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Eine Lesestunde und eine Unterredung.
Es war ein schwerer Kampf gewesen, welcher dem Entschluß Mathildens voraus gegangen war...
Zwei Motive wirkten schließlich zusammen, um ihn in der jungen Frau zur Reife zu bringen...
Das eine war die Sorge und Angst um die geliebte Freundin, um Linda, die sie unrettbar den Künsten des Museendirectors verfallen glaubte, wenn sich ihr nicht eine starke, rettende Hand darbieten würde... Jener Tag auf der Fasanen-Insel hatte wesentlich zur Entscheidung beigetragen. Als sie Linda sich so energisch Hardungens, dem Museendirector gegenüber, annehmen sah, da hatte sie die Hoffnung gehegt, daß Linda sich dem Einfluß dieses Mannes entziehen, den verhängnißvollen Verkehr, der ihr Umgang mit ihm in Mathildens Augen war, abbrechen würde...
Aber sie sah ihre Hoffnung getäuscht... Die Art und Weise, wie der Museendirector jenen Ausbruch Linda's hinnahm, flößte Mathilde eine noch größere Furcht vor diesem Manne ein. Sie sah, wie er, nur um Linda nicht zu verlieren, selbst die Leidenschaftlichkeit seiner Natur auf's Aeußerste dämpfte und eine Selbstbeherrschung übte, die ihn nur noch gefährlicher machte...
Hätte die Angst, jenes fast an Gespensterfurcht streifende Gefühl, welches Mathilde in Marecampus Nähe empfand, den Scharfblick ihres Auges nicht getrübt, so würde sie bald bemerkt haben, daß ihre Besorgnisse Linda's wegen etwas übertrieben waren...
Linda fühlte sich durch die geistige Bedeutsamkeit des Museendirectors wohl angezogen, sie beobachtete mit regem Interesse die Thätigkeit dieses Mannes, der sich so hohe Ziele gesteckt hatte, sie fand bei ihm eine Fülle von Ideen, die zwar oft den ihrigen geradezu entgenstanden, die aber doch einen gewissen Inhalt hatten, dessen Erfassen für ihren stets strebsamen Geist eine aufregende Thätigkeit und Arbeit war... Dazu, wir wollen es nicht verhehlen, der Reiz, welcher für sie in der Situation lag, mit dem Manne so unbefangen und furchtlos, so ohne alle Scheu zu verkehren, vor welchem ihre Cousine Mathilde, wie sie wohl bemerkt, eine seltsame, ihr unerklärliche Furcht nicht verhehlen konnte...
Tiefere Gefühle, Strömungen, die aus dem Herzen quellen, hatten sie nicht zu Marecampus hingezogen...
Ein zweites Motiv, welches Mathilde zu dem Schritte bewog, der für sie ein verzweifelter war – sollte sie doch das dunkelste Geheimniß ihres Lebens einem Manne anvertrauen, mit welchem sie kein anderes Band vereinigte, als der Haß, den Marecampus gegen denselben im Herzen trug und der von Hardungen, wie Mathilde wußte, in demselben Maaße erwidert wurde, ein zweites Motiv war ein unbestimmtes, aber immer wiederkehrendes Mißtrauen über das Geschick ihres Kindes...
Wohl hatte ihr Marecampus an jenem Abend mit Bestimmtheit den Tod des Kindes versichert, wohl ihr versichert, daß er den Todtenschein in Händen habe – aber, die unglückliche Mutter klammerte sich an jedem Strohhalme an, konnte nicht eine Täuschung, eine Verwechslung, ein Betrug hier vorliegen..?
Und – das Mißtrauen wuchs mit jedem Tag, sie hatte nicht einmal seinen Todtenschein mit eignen Augen gesehen...
Dazu das Muttergefühl, das lange gewaltsam unterdrückte, welches seit jener schmerzlichen Unterredung von Niemand wachgerufen, sich mehr und mehr geltend machte... Der Zustand der jungen Frau war ein peinvoller, der ihr zuletzt unerträglich wurde: eine Wendung mußte eintreten, mochte sie nun zum Guten oder zum Schlimmsten führen...
Diesen Zustand qualvoller Ungewißheit konnte sie nicht länger ertragen...
Auch nur der Gedanke ihm ein Ende zu machen hatte ihr den Muth verliehen, Hardungen sich anzuvertrauen...
Sie wagte es nicht im eignen Hause...
Sie glaubte bemerkt zu haben, daß Marecampus oft Wissenschaft von häuslichen Vorkommnissen hatte, zu deren Kenntniß er nur durch das Mittel ihrer Dienstleute gekommen war...
Deshalb hegte sie ein gewisses Mißtrauen gegen ihre Dienerschaft, in welcher die geängstigte Frau Helfershelfer oder zum Wenigsten Spione jenes Mannes erblickte, der ihr als der Dämon des Verderbens erschien...
Hardungen glaubte es Schilden schuldig zu sein, ihm über die bevorstehende Unterredung Mittheilung zu machen. Es war das seiner Meinung nach keine Indiskretion. Konnten die Mittheilungen, welche ihm Frau Mathilde von Olbers machen wollte, andere sein, als solche, die im engsten Zusammenhange mit seiner Vergangenheit standen, die noch heute ihren düstern Schatten herein in Schildens Leben warf?...
Um acht Uhr sollte er an dem von Frau von Olbers bezeichneten Orte sein – es schlug sieben Uhr als er ihren Brief empfing, er hatte, um Schilden von der bevorstehenden Unterredung in Kenntniß zu setzen, keine Zeit zu verlieren...
Er nahm einen Fiaker und fuhr nach der ziemlich entfernt gelegenen Straße, in welcher der Arzt mit dem Schriftsetzer Wenzel in einem und demselben Hause wohnten...
Schon auf der Treppe, welche hinauf in das Stockwerk führte, in denen Schilden und Wenzel hausten, hörte Hardungen an dem lebhaften Gespräch in des Schriftsetzers Stube, daß sich sein Freund in des Letzteren Zimmer befand...
Auch die Stimme des kleinen Hans hörte er...
Der Kleine schien zu lesen und Schilden und Wenzel ihm das Gelesene zu erklären...
Hardungen blieb einen Augenblick stehen, um durch seinen Eintritt den Kleinen, welcher eben auf Wenzel's Anregen eine Stelle wiederholte, nicht zu unterbrechen...
Wir aber, die wir das gleiche Privilegium, wie die Geister genießen und durch die Schlüssellöcher in die Zimmer schlüpfen können, wollen von diesem Vorrecht Gebrauch machen und erzählen, was wir hier sahen...
Um den kleinen runden Tisch, auf welchem an jenem Morgen die Weihnachtsbescheerung aufgebaut war, saßen Wenzel, der Armenarzt Schilden und der kleine Hans...
Das Kind hatte die Folgen jener gefährlichen Krankheit, die ihn während des Winters befallen, glücklich überstanden...
