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An einem schönen, hellen Nachmittag verließ der Schnellzug nach Eastbourne den Victoria-Bahnhof. Mary Boyd saß in einem Abteil Erster Klasse, aber sie hatte keinen Sinn für die Schönheit der Gegend und für den herrlichen Sonnenschein. Ebensowenig sah sie ihren Mitreisenden. Fast eine Stunde lang war er in die Lektüre seiner Zeitung vertieft und schien sich nicht im mindesten um die junge Dame zu kümmern.
Als der Zug geräuschvoll durch Three Bridges fuhr, schaute sie zufällig auf und begegnete seinem Blick. Der Mann war schlank und hager und mochte etwa vierzig Jahre zählen. An den Schläfen waren seine Haare leicht ergraut, aber sonst tiefbraun. Er trug sie aus der Stirn zurückgebürstet; im übrigen sah er aus wie ein erfolgreicher Kaufmann. Sein Anzug verriet, daß er Geschmack besaß und sich mit Sorgfalt zu kleiden wußte.
Mit einem Blick hatte sie sich ein Bild von ihm gemacht, von der Perlennadel in seiner Krawatte bis zu den Spitzen seiner tadellosen Lackschuhe. Und damit wäre wahrscheinlich auch ihr Interesse erloschen, wenn sie nicht durch den Blick der tiefen, dunklen Augen fasziniert worden wäre.
Nur eine Sekunde schaute sie ihn an, dann errötete sie leicht und sah zum Fenster hinaus.
»Sind Sie nicht Miss Boyd?«
Seine Stimme klang lief und melodisch und hatte einen äußerst sympathischen Klang.
Verwirrt sah sie ihn an und wußte nicht, was sie davon halten sollte. Argwohn, Verdacht, Scheu und Trotz drückten sich in ihrem Blick aus.
»Ja, ich bin Miss Boyd«, sagte sie dann ruhig und überlegte, ob sie ihm schon einmal begegnet wäre. Sie konnte es sich kaum denken, denn sicher hätte sie sein ausdrucksvolles Gesicht nicht vergessen.
»Ich bin Dr. Kay vom Innenministerium«, stellte er sich vor.
»Dr. Kay?« erwiderte sie überrascht. Sie erinnerte sich jetzt undeutlich an ihn. Frank mußte den Namen öfter erwähnt haben.
»Ich habe das Ende der Verhandlung nicht abgewartet«, fuhr er fort, »und eben den Spruch der Geschworenen in den Zeitungen gesucht. Es war doch ...?«
Sie nickte und preßte die Lippen aufeinander. Eine Träne blitzte in ihrem Auge. Bertram Boyd war gerade kein idealer Vater gewesen; durch seine Schwäche hatte er sich seiner Familie immer mehr entfremdet. Seine Frau hatte aus Gram darüber einen frühen Tod gefunden, und doch hatte Mary Erinnerungen an ihre Jugend, die sie nicht missen mochte. Sie stammten aus der Zeit, in der er noch nicht getrunken hatte. Damals war er ein gutmütiger, freundlicher Mann gewesen, hatte sie als kleines Mädchen auf seinen Schultern durch den Garten getragen und mit ihr gespielt.
Nun wußte sie auch, wo der Fremde sie gesehen hatte, und woher er ihren Namen kannte. Bei dieser traurigen Verhandlung, bei der zwölf Geschäftsleute als Geschworene auftraten und sich dabei zu Tode langweilten, sollte festgestellt werden, auf welche Weise Colonel Bertram Boyd seinem Leben ein Ende gemacht hatte. Man konnte es ja schließlich verstehen, daß diese Leute es als reine Zeitvergeudung auffaßten, denn ein entsetztes Mädchen hatte den alten Colonel eines Morgens mit einer Gasvergiftung in der Küche gefunden, und zwar in dem Haus von Sir John Thorley, dem Schwager des Verstorbenen.
