Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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»Ich lernte Ngaljema zufällig kennen, als ich mich mit mehreren meiner Gefährten im Urwald verirrt hatte,« fing er nochmals an. »Damit du im Bilde bist, Joseph, Marie hat sich für dieses Messer mit dem schöngeschnitzten Griff interessiert, und ich will ihr erzählen, wie ich in seinen Besitz gelangt bin. Also wir suchten den Weg zu einem großen Dorf im Norden des Flusses, wo sich arabische Elefantenjäger festgesetzt haben sollten. Ich hatte Nachricht, daß einer von ihnen, Scheich Mehemed Ali, der von der Westküste kam, Post für mich mitgebracht hätte. Um Briefe zu bekommen, marschiert man dort hundert Kilometer weit. Trotzdem sah ich der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen. Die arabischen Jäger und Händler sind nämlich seit Jahrhunderten das große Unglück des Herzlands von Afrika. Sie haben uralte Handels- und Durchzugsprivilegien, aber darauf allein verlassen sie sich nicht. Ganze Geschlechter von ihnen sind im Urwald reich geworden, um Elfenbein zu gewinnen, scheuen sie vor keiner Tücke und Grausamkeit zurück, ihre Habgier geht über alle Begriffe. Von Nubien bis zum Kongo herunter ersäufen sie das Land in Blut, ich habe verbrannte Dörfer gesehen, wo die Kochherde noch warm und die Toten noch nicht verwest waren. Richten sie mit ihrer Übermacht und brutalen Gewalt nichts aus, so greifen sie zu andern Mitteln, die unter Umständen noch wirksamer sind, noch verheerender, ich meine den Alkohol und die Rauschgifte. Das haben sie dem christlichen Europa abgeguckt, und wenn auch nicht, das christliche Europa hat ihnen nichts vorzuwerfen, da es doch dreihundert Jahre lang mit schwarzem Menschenfleisch geschachert und sich bereichert hat, Europa und Amerika, das ihm über den Kopf gewachsen ist, sie sind eines Geistes. Ich glaube nicht, daß sich irgendein Faktoreiagent, der gestern noch kleiner Kommis in einer Marseiller oder Bremer Überseehandlung war, ein Gewissen daraus machen würde, für eine Wagenladung Gummi oder ein Dutzend Elefantenzähne einen ganzen Volksstamm abzuschlachten. Europa ist der Mord, seine Religionen, seine Praktiken, seine Zivilisation, jedes für sich, alle zusammen. Ngaljema sagte einmal zu mir, als wir schon Blutsbrüder waren: Wie können die weißen Männer gute Männer sein, da man nie ihre Füße sieht und sie bis zum Hals in Gewändern stecken? Das ist es, schon mit den Kleidern fängt für sie die Lüge an. Diesem einen Menschen hatte die Natur freilich den triftigsten Grund gegeben, Kleider zu verachten, einen solchen Körper kann man sich nicht vorstellen, vollendet im Wuchs, mit den feinsten Gelenken, biegsam wie ein Pantherleib, die Haut, lichtbraun wie Milchkaffee, hatte ein Timbre wie das Innere von Muscheln, das Gesicht vom edelsten äthiopischen Schnitt, wie man ihn noch selten findet, die Rasse stirbt mit Vehemenz aus. Sie ist so auf den Tod gestimmt, daß sie keiner Krankheit mehr widersteht, nur in unausfindbaren Gebieten können sich ihre Reste erhalten. Ich bin sicher, die ägyptischen und griechischen Künstler müssen sie gekannt haben, es gibt antike Skulpturen, bei denen die Verwandtschaft bis in anatomische Einzelheiten geht. Und welcher Formensinn, schaut euch doch diese Figürchen und Ornamente an, die Grazie der Darstellung, ich kenne wenig Ähnliches. Aber das nur nebenbei. Es ist nicht einfach, euch begreiflich zu machen, was die Bekanntschaft mit Ngaljema für mich bedeutet hat. Er war ja nicht der erste, zu dem ich in nähere Beziehung trat, ich hatte bereits verschiedene Freundschaften geschlossen. Wenn ich mich zu einem Dorfältesten setzte und mich in stundenlange Gespräche mit ihm verlor, war mein Ruf schon begründet. Die Unterhaltung ist lapidar, Dolmetscher finden sich überall, und das Gemeinsame der zahllosen Dialekte erfaßt man rasch. Durch bloße Freundlichkeit kann man alles bei ihnen erreichen. Und wenn sie einsehen, daß man keine Zwecke verfolgt. Daß man sie selber sucht, daß sie einem Wohlgefallen einflößen. Da blicken sie zu einem auf wie Kinder. Stößt man auf Argwohn und Feindschaft, so ist nicht zu zweifeln, daß der »weiße Mann« seine Spuren hinterlassen hat. Oder der Araber, den der Burnus verhüllt und der ihnen daher noch verräterischer erscheint, noch mehr als böser Zauberer. Ich war also, was Kenntnis der Bräuche und der Menschen betrifft, nicht mehr ganz Neuling, aber durch den Umgang mit Ngaljema änderten sich meine Anschauungen insofern als das bloß Gewußte und von außen Erfaßte zum Bild wurde. Das war ja der alleinige Sinn meines . . . na, nennen wir es Abenteuer. Du hast mich neulich danach gefragt, Joseph. Heute kann ich dir antworten. Es handelte sich darum, einmal aus den sämtlichen Hüllen und Schalen herauszuschlüpfen, in die die Existenz innerhalb einer so tyrannisch-gleichmacherischen Lebensform wie die unsere uns einschnürt. Wir haben uns ja verloren. Einen großen Blickpunkt aus großer Weite zu finden, darum gings. Als stünde man auf einem