und von seinen Plänen. Und er redete stockend und hielt dabei mit traurigen Augen die liebe Gestalt Christas fest.
Plötzlich flatterte Marianne herein. Sie hatte sich rasch in ein schreiendes, schwülstiges und doch altmodisches Kleid geworfen und suchte sofort die Aufmerksamkeit des Gastes darauf zu lenken, indem sie sich in eine uferlose Beschreibung ihres ernsten Tanzkleides verlor. Sie ließ niemand mehr zu Wort kommen und verstrickte sich in ganz unwahrscheinliche Angaben und suchte dann diese durch ein betäubendes Geschwätz vergessen zu machen, wobei sie sich überschwänglicher und ganz ausgefallener Redewendungen bediente, die der Bildungsstufe Preißlers, des schlichten Kaufmanns, gar nicht angemessen waren.
Mitten in ihren sprunghaften Reden fragte sie ihn: »Wollen Sie nicht eine Kleinigkeit zu sich nehmen? Ein Glas Wein etwa?« Er bejahte. »Geh, Christ«, rief sie fröhlich, »trag Wein auf!«
In schmerzlicher Verlegenheit ging Christa hinaus. Das Haus war verarmt. Sie konnte nichts bieten als Wasser.
Aber sie brachte das Wasser in einem sehr edeln, geschliffenen Glas, darein das Wappen der Rauchenegge gegraben war. Es war das einzige Glas, das dem Luchsblick Jukundins bisher entgangen war.
Preißler betrachtete bewundernd das schöne Gefäß, und dann nippte er davon. »Es ist ein gutes Wasser«, sagte er zum Dank.
Wiederum hub Marianne an, indes Lisabeth wie versteinert saß und Christa bittende Blicke auf den Mann warf, der wie verdonnert unter dem Sturzbach der endlosen Reden sich duckte.
Als die Schwätzerin einmal nach Luft schnappte, griff er hastig nach dem Hut und empfahl sich.
»Sie haben heute ein gutes Geschäft ausgeschlagen«, sagte er im Tor zu Christa, die ihm das Geleite gegeben. »Hören Sie wenigstens meinen Rat! Sie wollen das Gut nicht veräußern. Lassen Sie es zerteilen und verpachten Sie dann die einzelnen Stücke. Das wäre vernünftig. Der Boden würde ordentlich gepflegt werden und sich bezahlt machen. Hören Sie auf mich! Sonst geht alles zugrunde. Mir ist leid um das schöne Wiesenland.«
Christa tat, als vernähme sie diese Worte nicht. »Der Stolz meiner älteren Schwester hat Sie erbittert«, sagte sie. »Entziehen Sie mir darum nicht Ihre Freundschaft! Und lachen Sie Marianne nicht aus. Sie ist so wunderlich, weil sie unglücklich ist.«
»Und Sie, Fräulein Christa?« fragte er.
Zu den Schwestern zurückgekehrt, sagte sie: »Wir sollten uns doch das Angebot durch den Kopf gehen lassen. Wenn wir es als demütigend empfinden, dass man uns hier im Schloss wohnen lässt bis zu unserem Tod, so können wir doch dieser Gnade ausweichen und in die Stadt ziehen.«
»In die Stadt?« rief Lisabeth entrüstet. »Unter die Leute? In die Gassen, wo die halberwachsene Jugend sich herumtreibt ohne Ehrerbietung, ohne Zucht? Und Püdensdorf einem in die Hände spielen, der nach Heringen riecht?! Nimmermehr!«
»Schwester«, sagte Christa ernst, »du solltest mit dem Wort ‚Nimmermehr' vorsichtiger umgehen!«
Lisabeth aber wiederholte mit starrem Mund: »Nimmermehr!«
Sie saßen wortlos in der einbrechenden Dämmerung. Einmal schlug die Uhr eindringlich, und Marianne seufzte: »Mein Gott, ich bin schon wieder um eine Stunde älter geworden!« Sie hatte noch immer das grelle Kleid an. Ein blass schimmerndes, aufgetanes Buch lag auf ihrem Schoß, und sie tat, als lese sie. Aber bald meldeten sanfte, langsame Atemzüge, dass sie eingeschlafen war.
Lisabeth hielt die Hände um das Knie gespannt und starrte in die Ferne, in das versunkene Einst, in die graue Zukunft.
Plötzlich entglitt das Buch dem Schoße Mariannens, und sie schrak auf und blickte staunend um sich.
»Willst du nicht das seidene Kleid ausziehen?« sagte Christa. »Du verdrückst es ganz.«
Noch vom Schlaf verwirrt, erwiderte Marianne: »Nein. Heute lege ich mich damit ins Bett. Denn ich erwarte einen schönen Traum.«
»Vielleicht träumst du von dem Herrn Huber oder Preißler, was weiß ich, wie er heißt!« spottete Lisabeth.
»Er ist in mich verliebt«, schmachtete Marianne.
»Vergiss nicht, eine Brille aufzusetzen, wenn du schlafen gehst«, fuhr Lisabeth fort, »dann siehst du die Herrschaften genauer, denen du im Traum begegnen willst.«
Die Verhöhnte sah hilflos darein und brach in Tränen aus. »Nichts mehr vergönnt man mir, nicht einmal einen armen Wunsch, der sich nur im Traum erfüllt und auch dort noch vor der Erfüllung zerfließt!« Weinend zog sie sich zurück.
»Lisabeth, warum kränkst du sie so?« mahnte Christa.
Die Schwester antwortete nachdenklich: »Sie flickt ihr unzulängliches Leben mit albernen Hirngespinsten, wie ein armer Teufel bunte Flecken auf seinen schadhaften Rock näht. Du hast recht. Ich will nimmer spotten.« Und gegen das eigene Herz sich wendend, flüsterte sie: »Und was ist aus mir geworden? Bin ich noch ein Mensch? Oder bin ich ein Stein geworden, der stumpf neben dem Weg der lebendigen Wanderer liegt, betroffen von Wind und Regen und Frost und dennoch ungerührt und gleichgültig verwitternd?«
*
Das Gut Ottmanning war unter den Hammer gekommen, ein reicher Bräuer hatte es ersteigert. Jukundin hatte aus dem Zusammenbruch nichts als sein Pferd gerettet, und darauf ritt er nach Püdensdorf.
Er herrschte Franz an, der ihm erst nach langem Klopfen das Tor geöffnet hatte: »He, was ist los? Werde ich heute nicht mit Handkuss vorgelassen? Was knasterst du, altes, schwerhöriges Übel? Stell mein Pferd in den Stall und leg ihm Hafer vor! Ich bleibe da.«
Die Basen empfingen ihn mit verstörten Gesichtern. »Jetzt hast du es so weit gebracht, wie du es hast haben wollen!« rief Lisabeth.
Er lachte: »Jetzt bin ich wie der Junker Schlump daran, das edle Blut.«
»Was fängst du jetzt an?« fragte Marianne.
Er blickte sie verdutzt an. »Ich? Nichts! Ich werde bei euch leben. Es ist genug Platz im Schloss Altweibersommer. Oder soll ich euch den Schmerz antun, mir wie meine handfesten Ahnen das tägliche Brot im Straßenraub zu verdienen? Oder wollt ihr, dass ich im Spittel als Korbflechter sterbe?«
»Jetzt können wir dich auch noch erhalten!« rief Lisabeth. Ihr Gesicht war auf einmal wie zernagt und zerfressen, und schneidende Falten standen neben ihrem Mund.
»Du trägst jetzt dasselbe böse Frauhollengesicht wie vormals die Tante Seraphita«, sagte der Vetter. »Doch das schreckt mich nicht ab. Ich bleibe. Ihr drei seid die einzigen, auf die ich bauen kann. Der Poldel, der Schuft, hat mich jahrelang betrogen und ausgesogen.«
»Bei uns wirst du aber ganz anders leben müssen«, sagte Christa.
»Gewiss, gewiss!« beteuerte er. »Ich will meine Laster abstreifen und in einen härenen Sack schlüpfen. Rettet meine Seele, indem ihr meinen Leib nähret! Tut darin euer Möglichstes! Ich werde euch dafür in meine Morgenandacht einschließen.
*
Jukundin war kein angenehmer Hausgenosse. Ein Bündel von Spott, Gier und Gemeinheit, vergrämte er den drei Fräulein die Tage. Und da er trotz seien Versprechungen sein gewohntes Leben nicht änderte und in den Schnapsschenken aus und ein ging und dort allerlei Zwielichtvolk freihielt, brauchte er Geld, und das verschaffte er sich, indem er heimlich und offen den Hausrat des Schlosses veräußerte. Das Leinenzeug verschwand aus den Truhen, und das letzte Kupfer und Zinn aus der Küche. Das Kochgeschirr war je zwecklos geworden, seit man auf Püdensdorf nur noch dünne Bettelmannssuppen bereite, tröstete Jukundin sein Gewissen. Er verkaufte Steintruhen, die den Schlossgiebel geschmückt hatten, und das Dach stand nun kahl und fremd.
Einmal stürzte Franz zitternd und leichenweiß ins Zimmer und meldete, das herrschaftliche Rossgeschirr mit den Messingplättchen, darein das Wappen getrieben war, sei nimmer aufzufinden.
Im Schloss befand sich eine alte Uhr. Zwar fehlte ihr der Stundenweiser, und das Spielwerk ging schon lange nimmer und schien verdorben zu sein, doch war sie lieblich und reich verziert und mit Amoretten bemalt, die eine Rosenkette schleppten. Jukundin schalt diese Uhr einen veralteten Stubenkram, er sagte, er wisse dafür einen Käufer, und für den Erlös wolle er sich einen besseren Rock anschaffen, sein schäbiger Anzug schände die ganze Sippe bis zurück zu dem ehrwürdigen Ahnherrn. »Ihr habt zu voreilig die nachgelassenen Kleider eures Vaters verschenkt«, tadelte er die Basen, »nun seid ihr mit es schuldig, mich neu zu bekleiden.«
Die Fräulein widersetzten sich lange dem Verkauf der Spieluhr, doch der Vetter ließ nicht locker. Und in dem Augenblick, da er die Uhr aus dem Haus trug, besann sich diese nach langer Zeit wieder ihrer Stimme, und als wolle sie sich verabschieden von dem Heim, das sie so lange geschmückt und dessen Ordnung sie mit ihrem leise nachzitternden vornehmen Stundenschlag einst geregelt hatte, begann sie wehmütig heiter und unschuldig zu singen:
»Komm, lieber Mai, und mache
die Bäume wieder grün!«
Da nahmen die Schwestern erschüttert einander bei den Händen und lauschten dem verklingenden Lied, und ihnen war, als zöge der letzte Rest von Fröhlichkeit und Jugend mit dieser Uhr davon.
