Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Sommertag und -abend

Von dem Tag ab schritt sie wissender auf dem Weg weiter, den sie durch Dickicht schlug.

Sie schmückte sich für ihn. Sie verwendete überlegteste Sorgfalt auf ihre Toilette, die Wahl jedes Kleidungsstücks, den Einklang der Farben, Art und Haltbarkeit der Frisur. Was sie früher nur selten vermocht, sie saß vor dem Spiegel, prüfte ihr Gesicht und beobachtete ängstlich die Zeichen des Alterns.

Sie wollte jung sein für ihn, stark, mutig, ausdauernd, Gefährtin. Sie wollte ihm gefallen, und sie entdeckte die Gabe in sich, zu gefallen. Es sollte ihm Vergnügen bereiten, mit ihr unter die Menschen zu gehen, seinen Ehrgeiz wecken, mit ihr zu wandern, zu schwimmen, zu segeln. Sie machte sich so viel wie möglich frei von täglichen Obliegenheiten, Pflichten der Korrespondenz, des Verkehrs, unterdrückte ihr Verlangen nach Alleinsein und botanischen Gängen, war voll von Plänen, Vorschlägen, Unternehmungslust. Häufig entzog sich Dietrich unter irgendeiner Ausrede; das Wetter sei zu unsicher; er sei müde; er wolle arbeiten. Häufig verschwand er am Morgen, war nicht mehr auffindbar und kam erst am Abend zurück, in sich gekehrt, schweigsam, unfroh. Bisweilen aber stimmte er in gehobener Laune zu, riß sie dann selbst mit, statt sich mitreißen zu lassen, und einmal geschah es, daß er während eines Ausflugs innerlich ganz trunken war, wie sie ihn nie gesehen, von feuriger Gesprächigkeit, lachender Freude, Bereitschaft des Mitteilens, vertrauender Offenheit, glücklicher und beglückender Hingabe in Blick und Rede, so daß Dorine glaubte, das Schwere sei vollbracht und sie habe ihn sich errungen.

In früher Nachmittagsstunde waren sie den See entlang nach Steckborn gefahren und hatten den Weg über Muren, Engerswylen, Gonterswylen, Helsighausen angetreten. Wolkenloser Himmel; die Luft frappiert, schmeichelnd-kühl und erregend-durchsichtig; die Erde liebte den Fuß, der über sie schritt, Bild um Bild der Landschaft wurde dem Auge leuchtende Fülle, die es weiter trug, ungesättigt und ruhig staunend. Mitten im Wald fing Dietrich an, von seinem künftigen Beruf zu sprechen, der Bestimmung, die er für sich ahnte, einem Ziel, das er dunkel empfand, und zwar wie in neuem Bewußtsein von Zuversicht und Erwähltheit. Man möge ihn nur gewähren lassen, ihn nicht vor der Zeit binden, weder an ein Programm, noch an praktische Rücksicht; er erblicke Möglichkeiten nach vielen Seiten, als stehe er im Mittelpunkt eines lodernden Kreises; bald dränge es ihn dahin, bald dorthin, doch störe ihn die Anziehung des Gegensätzlichen nicht, eher spanne sie und gebe das Gefühl von Reichtum. Freiheit der Entscheidung müsse er haben, und nicht schon beim ersten Mal mit der vollen Bürde der Verantwortung, sondern Freiheit, wieder und wieder entscheiden zu dürfen, abwerfen, was sich hinderlich und falsch erwiesen und wieder und wieder versuchen, bis sich ein Glied zum andern gefügt und ein Organismus entstanden sei. Nur so, wenigstens sei er überzeugt davon, könne man die in der Seele zerstreuten und vergrabenen Gaben einheitlich bilden, ein gesammelter Mensch werden, einer der echt ist und echt handelt. Ob es nun die Geschichte sei, oder die wirtschaftliche Existenz der Völker, oder die Rechtszustände, oder die Repräsentation des eigenen Volks nach außen, oder der Wunsch und Trieb, zu lehren, all dieses könne sich erst in dem Maß gestalten, wie man sich selber finde, sich selber zu gestalten Muße und Spielraum habe. Mit ihm, leider müsse er es bekennen, sei es vorläufig noch so, daß es ihn den einen Tag dünke, er könne fliegen, den anderen aber sei er lahm; das gebe ihm zu schaffen, das mache ihn zu often Malen irre.