zehntausend Meter hohen Berg in vollkommen reiner Atmosphäre. Was hatte ich denn nötig als zu sehen, wie Ngaljema einen Eingeborenenpfad im Wald entlangschritt. Unsereins würde überhaupt nicht ahnen, daß da ein Weg ist, wo er mit königlicher Sicherheit wie auf einer breiten Straße geht. Ein Mensch, der mit so ergreifender Selbstverständlichkeit in jedem Augenblick des Handelns ungeteilte Kraft und ungetrübter Spiegel ist, bringt einen auch in ein wahres, ich möchte sagen absolutes Verhältnis zu dem Element, in dem er sich bewegt, also zur Natur, um das allgemeinste Wort zu gebrauchen. Und so hab ich durch ihn die afrikanische Landschaft eigentlich erst erlebt, Baum Wasser Fels Gras Sumpf und Steppe, diese überseltsame Landschaft, wo man sich auf einer gewöhnlichen Wiese mit den drei Meter hohen Halmen wie Gulliver in Brobdignag vorkommt. Er und nur er gab mir den Begriff von den Millionen kleiner Leidenschaften der Wildnis, wie Stanley so schön sagt, ich glaube, an derselben Stelle, wo er auch von der sphinxhaften Unbeweglichkeit und Ungeselligkeit dieser Landschaft spricht und den afrikanischen Sonnenschein trotz seiner Glut ein intensiveres Mondlicht nennt. Es ist wahr. Es ist unbeschreiblich, von beinahe abstoßender Feierlichkeit, die den Menschen sprachlos macht. Was ich jetzt erzähle, könnt ihr nur verstehen, wenn ihr euch das alles in Ngaljema verkörpert denkt. Die Sache war die, daß Mehemed Ali und seine Leute von einem großen Elfenbeinvorrat gehört hatten, der sich seit langer Zeit im Besitz der Aruwimi befand, es sollten hundertfünfzig Zähne sein, jeder mindestens anderthalb Meter lang, also ein enormer Wert. Tauschangebote waren schon früher gemacht worden, aber ohne Erfolg. Die größten Versprechungen blieben wirkungslos. Zuletzt hatte der Scheich zweitausend Gewehre, hundert Fässer Munition und hundert Flaschen Branntwein angeboten. Ngaljema weigerte sich und schickte die verdutzten Unterhändler jedesmal zurück. Ich gestehe, auch ich war erstaunt, als ich es erfuhr, es kommt niemals vor, daß ein Stamm solchen Verführungen nicht erliegt. Ngaljema erklärte mir aber, warum er das Elfenbein nicht ausliefern könne. Es war der Schatz des alten Tempels, vierundvierzig von den Zähnen waren die Säulen gewesen, die andern heilige Fetische. Ngaljemas Vater hatte das Tempelhaus selbst zerstört, um es den habsüchtigen Blicken der Fremden zu entziehen, und er und seine Priester hatten alles Elfenbein im Urwald vergraben, an einer Stelle, die nur Ngaljema allein bekannt war. Als sein Vater den Tod nahen fühlte, hatte er ihm mit dem heiligsten Eid des Stammes geloben müssen, den Platz nie zu verraten, ich habe Grund zu glauben, daß das Messer, das da vor uns liegt, eine Rolle dabei spielte, es ist ein uraltes Opfermesser, mit dem den Kriegsgefangenen das Herz herausgeschnitten wurde. Sie schaudern, Marie, Sie werden das Ding nicht mehr berühren wollen, trösten Sie sich, unsere Ahnen in grauer Vorzeit haben es nicht anders gemacht, der Erzvater Abraham war sogar drauf und dran, den eigenen Sohn zu schlachten. Es scheint, Ngaljema hat den Eid auf das Opfermesser leisten müssen, das ihm als sakraler Besitz zuwuchs. Symbol der Macht wie bei uns das Zepter, wenn er seinen Schwur brach, war der Untergang des Stammes besiegelt, er selbst würde in einen vogelköpfigen Zwerg verwandelt werden. Das vertraute er mir an, als wir in einer Mondnacht vor meinem Zelt saßen. Sein Vater muß übrigens ein weiser Mann gewesen sein, der die Gefahren zu ermessen wußte, von denen sein Volk bedroht war. Indem er sie eines greifbaren Reichtums beraubte, der sie in Versuchung und Unglück bringen mußte, gab er ihnen den Traum davon und errichtete nach bewährtem Rezept durch einen Mythus die Schranke der Furcht. Natürlich bestärkte ich Ngaljema in seinem Widerstand. Zu fürchten hatte er ja die Araber kaum, der Stamm war zahlreich und gut bewaffnet. Nur durch Hinterlist konnten sie zu Fall kommen, und davor warnte ich Ngaljema eindringlich. Leider umsonst. Hast du einmal Stanleys Bericht über die Auffindung Emin Paschas gelesen, Joseph? Und Sie, Marie? Auch nicht davon gehört? Eins der interessantesten Bücher der Welt. Er sitzt, ich weiß nicht wieviel hundert Meilen im Norden, nachdem er unter den undenklichsten Mühsalen den Urwald durchquert hat, und wartet auf die Nachhut, die in Jambuja zurückgeblieben ist und ihm nach einer genau bestimmten Zeit folgen sollte. Sie kommt nicht und kommt nicht. Er hat sie unter der Führung der verläßlichsten tapfersten ergebensten Männer zurückgelassen, es vergehen Wochen, es vergehen Monate, sie kommt nicht. Da entschließt er sich, noch einmal die sechzig Tagereisen durch den fürchterlichen Wald zu machen, und am vierzigsten oder am fünfundvierzigsten Tag, ich erinnere mich nicht mehr, stößt er auf diese Nachhut, um die er gezittert und gebangt hat, aber die Abteilung ist in vollkommen aufgelöstem Zustand, dezimiert, moralisch verkommen, der Führer beraubt. Was ist geschehen? In Jambuja, am Fluß, hatte sich der König der