Auch das Bildnis des Vetters Paul verschwand, und Christa hätte am liebsten ihr Fingerhütlein voll geweint aus Leid über den Verlust. Das Bild war ihr Tröster gewesen in ihren verhohlenen Sorgen, in der schweren Arbeit, die sie heimlich verrichten musste wie ein Laster. Nimmer wandelte der Schutzgeist auf behutsamen Sohlen wächterlich durch das Schloss, mit seinem Bilde war das trauliche Gespenst in ein fremdes Haus gezogen und ließ die Nacht hier frei für Geister schlimmer Art.
Die Ahnenbilder brachte Jukundin nicht an den Mann, unberührt hingen sie an den alten Plätzen. Er rächte sich dafür, indem er ihnen in einer unbewachten Stunde rote und bläuliche Weinnasen malte und den Frauen mit einigen meisterlich angebrachten Pinselstrichen die Züge des Geizes und der Altjüngferlichkeit gab. So verleidete er besonders Lisabeth die verehrte Bilderreihe und kränkte sie in ihrem Ahnenstolz auf Tiefste. Es setzt danach einen bösen Auftritt und später einen noch viel ärgeren, als er sich an die Wand seiner Kammer einen Stammbaum gemalt hatte, an dessen dürres Geäst die Vorfahren wie gehenkte Rossdiebe geknüpft waren.
Die feine Spieluhr war verkauft, aber Jukundin lungerte nach wie vor in dem fadenscheinigen Rock herum, den er sich bei seinen hastigen, unvorsichtigen Mahlzeiten mit Fett betrenzt hatte und in den verschabten Hosen und zerrissenen Schuhen. Nur auf ein reines Hemd hielt er noch, und wenn Christa den verkommenen Vetter gegen Lisabeth in Schutz nahm, hob sie dies immer rühmend hervor und sagte: »Er ist doch nicht so verworfen, denn er trägt immer ein sauberes Hemd.«
War Jukundin daheim, so begab er sich meistens unruhig aus einem Raum in den andern, stöberte überall herum und suchte mit seinem Dohlenblick nach wertvollen Dingen. Er wurde an der planvollen Plünderung des Schlosses nur durch Lisabeth gehindert, die ihm in ewiger Sorge Schritt für Schritt nachging.
Auf seinen Spürwegen wurde er des allgemeinen Verfalles gewahr. Der Garten war völlig verwildert, durch die Dächer drang der Regen, der Stall stand mit schiefen Mauern, das Speicherhaus sah mit seinen zerbröckelnden Fenstern griesgrämig darein. Von den Dachböden lugten verwilderte Katzen mit funkelnden Augen herab. Die große Wiese war von toten Gräben durchfurcht, die der unstete Fluss in seiner Frühlingswut darein gerissen hatte. Sumpfgräser leuchteten schrill, weite Strecken waren vermoost. Und von der stattlichen Herde waren nur noch wenig Kühe übrig.
Und Jukundin roch, dass der Knecht Franz anstatt Tabakes getrockneten Huflattich rauchte. Und er sah die gewaltige, aber ohnmächtige Anstrengung Christas, den Zusammenbruch abzuwehren.
»Du müsstest der Wunderkönig sein, wenn du das Gerümpel da von dem Einsturz rettetest«, sagte er zu ihr und schnitt, um auch etwas wider den Verfall zu unternehmen, mit einer langen, rostigen Papierschere einige Brennnesseln am Zaun ab.
»Verkauft den ganzen Rummel! Schenkt ihn her! Zündet das Mausnest an und rennt davon, so weit ihr könnt! Es brich einmal über euern Köpfen zusammen!« Also riet er oft.
»Wir bleiben hier, solange noch ein Stein auf dem anders hält«, erwiderte Lisabeth. »Wir sind schon Jahrhunderte hier und wollen bleiben.«
Darauf lachte er: »Ihr gleichet dem Würmlein in der grünen Erbst, das redet auch: ‚Ich wohne schon seit der Sündflut, seit urher in dieser Frucht. Ich bin wahrscheinlich noch viel älter als der Ort, wo ich mich aufhalte. Ich werde hier den Weltuntergang überleben.'«
Manchmal fühlte er sogar ein ehrliches Erbarmen mit den drei Fräulein, besonders mit Marianne, und er horchte ihr freundlich und willig zu, wenn sie ihre Vergangenheit mit hübschen und handgreiflichen Lügen auszierte und in ihrer Einbildung allerhand Abenteuer artig zusammenreimte. Dann tätschelte er sie gönnerhaft auf den Rücken: »Bau sie nur auf, deine wurmstichigen Luftschlösser! Du bist ein ausgegossenes Lavendelfläschlein, alles hat sich verflüchtigt, nur ein ganz lindes Rüchlein ist noch zu spüren.«
Wenn Jukundin aber betrunken heimkam, war er unleidlich. Er polterte das ganze Schloss wach, begehrte, die Fräulein sollten Licht machen und mit ihm Karten spielen, und drohte, er wolle sie an eine Freudenhaus verkaufen.
Einmal nachts langte er mit seinem einstigen Verwalter, mit dem er sich im Rauch ausgesöhnt hatte, vor Püdensdorf an und schrie, eine seiner Basen müsse sich auf der Stelle mit dem Poldel verloben, der Poldel sei einmal sein Schwager gewesen und müsse es wieder werden. Als dem Schreienden das Tor vor der Nase versperrt blieb, vergalt er dieses seinen Verwandten, indem er in Cham bei den Krämern und Schnapswirten vorsprach und mit fester, gefasster Stimme anhub: »Ich, der Reichsfreiherr Jukundin Ernst Josef von Rauchenegg weiland auf Ottmannign, komme Abschied nehmen.« Und grinste darauf der Krämer: »Aha, Sie wollen wieder einmal nach Amerika?« so erwiderte der Vetter schwermütig: »Ich sage Ihnen Lebewohl, wie ich sterbe. Ich komme aber nicht an der Krätze um, wie Sie zu vermuten scheinen, sondern ich gehe dem Hungertod entgegen.« »Oho, Herr Freiherr!« »Jawohl! Ich leide an einer Verengung der Speiseröhre. Es geht nichts mehr hinunter.« »Etwas wird schon noch hinuntergehen«, pflegte dann der Krämer zu sagen und schenkte ihm schmunzelnd ein Stämpchen ein. Jukundin goss den Schnaps hinunter, dankte und kehrte bei dem nächsten Schenker ein, um dasselbe Spiel fortzusetzen.
Wüst betrunken kam er heim, zerlumpt und schmutzig von der Straße, darauf er sich gewälzt hatte, das Gesicht blutrot. Er hielt sich taumelnd am Türstock fest. Aber sein böser Witz hatte ihn nicht verlassen.
Christa entsetzte sich vor seinem Anblick. »Wie siehst du aus?« rief sie. »Was treibst du mit dir? Du bist doch nimmer jung!«
»Ich bleibe ewig jung«, gröhlte er, »denn ein Stein, der rollt, setzt kein Moos an.«
»Bei allen Heiligen, du richtest dich ganz zugrunde!« beschwor sie ihn.
»Ich kenne nur drei Heilige, das Bier, den Kornschnaps und den Kümmel.«
»Junkundin, was für ein Mensch bist du geworden!« klagte sie.
»Ein Mensch wie alle andern«, krächzte er. »Und was ist ein Mensch! Nur ein Darm, der in Fleisch eingebaut ist.«
Sie suchte ihn zu bewegen, sich ins Bett zu legen und den Rausch zu verschlafen. Er aber befahl Franz, er solle ihm augenblicklich das Pferd satteln.
»Du kannst ja kaum stehen, Jukundin«, rief Christa, »wie willst du dann ausreiten? Und in diesem Aufzug!«
»Schweig, dummes Weibsbild!« lärmte er. »Der Freiherr Jukundin duldet keinen Widerspruch. Und du, Knecht, führ mir schnell das Pferd vor, sonst mache ich dir Beine!«
Franz gehorchte mit finstern, tückischen Augen und half dem Trunkenen in den Sattel.
Der Reiter fuchtelte mit der Peitsche wütend durch die Luft. »Jetzt reite ich nach Ottmanning hinüber und verjage das Gesindel, das sich dort eingenistet hat«, sagte er und trieb das Tier an. Er sß auf einmal in vornehmer Haltung im Sattel, und die Trunkenheit war wie abgesunken von ihm.
Unterwegs aber scheute das Pferd plötzlich und rannte wie toll in einen hohen, engstämmigen Fichtenwald hinein. Jukundin war im Nu vollkommen nüchtern, er erkannte die Gefahr, darin er schwebte, zog den Kopf zwischen die Achseln und duckte sich über den Hals des rasenden Tieres, darüber er jede Macht verloren hatte.
Als das Pferd blutig und zerschunden und hinkend aus dem Wald kam, schleifte es den Reiter im Steigbügel nach. Er schlug mit dem Kopf an die Schollen eines aufgebrochenen Ackers, und es währte eine bange Weile, bis dass sich sein Fuß aus dem Eisen löste und er wie tot liegen blieb.
Bauern schafften ihn in das Schloss zurück.
»Bahret ihn im Schweinestall auf!« rief Lisabeth.
Marianne kehrte sich schweigend von dem blutigen Klumpen ab.
Christa half den Leuten, ihn ins Bett legen, wusch und verband ihn und ließ eilends den Wundarzt holen.
Der Zustand des Vetters war hoffnungslos. Sein Leib war eine einzige Blutrunst, das linke Auge hatte er sich an seinem Ast ausgestoßen, die Arme waren gebrochen.
Als er aus der Ohnmacht erwachte, flüsterte er: »Wie geht es meinem armen Rössel? Es ist in ein Hornisnest getreten, es kann nichts dafür. Schlage es nicht!«
Er erkannte Christa, sie kühlte mit nassen Tüchern seine Wunden. »Du bist gut«, murmelte er. »Und dafür bist du verurteilt worden, lebenslänglich diesen trüben Haushalt da zu führen.«
Tagelang dämmerte er dahin, ohne zu reden. Ohne sich zu offenbaren. Manchmal winselte er vor Schmerzen wie ein Hündlein. Als ihn der Pfarrer von Chammünster auf den Tod vorbereiten wollte, erwachte er aus seinem stumpfen Brüten und schüttelte traurig den Kopf. Er war zu keiner Beichte zu bewegen.
Doch äußerte er einen Wunsch. »Ich muss abkratzen«, sagte er. »Schicket nach Cham, den Poldel will ich noch einmal sehen. Und wenn er sich weigert zu kommen, so sagt ihm, dass es sich um eine Erbschaft handelt. Ich will ihm meine Haut vermachen, die in Fetzen im Wald hängt.«
Franz ging in die Stadt und fand den Herrn Leopold Gleißer daheim auf einem Strohsack schlafen. Er weckte ihn und lud ihn nach Püdensdorf ein, der Freiherr werde es nimmer lange machen. Herr Gleißer gänhte: »Der Jux soll nur warten. Es ist nichts so eilig, dass es nicht noch zwei Tage Zeit hätte.« Erst als ihn der Knecht mit der Möglichkeit einer Erbschaft lockte, kroch er aus dem Bett. Er nahm jetzt sogar eine Kutsche, auf dass der Weg beschleunigt werde und er den Freund noch lebend antreffe.