»Ich habe der Verhandlung beigewohnt«, sagte der hagere distinguierte Herr. »Ich wundere mich nur ... Ich weiß wohl, daß es Ihnen schmerzlich ist, wenn ich über diese Dinge spreche, aber vielleicht sagen Sie mir doch, ob ihr Vater früher jemals die Absicht geäußert hat, seinem Leben ein Ende zu machen. Mir können Sie das ja ruhig sagen.«
Sie zögerte, und er wußte sehr wohl, daß sie nicht mehr über die Tragödie sprechen wollte, die ihr Leben beschattete. Und doch waren seine Augen ebenso zwingend wie freundlich. Er schien tiefes Mitgefühl zu haben, aber dann sagte sie sich, daß er als Amtsarzt schon soviel erlebt und gesehen haben mußte, daß ihm die einzelnen Fälle kaum noch nahegehen konnten.
»Ja, manchmal ... er hat immer stark getrunken, und seit dem Tod meiner Tante – Sie wissen, der Lady Thorley – litt er sehr unter Depressionen. Deshalb hat ihn mein Onkel John zu sich in die Stadt genommen. Er hoffte, daß ein Wechsel der Umgebung und neue Lebensinteressen ihn vielleicht etwas ablenken könnten. Aber soviel ich weiß, hatte die neue Umgebung nicht den geringsten Einfluß auf ihn. Erst einen Tag vor der Katastrophe erhielt ich einen Brief von Sir John, in dem er mir mitteilte, daß sich mein armer Vater in seinen Wesen vollkommen geändert hätte.«
»Aber hat Ihr Vater Ihnen gegenüber jemals eine derartige Absicht geäußert? Hat er Ihnen einmal gesagt: ›Ich bin lebensmüde‹, oder so etwas Ähnliches?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, aber er hat es zu Onkel John gesagt. Das kam doch bei der Verhandlung deutlich zutage.«
Dr. Kay schwieg. Er hatte sich in seine Ecke zurückgelehnt. Jetzt runzelte er die Stirn und sah zu Boden.
»Ich wünschte, ich hätte die Verhandlung bis zu Ende gehört, aber unglücklicherweise hatte ich eine Verabredung und konnte deshalb nicht bleiben. Ist sonst noch etwas im Zimmer Ihres Vaters gefunden worden?«
Wieder schien sie nur ungern zu antworten. »Zwei Flaschen Whisky – eine war leer, die andere ging stark zur Neige.«
»War er vollkommen angekleidet, als man ihn fand?«
»Ja, er hatte nur keine Straßenschuhe an. Schon früher am Abend hatte er Hausschuhe angezogen. Der Kammerdiener Sir Johns hat ja als Zeuge ausgesagt, daß mein Vater in Pantoffeln am Tisch saß, als er ihn zuletzt in seinem Zimmer sah.«
»Können Sie mir vielleicht sagen, welche Art von Hausschuhen er trug?«
Sie machte eine müde Bewegung, und er merkte wieder, daß ihr alle diese Fragen sehr unangenehm waren.
»Einfache Pantoffeln, in die man einfach hineinschlüpft und die hinten ganz offen sind. Es tut mir sehr leid, Dr. Kay, daß ich unhöflich sein muß, aber ich möchte diese Unterhaltung nicht fortsetzen.«
Er nickte ernst.
»Ich verstehe Sie vollkommen, Miss Boyd. Glauben Sie mir bitte, daß ich nicht aus reiner Neugierde frage. Ich bin ja schließlich auch unverzeihlich aufdringlich, denn ich hätte alle diese Dinge selbst herausbringen können, ohne Sie zu fragen. Übrigens kannte ich Ihre Tante. Sie war immer kränklich. Wenn ich mich recht entsinne, starb sie an Scharlachfieber. Es ging auch ein Gerede, daß sie ein Einbrecher so sehr erschreckt haben sollte... Wohnen Sie eigentlich in Eastbourne?«
Sie erzählte ihm, daß ihr Vater dort ein großes Haus besaß, und nun sprach er begeistert über die landschaftlichen Schönheiten von Sussex. Er selbst stammte auch aus dieser Gegend, und für ihn gab es kein schöneres Land auf der weiten Welt. Früher einmal hatte ihm dort eine Villa gehört, aber sie war durch Feuer zerstört worden.