Das blonde Lockenköpfchen zwischen den beiden ernsten, bärtigen Männergesichtern, diese freundlichen, lieben, blauen Augen, die aufmerksam bald an Wenzel's, bald an des Doctors Lippen hingen, der verständige und doch nicht altkluge, sondern kindliche Ausdruck seiner Züge, Alles das gewährte, zumal wenn man das traurige Schicksal des armen, verlassenen Kindes kannte, einen zugleich lieblichen und rührenden Anblick... Das Kind hatte ein Buch mit Bildern vor sich, aus welchen es absatzweise einzelne Sätze las, deren Sinn ihm der Doctor und Wenzel erklärten...
Es war eine Naturgeschichte für das Begriffsvermögen der Kleinsten unter den Kleinen geschrieben...
Aber wie war denn der Kleine zur Grundlage aller künftigen Wissenschaft, zur Kenntniß des Lesens gekommen?..
Vor etwas länger als einem Vierteljahr hatte der Kleine noch nicht das große A von dem großen B unterscheiden können und heute las er schon so deutlich, wie der beste Bank-Erste, der aus der ABC-Schützen-Klasse hinüber in die zweite versetzt werden soll...
Er verdankte dies den vereinten Bemühungen Wenzel's und des Doctors, die beide, es sah fast wie Eifersucht aus, wetteiferten, das Kind zu unterrichten...
Es war deshalb schon manchmal zu lebhaften Scenen zwischen den Beiden gekommen...
Der Doctor, welcher den Kleinen – er ließ es sich vor Wenzel nur nicht so merken, um den Schriftsetzer nicht noch eifersüchtiger zu machen – mit einer fast väterlichen Zärtlichkeit liebte, hatte zuweilen ein ärztliches Machtwort gegen den Unterricht Wenzel's einzulegen versucht...
»Sie strengen das Kind zu sehr an... Sie reizen sein Nervensystem und hindern es in seiner körperlichen Entwicklung, lieber Wenzel, wenn Sie mit Ihren täglichen Lesestunden fortfahren, Sie sind zu methodisch dabei, ich bringe es ihm spielend bei, sehen Sie, z. B. auf diese Art...«
Und er zog einen Kasten hervor, aus welchem er bunte Figuren von Papier-Maché nahm...
»Hier dieses bunte A auf der vordern Seite, auf der Rückseite ein Affe auf einem Ast... Hier das gekrümmte S, auf der andern Seite eine Schlange auf dem Sande... Da das H und dahinter der Haushahn mit den Hennen... So lernt es der Junge spielend...«
Der Menschenfeind brummte etwas in den Bart, machte aber augenblicklich keine weiteren Einwendungen... Als aber der kleine Hans in einer der nächsten Nächte etwas unruhig schlief und lebhaft träumte, wobei er im Schlaf von Affen und Schlangen sprach, da hielt Wenzel nicht länger an sich..
»Bei den Krokodillen des Nils, Sie machen den Jungen mondsüchtig mit Ihren Buchstaben und Figuren, Doctor... Seit drei Nächten –« es war das eine wohlgemeinte Übertreibung – »phantasirt der Hans von Nichts als Affen und Schlangen, würgt sich mit Ungethümen im Traume ab und wirft sich im Bette hin und her, wie Einer, der im Fieber liegt... Und sehen Sie nur, wie blaß das Kind aussieht –« und er zeigte auf den Knaben, welcher eben mit großem Appetit ein mächtiges Butterbrot, und einen Apfel verzehrte – »wie blaß und schmächtig, wie Einer, der mit Bettelsuppen groß gefüttert wird...«
Nun strafte aber das Aussehen des Knaben diese Behauptung des Vetters Wenzel geradezu Lügen...
»Ihre Augen sind wohl etwas trübe, lieber Wenzel,« meinte darauf dann auch der Doctor, »der Junge sieht ja, Gott sei Dank, aus, wie ein dicker, rothbäckiger Posaunenengel... Und sehen Sie nicht, wie ihm sein Nachtisch schmeckt?..«
Der Schriftsetzer behauptete indessen hartnäckig, der Kleine schlafe stets nach den abendlichen Lesestunden Schildens unruhig und es wäre ein beruhigendes Gleichgewicht nöthig...
Dies fand er natürlich in seiner Unterrichtsmethode... Freilich lag das Beruhigende seiner Methode hauptsächlich darin, daß Hans das Wenigste von dem verstand, was ihm Wenzel docirte...
»Das ist das A, das große A,« und er deutete auf einen großen, ausgeschnittenen Buchstaben, »mit einem A schreiben sich Alexander, Augustus und viele Andere. Einige von ihnen, wie Alexander, nennt man »der Große.« Siehst du, lieber Hans, daran erkennst du wieder, daß die meisten Menschen wilde und blutdürstige Geschöpfe sind... Denn die meisten dieser Großen mit oder ohne A, von denen noch heut zu Tage sehr Viele mit großem Respect sprechen, zeichneten sich besonders dadurch aus, daß sie ungeheuere Menschenmassen sich gegenseitig abschlachten ließen... Die Menschen nennen das Kriegführen und diejenigen, welche diese Kunst am besten verstehen, große Eroberer und Feldherren. Das ist das große F. Mit F fangen viele Wörter an, wie Frohne, fromm, Frömmler, Fuchsschwanz, Flotte, Fischer, Frankfurt und so weiter... Wie das alles zusammenhängt und was diese Worte zu bedeuten haben, das, lieber Hans, wirst du noch zeitig genug erfahren, um dich darüber zu ärgern; merke dir nur, daß zwei F hinter dem A und hinter dem F ein E, Affe bedeutet, eine Species von Geschöpfen, die man sehr zahlreich auch in den Straßen unserer Stadt erblickt, wo man sie aber Löwen nennt... Auch tragen sie des Klima's halber bei uns nicht ihr natürliches Fell, sondern Paletots, Hosen, Westen, Handschuhe und Augengläser...«
Der Kleine hörte bei diesen Illustrationen des ABC anfänglich aufmerksam zu und schlief dann allerdings regelmäßig ein, eine Erscheinung, welche Wenzel mit triumphirender Miene dem Doctor als einen Beweis für das Beruhigende in seiner Unterrichtsmethode verkündete...
»Gestern nahm ich das große »B« mit ihm durch, sagte Wenzel, »und gerade als ich beim Bundestag war, schlief er ein...«
»Sie werden aus dem Jungen einen mustergiltigen Demagogen machen...« lächelte Schilden, worauf der Schriftsetzer den Doctor schlau anblinzelte und mit tiefem Baß den Vers brummte:
»Schwarz Baret und Spitzkragen
Soll der Bursche nicht mehr tragen
Und den Farben Schwarz-Roth-Gold
Ist man in Berlin nicht hold
Nach der neusten Mode...«
Man sieht, der Unterricht, den der kleine Hans bei seinen beiden Lehrern genoß, war etwas eigenthümlicher Natur, indessen der Kleine lernte dabei sehr bald lesen...