arabischen Händler mit seinen Leuten festgesetzt, der damals weitberühmte Tipu-Tip, ein unheimlicher Mann. Er hatte es darauf angelegt, die Nachhut aufzuhalten und mit den raffiniertesten Mitteln ihre Disziplin zu zerstören, ich glaube, er hatte gewisse Verträge mit Stanley, die ihm lästig geworden waren und ihn wünschen ließen, daß die Expedition scheiterte und ihre Teilnehmer zugrunde gingen. Durch welche Mittel er die Eingeborenen und einen Teil der Weißen in sein Lager zu locken verstand, mit was für tückischen Künsten sie dort zum Ungehorsam, zur Desorganisation, zur völligen Verlotterung gebracht wurden, ist aus der Darstellung Stanleys nicht recht ersichtlich, ich denke, er wollte seine Gefährten schonen, es war jedenfalls ein teuflisches Spiel, das dieser Tipu-Tip getrieben hat. Etwas Ähnliches unternahm Mehemed Ali, um den Elfenbeinschatz der Aruwimi zu erlangen. Ich muß gestehen, es ging mir nicht viel anders wie Stanley. Ich weiß bis heute nicht, was eigentlich vorgegangen ist. Alles geschah hinter einem Schleier. Wenn ich zurückdenke, ist es wie ein langer schwerer Traum, aus dem nur einige Bilder deutlich hervortreten. Ein afrikanischer Traum, finster, sehr finster, gewitterschwül und von Fiebern durchzuckt. Kultische und sexuelle Einflüsse wirkten zusammen, die Aruwimi gefügig zu machen und zu zermürben, daß sie erlagen, ging wohl auf eine geschlechteralte fatalistische Überlieferung zurück. Mit einem geheimnisvollen Licht im Urwald fing es an. Die jungen Männer der Aruwimi wurden unruhig. Ängstlich klagende Stimmen weckten sie aus dem Schlaf. Sie gingen in den Wald, manche kamen nicht wieder, oder erst nach Tagen, dann waren sie stumm und müde, und wenn die Stimmen wieder lockten und das Licht wieder durch die Lianenwirrnis schimmerte, brachen sie wieder auf. Es hieß, sie hätten das brennende Gold gesehen. Die Sage vom brennenden Gold hing mit dem Verschwinden eines Sees zusammen, an dessen Stelle ein unermeßlich tiefer Brunnen sein sollte, aus dessen Grund alle siebzig Jahre eine Fontäne aus feuerflüssigem Gold schoß. An einem Abend bot sich uns ein überraschender Anblick. Wir sahen etwa zwanzig nackte Tänzerinnen, die auf einer Lichtung einen Reigen tanzten, fremde Frauen. Das geisterhafte Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, es war wie eine Luftspiegelung, plötzlich war es wie fortgehaucht. Das geheimnisvolle Licht habe ich selbst nie gesehen, aber die Stimmen hab ich gehört. In der Tat war es das Schauerlichste, was ich je vernommen habe als ob die Toten aus Gräbern klagten. Das Sonderbarste war, daß die wilden Tiere fortzogen und kein Vogel sich mehr blicken ließ. Das erste Zeichen der Verzauberung eines Dorfes ist immer, daß die Weiber aufhören zu arbeiten. Gegen Sonnenuntergang lagen sie vor ihren Häusern auf dem Rücken und lachten. Ihr habt sicher schon lachende Neger oder Negerinnen gesehen, es ist immer eine Explosion, die Lustigkeit von Dämonen, aber stellt euch zwei- oder dreihundert Weiber so vor, auf der Erde liegend, mit weit offenen Mündern, die schwarzen Rachen, die weißen Zähne, das endlose sinnlose tobende Gelächter, es war ein hysterischer Massenanfall, letzte Entfesselung, sie sagten, der böse Geist sei über sie gekommen und kitzle sie. Ngaljema kam zu mir und beschwor mich, ich solle den Zauber aufheben, ich mußte aber mein Unvermögen bekennen, das erschütterte seinen Glauben an mich, ich merkte, daß er schwankend wurde. Wie um das Verhängnis voll zu machen, beteiligte sich auch die Natur an der Verhexung, es brachen um diese Zeit die periodischen Nebel jener Gegenden ein. Alles war verhüllt von schattenhaften phantastischen Rauchgebilden, Palmen Bananen Zuckerrohr, die ungeheuern Laubdome, alles voll fransiger Fäden wie man sie in Fieberdelirien sieht. Wenn ich auf einen Hügel stieg, konnt ich nicht erkennen, was braunrote Erde, grauer Fluß oder aschfarbener Himmel war, die Landschaft hatte was Schlaftrunkenes, das Gemüt wurde schwer davon bedrückt. Rätselhaft, daß sich von den Arabern und Manjemma des Scheichs niemals einer zeigte, auch meine Leute bekamen sie nie zu Gesicht, aber das ist ihre Taktik, es geschieht alles nach genauen psychologischen Berechnungen. Diese Orientalen, in europäischen Methoden erfahren, waren geübt in der Kunst, auf die Phantasie von Naturkindern zu wirken, aber auch meine Gefährten wurden angesteckt, auch ich. Eines Nachts weckte mich mein sudanesischer Diener, und als ich auffuhr, sah ich Ngaljema in der Öffnung des Zeltes stehn. Er näherte sich mir, er zitterte wie Espenlaub und raunte mir zu, der Scheich habe ihm Botschaft geschickt. Alle seine jungen Krieger drängten ihn, den Handel abzuschließen, sie hätten ohne sein Wissen bereits vierzig Ballen Stoffe und sieben Kisten mit Glasperlen ins Lagerhaus des Stammes getragen. Nacht für Nacht hätten sie alles herübergeschleppt, die Gewehre und das Pulver sollten erst noch geliefert werden und für ihn selbst ein wunderbares Kleid. Ich fragte ihn streng, ob er schon im Lager der Araber