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Herr Warrell, von der Firma Warrell & Bird, tat sich etwas darauf zugute, ein Mann von Welt zu sein; in gelegentlichen leichten Anwandlungen von Ruhmredigkeit, in die ja auch ehrbare Herren mittleren Alters manchmal verfallen, gab er zu verstehen, daß er sich schon in einigen sehr heiklen Situationen befunden habe. Er hatte dabei durchblicken lassen, daß ihm die Art und Weise, wie er aus diesen Situationen hervorgegangen sei, nicht zur Unehre gereichte.
Jeder Börsenmakler, der ein bekanntes Geschäft in großem Maßstabe betreibt, sieht sich früher oder später vor die peinliche Aufgabe gestellt, einem ungeduldigen und waghalsigen Spekulanten die Eröffnung machen zu müssen, daß er sein Vermögen zu rasch und unvorsichtig angelegt habe.
Herr Warrell hatte schon früher Gelegenheit gehabt, der Überbringer unerfreulicher Nachrichten von Frau Cathcarts Mißerfolgen sein zu müssen; er besorgte es immer auf die denkbar schonendste Weise. Aber nie zuvor hatte er sich angesichts einer Situation gesehen, die soviel Möglichkeiten unangenehmer Folgen in sich barg als die, die ihm jetzt bevorstand.
Cole empfing ihn mit steinerner Miene, sein Gesicht zog sich in die Länge, weil er die Bedeutung dieses Besuches kannte; auf jene geheimnisvolle Weise, mit der Diener die tiefsten Geheimnisse ihrer Herrschaften zu erraten vermögen, hatte er in Erfahrung gebracht, daß auf das Erscheinen von Herrn Warrell gewöhnlich eine Zeit sparsamer Einschränkungen und Umänderungen des Haushaltes folgte.
»Die gnädige Frau wird Sie sofort empfangen,« meldete er bei seiner Rückkehr.
Einige Minuten später rauschte Frau Cathcart ins Empfangszimmer herein. Ihr Gesicht trägt einen etwas härteren Ausdruck als gewöhnlich, dachte Herr Warrell und wunderte sich, weshalb.
»Nun Warrell,« sagte sie kurz. »Welche teuflischen Machenschaften haben Sie wieder hierhergeführt? Nehmen Sie Platz, bitte.«
Er setzte sich bedächtig nieder; seinen Hut stellte er auf den Boden, und langsam die Handschuhe ausziehend, legte er sie mit übertriebener Sorgfalt in das Seidenfutter des Hutes.
»Was gibt es?« fragte Frau Cathcart ungeduldig. »Sind die Canadian Pacifics wieder gefallen?«
»Sie sind leicht gestiegen,« erwiderte Herr Warrell mit einem Lächeln, das zugleich versöhnlich wirken und schmeicheln sollte. »Ich glaube, Ihre Einschätzung der Canadian Pacifics ist ganz die richtige.«
Er wußte, daß Frau Cathcart sonst nichts mehr schätzte als Anerkennung ihrer Urteilsfähigkeit, aber jetzt achtete sie nicht auf die Schmeichelei, da es ihr klar war, daß er nicht den ganzen Weg von der Throgmorton-Straße hergemacht habe, um ihr Liebenswürdigkeiten über ihren Scharfsinn zu sagen.
»Ich will alles sagen, was ich auf dem Herzen habe,« fuhr Herr Warrell fort, indem er seine Worte vorsichtig abwog und sich bemühte, mit Hilfe eines gezwungenen Lächelns auf taktvolle Weise seine Offenherzigkeit auszudrücken. »Sie schulden uns etwa siebenhundert Pfund, Frau Cathcart.«
Sie nickte.
»Sie haben reichliche Sicherheiten dafür,« erwiderte sie.
»Das weiß ich wohl,« stimmte er bei und blickte zur Decke hinauf, »aber die Sache ist die, ob Sie geneigt sind die Differenz, die wir guthaben, in bar auszugleichen.«
»Davon kann überhaupt keine Rede sein,« sagte sie schroff, »soweit ich in Betracht komme, kann ich keine siebenhundert Schilling aufbringen.«
»Angenommen,« schlug Herr Warrell, immer noch mit den Augen an der Decke, vor, »angenommen, ich wüßte jemanden, der bereit wäre, Ihren Halsschmuck zu kaufen – ich denke, das war der Gegenstand, den Sie bei uns hinterlegt haben – und zwar um tausend Pfund?«
»Er ist bedeutend mehr wert,« sagte Frau Cathcart scharf.
»Möglicherweise,« sagte der andere, »aber ich möchte die Sache nicht gerne in die Zeitung kommen lassen.«
Er hatte die Bombe platzen lassen.
»Was wollen Sie eigentlich damit sagen?« fragte sie ungeduldig und stand auf. Sie blickte finster auf ihn herab.
»Verstehen Sie mich nicht falsch,« sagte er hastig. »Ich werde es mit einem Satz erklären. Ihr Diamantenhalsband ist aus meinem Tresor gestohlen worden.«
»Gestohlen!«
Sie wurde weiß vor Schreck.