Seine Stirn war in besorgte und schmerzliche Falten gezogen, als er an das Krankenlager trat. »Jux, alter Knabe, treib keinen Unsinn!« rief er biedermännisch. »Steh auf, nimm dein Bett und wandle! Was willst du mir denn? Teufel, du bist übel zugerichtet worden!«
Junkundin nickte: »Mein Gott, ich armer, mausernder Sünder danke dir, dass mit nur das eine Auge ausgeronnen ist und ich mit dem gesunden meinen vertrauten Gefährten noch einmal schauen kann!«
»Schon gut, schon gut!« wehrte Herr Gleißer gerührt ab. »Doch, wie ich höre, willst du mich in deinen letzten Willen einbeziehen. Das Ross verschreib mir, es ist ja ein närrischer Racker, aber als Andenken an dich will ich es heilig halten.«
Jukundins entstelltes Gesicht grinste sonderbar fröhlich, er erhob sich ein wenig aus seinem Qualenbett, blinzelte den Freund an und sagte: »Jetzt kann mich getrost der Teufel holen, nachdem ich die zwei größten Lumpenhunde der Pfalz noch einmal habe beisammen gesehen!«
Seine Spannkraft reichte nur bis zu diesem Ausspruch. Er sank zurück und ging nach einem kurzen Todeskampf hinüber.
In der Schublade seines Tisches fand sich ein Blatt Papier, darauf er seinen letzten Willen hingekritzelt hatte. Er forderte darin etwas Vorsicht, dass er nicht scheintot begraben werde. Seine Wäsche solle man veräußern und dafür seinem Pferd zum Totenschmaus Hafer kaufen, sein Aas möge man nackt in die Truhe legen.
Er wurde mit allen Ehren zu Chammünster beigesetzt. Die drei Fräulein trieben mit großer Not das Geld dazu auf.
Lisabeth beteiligte sich nicht an dem Begräbnis. Es hieß, sie sei erkrankt. Als der Leichenzug durch die Wiesen ging, starrte sie ihm aus dem Fenster nach.
*
Marianne erzählte am Tag nach dem Begräbnis: »Mir hat geträumt, Jukundin wäre ein in einen wilden Wolf verzauberte Prinz. Wir beide, Christa und ich, erlösten ihn: ich mit einem Lied und du, Christa, indem du mit ihm im Wald kämpftest und ihn zur Erde zwangst. Da wurde aus ihm ein guter Mensch. Zum Dank führte er mich auf seine Burg, und ich wurde seine Gemahlin.«
»Und ich?« fragte Christa.
»Du wurdest sein Dienstmädchen.«
Christa lächelte. »Ich erinnere mich jetzt auch eines Traumes«, sagte sie, »ich träumte ihn bald nach dem Tod der Mutter. Sie erschien mir und zeigte mir eine breite Goldkette, die sie um den Hals trug. Es seien aber noch ein paar eiserne Glieder an der Kette, meinte sie, und ich solle ihr helfen, dass auch diese aus Gold würden.«
Marianne besuchte oft das Graf Jukndins und legte darauf ein Gärtlein von Nelken, Lilien und Veilchen an, wie es die Jahreszeit hervorbrachte, und pflanzte einen Rosenstock darauf. Gern lehnte sie sich an eine benachbarte Trauerbirke, und ihre Seele schwebte in einem dämmerigen Zustand, der nicht weit vom Glück entfernt war.
In der Nacht hörte sie zuweilen den Vetter rufen, seine Stimme war weich und ohne jeden Hohn. »Marianne, hörst du mich?« rief er. Und sei erhob sich vom Lager, zog sich schämig an und redete mit dem Unsichtbaren.
Je mehr sein Leben zeitlich von ihr zurücktrat, desto eifriger und inniger dachte sie seiner. Sie vergaß sein peinliches, zersetzendes, schadenfrohes Wesen, sie entkleidete den immer ferner werdenden Mann aller menschlichen Unzulänglichkeit, dichtete ihm Heldentum, Ritterlichkeit, Kraft, Aufopferung an und verliebte sich schließlich in dieses Wahngebilde. Sie erzählte edle Züge aus seinem Leben, schilderte ihn als Kämpfer für die Freiheit, als Dichter und erfolgreichen Staatsmann, als Urbild aller Mannesschönheit. Sie redete von ihm nur mehr als von ihrem verklärten Verlobten und blieb ihm fortan bis in den geheimsten Gedanken treu und mit der vollkommenen Treue einer Nonne, die sich der Welt verschließt.
Es war nur ein einziges Bild Jukundins vorhanden, er hatte es von einem Wiener Künstler auf Elfenbein malen lassen, und der junge Mensch darauf mit dem wildlockigen Haar und dem in leisem Spott gekräuselten Mund sah edel und verworfen schön aus wie ein gefallener Gott. Marianne hatte sich in den Besitz des kaum handgroßen Bildleins gesetzt und trug es immer bei sich.
Ihr Gedächtnis war von einer sonderbaren Schwäche befallen worden, es konnte keine Bilder mehr festhalten. Wenn sie nachts erwachte und an Jukundin denken wollte, erinnerte sie sich niemals seiner Gesichtszüge und musste das elfenbeinerne Abbild zu Hilfe nehmen, um wieder von ihm träumen zu können. Sie fürchtete schließlich, mit dem Verlust des Bildes die Erinnerung an ihn zu verlieren, und hielt es darum wie einen Götzen fest und ließ es nicht aus den Händen.
Oft beobachtete sie das Bild so angestrengt und starr, bis es sich ihr belebte, bis seine Brust sich hob und atmete und sank, bis der feine, verhalten spöttische Mund zuckte und sich aus seiner Verworrenheit zu lösen schien zu einem reinen, beglückenden Lächeln und zu einem heimlichen Wort, den schönsten, das sich ein liebendes Weib wünschen kann. Und indem sie also gleichsam den Nebel umarmte, wurde sie glücklich, und ein milde, abendrötliches Spätlicht fiel in ihr Leben, und sie genoss im Herbst eine sturmlosen, silbernen Traumfrühling.
Sie setzte sich wieder an das lange vernachlässigte Spinett, legte das angebetete Bild vor sich hin und spielte daraus wie aus einem Notenheft. Ihr Spiel war ein wirrer, hässlicher Lärm, die zerrissenen Saiten schepperten, und die trostlose Verstimmtheit des Klangwerkes wurde ruchbar. Aber Marianne hörte nur das jenseitige Wogen in dem Dämmergrund ihrer Seele und sagte: »Das Spinett hat nur gewonnen, indem ich es so lange habe rasten lassen.«
Sie ergoss sich stundenlang in zusammenhanglosen, sinnlosen Musikträumen und erzählte hernach wunderliches Zeug, das sie während des Spieles erlebt hatte, und darin meistens ein unbekannter, schwarzgekleideter Herr auftrat, der höflich und dringend um ihre Hand warb, doch von ihr zurückgewiesen wurde, weil sie sich nur für ihren Bräutigam aufbewahren wollte.
Am glücklichsten war sie immer im Vorherbst. Da stand sie versunken im Garten, darin sich die letzten Rosen zu Tod blühten und zerflatterten, oder sie schritt in leiser Feierlichkeit über die Wiesen oder über einen Stoppelacker und sah die stillen Silberfäden in der Luft schweben und war in einer grundlosen Wehmut selig und hingegeben dem Zauber der Einförmigkeit. Zuweilen tat sie mit der Hand eine Gebärde, als verstreue sie etwas. Wenn dann alles Land in einem sanften, müden Goldglanz verschleiert war und der Himmel voll klarer Schönheit in sich selber hing, fühlte sie sich reif und ruhig.
Einmal, am Allerseelentag, ertappte Christa die wunderliche Schwester, wie sie in der Küche mit ungeschickten, berußten Händen ein Herdfeuer anzünden wollte. »Was tust du da, Marianne?« Sie erwiderte geheimnisvoll: »Heute ist das Fest der Seelen. Da muss ein Feuerlein brennen, denn einer lieben, armen Seele ist kalt, und sie soll daran die Finger wärmen.« Da lächelte Christa: »Du tust recht. Und wir wollen auch ein paar Bröslein Brot in die Flamme werfen, dass die Seele sich sättige in ihrem Hunger.« Und Marianne rief plötzlich mit zuckendem Mund: »Hilf mir ihm helfen!« Eine finstere Erinnerung hatte für einen Augenblick lang den rosigen Vorhang ihrer Träume durchstoßen.
Oft saßen die gealterten Mädchen abends beisammen, und die Rede ging stockend um den Tisch. Sie lebten in solchen Stunden nur der Erinnerung, und was sie sagten, begann meistens mit den Worten: »Weißt du es noch?« Und dazwischen erzählte Marianne etwas Erträumtes.
Dann flüsterte Lisabeth wohl: »Das liebe lange Leben!« Und Christa erwiderte: »Das Leben vergeht schnell.« Und Lisabeth nickte: »Ja, alles ist Vergängnis.«
»Einmal, da war ich achtzehn Jahre alt«, hub Marianne an, »und es war Weihnachten. Und in der Weissagenacht wollte ich erfahren, wer mich heiraten werde. Da zog ich mir alles Gewand aus und zuletzt auch das Hemd und lief schnell in den Hof und kroch in den Backofen. Niemand hatte mich gesehen. Wie kalt war die Nacht, und doch war mein Blut heiß, dass es mir bis ins Hirn hinauf dampfte. Und als ich furchtsam aus dem Backofen herausschaute, was glaubt ihr, wer draußen stand? Jukundin war es, Jukundin. Er hielt mir mein Hemdlein hin, ich soll es anziehen. Als ich aber das Hemd aus seiner Hand genommen hatte, war es verschwunden.«
Die Erzählerin blickte ihre Schwestern misstrauisch an und bat: »Glaubt es mir! Es ist wahr.«
Lisabeth und Christa nickten und widersprachen nicht.
»Und jetzt muss ich von einem Traum reden«, fuhr Marianne fort. »Mir träumte, ich zog eine schöne, blanke Schlange groß und hatte sie sehr lieb. Da kam ein Mann und zeigte mir ein rotes Beil und sagte, er habe der Schlange den Kopf zerschlagen, weil sie so giftig sei, und jetzt müsse er sie vollends umbringen. Ich wehrte es ihm, und die Schlange kroch in meinen Schoß und redete wie ein kleines Kind zu mir: ‚Mutter!'«
»Seltsam!« sagte Christa. »Ob die Träume wohl einen Sinn haben?«
Und wieder redete Marianne: »Vor alter Zeit lebte in diesem Schloss ein adeliges Mädchen, das hießen sie nur ‚das ewige Fräulein'. Sie war voller Liebreiz, und mancher edle Herr hätte sie gern heimgeführt zu seinem Herd. Doch sie verlobte sich keinem, weil sie den Schmerz des Gebärens mehr fürchtete als den Tod. Sie wurde sehr alt und sehr einsam, und als sie gestorben war und man sie zu Grabe trug, liefen sieben fremde Hähnlein mit hübschen, bunten Federn hinter ihrem Leichenwagen daher und ließen sich nicht verscheuchen, und erst, als das Fräulein ins Grab gesenkt wurde, flatterten sie über die Friedhofsmauer davon. Die sieben Hähnlein, das waren die sieben Knaben, die sie hätte kriegen sollen und die sie getötet hatte, weil sie ihnen nicht das Leben gegeben. Und das ewige Fräulein war ich!« schloss sie traurig.