gewesen sei. Eine weiße Frau war im Spiel, ohne Zweifel, das macht sie ja rasend, der bloße Gedanke an eine weiße Frau. Kein europäisches Gehirn kann erfassen, wohin diese Menschen im Sinnlichen, Geschlechtlich-Sinnlichen getrieben werden können, in die unterste Hölle, in die glühendsten Himmel. Doch das führt, wörtlich, ins Bodenlose. Ich sah ihn lange an, ich hob fragend die Hand. Er kniete nieder, ergriff meine Hand und legte seine Stirn darauf, zugleich schob er einen großen, sorgfältig in Palmblätter eingewickelten Gegenstand vor mich hin. Nimm es an dich, Sungi, sagte er, so nannte er mich, Sungi, das heißt der Mond, wenn ich eidbrüchig geworden bin, soll es Sungis Eigentum bleiben, Ngaljema und sein Volk hat dann keinen Anspruch mehr darauf. Ehe ich noch etwas erwidern konnte, war er verschwunden wie ein Geist. Es waren die letzten Worte, die er zu mir sprach. Er war mir wie ein Bruder, wie ein Sohn, vom Anfang der Zeiten her. Das übrige ist rasch berichtet. Ein paar Tage später führten mich mehrere meiner Leute mit geheimnistuerischem Gehaben in den Urwald, ziemlich weit, bis zu einer Stelle, wo ein Orkan, vor Jahren schon, Hunderte gewaltiger Bäume gestürzt hatte, dort war eine Grube, vier Meter im Geviert etwa und drei Meter tief, eine leere Grube. Die Männer deuteten schweigend hinunter. Erst dacht ich, sie wollten mir eben nur die leere Grube zeigen, daß sie vor kurzem noch das Versteck des Elfenbeinschatzes gewesen war, konnt ich aus der frischausgehobenen Erde, den herumliegenden Schaufeln und dem zertretenen Boden erkennen, aber dann sah ich, daß unten in der Grube ein toter Mensch lag, oder nein, nicht lag, an einen Erdhaufen gelehnt war, in aufrechter Stellung fast, und höchst absonderlich, höchst widerwärtig kostümiert, nämlich mit einem alten Zylinderhut auf dem Kopf, wie ihn bei uns die Droschkenkutscher tragen, einer roten goldbordierten zerrissenen Jockeyjacke und einer nagelneuen karrierten Hose. Zuerst konnt ich das Gesicht nicht ausnehmen, es war tiefe Dämmerung im Wald, trotzdem es mitten am Tage war, aber die düstern Mienen meiner Leute veranlaßten mich, näher hinzutreten, da erkannte ich Ngaljema. Die Leute erzählten mir später, er habe sich in den europäischen Fetzen von seinen sämtlichen Kriegern bewundern lassen, die ihm in das Araberlager gefolgt waren, der Scheich selbst habe sie ihm Stück für Stück angelegt. Warum aber hatte er sich umgebracht? Ich habe es nie erfahren. Ich habe die Aruwimi auszuforschen versucht, ich habe den Scheich darüber befragt, niemand wußte es oder wollte es mir sagen. Und daß er sich selbst getötet, ließ keinen Zweifel zu. Unter der schändlichen Jockeyjacke fand man den Schaft einer langen dünnen rostigen Nadel, mit der er sich das Herz durchbohrt hatte, und zwar mit geradezu wissenschaftlicher Akkuratesse.«

 

Der folgende Tag war ein Sonntag, Marie hatte mit Kerkhoven eine Verabredung, daß sie ihn bei schönem Wetter in eine nahegelegene Ortschaft begleiten würde, wo er eine Krankenvisite zu machen hatte. Es war dort ein altes bischöfliches Schloß mit schönem Park, in welchem sie auf ihn warten wollte. Aber in aller Frühe rief er sie an, um ihr mitzuteilen, er könne nicht abkommen, mit Nina stehe es so, daß er einen psychiatrischen Kollegen werde zu Rate ziehen müssen. Sie habe die ganze Nacht unaufhörlich geweint, ohne jeglichen Grund, all sein Zureden und Bemühen habe nicht gefruchtet. Momentan sei sie wieder ruhig, die häusliche Arbeit lenke sie immer ab, doch wolle er sie möglichst wenig unbeaufsichtigt lassen. Auch am Nachmittag werde er sich schwerlich losmachen können und nach dem Spitalsdienst gleich nachhause gehn. Marie fragte aufs Geratewohl, ob sie ihm jemand schicken solle, sie kenne eine junge Person, mit der sie sogar ein wenig befreundet sei, Tochter eines pensionierten Offiziers, die sich in solchen Fällen schon öfter nützlich gemacht habe und sich gern zur Verfügung stelle. Kerkhoven erwiderte, nach einer sonderbaren Pause, das sei nicht nötig, die Professorin Gaupp habe ihm gütigerweise ihre Hilfe angeboten, heute sei sie allerdings verhindert, aber von morgen an werde sie in ihren freien Stunden Nina Gesellschaft leisten. Ihm sei es freilich zweifelhaft, ob Nina noch lange im Haus werde bleiben können. Man werde ja sehen. Damit läutete er ab. Marie blieb bestürzt vor dem Apparat stehen und überlegte. Was mochte er wohl gedacht haben in jener Pause, die ihr so sonderbar erschienen war? Hatte sie bedeutet, daß er sich an ihr Anerbieten, Nina zu besuchen, erinnerte und sie jetzt nicht mahnen mochte, erstaunt, daß sie nicht mehr davon sprach? Sie wußte nicht, was sie tun sollte, ihr Schwanken setzte sie selbst in Verwunderung und verriet ihr Motive, die sie erschreckten und die entkräftet werden mußten, ein unzulässiges Spiel mit Schatten. So machte sie sich um drei Uhr ohne weiteres Grübeln auf und fuhr zur Kerkhovenschen Wohnung. Es war ihr nicht wohl zumut dabei, sie fühlte, daß es kein glücklicher Schritt war, aber sie konnte nicht anders.