Dorine hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Ihr war, als lerne sie ein unbekanntes Land kennen. Hie und da warf sie ein Wort ein, Frage, Zweifel, Bedenken, aber sie wollte ihn nicht einschüchtern, und er ging auch, je stiller der Pfad wurde, je mehr aus sich heraus. Auf einmal wurde er kindlich-zutraulich, mitten in seinen Freiheitsphantasien, und erklärte, heiraten wolle er niemals; er könne sich gar nicht vorstellen, daß eine Frau das Leben des Mannes zu teilen vermöge, im schönen, tiefen Sinn zu teilen (dabei schob er seinen Arm abbittend unter den der Mutter, und sie wanderten weiter wie Freunde im Glück der ersten Geständnisse); er fürchte überhaupt, daß es ihm versagt sei, zu lieben, ja, wenn er ganz aufrichtig sein solle, so glaube er gar nicht an die Liebe zwischen Mann und Weib. Es sei ein tragischer Wahn, dem die Geschlechter durch grausamen Machtwillen der Natur verfielen, eine Idee bloß, an die keine Erfahrung hinreiche und deren verhängnisvollen Einfluß sich zu entziehen sein Vorsatz sei. Es werde ihm gewiß nicht schwer werden, denn im Grunde sei er hart, skeptisch, ablehnend, nicht besonders gutmütig, und wenn auch einerseits ziemlich leidenschaftlich, so doch dafür sehr egoistisch.

Dorine lachte. Aber ein köstlicher Frieden war in ihrem Gemüt, und ein Gefühl der Jugend blühte auf, wirklich nun, und nicht erbangt und erfeilscht, das den Tag in goldenes Licht tauchte, Blätter, Wurzeln, Steine und den verdämmernden Weg mit. Sie erwiderte einiges, doch es war ohne Gewicht und Anspruch, es versummte im aufgeglühten Abend. Sie gingen rasch talabwärts, die Seefläche schimmerte bläulich-silbern mit scharlachnen Flecken, der Westen war eine flammende Schmiede-Esse, über den schon nahen Häusern lags wie fließender Brokat, farbige Segel glitten schwanhaft, Schwalben flogen in einem Gewebe aus Rubinstaub; da sang Dorine ein Lied, und Dietrich begleitete sie im Knabenbaß.

Als sie in den Ort herunterkamen, war die Gasse, durch die sie mußten, durch dichtes Menschengedränge versperrt. Erregte Gesichter waren einem Haus zugewandt, vor welchem Schutzleute und Männer mit Sanitätsbinden am Arm standen; ein grüner Spitalswagen hielt vor dem Tor, und nach kurzer Weile wurden drei verdeckte Bahren herausgetragen, denen weinende Kinder folgten und ein Weib, das sich rasend gebärdete. Ein weißbärtiger Schlossermeister, den Dorine kannte, trat grüßend zu ihr und Dietrich und erzählte ihnen, was sich begeben. In dem Hause hatte ein leichtfertiges Mädchen gewohnt, eine gewisse Karoline Kranich, die beim Theater gewesen und dann immer tiefer gesunken war. Sie hatte zwei junge Leute in ihre Netze verstrickt, mit beiden gleichzeitig ein hinterlistiges Spiel getrieben; der eine war Arbeiter bei den Friedrichshafener Werften, der andere Advokatenschreiber in Konstanz. Sie bevorzugte scheinbar keinen, wollte aber aus beiden ihren Profit schlagen und stachelte sie zur Eifersucht auf, namentlich den jungen Arbeiter, der aus einem ordentlichen Menschen zum Lüderjahn geworden war. Heute nun hatte sie den Schreiber mit sich in ihre Wohnung genommen; der andere hatte Argwohn geschöpft, den Aufpasser gemacht, war ins Haus geschlichen, hatte unter wüstem Lärm den Eintritt in ihr Zimmer erzwungen, den Revolver hervorgezogen, erst die Kranich und ihren Liebhaber niedergeknallt und dann sich selber durch einen Schuß in den Kopf getötet.