Groß und ahnungsvoll sahen die Schwestern sie an. Eine heisere Uhr schlug irgendwo im Haus. Von weither bellte ein Hund.
»Einmal saßen wir zu viert um diesen Tisch«, sagte Christa.
»Die Anna, die Anna!« murmelte Lisabeth. »Sie ist die einzige von uns, die unter die Haube gekommen ist. Was mag sie gelitten haben, ehe sie hinging -- ins Wasser?«
»Wir reden von ihr wie von einer Fernen«, flüsterte Marianne, »und vielleicht schleicht sie gerade jetzt im Schloss umher, vielleicht kauert sie hinter der Tür und behorcht uns!«
Alle drei lauschten erschrocken auf. Über ihnen am Dachboden tappte es wie verstohlener Geistergang. Sie lauschten lange.
»Es sind nur die Katzen«, sagte Christa endlich, doch mit unsicherer Stimme.
Sie atmeten befreit auf. Ja, das konnte niemand anderer sein als die verwilderten Katzen, die am Boden droben ihr Gejaid und ihren Tobelplatz hatten und weiß Gott wovon lebten!
Lisabeth zog trotzdem die mürben Vorhänge vor die Fenster, als fürchtete sie, etwas Fremdes, Unholdes könne von der nächtlichen Wiese hereinschauen.
Unruhig flackerte die Kerze. Ein grauer Schmetterling flog auf. »Eine Motte!« schrie Christa und klatschte mit den Händen danach. Aber das Geflügel entwischte und tanzte koboldisch um das Licht.
»Was sollen wir mit unserm Leben beginnen?« sagte Lisbeth halblaut. »Sollen wir uns heimlich entfernen wie die arme Anna? Sollen wir uns in kindische Träume flüchten?«
Christa erwiderte: »Es ist wohl am besten, das Leben nicht zu lieben und auch nicht zu hassen, es einfach zu leben, wie es kommt. Vieles wird ja besser, wenn man älter wird. Man wird geduldiger. Und man empfindet das Leid nimmer so heftig.«
»Aber auch die Freude freut einen nimmer so stark«, sagte Lisabeth. Und nach langem Schweigen schloss sie die Kette bitterer Gedanken: »Einst war es in mir wie ein hohes Feuer. Jetzt bin ich abgestorben. Alles in mir wird alt. Selbst die Gefühle verblassen, ermatten, werden Gedanken. Ich bin erloschen. Ich bin eine elende Pfennigseele geworden. Oder bin ich immer so gewesen wie heute? Und habe ich immer nur für Geld Sinn gehabt?«
Christa suchte sie zu erheitern. »Wir alle schleppen die Schrullen unserer Voreltern mit. Der Urgroßvater war in seinem Alter auch so sparsam geworden. Er hatte den Schupfen voller Brennholz, und dennoch stieg er, auf die Gefahr hin, sich den Hals zu brechen, auf eine turmhohe Fichte und holte ein Krähennest herunter und heizte sich damit ein.«
»Über solch wunderliche Laune kann man lachen«, sagte Lisabeth. »Über meinen Geiz lacht niemand. Aber ich kann mir nicht helfen. Erzähle, Schwester, erzähle, dass ich nicht über mich nachdenken muss!«
Und Christa begann: »Da war die stolze Veronika, die keinen Mensch kannte, weil sie in ihrem Hochmut keinen anschaute. Am Totenbett ließ sie sich ein köstliches Kleid und neue blaue Perlenschuhe anziehen, und als sie sich so wunderschön da liegen sah, sagte sie, es sei zu schade um die Pracht dieser Gewänder, dass sie vermoderten, und sie wolle damit nach dem Tode öfters spazieren gehen. Nach vielen Jahren setzte man in derselben Gruft ihren Gemahl bei, und da gewahrte man, dass die stolze Frau mit schmerzlich-demütigendem Gesicht halb aufgerichtet in ihrer Truhe saß und dass ihre Schuhe ganz zerrissen und durchgetreten waren, als hätte sie damit einen sehr weiten Weg gehen müssen.«
»Wie du dir das alles gemerkt hast!« wundert sich Lisabeth. »Ich weiß von den alten Geschichten keine mehr als die von dem Schlangenkönig.« Sie betrachtete lange ihre schmalen, verwelkenden Hände und die unvergängliche Spur des Bisses daran. »Es müssen harte, dornige Wege sein, die die wiederkehrenden Toten wandern«, sagte sie. »Ich möchte nicht umgehen. Ich möchte Ruhe haben.«
*
Der Mensch geht dahin und die Zeit neben ihm.
Die Dächer morschten, die Tünche blätterte von den Wänden, am Gemäuer zeigten sich kleine, warnende Sprünge. Das eingelegte Holz an den Kästen faulte heraus, die Leisten lösten sich, der Wurm drang in die Bretter. Der dürftige Rest der Bücherei war verspinnwebt, verschimmelt, die Buchrücken trugen belanglose Namen. Auf Püdensdorf las niemand mehr.
Bei helllichtem Tag schienen Gespenster in allen Winkeln des verödeten Hauses zu kauern. Die Schwestern hielten oft entsetzt mitten im Reden inne, standen ohne Regung und warteten, dass sich etwas Ungeheuerliches aus dem Dämmer einer Nische löse, und wurden aus diesem bangen Bann erst befreit, wenn etwa die müden Schritte des Knechtes Franz draußen über das Pflaster des Hofes schlurften.
Sie waren scheu geworden wie die wilden Rehe im Wald. Allen Verkehr hatten sie abgebrochen. Meldete sich ein Besuch, so musste Franz sie verleugnen, sie lägen krank oder wären weiß Gott wo über Land. Da blieben en bald die Menschen aus und ließen das unnahbare, weltflüchtige Kleeblatt unbehelligt.
Nur eine halb verrückte, wie eine Vogelscheuche aufgeputzte alte Baronin fand Gnade und wurde dann und wann empfangen, und da redeten sie in veralteten, abhanden gekommenen Wendungen, lobte das Vergangene, beklagten die jetzt läufige Zeit mit den neu eingerissenen Missbräuchen und sagten ihr keine gute Zukunft voraus. Sie erzählten einander von verrauschten Festen, wo hohe Kerzen auf der Tafel gebrannt hatten und säuberliche Menuette getanzt worden waren bei Flöten und Geigen, von Ausfahrten und Rossgeläute auf winterlichen Straßen und von ritterlichen Männern, die nimmer waren.
Die Baronin kam gewöhnlich zu Mittag in das Schloss, und da versteckten die drei Fräulein hastig das dürftige Mahl, das tagtäglich aus Erdäpfeln und Milchsuppe bestand, und ohne dass sie darum wären gefragt worden, logen sie der Freundin vor, es habe heute wieder Sauerbraten gegeben, und man schnuppere es noch.
Dann blieb auch die alte Baronin aus, und die Schwestern erfuhren es Monate lang nicht, dass sie gestorben war.
In einer sehnsüchtigen, der fernen, fernen Jugend zugewandten Stunde ließen sie einmal die Kutsche vorfahren. »Nach Runding!« befahl Lisabeth.
Franz hockte bucklig in seinem verschossenen Dienstgewand auf dem Bock. Steif und stolz saßen die Fräulein im Wagen. Und dennoch schwellte etwas Wunderbares ihre Herzen. Die Raden brannten wie Lichter im Korn, der süße, schwere Geruch der Kartoffelblüte wehte von den Feldern, die Birke, der Wonnebaum, harrte hell am Weg wie ein grüßender Mensch.
Lisabeth sah die Bergwälder, die sie seit ihrer Kindheit nimmer betreten, immer näher und klarer herankommen. Die Schwermut der Wolken teilte sich ihr mit. Die süße Traurigkeit der Welt tat ihr wohl.
Unterwegs brach ein ganz kleines Gewitter los. Sie hielten unter einem Baum, bis es vorüberging, und lauschten erstaunt der dräuenden, überschwänglichen Leidenschaft des Donners und dem stillen, steten Rieseln des Regens.
Dann leuchtete wieder die Sonne, die feuchten Wiesen erhoben ein Gefunkel, und der Wagen rollte weiter.
Aus dem beschaulichen Genuss der Landschaft erwachend, sagte Christa: »Meine Augen sind schwach geworden. Früher habe ich schon von Weitem die Fenster von Runding blitzen sehen. Heute nimmer.«
Ein Forstbursch begegnete ihnen. »Wollen Sie zu dem Freiherrn Nothafft fahren?« fragte er verwundert. »Ach, der wohnt schon längst nimmer da droben! Das Gut gehört jetzt einem reichen Geldmenschen aus München. Der lässt das Schloss verfallen, es trägt ihm zu wenig Nutzen.«
»Umkehren!« rief Lisabeth. Ihr Gesicht war grau.
Sie gerieten auf ein ungepflegtes Sträßlein, dort hatte der Regen die oben liegende Schotterschicht in den Graben geschwemmt, und der Felsgrund trat klotzig an den Tag. Als hier der Gaul etwas straffer anzog, krächzte die Prunkkutsche der Rauchenegge plötzlich und löste sich in Trümmer auf.
Das Tier stand mit bebenden Lenden, von dem fluchenden Kutscher gehalten. »Gibt es denn keinen Teufel mehr!« wetterte er.
Die Insassinnen waren mit dem bloßen Schrecken davongekommen. Sie begaben sich zu Fuß wieder zurück. Der Weg dünkte sie weit. Sie sahen ihr Schloss von einem stumpfen, fahlgelben Dunst umhüllt.
*
In einer Herbstnacht weckte sie ein mächtiges Geräusch. Es war, als wäre das ganze Schloss in einen brausenden Strom versenkt worden. Es polterte und dröhnte im Haus, und blaues Feuer füllte je und je die Fenster, aber der Donner war nicht zu vernehmen, der Sturm übertäubte ihn, der von Böhmen her gestürzt kam.
Geängstigt von dem fremden, wilden Atem, der durch die Stuben wehte, kleideten sich die Fräulein an.
Das Gebäude wankte unter den schweren Stößen des wachsenden Unwetters. Püdensdort stand offen in dem weiten Tal, kein Berg, kein Wald schützte es vor dem Sturm, der es wie ein schnaubendes Untier überfiel.
Schlossen prasselten in die Scheiben, zerschlugen sie, stürzten in das geöffnete Bett Lisabeths, froren darin im Nun zu einem Eisklumpen zusammen.
