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Fräulein Fuchs nickte Anselm Wanderer freundlich zu und ging dann zu Gisa und Süssenguth. Bei dem jungen Mädchen entschuldigte sie sich, daß es heute nichts sei mit dem Malen. Später, in einigen Tagen möchte sie es gern probieren. Darauf blieb sie ziemlich lang im Gespräch mit Süssenguth. Erst schien es nichts weiter als eine höfliche Conversation, dann sprach Süssenguth allein, mit Ruhe und Unbefangenheit wie Jemand, der sich von der besten und dezentesten Seite geben will. Renate Fuchs hörte ihm aufmerksam zu, blickte dabei auf die Erde, zog mit dem schlanken Schirm Linien in den Kies. Hin und wieder hob sie den Kopf, um – Wanderer lächelte in einer Erinnerung, – den Schleier anzuhauchen. Die Linien im Sand wurden verwirrter, der Arm, der sie zeichnete, ruhloser. Endlich reichte sie Süssenguth mit einer entschlossenen Geberde die Hand und trat zu Wanderer, der sich von Stieve verabschiedete, als dränge es ihn jetzt zu eiligen Geschäften.
»Ah,« sagte sie obenhin, »es ist schon so lange, daß ich Sie getroffen habe.«
»Zwei Tage,« entgegnete Wanderer stirnrunzelnd, da ihn diese Anrede wie Koketterie berührte. Er glaubte sie verändert. Ihr Lächeln erschien flüchtiger, fast mechanisch, ihre Bewegung schlaffer, ihre Augen, wenn sie die Lider hob, waren weiter, weitschauender.
»Wollen Sie mich wieder ein wenig begleiten? Ich gehe gern über die Felder. Es ist sonnig und frisch.« Und als beide nach den unvermeidlichen Verabschiedungsphrasen vor dem Zaun standen, sagte sie: »Das allein ist schon Freiheit für mich, so ein großes Stück vom Himmel zu sehen und zu wissen: dort drüben liegt weit und breit kein Haus.«
»Aber Sie sind jetzt im Begriff, eine viel höhere Art von Freiheit zu gewinnen, gnädiges Fräulein.«
Sie sah ihn von der Seite an. »Lachen Sie nicht darüber, was ich jetzt sage. Ich liebe riesig die Pferde und die Jagd und Wälder, die mir gehören müssen und ein Schiff auf dem Meer, das mir gehören muß, – es ist schrecklich, wie ich das alles liebe. Und doch wieder nicht. Und doch ist es vielleicht etwas ganz anderes.«
»Und Sie glauben nun, daß Ihre Wünsche Sie bei der Hand halten und dorthin führen, wohin Sie geführt sein wollen –?«
»Ja!« rief sie erfreut und mit verborgener Verwunderung. »Ich möchte Ihnen noch vieles sagen,« fügte sie fast sehnsüchtig hinzu.
Die Mischung von Kindlichkeit und Vernünftigkeit in ihr ärgerte ihn beinahe. Er beschloß, sie zu verblüffen. »Ich glaube, Sie können keinem Willen widerstehen, der dem Ihrigen überlegen ist. Daher sind Sie so unruhig wie eine Magnetnadel.«
Sie blieb stehen und sagte: »Das ist sehr sonderbar.«
»Was?«
»Dasselbe hat Süssenguth auch gesagt.«
Er bemerkte ihren mißtrauischen Blick und zuckte die Achseln. »Es ist ja im Grunde banal.«
»Nein, gerade das mit der Magnetnadel.«
»Ich habe nie mit Süssenguth über Sie gesprochen.«
»Mich beunruhigt das sehr,« flüsterte Renate, treuherzig fragend.
So floß das Gespräch weiter. Es ist ja augenscheinlich, wie belanglos alles war. Die Farbe der Wichtigkeit erhielt es nur durch das stumme Spiel des Einander-Suchens, über dem die Worte hin- und herirrten, ohne festen Sinn. Einmal blieb Renate Fuchs stehen und sagte entzückt: »Es ist so schön, daß ich gar nicht weiter mag.« Der Wagen mit den immer noch dampfenden Rappen fuhr im Schritt vorbei, und sie rief dem Kutscher zu, er solle drüben am Wirtshaus warten. »Sehen Sie nur, wie alles glitzert und surrt! Das sind Schwalben, die da droben fliegen, sehen Sie? Die Sonne ist so matt; und drüben der Wald, – violett und dort blau, – und dort nimmt die Ebene gar kein Ende. Als Kind glaubte ich, dort hört die Welt auf, und wenn man hingeht, fällt man hinunter wie von einem Brett.«
Anselm, nachdenklich, fragte sie, ob sie denn so völlig ihre Freiheit habe.
