Jakob Wassermann
Melusine
Jakob Wassermann

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XV.

Vidl Falk hatte sich eine sehr elegante, bereits möblierte Wohnung in der Findlingstraße gemietet. In der vorletzten Nacht, die er noch in der Pension Bender zubrachte, hatte er einen Traum, über welchem er drei Mal erwachte, und der ihn hartnäckig stets wieder in dem Schlaf verfolgte. Er träumte, daß er, reich wie er nun war, Mely geheiratet hätte. Und dann bestand der Traum in nichts weiter, als in dem Erblicken ihrer Gestalt. Sie hatte die Augen in stummer Klage auf ihn geheftet, darüber, daß er sie zu Boden geschlagen. Am Tage mußte er lange über den Traum nachdenken. Besonders verwunderte ihn der Umstand, daß er in der ganzen Zeit der Liebe noch nie mit einer Silbe an eine Heirat gedacht hatte. Und jetzt, da es möglich gewesen wäre, wurde er von einer beklemmenden Bangnis ergriffen, wenn er nur an ein Wiedersehen mit ihr dachte.

Frau Bender und Helene nahmen an der glücklichen Veränderung seines Schicksals frohen Anteil. Was Helene anlangt, so betrachtete sie ihn jetzt mit ganz andren Augen. Obwohl noch immer spöttisch, ging eine gewisse Ehrfurcht durch ihr Benehmen, als ob sie die hohe Kunst, durch Erbschaft zu Geld zu gelangen, vollkommen anzuerkennen vermöchte. Frau Bender hoffte, daß der beneidenswerte Emporkömmling ihre schwere Not etwas lindern würde, und sie täuschte sich darin nicht. Nur konnte sie ihr Erstaunen darüber gar nicht beherrschen, daß an Falk selbst so wenig von dem Glück zu bemerken war, das ihm zugestoßen. Die Farbe seines Gesichts war bleich, und um seinen Mund lag stets ein bittrer und verbitterter Zug.

In der Nacht vor seinem Umzug, als schon alles schlief, schlich er in Strümpfen nach Melys Zimmer. Lange stand er in der Finsternis vor dem unberührten Bett und in Gedanken küßte er sie und sandte seinen Kuß in die Ferne. Er zweifelte daran, daß sie ihn hintergangen haben könne, so wie er vordem an ihrer Offenheit gezweifelt hatte. Warum stehe ich eigentlich hier im finstern Zimmer? dachte er. Wie sehr muß die Liebe in meinem Innern brennen, wenn sie mich zu so unvernünftigen Schritten treibt. Aber er konnte sich nicht losreißen von diesem Raum, der einst all sein Glück beherbergt hatte.

Er zündete eine Kerze an und setzte sich an den Tisch. Hier sah er die Gegenstände, die sie im Gebrauch hatte. Ihre Photographie lag da, aber er stellte sie so gegen einen Aufsatz, daß er nur die bedruckte Rückseite sehen konnte. Er legte die schmerzende Stirn auf die Tischplatte und sah lange regungslos auf den Boden, wo die zitternden Schatten der Möbel hin und her huschten. Dann öffnete er den mit Leder überzognen Handschuhkasten und fuhr träumerisch mit den Fingerspitzen über die blaue Atlasfütterung. Obenauf lag ein Paar ganz neuer beigefarbner Glacés. Dann kamen ältere, zerrißne Handschuhe, zwischen denen ein zerknittertes Stück Papier lag. Er nahm es heraus und strich es gleichgültig glatt. Er wollte es schon wieder beiseite legen, in der Meinung, es sei eine Handschuh-Rechnung, als er die ihm bekannte Schrift des Obersts gewahrte. Es war das Fragment eines Briefes und er las:

»... Ich bin ja so verliebt in Dich, daß ich Dir keinen Blick eines andern Mannes vergönne. Vergiß nicht, daß ich mit Dir machen kann, was ich will. Wenn Du Dich widersetzlich zeigst, wenn Du mich in Zorn bringst, laß ich Dich einfach in ein Irrenhaus stecken. Du hast nur an mich zu denken, nur an mich zu glauben. Ich bemerke eine so große Zerstreutheit, einen finstern Unwillen an Dir. Was hilft mir Deine Liebe, wenn nicht Dein Herz dabei ist. Sei gnädig, Mely. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sollst Du mein Eigentum sein.«

Mit den Zähnen zerfetzte Falk dies Papier. Dann stieß er einen Schrei aus, der dem eines Gefolterten glich. Plötzlich blutete er an der Lippe, ohne daß er wußte, wie das gekommen war. Er stand auf und ging ans Fenster. Auf seinem Gesicht war kein Ausdruck des Schmerzes zu sehen. Er löschte das Licht und ging. In seinem Zimmer hob er die Hände, wie Einer, der einen Stockhieb abwenden will. »Mein Herz ist ganz kalt,« sagte er einmal laut und fügte nach langer Pause hinzu: »Alles, was ich sage, ist Unsinn, alles was ich denke.«

Er fürchtete sich, Licht anzuzünden. Aber bald schritt er ächzend umher; denn die Wände schienen auf ihn einzustürzen. »Es ist eine Flut,« flüsterte er, »eine Flut von Elend.«

Er nahm Mantel und Hut und ging fort, – mitten in der Nacht. Er begriff nichts von dem, was er tat, er wußte nicht, wohin er gehen wollte. Die Nacht war kühl und hell. Das Licht des verschleierten Mondes lag überall, und zerrissene Wolkenballen sahen aus den Regenpfützen. In langen Pausen fuhren Windstöße einher.