»Ja, gestohlen,« sagte Herr Warrell, »von einer Einbrecherbande, die ihre Tätigkeit schon seit zwölf Monaten in der City ausübt. Sie sehen, meine liebe Frau Cathcart,« fuhr er fort, »das ist für uns beide eine sehr peinliche Situation. Ich möchte meine Kunden nicht wissen lassen, daß ich von Damen Juwelen als Pfand für Fehlbeträge annehme, und Sie,« er war hartherzig genug, seine Worte nachdrücklich zu betonen, »stelle ich mir wenigstens vor, haben kein Verlangen danach, daß Ihre Freunde etwas von der Zwangslage erfahren, die Sie Ihre Juwelen bei mir hat hinterlegen lassen.« Er zuckte die Achseln. »Selbstverständlich hätte ich die Sache der Polizei berichten und eine Beschreibung des Halsschmuckes veröffentlichen lassen können, und hätte möglicherweise den Verlust von einer Versicherungsgesellschaft ersetzt bekommen, aber das liegt nicht in meiner Absicht.«
Dieser gute Geschäftsmann hätte hinzufügen können, daß seine Versicherungspolice einen solchen Verlust nicht gedeckt hätte; denn bei der Festsetzung der Versicherungsprämien für die eventuellen Verluste eines Maklerbureaus sieht man normalerweise nicht die Möglichkeit eines Juwelendiebstahls vor.
»Ich bin bereit, den Verlust auf mich zu nehmen,« fuhr er fort. »Das heißt, ich bin bereit, innerhalb vernünftiger Grenzen die Sache aus meiner eigenen Tasche gutzumachen, ebensosehr in meinem Interesse wie in dem Ihrigen. Andernfalls, wenn Sie auf meinen Vorschlag nicht eingehn, bleibt mir nichts andres übrig, als die Geschichte sehr, sehr ausführlich, sehr ausführlich,« er wiederholte das Wort eindringlich, »der Polizei und der Presse zu berichten. Nun, was meinen Sie dazu?«
Wahrheitsgemäß hätte Frau Cathcart gestehen müssen, sie wisse nicht, was sie davon halten solle.
Der Halsschmuck hatte hohen Wert, und dann kamen noch andere Erwägungen in Betracht.
Herr Warrell dachte offenbar an seinen ideellen Wert, denn er fuhr fort:
»Aber in Anbetracht der Tatsache, daß Juwelen dieser Art einen besonderen Wert für die Familie haben, möchte ich den Gedanken anregen, ob nicht Ihr neuer Schwiegersohn vielleicht den Verlust ersetzen könnte.«
Sie wandte sich mit einem harten Lächeln zu ihm.
»Mein neuer Schwiegersohn,« höhnte sie, »guter Gott!«
Warrell kannte Standerton und betrachtete ihn als einen der Günstlinge des Schicksals, über dessen finanzielle Sicherheit kein Zweifel bestehn konnte.
Der verächtliche Ausdruck in der Stimme der Frau bestürzte ihn, wie nur ein Citymann durch ein Tuscheln gegen die Zuverlässigkeit eines bombensicheren Papiers sich bestürzen läßt.
Für einen Augenblick vergaß er den Zweck seines Besuches.
Er hätte sie gern um eine Erklärung gebeten, doch fühlte er, es gehöre nicht in den Geschäftsbereich von Frau Cathcarts Makler, Mitteilungen über ihre Familienangelegenheiten zu erbitten.
»Es ist eine recht üble Geschichte, in die Sie mich da hineingebracht haben, Herr Warrell,« sagte sie und erhob sich.
Er stand gleichfalls auf, nahm seinen Hut auf und brachte seine versenkten Handschuhe wieder ans Tageslicht.
»Es ist wirklich sehr peinlich,« sagte er, »schrecklich peinlich für Sie und ebenso schrecklich peinlich für mich, meine liebe Frau Cathcart. Sicher werden Sie Mitleid mit meiner heiklen Lage haben.«
»Ich habe Ursache genug, mich selbst zu bemitleiden,« sagte sie kurz.
Nach dem Weggang des Maklers blieb sie allein im Empfangszimmer sitzen.
Was sollte sie tun? Denn etwas wußte Warrell nicht, nämlich, daß das Halsband nicht ihr gehörte. Der alte Oberst hatte es für seine Tochter neu fassen lassen und es ihr in seinem Testament vermacht.
Ein Familienkreis, der nur aus Mutter und Tochter besteht, verfügt meist gemeinsam über das vorhandene Eigentum, während dies bei Familien größeren Umfangs etwas sonderbar erscheinen würde. Obwohl Edith wußte, daß der Schmuck ihr gehöre, hatte sie nie etwas dabei gefunden, wenn ihre Mutter ihn trug, und hatte auch nie nur eine Andeutung gemacht, daß sie ihn lieber dem bescheidenen Bestand ihrer Schmucksachen in ihrer eigenen Kassette einverleibt hätte.
Jedoch hatte er immer als ›Ediths Halsschmuck‹ gegolten.
Frau Cathcart hatte ihn selbst immer so bezeichnet und deshalb war ihr die Halsbandangelegenheit und seine Verwahrung durch den Börsenmakler eine unbehagliche Beigabe zu ihrer Entfremdung.