Während der Alte dies mit ruhiger Stimme und ernstem Wesen berichtete, dachte Dorine bedauernd an die vergangenen Stunden und ihre nun getrübte Schönheit, und ohne ihn anzusehen, spürte sie, welche niederschlagende Wirkung das Geschehnis auf Dietrich hatte. Das Kostbarste ihres Besitzes hätte sie opfern können, um es wegzuwischen von der Tafel dieses Tages. Indessen gewahrte sie, daß Dietrich, mit einem Gesicht voll Blässe, das ihre Ahnung bestätigte, den Blick nach einem bestimmten Punkt gerichtet hatte; seine Augen glänzten bestürzt und erstaunt; stammelnd deutete er auf einen Mann, der inmitten der Menge die ihn Umgebenden stirnhoch überragte; einen schlanken, bärtigen, düster-schauenden Mann; der breitrandige Hut, den er trug, verschattete sein Gesicht; der abendrote Himmel am Ende der Gasse verstärkte die Konturen der Gestalt; »er ist es, er muß es sein«, drängte es sich halb jubelnd, halb zagend aus Dietrichs Lippen, und schon war er in die Richtung hingeeilt, schob sich durch die Menschen, verschwand zwischen ihnen.

Dorine stockte das Herz, und der verworrene Sturz ihrer Gedanken riß die Zeit, die es dauerte, bis Dietrich wieder neben sie trat, in tönende Stücke. Er war beklommen, schüttelte den Kopf und sagte: »Daß man sich so täuschen kann; es war wie eine Erscheinung, freilich, zu wunderbar wärs gewesen: Er!« Noch hingenommen von dem Wunsch und Augentrug, zweifelnd noch, obwohl er sich Gewißheit über den Irrtum verschafft, in einen Widerstreit häßlicher Empfindungen durch die Erzählung des alten Mannes und die Erregung der Menschengesichter versetzt, in denen sich der blutige Vorgang spiegelte, so schritt er endlich an der Seite der Mutter weiter, und es gelang ihnen, sich durch das Gewühl Bahn zu machen.

Das fanatisch geflüsterte »Er« hatte langen Widerhall in Dorine. Wie muß ihn das Bild erfüllen, wie gegenwärtig muß es ihm beständig sein, dachte sie mutlos, daß eine ungefähre Ähnlichkeit solche Wirkung hervorbringen kann. Das Überhitzte seines Gebarens hatte ihr außerdem mißfallen, und als sie nach einer Erklärung tastete, fühlte sie den tückisch verknüpfenden Anteil, den die Mordtat des jungen Arbeiters, und was sich zwischen den drei Menschen abgespielt, daran hatte. Zuhause warf sie sich müde in einen Sessel, kreuzte die Arme, ließ den Kopf sinken und wehrte sich kaum gegen die anflutende Furcht.

Das Abendessen verlief schweigsam, Dietrich ging danach in sein Zimmer, Dorine prüfte mit der Köchin die Rechnungen und hatte dann mit dem Gärtner zu verhandeln. Anderthalb Stunden mochten verflossen sein, sie war längst wieder allein, als sie Dietrichs Schritt zu hören glaubte, über den Flur, die Treppe hinunter, über den Kies im Garten. Es verdroß sie, daß er sich noch so spät entfernte, sie wollte sich überzeugen und ging in seine Stube. Es war finster dort. Sie drehte die elektrische Flamme auf, trat an den Schreibtisch, und keineswegs neugierig oder spähsüchtig, eher in trauriger und abgekehrter Gleichgültigkeit, öffnete sie eine große Ledermappe und sah einen Brief liegen.