Die Schwestern lauschten wie bange, gewittergeduckte Vögel. Christa begann zu beten, Marianne weinte. »Das Dach hebt es uns ab!« raunte Lisabeth.
Dann war es, als taumle die Welt. Das Schloss schaukelte.
Die Fräulein flüchteten sich in den Hof. An einer Mauer suchten sie Schutz.
Auf den Dächern war es lebendig geworden: die Legschindeln hoben sich, schütteten die Steine, die sie beschwerten, in die Tiefe und flogen ins Dunkel hinaus. Die morschen Fensterläden riss es aus den Angeln. Eine wilde Kraft zerrte an der Scheuer und nahm die lockeren Bretter. Bäume ächzten und knacksten, vom Garten her schollen dumpfe Stürze. Und immer das drohende Gebraus.
Die Schwestern meinten, vor Furcht zu sterben oder von Sinnen zu kommen. Sie hielten einander umklammert. Der Knecht näherte sich mit einer zerscherbten Laterne.
Da durchdonnerte es den Sturm, und der Erdboden bebte. »Was geschieht?« schrie Marianne auf. Franz rief: »Die Welt geht unter!«
Im Grauen des Morgens legte sich der Sturm. Eine matte, strahlenlose Sonne begann.
Die Schwestern irrten durch den gebrochenen, verwüsteten Garten, mühsam stiegen sie über die entwurzelten Stämme. Nur wenige Bäume hatten sich behauptet.
Der gegen Chammünster gerichtete Giebel des Schlosses war samt einem großen Teil seiner Wand eingestürzt. Zimmer lagen offen, an den Mauern sah man von außen die Bilder der Ahnen hängen. Viel Hausrat war von dem einbrechenden Sturm heraus geweht worden und lag zerstört und zerstreut im Schutt der gesunkenen Wand. Das Dach war fast ganz abgedeckt.
Christa fasste sich zuerst in dem großen Jammer. »Es hilft nichts«, sagte sie, »wir müssen vorläufig in die Hütte ziehen, wo unsere Magd gewohnt hat.«
Von Franz unterstützt, griff sie sofort zu und schaffte Betten, Tischlein und Stühle in die Hütte hinüber. Viel ging nicht hinein.
Die Reste des anderen Hausrates wurden im Schloss in einer Kammer zusammengerückt, die weniger beschädigt war als die anderen Räume. Lisabeth wollte dort wohnen bleiben, sie wollte unbedingt nicht in das dumpfe, verräucherte Häuslein mit den winzigen Gucklöchern übersiedeln, das von Dienstboten behaust worden war. Sie wollte mit dem Schloss ihrer Ahnen sterben. Nur unter vielen Zureden und Bitten gelange es Christa, sie davon abzubringen, dass sie in den baufälligen Wänden blieb.
In der folgenden Tagen lungerte allerlei neugieriges Volk um Püdensdorf und beglotzte das geborstene Schloss und sprach sich mit höhnischer Genugtuung über den gefallenen Hochmut aus.
Der Landshütel klopfte sogar an das Guckloch, dahinter jetzt die Fräulein hausten, und als Lisabeth sich daran zeigte, schimpfte er: »Du hast nichts anderes können als am Fenster sitzen und auf uns arme Leute hinunter spucken. Dir geschieht recht!« Da schaute sie ihn so grell und mächtig an, dass er sich zurückzog.
Tagelang berechneten Lisabeth und Christa, wie viel Ziegel, Kalk, Bruchsteine, Sand, Legschindeln, Brettnägel und Bauholz sie kaufen müssten, um das Schloss wieder in die Höhe zu bringen. Die Kosten waren unerschwinglich. Seufzend ließen sie von dem Plan eines Wiederaufbaues ab.
Inzwischen bewährte sich Franz als Flickmaurer, und er stützten mit Stangen und alten Balken die schiefen Wände, dass sie nicht völlig zusammenbrächen und den trostlosen Schutthaufen vergrößerten.
In jener schweren Zeit schrieb Michael Preißler wieder den Fräulein, sie möchten das Gut seiner Weidegenossenschaft verkaufen und bot ihnen dafür eine günstige Summe und freie Wohnung in einem seiner Häuser in Cham. Lisabeth zerriss den Brief. »Püdensdorf wird nicht an einen beliebigen Irgendwen verkauft«, sagte sie. Und die Schwestern waren damit einverstanden. Wie hätten sie auch die gewohnte Stätte verlassen können? Wie sollten sie irgendwo anders und gar in einer geräuschvollen Stadt unter den wimmelnden Menschen ein neues Leben beginnen? Sie fühlten sich dazu schon zu alt. Und dann war ihnen, im Friedhof zu Chammünster unter dem Rasen und in den Grüften müsste es gespenstisch pochen, und die verwesten Munde der Vorfahren müssten zornig murmeln und die Enkelinnen verfluchen, die den edeln Besitz Emporkömmlingen überließen.
*
Doch auch in der Hütte konnten die drei nicht bleiben. Der Herbstregen flog durch das schlechte, sich auflösende Dach herein und schlug durch die Stubendecke. Und damit sie nicht im Winter in ihren Betten verschneit würden, siedelten sie in das gemauerte Häuslein über, darin die Mägde die herrschaftliche Wäsche gewaschen und das Brot gebacken hatten.
Lisabeth war seit dem Unglückstag eine unverbesserliche Schwarzseherin geworden, sie erblickte die Zukunft in totem Düster vor sich und murmelte immer wieder: »Es wird noch schlimmer. Ihr werdet sehen, wir müssen verhungern.«
Das Pferd musste aus Not verkauft werden. Und bald folgte die letzte Kuh nach. Ehrwürdig, trauernd und ergeben stand das Tier unter den feilschenden, fluchenden Händlern, die sich eingefunden hatten, es zu erstehen, und die nun mit Franz handelten und den Preis herabzumindern suchen. In dem öden Stall blieben nur noch zwei Ziegen. Es war jetzt ganz so wie bei armen Leuten.
Auch Christa verlor damals fast allen Lebensmut, eine Müdheit wollte sie zu Boden drücken, wie sie es ihr Lebtag nie gekannt hatte. Sie strich sich über ihr schlichtes, silberweißes Haar und sagte: »Mit dreiundzwanzig Jahren schon habe ich weiße Fäden im Zopf gehabt. Meine Haare haben es früher als ich gewusst, sie schlecht es mir einmal gehen soll.«
Sie raffte sich aber wieder aus dem unfruchtbaren Schmerz auf, gab sich freudig und freundlich und zwang sich, an nichts anderes zu denken als an die Arbeit. Ihre Hände waren rastlos. Und oft erwachte sie in der Nacht und fand sich schlafwandlerisch vor dem Ofentürlein kauern, Späne in der Hand.
Marianne war seit dem Schrecken der Sturmnacht ganz irr, seltsame Träume schienen ihren Leib aufzuzehren. Sie wurde sehr schmal, ihre Wangen verfielen, ihr Gesicht wurde gelb und kränklich. Nur die Augen loderten ihr noch immer.
Als der Winter das Land mit seinem weißen Linnen zudeckte, fing Marianne an, alte Wäschereste zusammenzutragen, und sie nähte daraus kleine Hemden und strickte zarte Häublein und bewahrte all die winzige Wäsche in einem Badewännlein auf. Bei dieser Beschäftigung lächelte sie verschämt, ließ dunkle und doch durchsichtige Andeutungen fallen und benahm sich überhaupt wie eine Frau, die guter Hoffnung ist und alles zur Geburt ihres Kindes vorbereitet. Und als die ersten gelben Frühblumen aus der Wiese drangen, gestand sie den verdutzten Schwestern: »Ich werde jetzt einen Knaben zur Welt bringen, der soll Jukundin heißen.«
»Eine neue Narretei!« rief Lisabeth außer sich. »Behalte sie um Himmels willen für dich! Wir sind in unserer Armut schon lächerlich genug.«
Christa winkte ihr flehentlich zu, zu schweigen, und fragte dann: »Marianne, wer ist denn des Kindleins Vater?«
»Wer denn sonst als der Frühlingsmann?« redete die Irre. »Seine großen, stürmischen Adlerflügel sind über mir gewesen und haben mich überschattet.«
Und sie wusch die klägliche Kinderwäsche, sonnte sie auf dem jungen Rasen, hütete sie, dass die Hühner und Gänse der Taglöhner sie nicht beschmutzten, kauerte dabei und sang.
»Lass sie spielen!« besänftigte Christa die unwillige Schwester. Und Lisabeth nickte müde und murmelte: »Alte Leute werden wieder Kinder. Wie werde ich mich noch wandeln?«
Marianne widmete alle ihre zärtlichen Gedanken, ihre ins Leere tappenden Liebkosungen, ihre Schlummerlieder dem ungeborenen Knäblein Junkundin. Geschwätzig erzählte sie, wie sie ihn wolle auf der Ziege reiten lassen und Sträußlein pflücken und Vögel haschen, und hernach wieder redete sie, als wäre er schon längst auf der Welt und tummle sich im Schlossgraben, und sie beschrieb ich, als stünde er leiblich vor ihr und sie läse alle Schönheit von seiner Stirn und alle Güte aus seinen Augen. Sie, die einst um der schmerzlichen Mutterwerdung willen dem Geliebten abgesagt hatte, genoss in ihrem Wahn das lieblichste Mutterglück und war darin geborgen vor den Sorgen des Daseins, die schwer auf ihren Schwestern lasteten.
*
Zwei Jahre lang wartete Marianne mit immer gleicher Freude und ohne Ungeduld auf ihre Niederkunft. »Mein kleines Hähnlein wird bald krähen«, lachte sie.
Der freudige Wahn aber endete jäh, als ihr das elfenbeinerne Bild Jukundins verloren ging. Sie suchte es einen vollen Tag lang in Gras und Schutt, und als sie es nimmer fand, verblasste ihr die Erinnerung daran und zugleich ihr Mutterglück, der holde Spuk war aus, und damit endete ihr auch die Welt
Sie wurde so wie eine Staude, die in sich gekehrt lebt und sich nicht äußert. Tot für das Leben um sich, ging sie einher. In den Nächten fuhr sie aus dem Schlaf und wusste nicht, wer sie war, und fragte die Schwestern darum.
Wieder roch es nach Herbst, der Ahorn brannte grell durch den Nebel, die Schwalben badeten nimmer im Fluss. Ein Flößer stand lässig auf seiner Fähre und sang ein raues Lied.
»Christa, du weißt nicht, wie mir ist«, sagte die Irre und erschrak vor ihren Worten, als habe sie vorwitzig ein Geheimnis verraten.
»Du bist krank«, sagte die Schwester, »wir wollen einen Arzt holen.«
»Nein, Christa, nur keinen Arzt! Ich schäme mich vor ihm.«
Der Arzt wurde gerufen, und auf vieles Zureden ließ sich Marianne von ihm untersuchen.