Frau Cathcart zuckte die Achseln; da war nichts zu machen, sie mußte sich auf ihr Glück verlassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Edith das Schmuckstück je vermissen würde. Aber da ihr Gatte nun einmal arm war, und sie dem Mann gegenüber von diesem dummen Pflichtgefühl besessen war, so bestand immerhin die Möglichkeit, daß sie einfach aus dem überspannten Wunsch heraus, ihrem Mann zu helfen, über den Verbleib des Halsbandes Fragen stellen würde. Aber das sah Edith nicht ähnlich, dachte Frau Cathcart dann wieder; mit diesem beruhigenden Gedanken ging sie die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer.
Auf halbem Wege blieb sie stehen, um die Zofe mit der eben eingelaufenen Post abzuwarten. Mit einem leichten Zusammenzucken erkannte sie auf dem obersten Brief die Handschrift ihrer Tochter und riß den Umschlag auf. Der Brief war kurz.
»Liebe Mutter!« las sie.
»Würdest du so freundlich sein, mir das Halsband zukommen zu lassen, das mir von Vater vermacht wurde. Ich habe das Gefühl, daß ich mich, wenn auch nur im Interesse meines Mannes, wieder etwas in der Gesellschaft zeigen muß.«
Der Brief fiel Frau Cathcart aus der Hand. Wie festgewurzelt stand sie auf der Treppe.
Edith Standerton überflog noch einmal prüfend die gedeckte Tafel für den Lunch, als ihr Gatte eintrat. Das Leben in dem Hause in St. Johns Wood spielte sich in eigentümlichen Formen ab.
Keinem der beiden jungen Leute wäre es möglich erschienen, daß sie so Zusammenleben könnten, wie es jetzt tatsächlich der Fall war: in vollkommener Eintracht, in Sympathie, doch anscheinend ohne jegliche Liebes- oder Zärtlichkeitsäußerung von beiden Seiten.
Der Vergleich mit Bruder und Schwester hätte ihre Freundschaft kaum richtig gekennzeichnet. Dazu fehlten ihnen das gegenseitige Vertrautsein und die gemeinsamen Interessen, die sonst Bruder und Schwester haben. Auch ging ihnen eine genauere Kenntnis der gegenseitigen Fehler und Tugenden ab.
Sie waren einander fremd, und jeder Tag brachte dem einen eine neue Erkenntnis über den andern. Gilbert machte die Erfahrung, daß dieses stille Mädchen, dessen schwermütige graue Augen auf ein großes Leid schließen ließen, Sinn für Humor hatte, bei der geringsten Gelegenheit lachen konnte und eine hervorragend gute Menschenkenntnis an den Tag legte.
Andrerseits entdeckte sie in ihm eine unerwartete Lebenskraft und eine Zähigkeit in Verfolgung seiner Pläne, die sie vor ihrer Verheiratung nie an ihm bemerkt hatte. Auch konnte er bei den nicht sehr häufigen Gelegenheiten, wo sie allein beisammen waren, recht unterhaltsam sein. Er war ein weitgereister Mann, der Persien, Arabien und wenig bekannte Länder Ostasiens gesehen hatte.
Sie spielte nie wieder auf die Geschehnisse jenes schrecklichen Hochzeitsabends an. In diesem Punkte bewegten sich ihre Mutmaßungen vielleicht in einer falschen Richtung. Sie hatte eine Geigenspielerin mit einem außergewöhnlich schönen Gesicht gesehn und vielleicht auf diesen Begleitumstand doch zuviel Gewicht gelegt. Irgendwo im Herzen ihres Gatten lag ein Geheimnis verborgen; die Art dieses Geheimnisses konnte sie nur ahnen. Sie vermutete, daß es irgendwie mit einer Frau in Zusammenhang stünde –, hierin kam ihre Weiblichkeit zum Ausdruck.
Sie hegte deswegen keine unwilligen Gefühle, weder gegen ihren Mann noch gegen die Unbekannte, die auf den zitternden Saiten ihrer Geige eine Botschaft gesandt hatte.
Es war nur, sagte sie sich, ›seltsam.‹ Da sie neugierig war wie alle gesunden jungen Menschenkinder, wollte sie wissen, wie die Sache zusammenhing. Mochte die Enthüllung ihr Ärgernis erregen und sie mit unauslöschlicher Verachtung gegen den Mann erfüllen, dessen Namen sie trug, so wollte sie doch in Erfahrung bringen, was es war.
Nach einiger Zeit fühlte sie sich auch etwas gekränkt, daß er irgendwelche Geheimnisse vor ihr haben könnte – in Anbetracht ihrer eigentümlichen Beziehungen war das eine sonderbare Gemütsanwandlung, und doch eine recht begreifliche.
Obgleich die beiden nicht das innige besondere Verhältnis von Mann und Frau verband, hatte sich doch zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelt, die nach der Auffassung der jungen Frau – und sie hing an diesem Glauben – eine bessere Gewähr für Beständigkeit bot als eine Ehe im üblichen Sinn. Es war ein Kameradschaftsverhältnis, bei dem manches als selbstverständlich vorausgesetzt wurde; sie nahm als gegeben an, daß er sie liebte; und das war ihr beim Eingehen der Ehe als etwas sehr Wichtiges erschienen. Es gab eine sichere Grundlage für eine Freundschaft mit jeder Frau.