Sie las: Lieber einziger Freund.

Sie las weiter, hastig zuerst wie in Angst, ertappt zu werden, dann langsamer, betroffen von der Reife des Ausdrucks, der Nüchternheit der äußeren Fassung bei solchem Inhalt. Sie setzte sich auf den Stuhl, stützte die Stirn auf die Linke, nahm Blatt um Blatt mit der Rechten, wurde bleich und bleicher, las und las:

An Lucian

Nach allem, was zwischen uns vorgegangen ist, wirst du es begreiflich und verzeihlich finden, daß ich mich in meinem jetzigen Zustande einer recht ernsthaften Bedrängnis an dich wende wie an einen älteren und erfahreneren Bruder, wobei ich aber freilich noch nicht weiß, ob ich diesen Brief, so wie er geschrieben ist, auch abschicken werde. Jedenfalls ist er für dich gedacht, ob er dir nun vor Augen kommt oder nicht, und da ich mir vorgenommen habe, in ihm, soweit meine Fähigkeit dazu reicht, die Wahrheit darzustellen, kann ich mir keinen andern Menschen als Empfänger und Leser denken.

Wir haben einmal darüber gesprochen, daß jedes Individuum drei verschiedene Arten von Existenz habe, nämlich eine geistige, eine soziale und eine animalische. Du sagtest, keine für sich könne eine Lebensgestaltung herbeiführen, sondern müsse korrigierend und bereichernd auf die andere wirken, und je edler einer veranlagt sei, je höher er auf der Stufenleiter der Geschöpfe stehe, je sicherer werde er es zu einer Verschmelzung dieser Kräfte bringen.

Mir klang das sehr einleuchtend und scheint mir auch heute noch richtig. Nur frage ich dich: was kann man zu dieser Verschmelzung tun? Ich erinnere mich, ich habe schon damals eine ähnliche Frage an dich gerichtet, darauf hast du gelacht und hast geantwortet, Apothekenrezepte gebe es dafür nicht und es sei am ratsamsten, sich dem zu überlassen, was man den guten Instinkt nenne und sonst Augen und Herz offen zu halten.

Gewiß, das leidet keinen Zweifel. Grübelei und Aufpassen auf sich selber macht einen schwach und feig. Aber siehst du, Lucian, es gibt ein Übermächtiges, und eben das letzte von den dreien, das Animalische, ist das Übermächtige. Du verstehst mich, nicht wahr? ich brauche dir darüber nicht viel Worte zu sagen, und dennoch muß ich dir meine Verfassung etwas eingehender schildern, wenn ich erwarten soll, daß du mir hilfst oder wenigstens einen Ausweg aus der Klemme zeigst. Etwas Extraordinäres wird es ja nicht sein bei meiner sonstigen Dutzendbeschaffenheit, aber schmerzlich und niederdrückend ist es, oft so, daß ich nicht mehr ein noch aus weiß.

Wie du dich entsinnen wirst, haben wir auch einmal über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern gesprochen, und was du von dir sagtest, daß du ein Anhänger und Verfechter der unbedingten Keuschheit seist, hat mich sehr ergriffen, ich weiß nicht warum. Die Enthaltsamkeit in diesem Punkt, so sagtest du ungefähr, beruhe auf Zucht der Phantasie, Strenge der Gedankenhaltung, Unterdrückung der leisesten Regung von Naschhaftigkeit; die sei immer der erste Keim. Du sagtest, die Fortpflanzung der Menschheit sei nicht vornehmlich das Wünschenswerte für die Gesellschaft, wie man allgemein zu Nutz und Frommen des Staates doziere; das Wünschenswerte sei die Erziehung des Einzelnen zu einem Edeldasein und zur Überwindung der Furcht, der Knechtschaft und des Leidens. Auch darin habe ich dir beigestimmt, umsomehr, als ja deine Anschauung durch die Lehren großer Denker bestätigt wird.