 

Finstere steinerne Stiege. Als sie den elektrischen Knopf an der Eingangstür niederdrückte, zitterte ihre Hand. Leise leichte Schritte, die vor dem Öffnen der Tür zögerten. Und dann stand Nina vor ihr. Sie war überrascht. Sie hatte sie sich nicht so hübsch vorgestellt. Fremdländisches Wesen, fremde Rasse, dunkle Kraft. Welch eigensinnige Stirn. Eine verschlagene Glut in den chinesisch geschlitzten Augen, die Haltung bescheiden, mehr als bescheiden, zugleich ein beängstigender Trotz darin wie bei einem verstockten Kind, das zu Unrecht gezüchtigt worden ist und sich eher die Zunge abbeißt als sich beklagt oder beschwert. Die roten Korallenohrringe . . . ein bißchen negerhaft . . . kleine Füße, grobe Hände, deren Finger von Nadelstichen verunschönt waren . . . das alles nahm Marie mit einem einzigen Blick wahr, als seien ihre Sinne unnatürlich geschärft, über die sonstigen Fähigkeiten hinaus. Und mit demselben Blick spürte sie die unerbittliche unversöhnliche Feindin. Sie erschrak vor dieser Erkenntnis. Ja, diese Frau würde ruhig lächelnd zuschauen, wenn man sie, Marie Bergmann, vor ihren Augen zerfleischte, mit keiner Wimper würde sie zucken. Ich hätte vielleicht doch nicht kommen sollen, ging es ihr durch den Kopf. »Ich bin Marie Bergmann,« sagte sie mit etwas affektierter Artigkeit. Ninas dunkle Brauen hoben sich. »O! si... si... trete' Sie ein, signorina, prego, prego...« rief sie in singendem Tonfall, trat mit ungeschicktem Knicks zur Seite und wies mit dem Arm auf die offene Tür des Wohn- und Eßzimmers. Marie schaute sich zaghaft um. Dumpfe Engigkeit, banale Möbel, billige Teppiche, armselige Kunstdrucke an den Wänden. Sie hatte sagen gehört, um einen Menschen ganz zu kennen, müsse man seine Behausung kennen, aber es gab wohl Personen, die sich dieser Regel nicht fügten, heimlose, die anderswo hausen als wo sie ihr Geschick hinverdammt hat zu schlafen und zu essen, sonst hätte man um Joseph Kerkhoven weinen müssen. Indem sie diesem Gedanken nachhing, verzieh sie sich ihn nicht und haßte das luxuriöse Behagen, in welchem sich ihr eigenes Leben abspielte. Ihr Blick fiel auf ein Gebetbuch, das auf dem Tisch lag, auf dem schwarzen Deckel ein Ring, ohne Zweifel Ninas Ehering, warum mochte sie ihn abgestreift haben, es war alles so seltsam, und die schwermütige Stille in den Zimmern . . . Befangen nahm sie auf dem Stuhl Platz, den ihr Nina anbot. »Il dottore non è a casa,« plapperte sie dabei, »nicht zu 'ause . . . is wegg . . . avanti... grossse Ehre für mich, signorina, oh ich weiß . . . signorina Bergmann . . . grossse Freundin von Giuseppe.« Sie lachte. Marie rieselte es bei dem blechernen Lachen kalt über den Rücken. Was soll ich ihr denn um Gottes willen antworten, dachte sie, wie etwas halbwegs Vernünftiges sagen . . . »Wolle' Sie warten?« fuhr Nina schmeichlerisch fort, mit der Hand die Tischecke umklammernd, in der devoten Verneigung einer Kellnerin, die eine Bestellung entgegennimmt, »muß bald surück sein, Giuseppe . . . subito... hat mir gesakt, kommt um vier . . . alle quattro... sicuro.« – »Nein . . . ich . . . Sie sind im Irrtum, Frau Doktor,« stotterte Marie (noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verlegen, so vollkommen ratlos gefühlt), »ich komme ja zu Ihnen. Ich wollte Sie endlich kennenlernen. Doktor Kerkhoven hat uns so viel von Ihnen erzählt . . . er sagte, Sie gingen nie zu Leuten, auch zu seinen besten Freunden nicht, da dacht ich mir . . .« – Nina hob die gefalteten Hände an die Lippen. »Per Dio... hat Giuseppe so gesakt?« rief sie in unverständlicher verwunderter Entzücktheit, »il ladro! Ja, is wahr, è vero,« fügte sie mit beschwörend ausgestrecktem Zeigefinger hinzu, »ich gehe nirgends wohin. Nix. Ist so. Wirklich. Bin, wie heißt man . . . Ofensitzerin.« Wieder das blecherne Gelächter. Marie versuchte ein Lächeln. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse,« sagte sie, immerfort mit der beschämenden Empfindung der Sinn- und Zwecklosigkeit all dieses leeren Geschwätzes, »Doktor Kerkhoven hat mir zugeredet, ich hätte mich sonst nicht getraut, Sie zu stören . . .«, aus lauter Verzweiflung log sie und spielte ein bißchen die scheue junge Frau, die sich gegen die ältere was herausgenommen hat. Nina schlug mit lautem Krach die Hände zusammen. »Ma perchè?« versetzte sie mit erschrockenem Bedauern, »ist wahr'aftig grossse Ehre für mich, carissima signorina. Tanto piacere. Grossse Freude. Wolle' Sie was zu sich nehmen? Kaffee? Cioccolata? Nein? Peccato. Macht nix. Is in zehn Minuten fertig. Nein? Mi dispiace molto.« Sie starrte Marie mit verschlingender Neugier an. Der Körper war dabei nach vorn gebeugt. Das Gesicht hatte, seit Marie ins Zimmer getreten war, den nämlichen Ausdruck grundlos aufgeregter Heiterkeit beibehalten. Plötzlich stürzte sie auf die Kniee, umschlang Maries Beine, küßte die Schuhe, den Rocksaum der zutiefst Entsetzten, und unter herzbrechendem Schluchzen murmelte sie erstickt: »O bellissima... così giovane... così gentile...« Mit überströmten Augen emporschauend wühlte sie die Finger beider Hände in die Haare. Marie erhob sich zitternd. »Bitte bitte bitte,« hauchte sie und streckte die Arme vor. Dann, von Mitleid ergriffen: »Stehn Sie doch auf, Liebe, stehn Sie, bitte, doch auf . . . ich weiß ja nicht . . . was tun Sie denn . . .« Im Nu hatten sich Ninas Züge verändert. Mit unheimlichem Interesse musterte sie auf einmal Maries weiße Glacéhandschuhe. »Fein,« sagte sie bewundernd, »come una principessa. Elegante, molto elegante.« Sie sprang empor, es war die Bewegung einer Wildkatze, huschte ans Büfett, riß eine Schublade auf und brachte einen Revolver zum Vorschein, der ganz hinten zwischen Servietten und Tischdecken versteckt gewesen war. Ein alter Trommelrevolver, den Kerkhoven vor vielen Jahren gekauft hatte, er war Nina samt einer Schachtel Patronen in die Hände gefallen, als sie einige Wochen zuvor in einer aus der Heidelberger Zeit stammenden Kiste gekramt hatte. Sie verstand mit Waffen umzugehn, aus ihren Verschwörer- und Irredenta-Tagen her, so hatte sie den Revolver gereinigt, geladen und heimlich aufbewahrt, ohne sich etwas dabei zu denken. Mit der den Verstörten eigenen Kurzschluß-Assoziation war jetzt die Erinnerung aufgeflammt. Sie näherte sich von der andern Seite her dem Tisch und wog die Waffe bedächtig in der Hand, dabei trat das geronnene Lächeln auf ihre Lippen, unerwartet für Marie, sie kannte es nicht, überhaupt keine solche Art von Lächeln, es schnitt ihr in die Seele. Die Situation hatte trotz der Bedrohlichkeit und Sonderbarkeit für ihren Wirklichkeitssinn etwas so Theatralisches, daß sie vor lauter Erstaunen die augenscheinliche Gefahr zunächst übersah. Nina hantierte an der Sicherung herum, warf den Kopf hoch und sagte mit einem herausfordernden Gurren in der Kehle: »Wenn ich Ihnen jetzt schieße, signorina Maria, sind Sie tott . . . piff, paff, mausetott. Soll ich?« Grausig neckend erhob sie den Arm mit dem Revolver und zielte.