Als Hardungen zur Treppe heraufstieg, las der Kleine gerade einen Satz aus dem Correcturbogen eines Geschichtswerks, welchen Wenzel mit nach Hause gebracht hatte...
Er las:
»Und darnach wollten die Stände des Reichs den Kaiser Heinrich ferner nicht mehr als ihr Oberhaupt, dem sie Treue und Gehorsam schuldig, anerkennen, falls er sich nicht von dem Banne, so Papst Gregorius über ihn verhängt, befreie...«
»Bei allen Krokodillen des Nils, er hätte den Schwachköpfen auf den Zopf spucken sollen...« fiel Wenzel ein...
»Die trug man damals noch nicht,« beruhigte der Doctor...
Hans las weiter:
»Da Kaiser Heinrich Solches erfuhr, betrübte es ihn sehr im Geiste... Und er machte sich auf mit sammt seinem Ehegemahl und seinen Kindern und zog über die Alpen nach Italien. Zu selbiger Zeit hielt sich Papst Gregorius zu Canossa auf, allwo seine Freundin, die Gräfin Mechthildis wohnte... Und es war eine große Kälte in selbigem Winter, wie man sie seit Menschengedenken im Lande Italien nicht erlebt. Konnte man doch in Rom drei Tage lang in den Straßen Schlitten fahren, gleichwie zu Nürnberg, Frankfurt, Goslar, Braunschweig, oder einer andern Stadt im deutschen Reich... Kaiser Heinrich aber umkleidete sich mit einem Büßergewand, wie es die armen Sünder tragen, wenn sie an den Kirchthüren Buße thun... Und so stand er, des heiligen, römischen Reichs deutscher Nation Oberhaupt, barhäuptig und barfuß drei Tage und drei Nächte im Schlosse der Frau Mechthildis, das Herz des heiligen Vaters zu erweichen, daß er ihn losspreche von dem Banne... Papst Gregorius aber war sehr erfreut im Gemüthe, ob des deutschen Kaisers Buße und Zerknirschung, denn er wollte den römischen Stuhl erhöhen über alle Throne der Christenheit. Darum, als er den Kaiser Heinrich, einem armen Sünder gleich, im Schnee unten im Schloßhof stehen sah....«
»Das Donnerwetter auf das Meerkatzengesindel, welches seinen Kaiser im Schnee knien ließ,« unterbrach hier Wenzel, der schon lange unter verzweifelten Grimmassen mit sich gekämpft, die Vorlesung des kleinen Hans, »o, Bonzen, Bonzen, wenn ich mit Euch doch die Krokodille des Nils und Ganges füttern könnte...«
»Und doch verwechselt man noch immer Religion und Pfaffenthum und doch muthen uns noch die Römlinge unter uns zu für das Patrimonium Petri deutsches Blut fließen und deutsche Knochen zerbrechen zu lassen...« fügte Schilden hinzu, welcher in der Abneigung, die Wenzel gegen alles Pfaffenthum hegte, vollkommen mit dem Schriftsetzer harmonirte...
»Die große, heilige Christuslehre, diese erhabenen Satzungen mit ihrem köstlichen Inhalt göttlicher Weisheit und Liebe – und das dumpfe, grausame, stolze, unwissende Levitenthum, wie es sich überall spreizt in geistlichem Hochmuth, in welchem Contrast stehen beide!..« Ueber das Gesicht des Arztes flog eine leichte Röthe und ein schmerzlicher Schauer ergriff seine Seele...
Schilden war ein tiefreligiöser Mann, der ebenso treu und einig an den Satzungen der Lehre hing, die der Weltheiland gepredigt und für die er am Kreuze sein Blut vergossen, als er ein entschiedener Feind aller Hierarchie war, ein Gegner jenes Priesterthums, welches sich so dreist zum ausschließlichen Vermittler zwischen Gott und den Menschen erklärt, uneingedenk des Bibelworts...
Der kleine Hans saß während dieser Reden, die ihm noch ganz unverständlich, ruhig am Tisch und aß einen Apfel und Butterbrod, welches letztere er mit einem kleinen, weiß-grauen Kätzchen theilte, das er auf der Straße gefunden und vor den Mißhandlungen roher Knaben gerettet hatte... Das Thier kauerte auf seiner Schulter und streichelte sich an der Wange des Knaben, der ihm über die Achsel weg kleine Brodbissen reichte... Das Kind hatte sich in dem Vierteljahr, seit Weihnachten, wunderbar entwickelt... Die Ähnlichkeit mit den Zügen Mathildens war eine überraschende...
Schilden, der, wie wir schon erwähnt, dem Knaben mit großer Zärtlichkeit zugethan, trug sich seit einiger Zeit mit einem Plane, den er nur deshalb noch nicht hatte laut werden lassen, weil er den leidenschaftlichen Widerstand Wenzel's voraussah...
So sehr Wenzel den Knaben liebte und Alles für ihn aufopferte: auf die Dauer konnte das bisherige Verhältniß nicht fortbestehen.
Der Knabe mußte eine feste, geordnete Erziehung und einen entsprechenden Unterricht erhalten. Beides konnte ihm Wenzel, der zu sehr auf die Nothwendigkeit des Erwerbs angewiesen war, beim besten Willen nicht geben... Mußte sich Wenzel doch ohnedies schon jetzt manche kleine Bequemlichkeiten versagen...
Vergebens hatte Schilden auf die verschiedenartigste und versteckteste Weise ihm eine Unterstützung, eine Beihülfe für den Unterricht des Kleinen angeboten...
Außer jenem Weihnachtsgeschenk an Kleidern, das er als Festgabe betrachtete, hatte Wenzel mit freundlicher Entschiedenheit Alles abgelehnt...
Es war dies ein gewisser und sicherlich edel zu nennender Stolz des Schriftsetzers, der so lange er rüstig selbst dem Freunde nicht eine Verbindlichkeit schuldig sein wollte...
»Lassen Sie mir die Freude, lieber Doctor, meinen kleinen Diogenes allein durchzuschleppen... Bei den Krokodillen des Nils... es wäre eine verfluchte Schande, wenn ich mit diesen Armen und diesem Kopf,« und er deutete auf seine kräftigen Gliedmaßen, »nicht einmal so ein kleines Insect erhalten könnte... Der Schneehuhn, eine wahre Armsündergestalt gegen mich, der das Fleischessen nur noch aus der Erinnerung kennt, muß fünf solcher kleiner Bestien ernähren...«
Und mit den Worten des Doctors:
»Nun so soll der Schneehuhn seine Erinnerung an das Fleischessen heute wieder auffrischen« und einem Händedruck schlossen gewöhnlich diese Gespräche.