Sie sah einen Augenblick träumerisch vor sich hin, dann flüsterte sie mit verdüstertem Gesicht: »Ich suche.«
»Sie suchen?«
Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn fest an. Dabei war sie blaß geworden, und wie sie so stand, bekam ihr Blick wieder das Ferne, Verlangend-Erwartungsvolle. »Ich suche einen Menschen, dem ich vertrauen kann.«
Erschreckt über diese einfachen, etwas klagenden Worte blickte er sie an.
»Sehen Sie,« fuhr sie leise fort, »das dort ist mein Wagen. Er gehört mir ganz allein. Immer wenn ich durch die Straßen fahre, schaue ich alle Gesichter an, von Frauen und von Männern. Von Frauen erwarte ich nichts, schon lange nichts mehr, von Mädchen erst recht nichts. Sie müssen einmal kommen und uns besuchen und meine Schwestern kennen lernen. Ob man da etwas erwarten kann.« Sie hatte den einen Handschuh ausgezogen und hob den Schleier in die Höhe. Er bemerkte eine blasse, magere, schier entkräftete Hand, die ihm in diesem Augenblick wie erfüllt schien von Sanftmut und müder Zärtlichkeit. Anselm Wanderer wagte nicht, etwas zu entgegnen. Er sah gegen das Haus hinüber, wo Süssenguth wohnte. Es lag schon fern, glänzend im Herbstglast der Sonne. Viele tausende von silbernen Fädchen zitterten träg in der Luft, als ob sie ein Gewebe knüpfen wollten, undurchdringlich für häßlichere Tage. Renate Fuchs warf einen Blick auf all das, der voll war von Wünschen. Ihre Augen glänzten verrätherisch.
»Sie quälen sich,« sagte Anselm ernst und machte eine Bewegung, wie um ihre Hand zu fassen.
»Ja, ich quäle mich,« erwiderte sie, als käme sie erst jetzt zu dieser Ueberzeugung.
»Ich will nicht für mich plaidiren, aber wenn Sie wollen, wird es meine Lebensaufgabe sein, Ihr Vertrauen zu erwerben, – oder zu rechtfertigen.
Wie Sie wollen.«
»Herzogin Renate klingt hübsch, nicht?« fragte sie, und Anselm traute seinen Ohren kaum, als er das jetzt hörte. Doch wie er sie ansah, bemerkte er, daß sie noch mit den Thränen kämpfte und sich bemühte, zu lachen. Ein überströmendes Gefühl der Sympathie ergriff ihn.
»Können Sie mir nicht sagen, was Sie drückt?« fragte er mit etwas komischer Weichheit im Ton.
»Es ist hauptsächlich wegen Elwine Simon,« stieß sie hervor, und ihr Blick wurde sonderbar unruhig.
»Elwine Simon? Wer ist das?«
Es waren drei Jahre, daß Renate Elwine Simon kennen gelernt hatte. Bisweilen, in der Sommerzeit kam sie in das Haus des Fabrikanten, und es wurden Mädchenspiele getrieben. Sie hatten sich bei Signora Michelli gefunden, wo sie zusammen italienischen Unterricht nahmen, – Elwine, weil sie in das Geschäft ihres Bruders in Mailand treten sollte, Renate um des Vergnügens willen. Elwine, die bei ihrer armen Mutter lebte, zahlte sehr wenig für den Unterricht. Aber das erfuhr Renate erst viel später.
Elwine war sanft und stolz. Ihre Figur war klein und zierlich. Ohne die sorgenvollen Linien wäre ihr Gesicht beinahe schön gewesen. Wenn sie angeredet wurde, lächelte sie mit einem unbeschreiblichen Lächeln: liebevoll, zärtlich, und als ob sie um Nachsicht bitten wollte. Ihre Augen, bei Tag gelblich grau, wurden des Abends herrlich dunkel, tiefblau strahlend, feucht, still, nachdenklich.
Renate liebte dieses Mädchen, jedoch mit eigener Zurückhaltung, die im Wesen Elwines selbst ihren Grund hatte. Sie war voll Respekt, sagte nie etwas, das man hätte anders deuten können, klagte nicht, war nicht unzufrieden. Renate erinnerte sich genau des purpurfarbenen Sommerkleides mit schwarzem Sammetbesatz, das Elwine damals immer trug, und durch welches sie noch schlanker und zierlicher erschien. Auf der Straße wurde sie oft groß angesehen, aber in ihrer Unbefangenheit bemerkte sie weder den Blick von Frauen, noch von Männern.