»Ich finde nichts«, sagte er. »Sie sind kerngesund und können neunzig Jahre alt werden.«
Und die Krähen flogen durch die Fenster des öden Schlosses und meldeten den Winter, und bald lag es verschollen in der alabasternen Landschaft. »Wie schön war es einst, als wir durch die Blumen gingen!« flüsterte Marianne.
Einmal hatte sie ganz kluge, klare Augen und sagte zu den Schwestern: »Meine Uhr läuft ab. Wenn es kein Frevel wäre, würde ich mit euch wetten, dass ich im Sommer nimmer da bin.«
Ein anderes Mal drang sie in die modrige Schlosskammer, deren Fenster schon jahrelang nimmer geöffnet worden waren. In dem Wust verfallender Hausgeräte stand das Spinett, und sie schlug eine Taste an. Rostig klirrte es, als ob es zürne, dass es noch einmal in seinem Verdämmern gestört werde. »Du heiseres Gespenst, was klagst du mich an?!« rief Marianne. Und sie ging und begehrte niemals mehr zu spielen.
Christa ließ die Irrsinnige nimmer allein, in dunkler Flucht folgte sie ihr überall nach. Einmal geleitete sie sie zu dem Fluss, der sich düster durch die verschneite Einöde wälzte. »Wohin ist das buckelige Mädchen gereist?« fragte Marianne mit befremdlichem Lächeln. Dann deutete sie auf das Wasser: »Siehst du das blasse Haupt? Es taucht aus dem Fluss. Dort schwimmt es. Jetzt belebt es sich. Es ruft. Eine Welle spült darüber. Jetzt ist es versunken. Komm, lass uns den Fluss meiden, er ist voll schrecklicher Stimmen!«
Die Stauden trieben wieder Laub, der blaue Himmel grüßte mit Lerchenzungen nieder, ahnende Frühlingsbäume sausten, in der Luft schien goldener Staub zu schweben. Es war ein verklärter Tag. Aber Marianne sagte weltbang: »Die Sonne wird mit mir traurig.«
Am selben Abend, der Wind war reich an milden und zagen Glocken, sank Marianne plötzlich in die Arme Christas zurück und rief in namenloser Angst: »Jetzt -- jetzt -- holt er mich heim!«
»Was ist dir?« staunte Christa.
Die Sterbende öffnete die großen, schönen, dunkeln Augen.
Christa umschlang mit einem Schrei wunder, wilder Liebe die Erblassende. »Verlass uns nicht!« bettelte sie.
Mariann hauchte: »Ich bitte dich, lass mich nur einmal noch -- einmal noch -- Musik hören!«
Lisabeth rannte ins Schloss hinüber, in die Rumpelkammer, und suchte: Sie kam zurück und hatte nichts anderes gefunden als das verdorbene Werkeiner Spieluhr, und das begann dünn und erbärmlich zu zirpen. Marianne versuchte, ein wenig zu lächeln, doch gelang ihr es nimmer. Und während das Spielwerk ein misstöniges, unkenntlich gewordenes Menuett sang, zog Gott sie leise an sein träumerisches Herz.
Der Arzt beschaute die Leiche. Dieser Fall sei ihm unerklärlich, meinte er. Das Freifräulein sei nicht im Mindesten krank gewesen, sondern als ganz gesunder Mensch gestorben.
Darauf lachte Christa wie zu sich gewandt: »Sie starb, weil sie keine Freude mehr hatte.«
*
Die beiden Schwestern waren aller Mittel entblößt und wagten darum nicht, durch Briefe und kostspielige Boten den benachbarten Adel zu verständigen, dass das edle Fräulein Maria Ann von Rauchenegg nach dem Willen des Allmächtigen in unvorhergesehenem Tod aus diesem Jammertal abgeschieden sei. So beriefen sie nur eine Totenbitterin, die im Armenhaus zu Cham wohnte, dass sie den Heimgang der Schwester in der nächsten Umgebung des Schlosses melde.
Die Ansagerin trug eine Art handwerksmäßiger Trauer im Gesicht. Es hatte lange Zeit gebraucht, bevor sie sich diese Betrübnis angelernt hatte. Doch über diese gekünstelte Trauer schielte die Neugier hinüber, als das Weib in die elende Stube der Fräulein trat.
»Schön willkommen!« grüßte sie. »Jetzt geht es mir gut, mein Weizen blüht. Gott sei Dank, die Zeit ist ungesund. Und ihr zwei, jetzt werdet ihr euch besser ausbreiten könne in dem Loch da, wenn das Fräulein Schwester auszieht. Wissen Sie, wie die schlimmen Leute sie gespottet haben? ‚Die Mariandel von der ewigen Schwangerschaft' hat man sie geheißen.«
»Wir wollen solche Dinge nicht wissen«, sagte Lisabeth.
Das Weib kehrte sich nicht an diese Abweisung. »Im Armenhaus haben wir schönere Kammern als die da. Aber ihr zwei wohnt wenigstens allein. Unsereins muss das Haus mit dem übelsten Gesindel teilen. Da hab ich eine Nachbarin, Afra heißt die alte Trud, Tür an Tür haust sie mit mir. Drei Hennen hält sie sich und keinen Hahn dazu. Aber ich dulde es nimmer, dass mein Hahn mit ihren Hennen geht, sie soll sich selber einen halten. Das ist die höchste Schmutzerei! O die Afra! Da gäb es zu erzählen! Einmal geht sie für einen halben Tag in die Dörfer betteln. Wie sie heimkommt, nimmt sie gleich das Messer aus der Schublade und geht auf den Dachboden hinauf. Und richtig findet sie ihren Mann droben an einem Haken erhängt. Sie greift ihn ab, ob er schon kalt ist, hernach schneidet sie ihn ab, schleift ihn in aller Seelenruhe hinunter in ihre Stube und legt ihn auf den Tisch. Wir Armenhäusler kommen gelaufen. Sie steht dort und plärrt: ‚Jetzt ist er verdammt! Jetzt ist er verdammt!' Alleweil plärrt sie dasselbe, es fällt ihr nichts Besseres ein. Und auf einmal ist sie ganz gefasst und sagt: ‚So, jetzt muss ich schauen, was er hinterlassen hat!' Und schnurgerade geht sie auf das Bett los, greift unter den Strohsack und erwischt mit dem ersten Griff einen alten Kleiderschnittbogen, und darauf steht mit Bleistift geschrieben: ‚Liebe Afra! Du weißt, ich hab nimmer lang zu leben. Drum mach ich es kurz. Dir hinterlasse ich alles. Dein Jakob.' Ja, ja, ein schwächlicher Mann ist er gewesen, der Jakob, aber schreiben hat er nicht können. Das auf dem Testament ist ihre Schrift gewesen. So schaut meine Nachbarschaft aus. Und hernach haust neben mir der krumme Thomas, er ist schon seit fünf Jahren nimmer aus der Stube gegangen, ganz ausgewachsen ist er, nur ein Gedanke von einem Mann. Achtundachtzig Jahre! Ein schönes Alter!«
»Gott möge verhüten, dass ich einmal so alt werde!« sagte Christa erschrocken.
»Ei, man muss es nehmen, wie es kommt!« entgegnete das Totenweib. »In unserem Haus die Schwabenkathel ist noch viel älter geworden. In ihren letzten Jahren ist sie nur noch gelegen. Und so lange ist sie bettlägerig gewesen, bis Löcher aus ihr gebrochen sind und ihr das Fleisch verfault ist. ein Geruch ist in ihrer Stube gewesen, nicht zum Aushalten. Aber böse ist sie gewesen wie das höllische Feuer, bis zu ihrer letzten Stunde! Und da ist noch der Landshütel, der Gauner, der Bettelmann, der hat jetzt gar ein recht abscheuliches, rothaariges, zahnluckertes Weib geheiratet. ‚Die passt zu meinem Geschäft!' hat er gesagt. Und hernach sind zwei Leute bei uns, die haben mitsammen in ein paar Jahren sechzehn Kinder gekriegt; betteln müssen sie jetzt gehen, weil sie die Herde nimmer durch ihre Arbeit ernähren können. Hernach ist ein Weib da, das hat die Wurmkrankheit. Die Buben geben ihr gestohlene Rüben, und sie muss ihnen dafür das Geschwür zeigen. Mein Gott, oft mein' ich, ich muss aus dem Elendhaus davonlaufen. Man ist doch ein ordentlicher Mensch. Wie oft hab ich mit ihnen gestritten! Wie oft hab ich mich vor lauter Wut über das Gesindel aufhängen wollen! Aber ich tu es doch nicht. Weil man davon blaue Füße kriegt.«
Als das Weib sich entfernt hatte, sagte Lisabeth: »Ich kann mir keine fürchterlichere Strafe denken, als unter diesen Leuten wohnen zu müssen. Und unsere Vorfahren, die dieses Armenhaus gestiftet haben, haben gemeint, sie tun damit den Menschen etwas Gutes.« --
Die Rumpelkammer des Schlosses war von Franz ausgeräumt worden, und nun ruhte dort, mit Blumen der Püdensdorfer Wiese bedeckt, einen Jungfernkranz im grauen Haar, die gelben Hände gefaltet, im Sarg das Fräulein Marianne.
Am Weißen Sonntag wurde sie der Erde übergeben.
Langsam schritten die hinterbliebenen Schwestern heim. Die Landschaft schwebte in düstere Sanftmut, Wolken flossen dahin, verschwammen ineinander, trennten sich träumerisch und lösten sich auf.
»Jetzt sind wir nur noch zwei«, sagte Christa.
Der Fluss zog mit leise quirlenden Wassern. Weiden sahen unablässig in seine Tiefe, als suchen sie etwas drunten, versunkene Träume, verschollenes Leben. Der Wind hing schwermütig in dem müden Gezweig.
*
Umweht von der frostigen Luft des Alters, herbstliche Menschen, welk, ohne Ernte, leben die Fräulein dahin. »Wozu waren wir auf der Welt?« fragte Lisabeth. »Ich sehe keinen Sinn.«
Sie hatten die Macht über die Schlosstaglöhner verloren. Diese machten sich in der Stadt zu schaffen, wo es reger und wechselreicher zuging und besserer Verdienst blühte, und überließen die Arbeit auf dem Gut ihren Weibern und Kindern, und diese wieder verrichteten ihre Pflichten nur mangelhaft und unwillig, und wenn der Knecht Franz sie zu größerem Eifer antreiben wollte, lachten sie ihn aus.