Regelmäßig fühlte Wenzel bei diesem Händedruck, nach welchem sich Schilden stets schleunig entfernte, einen harten Gegenstand in seine Rechte gleiten und regelmäßig fand Schneehuhn an solchen Tagen in seiner Tabaksdose, mit der sich Wenzel, der sonst nicht schnupfte, an solchen Tagen unter dem Vorgeben, daß er den Schnupfen, zu schaffen machte, einen Louisd'or.
Dann flog eine leichte Röthe über die blassen, abgemagerten Züge des armen Schneehuhn und beim Nachhausegehen flüsterte er Wenzel die Hand drückend, zu:
»Gott vergelte es dem Herrn Doctor, was er an meinen armen Würmern thut... ich,« hier unterbrach ihn ein trocknes Hüsteln... »ich kann nur für ihn beten... und wenn ich, es wird nicht lange mehr dauern...« und er hüstelte wieder, »hinausgetragen worden bin.. und meine Kleinen kommen manchmal aus alter Gewohnheit her in die Druckerei gelaufen und sehen durch's Fenster... nach meinem Platz, wo ich sonst stand... und sie sehen recht elend und...«
»Bah, bah, alter Unglücksrabe,« unterbrach hier Wenzel den Hüstelnden, »Ihr werdet alt wie Methusalem und das ist schon ein schönes Alter... Ihr müßt Euch nur 'mal an Fleischbrühsuppen und Rindsbraten gewöhnen und Eure Vorliebe für Kartoffeln und Cichorienkaffee fallen lassen... Na, für den gelben Vogel, den Ihr heut in Eurer Dose gefangen, könnt Ihr manches Pfund Ochsenfleisch einhandeln...«
Und wirklich wurde Schneehuhn in Folge der Unterstützung des Doctors allmählig etwas kräftiger und in seine Brust kehrte wieder etwas Lebenshoffnung ein...
»Sehen Sie, Doctor,« sagte bei Gelegenheit in Bezug darauf Wenzel, »habe ich nicht Recht, wenn ich sage, daß die Menschen Bestien sind... schlimmer, wie die Tiger und Löwen? Wenn ich so manchmal früher einen Raptus bekam und einen ganzen Wochenlohn in einem Abend durch die Kehle jagte« und der Schriftsetzer spuckte dabei verächtlich aus, wie voller Indignation über diese Vergangenheit, »da habe ich oft gesehen, wie hinter den Tischen in dem Weinkeller die Schlemmer und Völler, ich gehörte freilich auch dazu, mehr mit den Aermeln vom Tische streiften, als mancher arme Teufel braucht, um sich für einen Tag satt zu essen... Und da, da kam es manchmal über mich, so eine stille, verzweifelte Wuth, daß ich erst den Schlemmern und dann mir selbst den Hals umdrehen wollte... Aber weil das nicht ging, fing ich Scandal an, so mörderischen Scandal, daß es blaue Flecken und blutige Nasen genug gab... Ich wurde zwar als Krakehler regelmäßig arretirt und mußte einen Tag brummen, aber bei den Krokodillen des Nils, hatte ich doch den Kerls auch die Völlerei versalzen...
Und mir geschah schon recht von wegen des Brummens, ich war gerade so eine unbarmherzige Bestie, wie die Andern...«
Heute wollte das Gespräch, nachdem es sich noch einige Zeit über den knienden Heinrich IV. im Schloßhofe von Canossa bewegt, eine gleiche Richtung nehmen, als Schilden den Schriftsetzer plötzlich mit den Worten unterbrach:
»Wenzel können Sie wohl ein Opfer bringen?..«
Der Schriftsetzer zuckte zusammen und blickte den Doctor ohne auf die Frage zu antworten mit mißtrauischer Miene an.
Es war eine Art Instinct, der ihm ahnen ließ, daß der Doctor wieder einen Plan im Kopfe trug, der den kleinen Hans betraf. Schilden wiederholte seine Frage;... eindringlicher und indem er den Schriftsetzer dabei mit ernster Miene in's Auge blickte...
»Opfer?« brummte Wenzel endlich, »es fragt sich nur, was man darunter versteht... Soll ich nicht mehr rauchen, keinen Kümmel zum Frühstück trinken, oder ein paar Stunden des Abends länger arbeiten.« Und er lachte, offenbar in der Absicht die Frage und die Antwort in's Komische zu ziehen, dabei laut auf...
Der Doctor schüttelte ernst das Haupt...
»Solche Opfer verlange ich nicht. Ich meine, ob Sie fähig sind, sich von irgend etwas, woran Ihr Herz hängt, zu trennen, ob Sie geduldig einen Seelenschmerz ertragen können, wenn eine höhere Notwendigkeit dies fordert...«
Wenzel, der nun keinen Zweifel mehr darüber hatte, worauf der Doctor zielte, warf sich jetzt in Positur...
»Seelenschmerz?« wiederholte er, indem er sich durch den langen Bart strich.
»Ich glaube, es ist schon lange her, daß ich einmal an dieser Krankheit litt... Indessen, offen gesprochen, Doctor, ich bin zu jedem Opfer fähig, das nicht gegen meine Grundsätze, gegen meine Überzeugungen geht...«
»Ich glaube nicht, daß dies bei dem, welches ich von Ihnen fordere der Fall... Doch ich will mich ohne Umschweife erklären...« Und er rückte dem Schriftsetzer näher und fuhr mit gedämpfter Stimme fort, damit es der Kleine, der mit dem Bilderbuch und der Katze beschäftigt war, nicht hörte:
»Ich habe schon früher mit Ihnen darüber gesprochen, daß wir es dem Kleinen schuldig sind, für die zweckmäßigste Entwicklung seiner körperlichen, wie geistigen Kräfte zu sorgen... der Knabe wird mit Nächstem fünf Jahre alt und es ist Zeit, daß wir einen festen, bestimmten Plan für seine Erziehung entwerfen... Nun sind Sie, lieber Wenzel,« und der Doctor drückte dabei die Hand des Schriftsetzers, »ein durchaus braves Herz, aber, Sie müssen es selbst zugeben, auf die Dauer können Sie das Kind nicht bei sich behalten. Ich kenne nun einen Mann, welcher Director einer Pensionsanstalt ist, hier in unserer Stadt, einen durchaus humanen, gebildeten Mann, welcher den ihm anvertrauten Kindern ein Herz voll inniger Liebe entgegenbringt... Hinsichtlich des Kostenpunkts dürfen Sie sich kein Bedenken machen, das übernehme ich und wenn Sie...«
»Bei allen Bestien der Urwälder,« brauste hier Wenzel auf, »das nennen Sie ein Opfer, einen Seelenschmerz! Eine Verläugnung aller meiner Grundsätze, eine niederträchtige Inconsequenz wäre dies, wenn ich darauf einginge...«
Und als der Doctor auf's Höchste überrascht von diesem stürmischen Ausbruch den Schriftsetzer mit einem besorgten Blick betrachtete und wie mechanisch die Hand ausstreckte, als wollte er den Puls seines Nachbars fühlen, redete er mit lebhafter Geberde weiter:
»Ich bin ganz vernünftig, Doctor, und nüchtern wie eine Brunnenröhre... Aber wäre es nicht die lächerlichste Inconsequenz, wenn ich meinen Hans, den ich meinen Abscheu, meine Verachtung, meinen Haß gegen diese menschlichen Hyänen einimpfen will, wenn ich diesen in die Hände eines so butterherzigen Mannes....«
Das Oeffnen der Thüre und der Eintritt Hardungens, der es jetzt für gut fand, das Gespräch der Beiden, welches in der gereizten Stimmung der Männer leicht zu ernsten Auseinandersetzungen führen konnte, zu unterbrechen, ließen den Schriftsetzer nicht vollenden...