Er seinerseits war von der Überzeugung durchdrungen, daß ihr Wesen über jeden Trug erhaben und von seltenem Freimut sei, wenn ihn auch ihre Aufrichtigkeit fast tödlich schmerzte. Er vermeinte darin eine ungewöhnliche Achtung gegen ihn zu entdecken, obwohl er sich bei objektiverer Betrachtung wieder entgegenhielt, daß sie jedem andern Mann gegenüber ebenso ehrlich verfahren wäre.
Edith durchwob diese Freundschaft mit einem besonderen Schimmer geschlechtsloser Romantik – in der Geschlechtslosigkeit glaubte sie die Erfüllung eines Ideals zu erblicken, dem das sehnsüchtige Streben der Jugend aller Zeiten gegolten hat, ohne daß es irgendwann von überzeugendem Erfolg gekrönt worden wäre.
Es gibt keinen Mann und keine Frau auf der Welt, die nicht glauben, diese Möglichkeit sei unter Millionen ihm oder ihr Vorbehalten; es gibt kein so kleinmütiges Menschengeschöpf, das sich nicht dem Wahne hingibt, zu seinen Gunsten machten die allgemein gültigen Weltgesetze eine Ausnahme.
Mag Plato mit seiner Ansicht über die Freundschaft längst widerlegt sein, mögen seine Anschauungen hoffnungslos und für immer verdorrt und sich vor dem Feuer der natürlichen Liebe in Dunst aufgelöst haben; mögen tausend Zeugen sich erheben, um die Sinnlosigkeit der Freundschaft zwischen zwei Leuten verschiedenen Geschlechts zu bekräftigen –, immer wird es ein ›Du‹ und ein ›Ich‹ in der Welt geben, das der Erfahrung trotzt und mit der erhabenen Zuversicht austritt, beweisen zu können, wie anders der Erfolg bei ihm sein wird, als er allen früheren Versuchen beschieden war.
Sie sagte sich selbst: wenn auch nur der leiseste Funken von Liebe zu diesem jungen Mann in ihr wäre, der so plötzlich in ihr Leben getreten war und gewissermaßen ebenso unvermittelt sich daraus zurückgezogen hatte, aber nur, um in einer andern Gestalt wiederzukehren; wenn in ihrem Herzen auch nur das geringste Glimmen jenes Gefühls, das man Liebe nennt, zu spüren gewesen wäre, dann wäre sie eifersüchtig gewesen, wenn auch nur ein bißchen eifersüchtig, auf die Interessen, die ihn ihr jeden Abend entzogen und ihn oft erst nach Hause kommen ließen, wenn graue Dämmerung das Blau im Osten verfärbte.
Sie hatte ihm einmal vom Fenster aus nachgesehn und unbestimmte Zweifel gefühlt, was er in der Nacht draußen zu tun hätte.
Suchte er Erholung von einer unerträglichen Lage? Er machte nie den Eindruck, als sei es ihm unerträglich. Dieser Gedanke beruhigte sie.
Gab es – jemand anderen?
Bei dieser Frage zog sie die Augenbrauen zusammen, sie, die Frau, die nichts von Liebe wußte.
Einmal ertappte sie sich zu ihrem heftigen Erstaunen dabei, daß ihr bei solchen Gedanken beinahe die Tränen kamen. Sie machte die ganze Stufenleiter der Gefühle zwischen Zweifel und Klarheit, zwischen Empörung und Zerknirschung durch, die auch eine junge Frau unter glücklicheren Verhältnissen hätte erleben können.
Wer war die Geigenspielerin mit dem schönen Gesicht? Welche Rolle spielte sie in Gilberts Leben?
Eine Sache hatte sie in Erfahrung gebracht: ihr Mann spekulierte auf der Börse. Zuerst wollte es ihr nicht recht einleuchten, daß er etwas so Gewöhnliches tun könne. Sie hatte immer einen Mann in ihm gesehn, dem gemeines Geldraffen widerwärtig war. Seine Stellung am Auswärtigen Amt hatte er aufgegeben und war nun an irgendeinem Geschäft beteiligt, über das nicht gesprochen wurde. Sie hatte sich mancherlei Gedanken gemacht; aber bevor sie den Vertragsabschluß eines Börsenmaklers auf seinem Schreibtisch entdeckte, wäre ihr nie der Verdacht gekommen, Erfolge auf der Börse könnten das Ziel seines Ehrgeizes bilden.
Bei diesem Abschluß schien es sich um ein Riesengeschäft zu handeln.
Aktien im Werte von Zehntausenden waren da aufgeführt. Sie verstand sehr wenig von Börsengeschäften und erinnerte sich nur mancher Vormittage, an denen ihre Mutter infolge ihrer Verluste unausstehlich gewesen war. Da kam es ihr in den Sinn, daß sie, wenn er ein Geschäftsmann sei – eine unbestimmte, nichtssagende Bezeichnung – selbst etwas mehr leisten könne, als nur zu Hause zu sitzen und der Dienerschaft Anweisungen zu geben.