Und so plagte sich Franz meist allein auf den kleinen Feldern, wo er Erdäpfel und ein wenig Korn anbaute, und er erntete am Ufer das welke Laub der Weiden, das der Fluss nicht davon geschwemmt hatte, und streute es den Ziegen unter. Wenn ihm dann vor Müdigkeit die Glieder versagten, hockte er sich in das Gras des Gestades und fischte, dass seine Herrschaft einen Hecht oder einen Aal auf den schmalen Tisch stehen hätte und nicht von trockenen Kartoffeln und Geißmilch allein leben müsste. Das wunderliche Fräulein Lisabeth sollte nicht immer wieder sagen: »Du wirst sehen, Christa, dass wir einmal verhungern!« Wie tröstlich redete dagegen die Jüngere: »Wir kommen schon aus. Der Mensch braucht ja so wenig.«
Einmal jammerte Lisabeth: »Jetzt leidet es uns kaum noch das Mittagessen. Wir müssen den Franz entlassen, er ist ein zu starker Esser. Wir müssen uns ohne Dienstboten behelfen«, lächelte sie bitter, »wie die Götter Griechenlands.«
Darauf erwiderte Christa bestimmt: »Schwester, der Franz isst doch nur so viel wie ein Vöglein. Er muss bei uns bleiben. Und wenn er geht, gehe ich auch.«
Sie dachte jetzt viel über den greisen Knecht nach. Er hatte seit je wie unterirdisch in dem Schloss gelebt und hatte sich nur gezeigt, wenn es galt zu dienen. Immer hatte sich dieser Mensch nur für andere geplagt. Er fand es für selbstverständlich, dass er mit seinen schwindenden Kräften bis in die dunkle Nacht hinein für seine Herrinnen schaffte. Er hatte für seine alten Tage nichts erworben, er besaß nichts, als was er am Leibe trug, das verblichene Röcklein, die verwaschene blaue Schürze. Immer war er kärglich gelohnt worden, in den letzten Jahren gar nimmer. Fünfzig Jahre hatte er auf Püdensdorf gedient. Fünfzig Jahre!
Was wusste seine Herrschaft von ihm? Höchstens, dass er in der Rosskammer schlief und nach den Pferden roch. Wie ein stilles Haustier unbeachtet und ausgenützt hatte der treue Mann gelebt. Niemand hatte sich um seine Seele gekümmert.
Einmal in der Dämmerung setzte sich Christa zu ihm auf das Hofbänklein und hörte ihm zu, wie er den Tieren nachtrauerte, die er einst betreut hatte und die hatten verkauft werden müssen. »Ich welchem Stall wird jetzt mein Schimmel stehen?« murmelte er. »Ob das Bräunel es jetzt gut hat? Es waren schöne Rösser.« Und er schmiedete einfältige Pläne, dem Gut Püdensdorf wieder aufzuhelfen, und er erwog, ob man nicht die heilige Korona damit betrauen könne. Dreiundzwanzig Vaterunser müsse eine reine Jungfrau beten Nacht für Nacht und dazu ein Lichtlein brennen lassen, bis endlich die Heilige sich einstelle, wie ein frommes Weib angezogen, ein schwarzseidenes Tuch um den Kopf und in einem Korb das Geld, darum man gebetet habe. Doch dürfe man nicht so albern sein wie jene Magd, die nur um drei Gulden für ein Gewand gebetet hatte; der habe zwar die Korona das Geld treulich gebracht, habe ihr dabei aber eine erkleckliche Schell herunter gehauen, weil nicht mehr verlangt hatte und sie, die Heilige, um der paar Gulden willen den langen Weg aus der Ewigkeit herüber habe gehen müssen.
Es war ein friedlicher Abend, der Mond hing über dem zerfallenden Schloss und prahlte wie ein feiner Silbertaler, und die Schwalbe im Nest zwitscherte vor dem Schlafengehen noch einmal auf und sagte: »Ich soll mir meinen Kittel flicken und hab doch keinen Zwirn.«
Und Christa redete auf einmal den Knecht an: »Jetzt weiß ich, wer du bist. Du bist der Vetter Paul.« Und sie fasste dir raue, müde Hand des erschrockenen Mannes, küsste sie und bat schmerzlich: »Franz, verzeih uns!«
Verlegen wehrte er das Fräulein ab, und er war froh, als das Dämmerglöcklein von Chammünster herüberscholl und Christa augenblicklich verstummte und die Hände faltete.
Sie war sehr fromm geworden. Oft in der Nacht erhob sie sich und schlich an das Ufer des Regens, kniete dort hin und betete leidenschaftlich für das ewige Heil einer armen Selbstmörderin.
*
»Kraah, kraah, der Winter ist da!« klagten die schwarzen Vögel, die vom Galgenberg über das Tal hinflogen zu den Tannen des Lamberges. Es war ein mächtiger Winter, und schwer lag das Gebirge im Schnee, der wochenlang vom Himmel gefallen war, die Dörfer von der Welt abschnitt, die Wälder beugte und die Hütten bis zu den Rauchfängen zudeckte. Und der Schnee ruhte unbewegt, bis Tag und Nacht gleich wurden, und der Frühling auf den Flügeln der Stürme ins Land kam.
Da hörte Lisabeth draußen die Dachrinne tropfen, den tauenden Schnee dumpf niederfallen und den Wind fauchen. Vom Fluss her krachte es, sein starkes Eis sprang.
Und ein seltsam schwüler, grauer Tag brach an.
Aus dem Tal von Kötzting her schoss der hochgeschwellte Regen, genährt von den Tauwassern des Arbers, des Ossers, des fernen Rachelstockes. Der Fluss, der sommerüber die Weiden seines Gestades und die Wolken des Himmels spiegelte und geduldig Bäume und Scheiter flößte und dunkelblond und glatt und klar dahinfloss, ihm war es langweilig geworden zwischen den ewig gleichen Ufern, er sehnte sich nach anderen Bahnen, er ermannte sich wie ein Rasender, sein Geleise zu zerbrechen und sich ein neues Bett zu reißen. Mit Drachenkraft erhob er sich, wälzte krachend und knirschend das gesprengte Eis und bedeckte das weite Talfeld.
Seines gekrümmten Weges spottend, schoss er schnurgerade auf das Schloss los uns stieß seine Schollen wie Mauerbrecher an das Gebäude, schleuderte sie hoch und zog sie mi der rückprallenden Woge wieder zurück. Im ersten Anlauf nahm er drei der Püdensdorfer Taglöhnerhütten mit sich.
Viele Stunden lang saßen die beiden Fräulein mit ihrem Knecht auf dem Dach des Backhauses.
Das Tal war ein See. Von den Wellen umkämpft, ragte das Schloss. Seine Mauern dröhnten nieder, planschten ins Wasser.
Es war ein Glück, dass die Witterung wieder umschlug und neuer Frost eintrat. Das Wasser sank und zog sich in das alte Bett zurück.
Das Schloss war zerstört, es war kein Haus mehr, es wer nur noch das holäugige Gespenst eines Hauses. Die Ställe waren vernichtet, die Scheuer war weggeschwemmt. Püdensdorf war dahin.
Die Scharwerker weilten stumpf vor den Stätten ihrer ausgetilgten Hütten, ihre Weiber und Kinder heulten und wollten fort aus diesem gefährlichen Tal. Sie begehrten zu siedeln an den sicheren Berghängen oder in der wohligen Stadt.
Die letzten Bäume des Gartens waren von den anstürmenden Schollen entrindet und bis aufs Mark beschädigt und gebrochen worden. Nur der wilde Birnbaum blieb wie durch ein Wunder unberührt.
Das Backhaus, darin die Fräulein wohnten, zeigte bedenkliche Sprünge.
»Was tun wir jetzt?« fragte Christa bang.
Lisabeth sagte: »Wir bleiben!«
Der Landrichter kam angefahren. Er schritt um das Haus herum und betrachtete es kopfschüttelnd. Dann zog er an dem Glockenzug. Es läutete nicht. Der Griff blieb ihm in der Hand. Er kettet ihn wieder schlecht und recht an. Dann klopfte er an die Tür. Das gelbe Mehl fiel aus den Wurmstichen.
Die Türangeln knirrten. Christa ließ den Herrn ein.
Er begrüßte die Fräulein ehrerbietig und sagte, wie sehr er es bedauere, dass das wütende Wasser sie so arg geschädigt habe. Er beherrschte seine Neugier, um die beiden nicht zu kränken: der Raum hier bot auch einen betrüblichen unwürdigen Anblick, die Möbel waren elend und schadhaft, keine Uhr sang und klang, überall war das verderbliche Werk des Wassers zu merken.
»Ihr derzeitiger Aufenthaltsort hat sehr gelitten«, sagte der Landrichter. »Wenn der Fluss noch einmal steigt, hält dieses mürbe Gemäuer nimmer stand. Ihr Leben, meine gnädigen Fräulein, ist gefährdet. Ich rate Ihnen, das Gut zu verkaufen und nach Cham zu ziehen. Sie werden sich dort viel wohler fühlen.«
Lisabeth erwiderte: »Wir danken Ihnen, Gnaden Herr Landrichter, für den wohlmeinenden Rat. Aber wir bleiben.«
Das sagte er mit strengem Nachdruck: »Wir können nicht dulden, dass jemand in diesem gefährlichen Gemäuer wohnt. Man wird sie von Amts wegen auffordern, die Hütte hier zu räumen.«
Mit abgemessener Verneigung entfernte er sich.
»Sie sollen es versuchen, uns von unserm Eigentum zu verjagen!« murmelte Lisabeth.
*
In der Zeit der Überschwemmung hatte sich Christa verkühlt. Sie kränkelte, wurde bettlägerig und immer schwächer. Der Arzt wurde zu spät geholt, die Kranke hatte die Kosten der Heilung gescheut.
Als der Arzt sie fragte, wo es fehle, seufzte sie: »Ich weiß es nicht. Ich bin wie ein Spital, alle Krankheiten sind in mir. Retten Sie mich! Was würde meine Schwester anfangen, wenn ich stürbe!«
Der Arzt horchte eine Weile an ihrer Lunge, sah sie an und rief rücksichtslos: »O weh, o weh, o weh, da ist alles umsonst! Da hilft gar nichts!« Und er nahm seinen Hut und lief davon.
Lisabeth starrte ihm nach. »Nicht einmal eine Medizin hat er dir verschrieben! Er behandelt uns wie arme Leute. Er lässt dich einfach umkommen!«
»Es ist gut so«, flüsterte die Kranke. »Ich kenne ja vom Leben nichts mehr als die Müdheit.« --
Der Knecht war mit dem Distelmesser ins Feld gegangen, Unkraut auszustechen, und Lisabeth war mit der Schwester allein, als deren Auflösung nahte.
Christa erhob sich noch einmal aus ihrer Erschöpfung und bat mit rasselndem Atem: »Verkauf das Gut! Es bleibt kein anderer Ausweg.«
»Ich will nicht«, trotzte Lisabeth.
»So wende dich an den König um ein Gnadengehalt. Unser Vater hatte Verdienste, die ihm nie gelohnt wurden. Beruf dich darauf!«
»Was? Ich soll mir die Gnadengroschen vor die Füße werfen lassen?« brauste die stolze Schwester auf. »Ich nehme von niemanden etwas an.«
Christa wehrte mit schwacher Gebärde ihrer lauten Entrüstung. »Mir scheint, ich sterbe«, sagte sie. »O meine Schwestern! Drüben in Gott vereinigen sich unsere Straßen wieder!«
Während Lisabeth zu tiefst erschrocken eine Sterbekerze suchte und, da sie keine fand, ein erbärmliches Groschenstümpflein anzündete, hauchte Christa ihre schöne, treue Liebesseele aus.