»Guten Abend, meine Freunde,« grüßte Hardungen, dem Doctor und Wenzel die Hände reichend, »guten Abend, mein lieber Hans...« und er legte seine Rechte auf das Lockenköpfchen des Kleinen... »Wie geht es dir, mein Kind?«
»Mir geht es ganz gut,« plauderte der Kleine, »und siehst du, nun habe ich auch einen Freund...«
Bei diesen Worten des Kindes wendeten sich der Doctor und Wenzel frappirt nach dem Kleinen um...
»Einen Freund? Und blos einen?« lächelte Hardungen, selbst überrascht von des Knaben Rede.
Das Bübchen nickte.
»Nur einen,« sagte es, »und weißt du, wie er heißt? Hinz heißt er.« Und das Kind deutete auf die kleine Katze, die schnurrend auf seinem Arm saß...
»Hinz, Hinz!« schrie der Schriftsetzer, der seinen Ohren kaum traute und indem er auf den Knaben losstürzte und ihn mit bittender Liebkosung umfaßte, »Hinz sagst du, mein Hans, mein lieber Hans... gewiß du hast dich versprochen... du wolltest Vetter Wenzel sagen...«
Aber der Kleine schüttelte ganz ernst das Köpfchen...
»Du bist doch kein Freund, du bist ja ein Mensch...«
»Ein Mensch?... Und nun?..«
»Und du sagst doch immer,« fuhr das Kind mit verständiger Miene, das Kätzchen streichelnd, fort, »daß die Menschen alle wilde Thiere wären... du wärest auch manchmal eins gewesen... Und die Thiere wären alle besser als die Menschen... die wären zusammen gute Freunde... und du hättest die Thiere viel lieber als die Menschen...«
»Erziehungsresultate,« raunte Hardungen überrascht dem Arzte zu...
Wenzel aber stand wie angedonnert... Diese Consequenz hatte er freilich nicht erwartet.
Mit einem vielsagenden Blick reichte er dem Doctor die Hand.
Dann faßte er den Kleinen in seine Arme, küßte und herzte ihn und murmelte, während eine Thräne in seinen Bart herabrollte:
»Hast recht, mein Bübchen, ich bin ein alter Murrkopf, der dir wunderliche Dinge in den Kopf setzen würde... ich sehe wohl ein, es ist besser für dich, wenn du zu einem klügern Manne kommst, der es besser versteht mit Kindern umzugehen als ich...«
Der Kleine, der von diesen Worten weiter nichts verstand, als daß er zu einem andern Manne kommen sollte, blickte den Schriftsetzer betrübt an und seine Stimme klang sehr traurig und kläglich als er frug:
»Ich soll zu einem andern Manne? Aber warum willst du mich nicht behalten, guter Vetter Wenzel... ich will gar keinen Lärm in der Druckerei machen und gar nicht auf der Straße herumspringen... Ich will ganz ruhig sein... will mich in Ecke setzen mit meiner Katze... aber nicht zu einem anderen Manne...«
Da übermannte es auch den Doctor.
Bewegt ergriff er des Schriftsetzers und des Kleinen Hand.
»Nein, nein, seid ohne Sorgen... wir wollen Alle beisammen bleiben... ich denke, es soll sich ein Ausweg finden lassen, der Alle zufrieden stellt...«
Dann folgte er Hardungen, der ihm ein paar Worte zugeflüstert und unter den herzlichsten Abschiedsworten trennte man sich...
Hardungen stieg mit dem Freunde die Treppe hinab...
»Ich habe nur noch wenig Zeit übrig,« sprach er, einen Blick auf seine Uhr werfend, »in einer Viertelstunde werde ich eine Unterredung mit Mathilde haben... hier lies.« Und er zeigte dem Doctor den Brief der Frau von Olbers...
Sie waren während dieses Zwiegesprächs unten auf der Straße angelangt...
Beim Schein einer Gaslaterne, die dicht an der Thür des Hauses brannte, durchflog Schilden die wenigen Zeilen...
»Armes Weib,« murmelte er, tief bewegt, und indem er den Brief an Hardungen zurückgab, »armes Weib... das bei einem fremden Manne den Schutz suchen muß, den sie bei dem eigenen Gatten nicht zu finden glaubt...«
Dann verstummte er und ging, wie mit einem Entschluß kämpfend, an des Freundes Seite die Straße hinab.
Am Ende derselben blieb er stehen und Hardungen die Hand reichend, sprach er:
»Ich überlasse Alles dir, du kennst unser Geheimniß, du wirst ihr dieses Geständniß, das sie dir eröffnen will, erleichtern... Und willst du ihr sagen, daß ich hier lebe, daß ich ihr verziehen und daß ich bereit bin, Alles für sie zu thun, was zu ihrer Ruhe nothwendig, so...« Die Stimme versagte ihm. Er vollendete nicht, noch einen innigen Druck und dann eilte er schweigend in die Dunkelheit einer kleinen Seitengasse hinein...
»Er liebt sie noch, der Arme,« murmelte Hardungen für sich und ein schwerer Seufzer rang sich aus seiner Brust los, ein Seufzer, der vielleicht eben so sehr ihm selbst als Schilden galt.
Denn liebte er nicht auch ohne Hoffnung?...
Die Geheimeräthin von Olbers hatte eins jener großen und eleganten Café's der Hauptstadt, welche häufig von vornehmen Damen auch ohne Männerbegleitung besucht wurden, zum Ort der Zusammenkunft mit Hardungen gewählt. Es gab in dem Café Parpalioni eine Menge kleiner Cabinette, in denen man, ohne die Gefahr belauscht zu werden, sich unterreden konnte...
Allerdings kam es auch vor, daß diese Cabinette des Café Parpalioni die Asyle wurden, in denen sich heimlich Liebende trafen, indessen Mathilde von Olbers ließ sich, nachdem sie einmal jenen entscheidenden Entschluß gefaßt, durch solche Nebenbedenken nicht beirren...
Es schlug auf dem Thurme der nahen Michaeliskirche eben die achte Abendstunde, als die junge Frau dicht verschleiert in das Büffet-Zimmer des Café Parpalioni trat...