Eben schlug es zwei Uhr. Falk ging ganz langsam, denn sein heftig schmerzender Kopf erlaubte ihm keine rasche Bewegung.

An der Anlage der neuen Pinakothek saßen zwei Betrunkene. Der eine war jung und hatte ein kleines, rundes Hütchen auf dem Kopf, der andere war alt, mit weißen Bartstoppeln. Der Junge hielt einen dicken Bambusrohrstock krampfhaft in der Achselhöhe fest, der Alte betrachtete fortwährend das Innere einer Tabaksdose. Sie waren so maßlos betrunken, daß sie nicht mehr sprechen konnten. Der Junge sagte zum Alten nur: »Gack, gäk, gehrump.« Der Alte aber sprach zum Jungen: »Gock, goch...« Sie schienen sich aber durch dies bedeutsame Zwiegespräch doch geeinigt zu haben, denn Beide erhoben sich mühsam vom Boden und wankten der nächsten Wirtschaft zu. Falk folgte ihnen und beobachtete mit Interesse, wie sie trotz des ausschweifenden Zickzacks ihrer Bahn dem Ziel doch immer näher kamen. Dann stand er vor dem Gasthaus und sah zu, wie der Alte dem Jungen unter großen Mühsalen dazu verhalf, die vier Steinstufen zu ersteigen. Aber das war erfolglos, denn als er oben war, taumelte er wieder zurück. Nun half der Junge dem Alten, aber es ging nicht besser.

Dies dauerte eine Viertelstunde, bis es den Beiden endlich durch Zufall geglückt war, die Türklinke zu erhaschen und niederzudrücken. Falk überlegte, ob er ihnen noch weiter folgen sollte. Er hatte das Bedürfnis zu trinken und das nicht etwa an einem Marmortisch und vor blanken, goldgerahmten Wandspiegeln, sondern in diese ganz elende Spelunke zog es ihn hinein. Plötzlich aber kamen die zwei Durstigen mit einer Raschheit, die ihn verblüffte, wieder zum Vorschein und im Handumdrehen hockten sie in der Gosse. Jetzt bemerkte Falk, daß der Jüngere eine Samthose hatte, die er ohne Bedauern dem Kot der Gasse preisgab. Krampfhaft hielt er noch seinen Bambusstock fest, während das Hütchen mit der Hahnenfeder lustig gegen die Barerstraße rollte, wobei die Feder eine Art Windfang bildete.

Falk ging weiter. Er lächelte. Aber dies erschien ihm so sonderbar, daß er die Hand an die Stirn legte und grübelnd stehen blieb.

Wohin will ich? dachte er, und er entschloß sich, am Haus des Oberst Thewalt vorbeizugehen. Unterwegs mußte er wieder an die zwei Betrunkenen denken, die man herausgeworfen hatte, und er lachte laut.

In der Wohnung des Obersts gewahrte er zu seinem Erstaunen Licht. Vier Fenster waren beleuchtet. Offenbar war man heute Abend zurückgekehrt und die Jagdgesellschaft wurde bewirtet. Er stellte sich unter eine Laterne, so daß es um ihn hell war, er selbst jedoch im Schatten des Pfahls stand.

Er sah hinauf. Silhouetten glitten hin und her. Bald nickten sie mit den Köpfen, bald erhoben sie die Hände. Zwei schienen sich zu umarmen und dann wieder voneinanderzugehen. Zwei schienen sich zu streiten und der Eine zählte etwas an den Fingern ab.

Er wußte nicht, wie lange er gestanden, als die Haustüre geöffnet wurde und Mely in Begleitung von drei Herren heraustrat.

»Gnädiges Fräulein erleichtern uns den Heimweg, indem Sie uns das Vergnügen verschaffen, Sie zur Ruhe zu geleiten,« sagte der eine Herr, der die Stimme eines dicken Kommerzienrats hatte.

»Gnädiges Fräulein, ich kann Sie versichern, – haben heute entzückend Wirtin gespielt,« sagte ein Zweiter.

»Aber meine Herren, es ist doch viel zu spät für so süße Komplimente,« hörte Falk das junge Mädchen lustig erwidern.

Im Geiste sah er sie lächeln: gütig, verführerisch, schwermütig, und er dachte: Diese Lippen habe ich geküßt! – Seltsam.

Mit geschlossenen Augen schlenderte er weiter. Es kam, daß ihn der Klang seiner eignen Schritte schmerzte.


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