»Bist du tot? Bist du tot?« weinte Lisabeth.
Und dann stand sie regungslos vergrübelt in ihr Schicksal und erkannte ihre Einsamkeit. »Ich habe euch alle überlebt«, flüsterte sie. »Ja, Geiz wird alt.«
*
Lisbeth ließ niemand zum Begräbnis bitten und darum erfuhren nur wenige den Tod Christas, und nur wenige fanden sich auf dem Friedhof ein. Aus Cham war der Bürgermeister Michael Preißler gekommen, und der schüttete mit feuchten Augen seine drei Schäuflein Erde in die Grube hinab.
Der Knecht Franz ließ sich müde auf einem Hügel neben der letzten Stätte der geliebten Herrin nieder und weilte noch dort, als die Leichengäste schon längst den Friedhof verlassen hatten.
Die Flößer, die langsam flussabwärts steuerten, sahen das alte Freifräulein einsam über die Wiesen in das wüste Schloss heimkehren.
*
Lisabeth rief den Knecht zu sich in die Stube. »Franz, ich danke dir für deine Dienste. Aber ich darf sie nimmer gebrauchen. Du kannst gehen. Statt des Lohnes, den ich dir schulde, nimm eine von den Ziegen mit! Es ist ja viel zu wenig, aber ich kann dir nicht mehr geben.«
Der Knecht stand wie vom Donner betäubt. Dann flehte er: »Ich muss bei Ihnen bleiben, Gnädiges Fräulein! Sie gehen allein zugrunde. Sie könne ja nicht arbeiten. Sie haben ja nichts gelernt, nicht einmal das Gänsehüten.«
»Du musst gehen, Franz. Ich kann dich nicht bezahlen, ich habe nichts. Wenn ein Hund käme, nicht einmal ein Knöchlein könnte ich ihm geben, dass er daran knaufle. Ich muss mich allen behelfen.«
»Ich bleibe ohne Lohn!« rief er.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie. »Gehorche und geh, sonst bin ich böse!«
Der Alte wagte seiner Herrin nicht zu widersprechen. Mit unsicherer Hand tastete er nach der Türschnalle.
Er ging wie einer, der aus dem Paradies gewiesen wird. --
Ein barmherziger Bauer in Chammünster nahm Franz in sein Brot. Dort verrichtete der Alte kleine Dienste, er fütterte die Pferde und wartete die Kinder.
Am Sonntagoder an Feierabenden, wenn man seiner nicht bedurfte, lungerte er, scheu wie ein Hund, dem ein mächtiger Trieb aus der Fremde zu seinem einstigen Herrn zurückzwingt, um das zertrümmerte Püdensdorf. Einen verwitterten Dreispitz auf den Kopf, strich er dort herum, bis der weiße Mond über die Wiesen wallte und die Fledermäuse durch das geborstene Schloss spukten.
*
Lisabeth wohnte mehrere Wochen allein in dem Backhaus. Der Sommer war kühl, und sie fror. Da sie kein Holz zur Feuerung hatte, brach sie mit den Händen die dürren Äste von den gestürzten Gartenbäumen, belud sich damit und schlick wie ein armes Holzweib mit ihrer Bürde durch den Nebel heim.
Als ihr noch einmal angetragen wurde, Püdensdorf der Weidegenossenschaft zu verkaufen, ging sie darauf ein. Der Rechtsanwalt kam und schloss mit ihr den Kaufvertrag. Sie überreichte ihm, nachdem sie die Urkunde unterschrieben hatte, den großen, vom Rost schmutzigen Schlossschlüssel.
Die Kaufsumme reichte gerade hin, die Schulden zu decken. Lisabeth bezahlte alles auf Heller und Pfennig.
Wieder schrieb ihr Michael Preißler, er wolle ihr in Cham ein freundliches, stilles Zimmer einräumen und trachten, dass sie dort ohne Sorgen leben könne. Sie erwiderte ihm nicht. und als der Landrichter sie aufsuchte und beschwor, Preißlers edles Anerbieten nicht auszuschlagen, sagte sie mürrisch: »Ich nehme keine Wohltaten an. Meine Ahnen haben das Armenhaus in Cham gegründet. Ich werde dorthin übersiedeln. Dort wohne ich doch gewissermaßen in meinem Eigentum.«
»Unter dem Pack wollen Sie leben?« rief er verblüfft. »Sie werden es dort nicht aushalten!«
Sie entgegnete: »Ich werde auch unter diesen Leuten einsam sein.«
*
Die Einsiedlerin hielt sich so lange wie möglich auf Püdensdorf. Vom Fenster ihrer Stube aus beobachtete sie, wie die Werkleute, von den neuen Besitzern gesandt, das Schloss Stein für Stein abtrugen, die Reste der Wirtschaftsgebäude und Hütten wegräumten und mit dem Schutt die Keller und den Schlossgraben verschütteten und einebneten. Mauer um Mauer prasselte nieder, graue Staubwolken qualmten auf.
Lisabeth presste die schmalen Lippen zusammen. Sie hatte nichts mehr dareinzureden.
Nur als man den Wildbirnbaum fällen wollte, den letzten Baum im Garten, bat sie, man möge ihn leben lassen, dass er einst als einziges Wahrzeichen auf dem weiten, leeren Grasland die Stätte verkünde, wo Püdensdorf gestanden war.
Ein wichtigtuerischer Beamter, der die Aufsicht über die Abtragung des Schlosses zu führen schien, versprach, ihren Wunsch der Genossenschaft vorzutragen und ihn durchzusetzen.
Fremdes Vieh bevölkerte die Wiese, Hirten sangen und schnalzten lustig mit den Peitschen und riefen einander an. Ein neues Leben begann hier.
Dann kam die letzte Nacht. Am nächsten Morgen sollte das Backhaus eingerissen und Lisabeths kümmerlicher Hausrat in das Armenhaus geschafft werden.
Das Fräulein ging, auf einen Stecken gestützt, wie die Mutter Sorge selber um die versinkende Stätte, um den Wust der Zerstörung. Sie blickte hinauf ins Unendliche. Sterne blinkten auf und ertranken im Gewölk. Der Wind sauste öd in dem wilden Birnbaum.
Lisabeth glaubte zu fühlen, wie die Erde ängstlich durch den toten, eisigen Weltraum huschte. Mit Grauen erkannte sie, dass es kein Obdach über dem Planeten gab, dass droben eine furchtbare Leere gähnte. Wo war eine Heimat in der Welt?
Dann schaute sie in das umnachtete Land. Das hatte einmal mit allem Nutzen und aller Frucht den Raucheneggen gehört. Jahrhundertelang. Andere Herren lösten sie nun ab. Was hatte Bestand auf dieser Welt?
Mit ihr erlosch das Blut des alten Stammes. In unwürdiger Erniedrigung sollte sie noch einige Zeit das Leben tragen. Tür an Tür mit einer Bettlerschar hausen, ihr Geschrei hören, ihren Zank, ihre Gemeinheit erfahren.
Ein übergroßer Schmerz fiel sie an.
Sie stand plötzlich an dem Fluss. Der Mond glühte, lautlos zog das bleiche Wasser.
*
Der Morgen war neblig.
Lisabeth hatte die Richtung gegen das Gebirge eingeschlagen. Sie ging auf feuchten Wiesenwegen, dann durch Wälder. Tropfen klitschten von den Ästen. Im Nebel schritt sie dahin wie auf dem Grunde eines grauen, dumpfen Sees.
Ein bäuerliches Fuhrwerk rollte an ihr vorüber. Der Fuhrmann schlief. Das Geschirr der Pferde war mit dem Wappen der Rauchenegge versehen.
Sie ging und ging.
Sehr selten begegneten ihr Leute. Sie schauten der hohen greisen Wandersfrau nach, als wäre sie aus einer anderen Welt gekommen. Einer wagte es, sie zu fragen, wohin sie reise. Sie schaute über ihn hinweg und sagte: »Zum Otternkönig!«
Eine ferne Dorfuhr schlug Mittag.
Der Wind regte sich, zerrte an dem Nebel, lockerte ihn, presste ihn wieder zusammen und schwemmte ihn durch die Gebüsche. Umrisse von Felsen, von Waldkämmen zeigten sich.
Als der Nebel auf einmal wie mit einem Schlag verging, sah sich das Fräulein mitten in einem wilden Bergtal. Ein Bach schäumte über dunkles Geröll. Sie setzte sich auf einen Block und schatue dem Wasser zu.
Als sie sich erhob, war ihr, sie habe jahrelang an dieser Stelle gerastet. Doch nun hungerte sie.
Sie gelangte zu einem Haus, das trug Steine auf dem flachen Dach und lag verschollen in einem Gärtlein voll friedlicher Blumen und Bäume. Lange wartete sie dort. Sie hatte kein Geld und traute sich deshalb nicht, an die Tür zu klopfen.
Endlich trat ein Kind aus der Hütte. Es sah scheu die herbe, eckige Frau mit dem schillernden, altmodischen Kleid und dem steinernen Gesicht an, darin nie ein Lächeln schien gewohnt zu haben.
Das Kind reichte ihr über den Zaun hinweg ein Stück Brot. Sie nahm es und ging eilig damit fort. -- sie aß es mit wilder Hast.
Die Sonne dankte ab.
Todmüde Wolken begleiteten Lisabeth. Sie wusste nicht, ob sie im Zickzack gegangen, ob sie schon auf böhmischem Boden sei.
Bei beginnendem Dämmer erreichte sie ein bemoostes Dorf.
Dort trieb fahrendes Volk sein Geschäft. Unter einem Baum hielt ein Pferd mit silberbefranster Decke, darauf kauerte schwermütig ein Affe.
Bunte Laternen waren entzündet. Ein Gaukler tanzte mit verbundenen Augen auf Sensen. Eine Ziehharmonika spielte. Die Dorfleute drängten sich hinzu.
Einer der fahrenden Männer sammelte Geld ein. Er trug um den Leib eine große, lebendige Schlange gewunden. Lisabeth starrte betroffen das unruhige Tier an. Sie zog einen Ring vom Finger und warf ihn in die Schüssel des Gauklers.
Dann stieg sie eine Anhöhe hinauf. Es war dunkel geworden. Zuweilen wetterleuchtete es, und es war, als öffne ein mächtiger Geist seine Augen in die Nacht.
*
Man fand sie an einem Felsen sitzen, im Schoß eine silberglitzernde Schlangenhaut.
Ein Glasfuhrmann erkannte in ihr das Reichsfräulein Eva Elisabeth von Rauchenegg. Er bahrte sie auf seinem Wagen auf, und sie ruhte trotz ihres Alters gerade so schön und wie durch den Tod verjüngt auf dem Fuhrwerk, das sie nach Chammünster zu ihren stillen Schwestern brachte.
*