Sie könnte ihm auch noch auf andere Weise nützlich sein. Geschäftsleuten kommt es zu statten, wenn sie Diners veranstalten oder geschickte Einladungen zu einer Abendgesellschaft nach dem Theater geben; und manche Männer hatten ihre Erfolge ihren Frauen zu verdanken, die sich auf diesem Gebiete klug zu betätigen verstanden.
Das war ein guter Gedanke. Sie nahm eine Generalmusterung ihrer Garderobe vor und gab den Brief zur Post, der den Seelenfrieden ihrer Mutter so vollends zerstörte.
Als Gilbert, der den ganzen Vormittag fort gewesen war, aus der City heimkam, sah er ziemlich müde aus.
Ein gegenseitiges Zulächeln, ein wenig gezwungen und kalt auf der einen Seite, etwas sinnend und traurig auf der andern, war zur üblichen Art ihrer Begrüßung geworden; dazu kam noch die Frage: ›Hast du gut geschlafen?‹; diese originelle Frage blieb jeweils dem von beiden Vorbehalten, der zuerst daran dachte.
Sie waren mitten im Essen, als sie plötzlich fragte:
»Wäre es dir recht, wenn wir ein Diner geben würden?«
Er blickte erstaunt auf.
»Ein Diner?« wiederholte er ungläubig; dann, als er ihr enttäuschtes Gesicht sah und sich klar wurde, daß sie vielleicht ein Opfer bringen wollte, fügte er hinzu: »Ich meine, das ist eine ausgezeichnete Idee. Wen würdest du gern einladen?«
»Wer zu deinen Freunden gehört,« sagte sie, »diesen recht netten Herrn Frankfort und – wen noch?« fragte sie.
Er lächelte ein bißchen grimmig.
»Ich glaube, mit diesem recht netten Herrn Frankfort ist die Zahl meiner Freunde schon erschöpft,« sagte er mit einem leichten Lachen. »Wir könnten noch Warrell bitten.«
»Wer ist Warrell? Oh, ich weiß,« sagte sie rasch, »er ist Mutters Makler.«
»Der Makler deiner Mutter?« wiederholte er gedehnt, »wirklich?«
»Warum?« fragte sie.
»Wieso warum?« wich er aus.
»Weshalb hast du das so eigentümlich gefragt?«
»Ich war mir dessen nicht bewußt,« sagte er leichthin, »nur kann man sich deine Mutter nicht recht in Verbindung mit einem Börsenmakler vorstellen. Doch vermutlich braucht sie in diesen Zeiten einen Agenten. Du mußt wissen, er ist auch mein Makler.«
»Wen sonst noch?« fragte sie.
»Soweit meine Beziehungen in Betracht kommen,« sagte er mit spöttischem Ernst, »fällt mir niemand mehr ein. Wie wäre es mit deiner Mutter?« – – –
»Ich könnte ein oder zwei nette Leute einladen,« fuhr sie fort, ohne auf seinen Vorschlag zu achten.
»Wie wäre es mit deiner Mutter?« sagte er wiederum.
Mit Tränen in den Augen blickte sie zu ihm auf.
»Bitte, sei nicht so schrecklich!« sagte sie. »Du weißt, daß es unmöglich ist.«
»Aber durchaus nicht,« antwortete er heiter. »Ich habe den Vorschlag allen Ernstes gemacht; ich halte ihn für sehr gut. Schließlich besteht gar keine Veranlassung, um diese dumme Entzweiung weiter bestehn zu lassen. Ich gebe zu, ich hatte sehr bittere Gefühle gegen sie; aber damals fühlte ich sogar bitter gegen dich.«
Er sah sie nicht unfreundlich an.
»Die Bitterkeit verschwindet allmählich,« sagte er.
Obwohl er die junge Frau anblickte, sprach er mehr zu sich selbst.
Es schien ihr, als suche er sich von etwas zu überzeugen, an das er nicht recht glaubte.
»Es ist merkwürdig,« sagte er, »wie Kleinigkeiten, kleine Sorgen und unbedeutende Anlässe zum Unglücklichsein in nichts zerrinnen angesichts eines wirklich großen Kummers.«
»Was ist dein großer Kummer?« fragte sie, rasch die günstige Gelegenheit erfassend, die er ihr in diesem unbewachten Augenblick gegeben hatte.