Einige junge Leute von jener müßiggängerischen Race, wie sie überall in großen Städten mit der Ueppigkeit des Unkrautwuchses emporgewuchert, richteten ihre Lorgnons auf die junge Frau, deren schlanker, feiner Wuchs und elegante Haltung trotz der Einfachheit der dunklen, seidnen Gewänder doch sofort auffiel. Sie beobachtete jedoch weder diese unverschämten Blicke, noch die halblaut geflüsterten Bemerkungen, welche diese Müßiggänger unter sich austauschten...
Sie ging raschen Schritts an das Büffet, eine Erfrischung, die sie dem Aufwärter nach dem Cabinett Nummer acht zu tragen befahl, zu bestellen...
Von dem kleinen, mit dunkelrother Tapete bekleideten und mit einem Divan, einem runden Tisch und Sesseln à la Rococo ausmöbilirten Gemach konnte man das Trottoir der Straße und den Haupteingang zu den Café Parpalioni überblicken...
Mathilde schlug ihren Schleier zurück und stellte sich so an das Fenster, daß der Schatten der Vorhänge und Gardinen die draußen Vorübergehenden verhinderte, ihre Züge zu erkennen...
Trotz der Festigkeit ihres Entschlusses befand sie sich doch in einer kaum zu bemeisternden Aufregung... Ihre Wangen, sonst von einer etwas leidenden Blässe angehaucht, glühten, ihre Pulse flogen, ihr Busen klopfte in stürmischer Wallung...
Je näher der Augenblick rückte, der ihr Geheimniß einem ihr doch so fremden Manne enthüllen sollte, desto beklommener, desto beängstigender wurde es ihr...
Die Luft des Gemachs war rein und kühl und doch war ihr so schwül, ging ihr Athem so hastig als fände sie im Zimmer kaum hinreichende Lebensluft...
Sie zog die Gardinen zwischen sich und die Scheiben und preßte ihre heiße Stirn gegen das Fenster...
Ein stechendes, schmerzliches Gefühl der Scham, die sie schon im Voraus empfand, bei dem Gedanken an die ersten Worte der Eröffnung ließ ihre Seele in peinlicher Qual erzittern... O, sie hatte sich, bevor sie diesen Entschluß faßte, Alles klar vor das Auge gestellt, sie hatte den Kelch, den sie leeren sollte, schon im Vorgefühl der Ahnung in seiner Wehrmuthbitterkeit gekostet, allein als nun die Wirklichkeit so drängend an sie herantrat, empfand sie trotzdem wieder die Schwere der nächsten Stunde in einer kaum geahnten Weise...
Da schallten Tritte draußen auf dem getäfelten Corridor... Eine Stimme – Mathilde erkannte sie, es war die des Redacteurs der Tribune – frug einem Garçon nach dem Zimmer Nummer acht – die Tritte kamen näher, man öffnete und Hardungen trat in's Gemach, die Thüre hinter sich rasch schließend, um jeden neugierigen Späherblick des Garçons zu vereiteln...
Frau Mathilde wendete sich mit einer lebhaften Geberde um, aber zugleich dunkelte es ihr vor den Augen, sie haschte mit der Hand nach der Lehne eines Sessels und Hardungen stützte noch zu rechter Zeit die schwankende, junge Frau, die unter den auf sie einstürmenden Gefühlen zu erliegen drohte...
»Gnädige Frau,« sprach er mit leisem, achtungsvollem Tone, »fassen Sie sich und seien Sie überzeugt, daß Sie Ihr Zutrauen einem Manne schenken, der in diesem Geschenke nicht nur eine Ehre erblickt, die er so hoch hält, als irgend eine Auszeichnung, sondern der auch Alles thun wird, um Ihnen durch die That zu beweisen, daß er dieses Vertrauens nicht ganz unwürdig ist...«
Mathilde, das Gesicht sich mit den Händen bedeckend, schüttelte schmerzlich das Haupt...
»O, es ist nicht ein Zweifel an Ihrer Ehrenhaftigkeit, Herr Hardungen... Aber ich bin so unglücklich,« und ihre Stimme sank zu einem fast unhörbaren Flüstern herab, »so grenzenlos unglücklich, daß ich...« Thränen erstickten ihre Stimme...
Hardungen gönnte dem Schmerz diesen Tribut und verharrte in jenem achtungsvollen Schweigen, welches beredter spricht als die volltönendsten Worte... Laßt dem Weinenden seine Thränen, suchet sie nicht zu trocknen mit dem Hauche eures Mundes, mit tröstender Rede; in der salzigen Thräne, die über die Wange perlt, birgt sich zugleich der mildeste Balsam für das wunde Herz...
Hardungen hatte indessen einen Entschluß gefaßt... Ueber den Inhalt der Mittheilung, welche ihm die junge Frau machen wollte, war er nicht im Zweifel.
Es konnte nach dem, was er von den früheren Lebensbeziehungen Mathildens zu Marecampus wußte, nur jenes Geheimniß sein, das er an jenem Ballabende auf so gefällige Weise erfahren hatte...
Aber der Inhalt dieses Geheimnisses war ein solcher, daß seine Enthüllung für die so unglückliche, junge Frau eine peinliche Folter sein mußte...
Diese peinliche Selbstmarter konnte Hardungen Frau Mathilde ersparen, wenn er sie errathen ließ, daß er ihr Geheimniß kannte...
»Gnädige Frau,« begann er, als sich Mathilde wieder etwas gesammelt hatte, »der Brief, welchen ich von Ihnen empfing, ist ein so großer Beweis Ihres Vertrauens zu mir, daß es ein großes Unrecht wäre, wenn ich dieses Vertrauen nicht erwidern würde... Als Sie mich, gnädige Frau, in Ihrem Briefe riefen, glaubten Sie, mir ein Geheimniß enthüllen zu müssen, um mich die Größe der Gefahr, von welcher ich Sie und jenes Wesen, das Ihrem Herzen theuer sich retten soll, in Ihrem ganzen Umfange kennen zu lehren... Aber erschrecken Sie nicht, gnädige Frau, wenn ich Ihnen sage, daß ich jenes Geheimniß, welches zwischen Ihnen und dem Director der königlichen Museen besteht, kenne, daß ich die Tiefe Ihres Schmerzes vollkommen zu würdigen weiß und daß es nur eines Wortes von Ihren Lippen bedarf, um Sie und Fräulein Linda von Olbers von dem Einfluß eines Mannes zu befreien, der wie ein böser Dämon in die Kreise Ihres Lebens trat... »
Mit weitgeöffneten Augen und dem Ausdruck staunenden Entsetzens starrte Mathilde den jungen Mann an... Eine Marmorblässe überzog ihre Züge, wie eine Träumende strich sie ihr dunkles Haar zurück und mit gewaltigster Anstrengung flüsterte sie mit bebendem Munde:
»Wie?... Sie wissen jenes Geheimniß?...«
Hardungen faßte die schlaff und schwer herabhängende Hand der jungen Frau...