Marie rührte sich nicht. Ihre Gedanken waren der Reihe nach folgende: Kerkhoven kann jeden Augenblick kommen, dann kann alles noch gut ablaufen; er scheint doch nicht zu wissen, daß die arme Person den Verstand total verloren hat; geschieht das Verrückte wirklich, und sie trifft mich, so ist es jedenfalls für ihn furchtbar, was wird er tun? es kann auch sein, daß ich dabei umkomme, so was geschieht manchmal, man liest es dann in der Zeitung, ob er um mich trauern wird? das ist die Frage, ich weiß nicht, was ich ihm bin; eigentlich hab ich bisher nicht viel von meinem Leben gehabt, jetzt vielleicht wäre es schön geworden; die ganzen letzten Tage war ich so aufgeregt, ich muß geahnt haben, daß mir was Schlimmes bevorsteht; ich habe aber nicht die Spur von Angst, ich möchte nur nicht, daß er Kummer durch mich hat, das Schicksal ist ohnehin nicht freundlich gegen ihn; wenn sie losdrückt und die Kugel fährt mir ins Herz oder ins Gehirn, ist es ein dummer und gemeiner Tod. Dann sah sie wunderlicherweise das Gasthofzimmer vor sich, in dem sie krank gelegen, als sie Kerkhoven zu sich gerufen hatte: die zwei häßlichen Betten, die Plüschdecke auf dem Tisch, den halbblinden Toilettenspiegel, der sich in einem Scharnier drehen ließ, die Glühbirne an einer Schnur, an der drei tote Fliegen hingen, den Schrank, dessen Tür entsetzlich knarrte, wenn man sie öffnen wollte . . . Während ihr alles dies im Lauf von fünf oder sechs Sekunden durch den Kopf ging, hörte sie sich Nina etwas zurufen, ungefähr: lassen Sie das doch, Frau Doktor, damit scherzt man doch nicht, und Nina ihrerseits rief ein paar italienische Worte zurück, die sie nicht verstand und die nur wie durch Wolle zu ihr drangen. Überhaupt war alles was sich bis zu Kerkhovens Eintritt und auch eine Viertelstunde länger noch zutrug wie hinter eine Wand geschoben, deswegen hatte sie auch sein Kommen überhört, er stand unvermutet unter der Tür, dann mit einem Sprung neben seiner Frau, die mit durchdringendem Schrei, ähnlich wie ein Pfau schreit, aus dem Zimmer in das nebenan gelegene Schlafzimmer rannte. Er trat zu Marie, packte sie an beiden Armen, stammelte zwei drei Fragen, eilte zur Tür, hinter der Nina verschwunden war, kehrte plötzlich wieder um und bat Marie mit einem flehenden, zugleich aber befremdlich finstern Blick, sie solle warten, er habe mit ihr zu reden. Dann stürzte er hinaus. Sie hatte, unbegreiflich warum, den Eindruck, er sei erzürnt über sie, dies dünkte ihr kaum erträglich, im übrigen verspürte sie eine namenlose Schwäche, in der das Verlangen war, aufgehoben und fortgetragen zu werden. Sie saß in einer Ecke des schwarzen Ledersofas und zählte die weißen Knöpfe am Holzrahmen, sie kam bis neununddreißig, dann begann ihr vor der Unzahl zu schwindeln. Wie aus weiter Ferne hörte sie Kerkhovens Stimme am Telephon, bald darauf das vorsichtige Gewisper einer Frauenstimme an der Eingangstüre und die kurzen Antworten oder Unterweisungen, die er gab. Sie dachte: das ist alles unwahrscheinlich, es paßt gar nicht zu mir, es ist gar nicht mein Genre von Erlebnissen . . . Sie mochte recht haben, aber das Schicksal hat zuweilen seine Launen und schiert sich nicht darum, daß wir seine Knalleffekte stillos finden.