»Ich habe keinen,« sagte er. Sein Ton war etwas lauter als gewöhnlich, fast trotzig. »Ich spreche nur im allgemeinen.«
»Ich habe keinen Kummer, außer den unbestreitbaren Lebenssorgen,« fuhr er fort. »Eine kurze Zeitlang warst du ein Kummer für mich, aber nun bist du es nicht mehr.«
»Ich bin froh, daß du das sagst,« erwiderte sie sanft. »Ich will wirklich auf freundschaftlichem Fuß mit dir stehn, Gilbert – ich will dir wirklich ein guter Freund sein. Ich fürchte, ich habe ziemlich viel Unheil in deinem Leben angerichtet.«
Sie hatte sich vom Tisch erhoben und blickte stehend auf ihn herab.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht,« sagte er. »Jedenfalls nicht solch ein Unheil, wie du dir einbildest. Andre Umstände haben sich verschworen, zunichte zu machen, was wie eine schöne Zukunft aussah. Es ist sehr betrüblich, daß unsre Ehe sich nicht ganz als das erwiesen hat, was ich mir erträumt hatte; aber schließlich sind Träume keine sehr sicheren Grundlagen für einen Lebensbau. Du kannst dir wohl nicht vorstellen, daß ich ein Träumer war, nicht wahr?« sagte er rasch mit dem ihm eigenen Lächeln, wobei sich in seinen Augenwinkeln feine Fältchen zeigten. »Du kannst dir mich nicht als Romantiker vorstellen, obwohl ich, fürchte ich, einer war.«
»Einer bist, willst du sagen,« verbesserte sie.
Darauf erfolgte keine Antwort mehr.
Die Frage des Diners kam später noch einmal zur Sprache, als er sich anschickte auszugehn.
»Du bleibst wohl nicht gerne noch ein bißchen da, um es mit mir durchzusprechen,« schlug sie ein wenig schüchtern vor.
Er zauderte.
»Ich würde nichts lieber tun,« sagte er, »aber –« er schaute auf seine Uhr.
Sie preßte ihre Lippen zusammen und fühlte einen Augenblick lang, wie eine unbegreifliche Welle von Zorn sie durchflutete.
Es war unsinnig, natürlich, denn er ging immer zu dieser Zeit fort und es lag wirklich keine Veranlassung vor zu bleiben.
»Wir können ein andermal darüber reden,« sagte sie kalt und verließ ihn ohne ein weiteres Wort.
Er wartete, bis er die Tür zu ihrem Zimmer oben sich schließen hörte, dann ging er fort mit einem leichten Lächeln, das eher Tränen als Heiterkeit verriet.
Er ging in einem günstigen Moment aus dem Hause; hätte er noch fünf Minuten gewartet, so wäre er mit seiner Schwiegermutter zusammengetroffen.
Frau Cathcart hatte sich dazu entschlossen, ›ihr Herz auszuschütten‹, und war persönlich gekommen, um das Geständnis zu machen. Das Schicksal meinte es gut mit ihr, sagte sie sich, weil es Gilbert aus dem Wege geräumt hatte; daß er fort war, merkte sie nach den ersten paar Minuten, und sie entdeckte es auf die sehr einfache Weise, daß sie Gilberts Diener fragte, ob sein Herr zu Hause sei.
Edith vernahm die Ankunft ihrer Mutter, ohne überrascht zu sein. Sie nahm an, Frau Cathcart sei gekommen, um den Halsschmuck seiner rechtmäßigen Besitzerin auszuhändigen. Als sie die Treppe hinabging, um ihre Mutter zu begrüßen, fühlte sie leichte Gewissensbisse; war sie mit ihrem Verlangen nicht unnötig schroff gewesen! Sie war eine zartempfindende Seele und hegte die gebührenden, natürlichen Gefühle für die ältere Frau. Die Befürchtung, sie könnte ihr Herz tief gekränkt haben, und diese Kränkung könnte bei der Unterredung zum Ausdruck kommen, verursachte ihr etwas Unbehagen, als sie die Tür zum Empfangszimmer öffnete.
Frau Cathcart war ein Muster von kühler Gelassenheit. Man hätte nicht geglaubt, daß es jemals zwischen den beiden Frauen zu einer Szene gekommen sei, an die man sich nur ungern erinnern mochte. Es wurden keinerlei Anspielungen auf die Vergangenheit gemacht, worüber Edith sehr froh war.
Es lag nicht in ihrer Absicht, mit ihrer Mutter auf schlechtem Fuß zu stehn. Sie konnte sich nur zu gut in ihre Lage versetzen und wußte, woraus ihre beiderseitige Entfremdung stammte; aber es würde nur besser für sie beide sein, wenn sie einigermaßen den Anschein freundlicher Beziehungen aufrecht erhielten.
Frau Cathcart ging direkt auf ihr Ziel los.
»Du kannst dir wohl denken, warum ich dich besuche,« sagte sie nach der ersten Begrüßung.
»Ich vermute, du bringst mir den Halsschmuck,« sagte die junge Frau lächelnd. »Du findest es doch nicht sehr häßlich von mir, daß ich darum gebeten habe, aber ich habe das Gefühl, ich muß etwas für Gilbert tun.«
»Ich meine, du hättest dir vielleicht einen andern Zweck für deinen ersten Brief aussuchen können,« sagte die ältere Frau bissig. »Aber um so – –«
Edith gab keine Antwort. Es hatte keinen Sinn, mit ihrer Mutter zu rechten.
Frau Cathcart besaß eine Eigenschaft, welche unter all den menschlichen Charakterzügen durchaus nichts Seltenes ist, nämlich die Eigenschaft, andre Leute ins Unrecht zu setzen.