Alles das hindert nicht, daß meine Natur unterliegt. Ich habe mit mir gerungen, hart gerungen, schon in Hochlinden, obwohl deine Nähe den beginnenden Aufruhr immer wieder im Zaum gehalten hat. Mit einem bestimmten Augenblick hat es angefangen, ich will ihn nicht bezeichnen, denn das hieße zugleich ein unvergeßliches Erlebnis besudeln, das eine Gnade war. Dann flogen Worte zu und flogen Bilder zu und etwas, das dicht gewesen war, wurde ausgehöhlt. Es war nichts deutlich Beschreibbares, nichts, was im Willen wurzelt, im Wunsch sich meldet. So weit durfte es nicht kommen, so weit ist es auch heute noch nicht.

Sieh, Lieber, die Vorstellung, mich in den Armen eines Weibes zu wissen, flößt mir den unüberwindlichsten Abscheu ein. Vielleicht trifft das Wort nicht ganz, ich kann die Empfindung nicht definieren; Kapitulation, nie mehr gutzumachender Verlust liegt darin, aber auch das trifft nicht. Das Bild wagt sich nicht an mich, es verzischt früher als ichs sehe wie glühende Kohle im Wasser, aber dann wühlt es unterirdisch, dann kommt das Brausen im Blut, und die von unheimlichem Spuk ins Ohr gebrüllten Worte, und die ungewisse Erinnerung, das Alleinsein und Nichtalleinseinwollen, das Zerflattern der Arbeit, die Nächte, die Träume.

Du weißt, ich bin kein Mucker. Ich bin jetzt alt genug, um die natürlichen Vorgange unbefangen zu beurteilen. Auch fühle ich mich wie gesagt nicht als Ausnahmewesen und möchte nicht bei dir in den Verdacht geraten, daß ich, was andern so gut beschieden ist wie mir, übermäßig wichtig nehme. Das alles muß wahrscheinlich erlebt und durchgekämpft werden, und wenn es mir schwerer fällt als andern, so sind meine besonderen Umstände daran schuld, die Art, wie man mich behütet hat, die Kargheit aller Mitteilung, die Entfernung vom Leben, die Strenge in der Auffassung alles dessen, was außerhalb des Befohlenen und Akkreditierten liegt. Sollte meine unbedeutende Person dazu bestimmt sein, Rache zu nehmen für die Zurückhaltung und den Puritanismus ganzer Generationen? frag ich mich bisweilen. Bin ich die Entartung, der Rückschlag, durch den die Natur sich entschädigt für das, was man ihr ein paar Jahrhunderte lang an Tribut der Leidenschaften versagt hat? Solche Selbstüberschätzung ruft vielleicht deinen Spott hervor, aber ich kann dir versichern, daß mich der Gedanke manchmal ernstlich beschäftigt. Möglicherweise erblickst du dann das, was du geistige Unzucht nennst, Verwahrlosung der Eigenliebe, aber sage mir, wie du dir die Zucht und Eindämmung der Phantasie in der Praxis denkst, denn eben die Phantasie erscheint mir als furchtbare, tyrannische Elementargewalt, je unbändiger, je mehr man sie zu knebeln versucht. Sie erlauert die Wehrlosigkeit des Menschen, um ihn zu peinigen.