 

Es dauerte ziemlich lang, bis Kerkhoven wiederkam. Er hatte verschiedene Anordnungen getroffen, über die er mit ein paar Worten hinwegging. Es handelte sich um Ninas Überführung in die Beobachtungsstation der psychiatrischen Klinik. Um sieben erwartete er den Kollegen, der die Entscheidung treffen sollte. Sie schlief jetzt. Er hatte ihr eine Morphium-Einspritzung gemacht, da die Aufregung sich noch gesteigert hatte. Er könne leider nicht bis zum Abend bei ihr bleiben, fügte er hinzu und sah hastig auf die Uhr, um halb sechs müsse er bei einem Schwerkranken in der Zeller Straße sein, eine unaufschiebliche Visite, er habe deshalb Frau Rentamtmann Günther im ersten Stock gebeten, Nina zu überwachen bis er zurück sei. Er sprach zusammenhanglos, sein Gesicht war zerwühlt wie nach einer durchwachten Nacht. »Ja, ich muß mit Ihnen reden, Marie,« sagte er und drückte Zeige und Mittelfinger gegen die Augenlider, »aber wo? Im Ordinationszimmer? Ich möchte das nicht . . . Hier? Nicht wünschenswert, gerade hier. Aber wir haben keine andern Räume.« – »Ich weiß nicht,« sagte Marie mechanisch. – »Man lebt wie ein Schuster,« grollte er und ging ungeduldig vor dem Sofa auf und ab. Er sah Ninas Ehering auf dem Tisch liegen, nahm ihn, zuckte die Achseln und steckte ihn in die Westentasche. – »Sprechen Sie doch,« flüsterte Marie abgespannt, »es ist ja einerlei wo.« Dann, mit einem leichten Schauer und einem Blick gegen die Schlafzimmertür: »Oder . . . ich weiß ja nicht . . .« – »Nein,« machte Kerkhoven mit beschwichtigender Geste, »das . . . ist ausgeschlossen. Sie schläft fest. Frau Günther sitzt schon an ihrem Bett. Sie würde mich rufen.« – »Gewiß,« stimmte Marie in derselben mechanischen Weise zu, »aber ich weiß ja nicht, was Sie mir sagen wollen.« Er ging zur Tür des Schlafzimmers und zog den roten Vorhang vor, der in den Ringen einer Messingstange lief. Darauf setzte er sich Marie gegenüber und schaute abermals auf die Uhr. »Ich habe knapp eine halbe Stunde,« sagte er, »kann die Leute unmöglich im Stich lassen. Das beste wäre, Sie würden mich begleiten, Marie, Sie hatten mirs ja ohnehin für den Vormittag versprochen, ich nehme ein Auto und bringe Sie von dort aus heim.« Er unterbrach sich mit der Bemerkung, sie sehe erschöpft aus. Sie bat ihn um ein Glas Wasser. Um seine Besorgnis zu zerstreuen, lächelte sie, als er es brachte. Von seinen Gedanken gequält schaute er auf die Spitze ihres kleinen Schuhes und wunderte sich, daß darin ein menschlicher Fuß Platz hatte. »Ich will Ihnen sagen,« begann er überstürzt, mit gedämpfter Stimme, »daß das, was hier geschehen ist, nicht gewesen sein darf. Sie müssen es aus Ihrem Gedächtnis streichen. Das heißt, wenn Sie im geringsten was von mir halten. Man kann das. Man kann so vergessen, daß von einer Tatsache weniger übrig bleibt als von einem Traum. In manchen Märchen gibt es ein Kraut, wenn man es zu sich nimmt, vergißt man. Böses und Gutes. Hier handelt es sich um Böses. Leider. Sie müssen es vergessen. Sie müssen nur wollen, und es ist nicht mehr da. Sie haben einfach geträumt.« – »Warum liegt Ihnen daran?« fragte Marie, erregt flüsternd. – »Ich kann es schwer erklären,« erwiderte er, ebenfalls flüsternd und nicht minder erregt. »Vielleicht ist es ein Aberglaube. Es kommt mir vor als wenn ich in Ihren Augen gezeichnet wäre. Nein, antworten Sie nichts. Es wird da etwas zur Wahrheit . . . wie lautet das Wort? Das Gesetz, nach dem du angetreten . . . Sie müssen wissen, meine Mutter . . . sie war wahnsinnig . . . sie ist im Irrenhaus gestorben . . . ich habe Irlen davon erzählt . . . ich war ihr Abgott, ihr Idol . . . genau so. Wiederholung. Ich hab mirs immer verschwiegen . . . Eines Tages ist sie auf den Klassenvorstand mit dem Messer losgegangen, weil er mir eine schlechte Note gegeben hatte, ein andermal hat sie die Küchenmagd beinah erdrosselt, weil sie zu zärtlich mit mir war, als ich mich in den Finger geschnitten hatte. In meinem Leben, scheint es, wiederholen sich gewisse Dinge . . . Ich bin dann das Opfer analoger Konstellationen. Es geht so weit, daß der Herzpuls damit zusammenhängt, die Kurve von Gelingen und Fehlschlag, ich könnt es auf dem Papier zeichnen. Was ich möchte, Marie . . . was ich mehr als alles wünsche . . . es läßt sich höchst einfach formulieren: unsere Beziehung darf um keinen Preis der Welt mit einem Stigma behaftet sein. Sie ist ja quasi noch ohne Haut, diese . . . diese Freundschaft. Die leiseste Verletzung, und sie verblutet. Davor habe ich Angst, Marie. Dazu kommt noch eins. Ihre Phantasie. Ich weiß, was es damit auf sich hat. Sie haben nämlich keine gewöhnliche Weiberphantasie, die nur leeres Stroh drischt. Bei Ihnen nehmen die Dinge ein wahrhaftiges Leben an. Und das ist meine Hauptangst. Sie müssen mich, mich, diesen Joseph Kerkhoven, aus der Vergangenheit herausschälen und sozusagen als einen neuen Menschen nehmen, heute erschaffen, vor Ihren Augen erschaffen quasi. Sonst wird nichts. Verstehen Sie mich?