»Aber um so mehr tut mir leid,« nahm Frau Cathcart wieder den Faden ihrer Rede auf, »daß ich nicht in der Lage bin, dir deinen Halsschmuck zu bringen.«
Die junge Frau starrte ihre Mutter verwundert an.
»Wieso? Was meinst du eigentlich damit, Mutter?« fragte sie.
Frau Cathcart wich ihren Blicken absichtlich aus.
»Ich habe Verluste an der Börse gehabt,« sagte sie. »Ich nehme an, du weißt, daß dein Vater uns gerade so viel hinterlassen hat, um zu hungern, und daß alles, was du an Luxus und Behagen genossen hast, meinen persönlichen Anstrengungen zu verdanken war? Ich habe eine Masse Geld an den kanadischen Pacifics verloren,« sagte sie offen.
»Nun, was weiter?« fragte die junge Frau neugierig, was als nächstes folgen würde, und auf das Schlimmste gefaßt.
»Ich habe bei einer Maklerfirma einen Verlust von siebenhundert Pfund gehabt,« fuhr Frau Cathcart fort, »und habe deinen Halsschmuck als Pfand bei der Firma hinterlegt.«
Die junge Frau holte tief Atem.
»Ich hatte natürlich die Absicht, es wieder auszulösen, aber nun ist etwas Unglückseliges passiert – der Tresor wurde erbrochen und das Halsband gestohlen.«
Edith Standerton blickte ihre Mutter starr an.
Wenn ihr auch der Verlust des Halsbandes an sich nicht allzu großen Kummer machte, so wurde sie sich jetzt doch bewußt, daß es ihr wichtiger gewesen war, als sie gedacht hatte. Es hatte ihr als Notpfennig für schlechte Zeiten gegolten, die jeden Tag eintreten konnten, wenn Gilbert recht hatte.
»Da ist nichts zu machen,« sagte sie.
Sie machte ihrer Mutter keine Vorwürfe und gab auch ihrer Meinung über die Ungehörigkeit, als Sicherheit für Schulden Gegenstände anzubieten, die jemand andrem gehören, keinen Ausdruck.
Jede Art von Kritik wäre unnütz und gar nicht der Mühe wert gewesen.
»Nun,« sagte Frau Cathcart, »was sagst du dazu?«
Die junge Frau zuckte die Achseln.
»Was soll ich dazu sagen, Mutter? Der Schmuck ist verloren, man muß sich eben damit abfinden. Hat die Firma irgendeine Entschädigung angeboten?«
Sie fragte es harmlos; es fiel ihr nur so nebenbei ein, daß möglicherweise aus dem Schiffbruch etwas zu retten wäre.
Frau Cathcart warf ihr einen raschen Blick zu.
Hatte ihr dieser verdammte Warrell etwas mitgeteilt? Sie wußte, daß Warrell ein guter Bekannter von Ediths Mann sei. Es wäre sehr boshaft von ihm, wenn er es getan hätte.
»Eine Entschädigung wurde wohl in Aussicht gestellt,« antwortete sie leichthin, »aber eine ganz unzulängliche; die Sache ist noch nicht erledigt, aber ich werde dich wissen lassen, wie sie sich entwickelt.«
»Welche Entschädigung bieten sie an?« fragte Edith.
»Tausend Pfund,« sagte Frau Cathcart nach einigem Zögern.
»Tausend Pfund!« Die junge Frau war höchlichst überrascht, sie hatte keine Ahnung, daß der Halsschmuck so wertvoll sei.
»Das heißt natürlich,« beeilte sich Frau Cathcart zu erläutern, »siebenhundert Pfund aus meiner Tasche und dreihundert Pfund von dem Makler.«
Die junge Frau lächelte innerlich. Siebenhundert Pfund aus meiner Tasche bedeutete, wenn du die volle Summe von mir haben willst, wirst du mich berauben.
»Dann blieben also noch dreihundert Pfund übrig. Ich glaube, ich werde mich damit zufrieden geben.«
»Warte noch ein wenig,« sagte Frau Cathcart, »vielleicht findet sich das Halsband auf irgendeine Weise wieder; man will eine Beschreibung davon veröffentlichen. Was meinst du dazu?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wäre mir nicht angenehm,« sagte sie ruhig. »Es könnte zu Nachforschungen kommen, und ich möchte die Leute nicht gern wissen lassen, daß der Halsschmuck mein Eigentum war, und auch nicht, daß meine Mutter ihn als Pfand für ihre Schulden hinterlegt hatte.«
Nichts konnte die neue Edith besser kennzeichnen. Frau Cathcart schaute sie verblüfft an.