Eines Nachmittags im Mai gingen die beiden Freundinnen am Isarufer spazieren. Elwine erzählte, was sie selten that, von ihrer Mutter; sie redete lebhaft und lachte bisweilen und sah Renate an, ob das, worüber sie lachte, auch das Rechte sei. Auf einmal blieb sie stehen, griff mit der Hand an die Brust, und ihre Lippen zitterten. Renate fragte beklommen, was ihr denn sei, aber sie antwortete nicht. Sie kehrten beide um, und als sie in Elwines Wohnung anlangten, waren fremde Leute im Zimmer. Ihre Mutter war vom Schlag getroffen worden, war tot. Elwine sagte nichts, setzte sich hin und starrte geradeaus. Renate bat sie später herzlich, mit ihr zu gehen, aber sie hörte es nicht. Renate blieb bei ihr bis in die Nacht. Am andern Tag erkrankte sie, schrieb an Elwine, bekam keine Antwort, und als sie sich nach einer Woche wieder erhob und hinging, war die Wohnung leer, und es wurde ihr mitgeteilt, daß Elwine mit ihrem Bruder fortgereist sei.
Seitdem waren drei Jahre vergangen. Vor einigen Tagen war Renate wieder mit Elwine zusammengetroffen.
Sie ging zu Fuß von der Schwindstraße nach Hause, weil die Deichsel am Wagen gebrochen war. Es sind dort ein paar ziemlich verrufene Straßen; Gesichter sind zu sehen, die man sonst in der Stadt nicht bemerkt. Aber Renate ging ohne Furcht, obwohl die Dunkelheit hereingebrochen war. Männer und Weiber, von der Tagesarbeit kommend, huschten an ihr vorüber, und schwere Wagen fuhren lärmend. Da sah Renate ein Gesicht, gerade in dem Augenblick, wo hinter ihr eine Laterne angesteckt wurde. Sie erschrak und besann sich, blieb stehen, und ihr war es, als seien die drei Jahre nichts gewesen. Ein Mädchen stand da, schaute die lange Straße hinunter, die voller Menschen und voller Staub war. Renate dachte, dies könne nicht Elwine sein, aber als sie weitergehen wollte, sah Elwine sie an, und sie schaute erst gleichgiltig, ja fast zornig auf die vornehmen Kleider, und dann wurde sie so fahl wie eine graue Wand. Renate rief sie beim Namen, und jene lächelte steinern, und lächelte noch, als beide zusammen weitergingen. Elwine ging erst schwer und Renate fragte sie, wo sie denn herkomme, wie es ihr gehe, wo sie gewesen sei. Sie gab keine Antwort, lief nur rascher, immer rascher, um plötzlich, als Renate ganz außer Atem war, stehen zu bleiben, – in einer finstern kleinen Gasse hinter der Brauerei. Sie nahm Renates Hand, zog sie in ein dunkles Hausthor und sagte, nun müsse Renate gehen, weiter dürfte sie nicht mit. Dann begann sie trostlos zu weinen, mit dem Gesicht gegen die Mauer gekehrt. Es war kein Aufhören, und Renate, die nicht Worte fand, strich ihr über die Haare, und eine Ahnung erfaßte sie. Gehen Sie fort, Renate, hier dürfen Sie um Gotteswillen nicht sein, flüsterte endlich Elwine. Was thun Sie, Elwine? fragte Renate angstvoll.
Männer kommen zu mir, sagte Elwine mit schreckhaft ausgerissenen Augen, die sie gleich wieder schloß. Renate zitterte. Wohl hatte sie davon gehört, daß sich Mädchen verkaufen, aber für ihre Vorstellung war es ein leerer Begriff geblieben. Und die Beste von allen, Elwine? Renate konnte nicht mehr reden, redete auch nicht, sondern schlich davon.
Dies alles berichtete sie Wanderer, in kurzer, abgebrochener Weise, bald errötend, bald erblassend, bald ungeduldig, bald leidenschaftlich, bald durch ein kurzes Schweigen sich sammelnd. Warum gerade mir? dachte Wanderer; er fand sich geheimnisvoll, und der leuchtende Tag schien sich zu verdunkeln. Aber das Ergreifendste war, daß diese ganze zerrissene Erzählung, die Renate gab, wie die Beichte einer Schuld klang. Wanderer war verwirrt, und seine Zunge schien gelähmt. Als sie beim Wagen standen, bat er sie nur (thörichterweise), ihr seinen »Eindruck« schreiben zu dürfen, und Renate antwortete darauf mit einem abwesenden Blick. Dann reichte sie ihm die Hand und die Pferde flogen wie der Wind davon.
Er ging langsam der Stadt zu, und Renatens Fragen klangen in seinem Innern nach. »Wie ist es, daß Mädchen sich verkaufen? Wie kann es sein? sind es schlechte Mädchen, sind sie mit Recht verachtet? Bleibt nichts mehr von dem, was sie früher waren? Ist es vergebens, sie zu retten, oder soll man sie gar nicht retten? Wer ist Schuld, daß sie so wurden, und ist es ein Verbrechen so zu sein? Mir ist, als ob ich plötzlich sehen könnte. Doch sehe ich lauter unerklärliche Dinge, und ich weiß nicht, ob ich sehen darf, oder ob ich thun muß, als sei ich noch blind.«