Ich schlafe bei offenen Fenstern, zugedeckt mit einem dünnen Tuch, in der letzten Zeit meide ich sogar das Bett und richte mir mein Lager auf dem Fußboden. Es schützt mich nicht vor widerlichen Träumen. Diese Träume, obwohl sie nichts unmittelbar Häßliches und Beschämendes an sich haben, sind doch derart, daß sie mich durch den Tag verfolgen wie Gift, das man mir eingegeben; das Schmähliche liegt oft mehr in der Farbe und in der Wirkung als im Vorgang, der an sich sinnlos ist. Ein Traum ist, da klebt alles was ich anfasse; Fleisch und Knochen an mir sind eine heiße, weiche, zähe Masse; dabei fühl ich, ich bins garnicht, ein fremdes Wesen durchsickert mich, ein fremder Leib; es wird mir eigentümlich wohlig matt, die feurige Luft wird dunkelblau, alles rinnt und rieselt um mich herum, schmeichelt und rührt mich an, will mich packen und höhnt, und wenn ich aufwache, sind meine Augen wie zwei Stücke Eisen. Dann ist da ein Traum voller Schlangen, gelbweiße, mit schlüpfrig zarter Haut und grünen Augen; sie ringeln sich an einem glatten Turm hinauf, von oben hängen Haare herab wie aufgelöste Haare einer Frau, ich muß hingreifen, der Schauder verwandelt mich, ich bin selber Schlange, das Haar flutet über mich, der Turm fängt an zu brennen, ich stürze maßlos tief hinunter, über mir ein feuriges Rad, das dann mitten durch meinen Körper hindurchfährt.

Ich laufe stundenlang, tagelang durch die Wälder. Bin ich gleich müd, Frieden erring ich nicht. Wenn alle im Haus schon schlafen, stehl ich mich oft an den See, lös das Boot von der Kette, rudere hinaus. Weit vom Ufer, laß ich die Ruder fallen, leg mich flach auf den Rücken, Hände hinterm Kopf, und schau in den Himmel hinein. Die Herrlichkeit, Lucian, die erhabene Herrlichkeit! Das Boot schaukelt mit der schwachen Dünung, leis surrt der Wind, die Nacht ist dunkler Purpur. Aber wenn ich mich so in den Anblick der Sterne verliere, ergreift mich Wahnsinn. Könnt ich dirs nur schildern! Ich habe es schon als Kind gehabt, das Sternengrauen, hast dus nie empfunden? Ich frage mich dann: gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Niedrig-Sinnlichen in mir und der Überwelt da droben? Ists denn erlaubt, den verbrecherischen Blick dorthin zu richten, den blutgebundenen, der den Jammer meines Fleisches in die Unendlichkeit trägt und sie ansteckt mit Begierden? Daß ich das ewig versperrte größere Leben nur ahnen darf, verfinstert mir die Seele und verwirrt den Verstand; ich möchte nicht mehr sein, es ist, als ließen mich Arme fallen, und unten sind Arme, die wollen mich auffangen, der Raum dazwischen ist das reine Entsetzen. Kann der Tod so schrecklich sein, wie ihn die Menschen sehen? Wäre man nicht ein viel wirklicherer Mensch, wenn ihn der Geist konzipieren könnte?

Ich bin bis jetzt mit meiner Mutter allein. Du müßtest diese Frau kennen. Sie erscheint mir von Tag zu Tag besonderer. Sie hat seltene Eigenschaften, und ich habe außerdem entdeckt, daß sie schön ist. Das macht mich kindischerweise oft ganz glücklich. Aber trotzdem wir uns gut vertragen, ist von innerer Beziehung, wie ich sie momentan nötig hätte, keine Rede. Was mag wohl die Ursache sein? Geh ich sehr fehl in der Vermutung, daß zwischen Mutter und Sohn eine Schranke des Unaussprechlichen besteht und bestehen muß? So nah sie einander durch das Blut sind, so fern sind sie einander durch das Wort. Es kommt in meinem Fall noch hinzu, daß ich das Gefühl habe, als dürfe sie gar nicht verstehen, als könne sies nicht, als sei sie in diesem Punkt erfahrungslos, auch als Weib, trotzdem sie Ehegattin war und Kinder geboren hat, ja daß ichs grade heraus sage, als sei sie noch unschuldig, als sei sies zu meinem Refugium und zu meinem Stolz, und folglich von mir zu behüten, nicht ich von ihr. Dadurch aber wird vieles doppelt schwer, wie du begreifen wirst ...

An dieser Stelle brach das Schreiben ab.

Die ganze Nacht über lag Dorine angekleidet auf ihrem Bett, die Hand wider das Herz gedrückt, dessen unaufhörlich tobende Schläge nicht zu beschwichtigen waren.


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