Sie war kalt, wie die einer Todten, alles Blut ihres Leibes drängte sich nach dem Herzen, ihre Seele lag in ihren Augen, die mit einer Spannung an Hardungens Lippen hingen, als läge Tod oder Leben auf ihnen...
»Wenn ich Ihnen sagte, gnädige Frau, daß ich Ihr Geheimniß kenne,« begann der Redacteur der Tribune von Neuem mit mildem ernsten Tone, »so darf Sie nicht die Angst peinigen, daß auch Andere es kennen... Und in meiner Brust ruhte es begraben, wie in einer Gruft... Kein unberufenes Ohr erfuhr nur eine Sylbe davon. O, gnädige Frau, konnten Sie wirklich einen Augenblick glauben, daß ein Mann von Ehre das Geheimniß einer Frau preisgiebt, einer Frau, die zu schwach ist, um Genugthuung dafür fordern zu können und die deshalb desto größeren Anspruch auf die Discretion des Mannes hat?..«
Wenn diese Worte Mathilde auch in Etwas beruhigten, so blieb dennoch genug des Räthselhaften für sie übrig und die Frage, wie Hardungen zur Kenntniß dieser Vergangenheit gekommen, drängte sich über ihre Lippen...
»Nennen Sie es einen Zufall, gnädige Frau,« antwortete der junge Mann, »aber einen jener Zufälle, die gläubige Herzen wohl als Fügungen des Himmels betrachten können...« Und er erzählte ihr, wie er Zeuge jenes Gesprächs zwischen ihr und Marecampus in jener Fest-Nacht gewesen sei...
Während dieser Mittheilung Hardungens hatte Mathilde die Augen zu Boden gesenkt und eine dunkle Röthe färbte die eben noch so blasse Stirne der jungen Frau...
Als er aber geendet, hob sie das Auge, in welchem eine Thräne schimmerte, zu ihm bittend empor und indem sie wie flehend die Hände gegen ihn ausstreckte, flüsterte sie:
»Sie wissen Alles... und ich habe Ihnen Nichts weiter zu sagen, als retten Sie uns von diesem Entsetzlichen... Linda und mich und geben Sie meiner gepeinigten Seele den Frieden wieder, indem Sie mir Gewißheit über das Schicksal jenes armen Kindes schaffen, das ein schuldloses Opfer meiner Verirrung wurde.«
Hardungen blickte erwägend vor sich hin...
Sollte er der armen, jungen Frau sagen: dein todtgeglaubtes Kind lebt, es ist in sicheren, treuen Händen, es steht mit unter der Obhut von dem, welchen du einst liebtest und dem du durch Marecampus entrissen wurdest?..
Aber wenn nun doch ein Irrthum obwaltete? Wenn dieser Hoffnung eine Täuschung folgte? Der kleine Hans trug zwar jenes Muttermaal, die drei rothen Sterne und die Lilie auf dem Oberarme, allein ein so wichtiges Moment dies war, ein entscheidendes war es nicht, wenn nicht noch andere hinzutraten... Ja, wenn man die Leute hätte aufspüren können, bei welchen das Kind früher gewesen?.. Aber wie diese in der großen Hauptstadt entdecken?.. Konnte doch Hans, welcher vor jenem Christabend nie ein anderes Stadtviertel betreten, selbst nicht die Gegend der Stadt angeben, in welcher der Vetter Fritz mit der Muhme Jette gewohnt – geschweige die Straße... Und dann die Beziehung zu Schilden? Wie würde sie die Nachricht von dem Dasein des Geliebten aufnehmen?... Und dann die Conflikte, die daraus für die Beziehungen zu ihrem Manne entstehen würden?...
Hinsichtlich Linda's war seine Sorge geringer. Hier konnte er direct gegen Marecampus auftreten, sei es nun, daß ihn Mathilde autorisirte Linda Mittheilungen zu machen, welche ein Licht auf den Character des Museendirectors warfen oder daß er selbst aggressiv gegen denselben vorging...
Mit angstvoller Spannung erwartete Frau von Olbers ein Wort aus seinem Munde.
»Für's Erste, gnädige Frau,« begann Hardungen endlich, »geben Sie sich der Hoffnung hin, daß trotz der Gewißheit, mit welcher jener Mann zu Ihnen von dem Tode des Kindes sprach, dieses Kind doch noch lebt. –«
»O, mein Gott...« unterbrach ihn bei diesen Worten Mathilde, »wenn es wahr wäre, was Sie da sagen...«
»Noch mehr, es ist möglich, daß Sie dieses arme Kind bald in Ihre Arme schließen können...«
»O mein Kind, mein Johannes,« rief die junge Frau mit leidenschaftlicher Aufregung und Thränen im Auge aus, »er lebt... er ist nicht unter fremden Menschen, fern von mir gestorben... gewiß, gewiß, er lebt... Sie wissen es... Sie kennen ihn... aber wo, wo ist er, wie haben Sie ihn kennen gelernt... Oh,« und Mathilde fiel bei diesen Worten auf die Kniee und streckte flehend die Hände zu Hardungen empor: »um der Barmherzigkeit Gottes willen... reden Sie... führen Sie mich zu meinem Kinde,... meinem lieben... theuren Johannes...«
Hardungen war tief bewegt...
»Beruhigen Sie sich, verehrte Freundin,« tröstete er sie, indem er die Knieende aufrichtete, »gebieten Sie dem Drange Ihres Mutterherzens nur noch eine kurze Spanne Zeit sich zu gedulden und ich hoffe, das Kind in Ihre Arme zu legen...«
Er verstummte. Ein heiseres, rauhes Gelächter hatte ihn unterbrochen... Dieses Lachen mußte von Außen kommen... Er wendete sich nach der Thüre, sie war leicht angelehnt, man mußte sie während seines Gesprächs mit Frau Mathilde von Olbers leise geöffnet haben...
Er blickte hinaus – und sah am obern Ende des Corridors zwei dunkle Schatten dahin huschen und rasch im Büffetzimmer verschwinden...
Unter andern Umständen und vor Allem, wenn die Unterredung nicht die mit einer Dame gewesen wäre, welche durch die geringste Unvorsichtigkeit seinerseits schwer compromittirt worden wäre, würde er den neugierigen Unverschämten, denn nur dafür hielt er die Horcher, nachgeeilt sein. So aber hielt er es für klüger, die Störer fliehen zu lassen und die zitternde, junge Frau zu beruhigen...
»Wenn man uns belauscht hätte,« flüsterte Mathilde bebend mit scheuem Blicke nach der Thüre sehend, »o, ich fürchte mich auf jedem Schritte von den geheimen Spionen des Menschen umringt zu sehen...«
»Sein Sie unbesorgt, gnädige Frau,« beruhigte sie der Redacteur der Tribune, »Ihre Freunde wachen für Sie und ich darf es Ihnen versichern... Sie haben treue Ihnen bis zum letzten Athemzuge ergebene Freunde...«
Mathilde schüttelte leise das Haupt.