»Edith,« sagte sie streng, »das klingt ein bißchen unverfroren.«
»Das mag wohl sein, Mutter,« entgegnete die junge Frau, »aber was soll ich machen? Was soll ich sagen? Die Tatsachen liegen für dich und mich recht klar zutage: das Halsband ist gestohlen und wird möglicherweise nie wieder zum Vorschein kommen; auf die entfernte Aussicht hin, einen Juwelenschmuck, der jetzt wahrscheinlich schon seiner Steine beraubt im Schmelztiegel ist, wiederzuerlangen, werde ich weder meinen Verlust noch deine Schwäche der Öffentlichkeit preisgeben.«
»Du weißt ja gut Bescheid über Juwelen und Juwelendiebe,« sagte ihre Mutter etwas spöttisch. »Hat Gilbert deine Kenntnisse erweitert?«
»Ja, merkwürdigerweise hat er das getan,« sagte ihre Tochter gelassen; »wir sprachen über mancherlei sonderbare Dinge.«
»Da hast du wohl recht angenehme Abende mit ihm?« sagte die ältere Frau trocken. Sie erhob sich und schaute auf ihre Uhr. »Leider kann ich nicht länger bleiben,« sagte sie, »ich bin zum Essen eingeladen. Ich nehme an, du wirst wohl nicht gerne mitkommen? Es ist eine ganz zwanglose Gesellschaft; tatsächlich warst auch du mit eingeladen.«
»Und Gilbert?« fragte die junge Frau. Die andre lächelte.
»Nein, auf Gilbert erstreckte sich die Einladung nicht,« sagte sie. »Ich habe es überall deutlich zu verstehn gegeben, daß ich Einladungen nur dann annehme, wenn dein Gatte nicht an der Gesellschaft teilnimmt.«
Die junge Frau richtete sich straff auf und die ältere sah in ihren Augen ein Gewitter aufziehn.
»Ich verstehe dich nicht recht. Willst du damit sagen, daß du in London herumgegangen bist, um Unfreundlichkeiten über meinen Gatten zu verbreiten?«
»Natürlich habe ich das getan,« sagte Frau Cathcart unverblümt. »Vom Herumgehn in London kann zwar keine Rede sein, aber ich habe es den Leuten gesagt, die zu meinen intimen Freunden gehören und natürlich ein Interesse für meine Angelegenheiten haben.«
»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen,« entgegnete die junge Frau empört. »Ich finde es unerhört von dir. Du hast einen Irrtum begangen und mußt die Folgen auf dich nehmen. Ich habe ebenfalls einen Irrtum begangen und ich nehme mein Geschick freudig auf mich. Wenn es dir weh tut, daß ich mit einem Mann verheiratet bin, der mich gering schätzt, wieviel weher wird es wohl mir ums Herz sein, glaubst du?«
Frau Cathcart lachte. »Ich versichere dir,« entgegnete sie lächelnd, »daß zwar manche sorgenvollen Gedanken meine Nachtruhe stören, aber der Gedanke, daß dein Gatte keine besondere Liebe für dich empfindet, gehört nicht dazu; was mich mit einem scheußlichen Gefühl aus dem Schlafe schreckt, ist das Bewußtsein, daß er, statt ein reicher Mann zu sein, wie ich dachte, tatsächlich keinen roten Heller besitzt. Welcher Wahnsinn hat ihn dazu veranlaßt, seine Stellung am Auswärtigen Amt aufzugeben?«
»Das fragst du ihn besser selbst,« sagte die junge Frau boshaft. »Er wird in wenigen Minuten da sein.«
Es bedurfte nur dieser Worte, um Frau Cathcarts Aufbruch zu beschleunigen, und Edith blieb allein zurück.
*
Edith speiste an diesem Abend allein. Anfänglich hatte sie diese einsamen Abendessen mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung begrüßt. Sie war eine Frau mit scharfem Verstand und sah der Zukunft ohne Illusionen entgegen.
Sie konnte sich vorstellen, daß eine Zeit kommen würde, wo sie und Gilbert in vollkommener Eintracht zusammenleben würden, wenn auch ohne die wesentlichen engen Beziehungen, die Mann und Frau miteinander verbinden sollten. Sie war bereit, Jahre der Prüfung auf sich zu nehmen, und das fiel ihr um so leichter, wenn Geschäfte oder Vergnügungen während der peinlichen Stunden zwischen Abendessen und Schlafenszeit sie trennten.
Aber an diesem Abend zum erstenmal fühlte sie sich einsam.
Sie hatte Verlangen nach ihm und seiner Gesellschaft, seiner heiteren Lebenskraft.
Es gab Augenblicke, wo er strahlend glücklich und gesprächig war, so wie sie ihn in seinen besten Zeiten gekannt hatte. Aber es gab auch andre schreckliche und niederdrückende Momente, wo sie ihn nicht zu Gesicht bekam, wo er sich in seinem Arbeitszimmer einschloß und sie nur zufällig einmal einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Abwechselnd lesend und nachdenkend saß sie beim Abendessen.
Ein Buch lag auf dem Tisch neben ihr, aber sie blätterte nicht weiter. Das Mädchen nahm eben die Vorspeise weg, als Edith Standerton erschreckt aufblickte.
»Was ist das?« sagte sie.
»Was, gnädige Frau?« fragte das Mädchen.
Draußen vor dem Fenster konnte Edith die Töne von Musik hören, einen einschmeichelnden sanften Rhythmus, eine leise klagende Trauermelodie.
Sie stand vom Tische auf, schritt zum Fenster hinüber und schlug die Läden zur Seite. Draußen spielte ein Mädchen auf der Geige. In dem Licht der Straßenlampe erkannte Edith in ihr die Spielerin der ›Melodie in F-Dur‹.