« – »Ja, ich verstehe, das verstehe ich ausgezeichnet,« versicherte Marie atemlos. – »Sehen Sie, ich wußte es, Sie verstehen alles, Sie, Liebe, Liebe, Wunderbare,« fuhr er mit einem ungeschlachten Ton von Zärtlichkeit fort, der sie einfaßte, ringsum, wie eine goldene Wolke. »Es liegt ja auf der Hand. Dieses verpfuschte zertrampelte Leben, es ist auf einmal um- und umgestülpt. Mir ahnt oft, es gibt einen inneren Wendekreis, über den muß man hinüber, um unter einen besseren Himmel zu kommen. Es hängt von der Idee ab. Wenn sich ein Mensch nicht zu der Idee durchringt, die er nach dem Plan der Schöpfung vorstellt, ist er eine Uhr ohne Zifferblatt. Er meldet keine Zeit, er weiß keine Richtung. Eines Tages hat mich der Geist angerufen: Joseph, steh auf, du bist dran. Natürlich wollt ich zuerst nicht. Ich bin von Haus aus faul und stumpfsinnig. Im Grund ist mirs am liebsten, wenn die sieben Wochentage einer um den andern vorbeimarschieren wie die Soldaten auf dem Exerzierplatz, reglementmäßig. Aber dann, wenn ich mich mal entschlossen hatte, da war auch schon das Unterste zuoberst gekehrt. Und ich weiß, daß es einen argen Weg nehmen wird, vorläufig. Ich spürs in allen Gliedern wie die Seekrankheit. Doch ich habe was, und das kann mir keiner rauben. Mags immerhin bloß Einbildung sein. Tut nichts. Ich bin gegen alles gefeit, was mir überhaupt zustoßen kann. Die Gespenster sollen keine Gewalt drüber haben. So steht es. Die Gespenster sollen sich hüten, es anzutasten. So steht es.« Er stand auf und trat zum Fenster. Marie, tief erschrocken, sagte fast unhörbar: »Die Gespenster leben.« – Er nickte düster. – »Und man muß mit ihnen leben,« fügte sie ebenso leise hinzu, »sie sind in der Regel stärker als wir.« – Seine Beredsamkeit schien erschöpft. Er erwiderte schroff: »Das hab ich auch geglaubt. Deshalb ist es so weit mit mir gekommen.« – »Trotzdem muß man wissen, was man gewinnt und was man verliert,« sagte Marie. – Und er: »Bah, wenn das alles ist. Ich hab mein Sach auf nichts gestellt. Schon lang.« – Marie senkte den Kopf. Das halsbrecherische Bis-ans-Äußerste-Gehen des Gesprächs begann sie zu foltern. Das Zimmer drehte sich im Kreis. Sie erhob sich so jäh als fehle ihr die Luft zum Atmen. Kerkhoven wandte den Kopf und sah sie mit trübem und schüchternem Blick an. Die »blassen Blumen« öffneten sich weit. Sie sagte mit bebendem Lächeln: »Was auch da wird, ich fürchte mich nicht, Joseph.« – Aus seinem Gesicht wich alles Blut. Zwei Worte entrangen sich ihm: »Mein Gott.« Das war alles. Nach einer Weile sagte er in kühl hinwischendem Ton: »Es ist Zeit. Wir müssen geh.«

 

Von der Fahrt im Mietsauto, bei strömendem Regen, hinaus an die Grenze der westlichen Vorstadt, wäre manches zu sagen und ist am Ende nichts zu sagen. Denn während ihrer ganzen Dauer geschah nichts und wurde nichts Erhebliches gesprochen, weder auf dem Hinweg noch auf dem Rückweg zum Bergmannschen Haus, an das entgegengesetzte Ende der Stadt. Sie saßen nahezu stumm nebeneinander, die ganze Zeit. Jedoch muß sie für beide von einschneidender Bedeutung gewesen sein. Es liegt ein Brief Kerkhovens an Marie aus dem Jahre 1916 vor, in einem Feldlazarett an der polnisch-russischen Grenze geschrieben, worin er sich ausführlich und wie über ein lebenswichtiges Ereignis darüber äußert. Was umso schwerer wiegt, als er zu dieser Zeit nicht bloß den aufreibendsten militärischen Dienst versah, sondern infolge seines Rufes, der sich überall wohin er kam schnell verbreitete, auch von der Zivilbevölkerung, Bauern Juden Kleinstädtern bis zum völligem Schlafraub beansprucht wurde. Es heißt in dem Schreiben unter anderm: »Wie man sich an etwas erinnert, was sich vom Himmel als Geschenk kaum hat erhoffen lassen, habe ich heute mitten im Stöhnen und Schreien der Verwundeten Verstümmelten und Fiebernden an jenen Mainachmittag zurückgedacht, zweieinhalb Jahre ist es her, an dem wir in die Zeller Straße hinausfuhren. Weißt du noch? Von der ersten Minute an hast du ununterbrochen am ganzen Leib gezittert, Schauer auf Schauer überlief dich, und ich entsinne mich noch genau, trotzdem der Regenguß die Scheiben wie mit grauen Vorhängen bedeckte, an welchem Punkt der Fahrt die Bewegung auch mich ergriff als wär ich angesteckt, und so heftig, daß ich die Ellbogen in die Seiten drückte und die Zähne, damit sie nicht klappern sollten, fest aufeinanderbiß. Ich spürte zum ersten Mal deine elektrische Natur, lach mich nicht aus, später hast du mir ja selbst oft gezeigt, wie aus deiner Seidenwäsche die Funken knisterten, wenn du sie auszogst, und an manchen Tagen war es auch so, wenn ich mit der Hand über deine Haare strich, sie knisterten auch. Aber das war es nicht allein. Die unbegreifliche physische Erschütterung, von der ich dich hingenommen sah, zauberte mir eine Vision deines Körpers vor als gehörtest du mir schon, sie machte dich so hüllenlos, völlig nackt warst du mir da, und ich empfand das geisterhafte Mitleid, das in jedem Mann, der nicht bloß Tier ist, die Erstlingsflamme dämpft und das so nah an die Angst und an den Tod grenzt. Mir war, wenn ich dich anrührte, müßt ich augenblicklich sterben. Ich fragte dich, ob ich dir meinen Mantel umtun sollte, denn du schienst mir zu leicht gekleidet, du schütteltest aber nur den Kopf. Ich streichelte deinen Arm, immerfort, das beruhigte dich ein wenig, du legtest den Kopf in die Ecke des Wagens und schlossest die Augen. Dann war ich bei dem alten Mann, der schon in der Agonie lag, ich konnte nicht mehr helfen, nur den letzten Kampf erleichtern, aber ich sprach und handelte wie mein eigener Schatten. Daß ich dich draußen wieder finden würde, machte alles andere unwirklich, und die halbe Stunde, die du noch bei mir bleiben würdest, erschien mir wie ein Leben für sich, der elende Ratterkasten von Auto eine Welt für sich . . .«


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