»Freunde?« flüsterte sie mit traurigem, zweifelndem Tone, »ich kenne nur Sie... und Linda, die aber selbst so sehr des Schutzes bedarf...«
»Und haben Sie ganz eines Mannes vergessen, der Sie mit aller Gluth und Begeisterung seines edlen Herzens liebte... Haben Sie den Namen Karl Heyden vergessen?..«
Die junge Frau wurde bleich, todtenbleich...
»Um Gotteswillen,« rief sie, während ihre Kniee bebten und ein convulsivisches Zittern ihre zarte Gestalt überflog, »welchen Namen nannten Sie hier... Mein Gott, mein Gott,« und sie preßte die eine Hand gegen ihre Stirne, während sie die andere gegen den Busen hielt, »verwirre nicht meine Sinne... aber, noch einmal bei Gott beschwöre ich Sie... nannten Sie den Namen eines Todten oder eines Lebendigen?..«
Eine neue, entsetzliche Ahnung stieg bei dieser Frage in Hardungen auf... Man hatte – oder vielmehr er, jener Mann, welcher der Verderber von Mathildens Lebensglück geworden – er hatte ein entsetzliches Spiel hier getrieben...
Und von diesem Gedanken bewegt, vergaß er auf einen Augenblick die Ruhe, die er bisher in dem Gespräch mit der jungen Frau sich bewahrt hatte, und sie wie beschwörend an der Hand fassend, rief er:
»So hat man Ihnen gesagt, daß er todt sei – hat Sie betrogen, schändlich belogen?..«
Der Athem der jungen Frau rang sich stoßweise, mit mühsamster Anstrengung aus der Brust los...
»So lebt... er... also,« frug sie in kurzen, abgebrochenen, wie gewaltsam herausgepreßten Worten, »so ist er nicht gefallen... im Zweikampf... für... den Ruf... einer andern Frau... die... er... dann... geliebt... hat... wie... man... mir sagte?..«
»O, des schändlichen, fluchwürdigen Betrugs,« wüthete Hardungen, »aber,« und er lachte dabei so grimmig, daß es selbst Mathilde durchschauerte, »das Levitenstücklein sieht ihm ähnlich... dem Propheten... ha, ha, Rattenfänger, jetzt rüste dich und stimme deine Zither und fang' auch mich oder ich zerschlage sie dir und deinen Schädel dazu...
Und so wissen Sie denn, Heyden lebt, lebt hier in dieser Stadt, wenn auch unter einem andern Namen, um durch Nichts an jene Vergangenheit erinnert zu werden, lebt hier als Armendoctor, wie ein Engel der Barmherzigkeit, Hülfe und Trost in die Hütten der Armuth, des Elends, der Krankheit bringend... Haben Sie nie den Namen des Doctor Heinrich Schilden nennen gehört, wenn man von einer unglücklichen Familie, von einem bedrängten Familienvater, einer armen kranken Wittwe, verlassenen Waisen sprach?.. Er ist es: der einst Karl Heyden hieß... er ist es, dem Marecampus sein höchstes Kleinod, dem er Sie, Mathilde, raubte... Aber bei den Göttern der Verdammniß! die Stunde des Gerichts ist gekommen... die Zeit des Zögerns ist vorüber.. Tod oder Leben zwischen ihm und mir...«
»Bist du wirklich so kampflustig, Bürschchen,« unterbrach ihn hier eine heisere Stimme, während sich zugleich von rückwärts eine Hand, schwer wie Blei, auf seine Schulter legte, »hast du so viel überflüssig Blut in deinen Adern?.. So wollen wir es dir abzapfen, Demagoge, ein Aderlaß im März ist so gut, wie einer im Mai... dir und deinem Spielgesellen... Habe ein flügges Hühnchen mit Euch Beiden zu rupfen, verdammt, wenn ich das Geschäft noch länger aufschiebe...«
Schon bei den ersten Worten des Andern hatte sich Hardungen blitzesschnell umgedreht, sich dabei dicht vor Mathilde stellend, so daß diese Zeit gewann ihren Schleier vorzuziehen, denn der Eintritt des Hauptmanns war so plötzlich geschehen, daß sie seine Anwesenheit erst dann bemerkten, als er sie selbst ankündigte...
Mit einer raschen Geberde hatte Hardungen die Hand des Hauptmanns von seiner Schulter gestreift...
Aus seinen Augen sprühte jener wilde Haß, den schon Selma einst bemerkte, als von Klingen die Rede war, an jenem Morgen in ihrem Boudoir...
»Ah!« knirschte Hardungen, indem er dicht an Klingen herantrat und dem Hauptmann, dessen glühendrothe Flecken auf dem Backen Zeugniß von seiner Berauschtheit ablegten, starr in's Gesicht sah, »Sie wollen Revanche von mir haben und wahrlich... ich bin sie Ihnen schuldig... ah! es muß verdammt schlecht gehen mit dem corriger la fortune, daß Sie zum elenden Handwerk des Spionirens Ihre Zuflucht nehmen mußten... Sie und Ihr würdiger Kumpan... Wohl, wir werden uns treffen und je eher, desto besser und nun Platz Herr, – Platz für uns,« und er reichte der zitternden, jungen Frau den Arm und schritt mit ihr der Thüre zu, »oder ich vergesse, daß Sie alter Sünder dem Greisenalter näher stehen, als der Jugend...« Und er schritt, Mathilde am Arm, rasch vorüber, nicht bemerkend, wie sich Herr von Wolkowsky, welcher außerhalb des Zimmers Zeuge dieser Scene gewesen war, die er gern verhindert hätte, wenn der von Wuth und Wein berauschte Hauptmann hätte zurückgehalten werden können, sich in eine dunkle Nische des Corridors zurückzog...
Hardungen hatte schon die Straße erreicht, wo er seine Begleiterin rasch in einen eben vorüberfahrenden Fiacker hob, als der Hauptmann Worte und Bewegung fand.
Die Beleidigung, welche ihm Hardungen in's Gesicht geschleudert, hatte ihn im strengsten Sinne des Wortes augenblicklich vor Wuth erstarren lassen...
»Ha, Hund –« rang es sich endlich wild und heiser aus seiner Kehle los und er stürzte nach der Thüre...
Der Virtuos hielt ihn auf...
»Keinen Schritt weiter,« sprach er in ernstem, fast drohendem Tone, »Ihre Unklugheit hat uns genug des Bösen diesen Abend bereitet. Sie sind gewarnt – und er wird es uns entgelten lassen...«
»Geschehe – was da wolle,« schrie der Andere, »morgen ist der letzte Tag abgelaufen, den ich ihm gegeben – er soll seinen Abend nicht mehr sehen.« Und fort eilte das würdige Paar. –