»Haben Sie Ihr Haus denn nicht wieder aufgebaut?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Diesmal gehe ich nach Eastbourne, weil ich dort zu tun habe.« Er sagte jedoch nichts weiter über den Zweck seines Besuches.
*
Frank Hallwell, ein großer, hübscher Mann, erwartete Mary Boyd auf der Station, und in der Wiedersehensfreude vergaß sie ganz, sich von ihrem Reisebegleiter zu verabschieden.
»Es war nicht recht von mir, Liebling, daß ich dich allein nach London fahren ließ«, sagte der junge Mann, als sie ihren Arm in den seinen legte. »Ich hätte mich um dein Verbot nicht kümmern sollen. Gott sei Dank ist die unangenehme Verhandlung nun vorüber.«
Sie seufzte.
»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, erwiderte sie. Dann sah sie Dr. Kay noch einmal, als sich die Reisenden dem Ausgang zudrängten.
»Kennst du ihn?« fragte sie interessiert. »Ich meine den Mann dort – er ist mit mir im selben Abteil gefahren.«
Frank Hallwell folgte der Richtung ihres Blickes.
»Ach, das ist ja Killer Kay!«
»Killer Kay?« wiederholte sie erstaunt. »Ich wußte wohl, daß er Kay heißt..., aber warum nennt man ihn denn Killer?«
Frank war ein junger Rechtsanwalt, der augenblicklich bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Selbstverständlich kannte er den Arzt sehr gut.
»Sie nennen ihn im Innenministerium Killer, weil durch ihn mehr Leute an den Galgen gekommen sind als durch drei andere tüchtige Detektive. Es gibt keinen Verbrecher in ganz England, dem er nicht unter diesem Namen bekannt ist; er ist einer der größten Spezialisten, was Verbrechen und Verbrecher anbetrifft.«
Sie schauderte.
»Ich vermute, daß er hierhergekommen ist, um den Mord an der Küste aufzuklären, über den alle Leute sprechen. Ich wünschte nur, ich hätte ihn getroffen«, fuhr er begeistert fort, »dann hätte ich dich vorgestellt.«
»Aber Frank, bitte ...«
Es tat ihm sofort leid, er hatte im Augenblick nicht an ihre trübe Stimmung gedacht.
*
Frank Hallwell lebte mit seinem Vater in einem Haus, dessen Garten direkt an den des verstorbenen Colonels Boyd grenzte.
Er hatte den zweiten Abend nach ihrer Rückkehr mit ihr zusammen verbracht und trank gerade noch einen Whisky-Soda, als ihm der Mann gemeldet wurde, nach dem er die beiden letzten Tage vergeblich Ausschau gehalten hatte.
»Das ist aber eine angenehme Überraschung«, sagte er und half dem Besucher, den Regenmantel abzulegen.
Draußen im Kanal herrschte ein furchtbarer Sturm, und der Regen wurde prasselnd gegen die dichtverhängten Fenster getrieben.
»Ich wußte ja, daß Sie hier in der Gegend sind, und ich habe mich schon nach Ihnen umgesehen. Sie kamen mit Miss Boyd hierher – ich bin mit ihr verlobt.«
Killer Kay sah ihn freundlich an.
»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Verlobte Miss Boyds sind, hätte ich Sie schon vorgestern aufgesucht. Ich habe erst heute abend davon erfahren.«
Er begleitete Hallwell in dessen Arbeitszimmer, nahm eine der Zigarren, die ihm der junge Rechtsanwalt anbot, und setzte sich dann bequem in den großen Lehnsessel.
»Ihr Tod war nur ein Unfall«, sagte er. »Ich habe Versuche angestellt ...«
»Wen meinen Sie denn?« fragte Frank erschreckt.
»Ich meine das Mädchen an der Küste ..., es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe.« Kay lächelte über Franks Aufregung. »Die Polizei hier war fest davon überzeugt, daß das Mädchen ermordet wurde. Der junge Mann, den sie verhaftet haben, schwört, daß der Stein oben vom Rand der Klippe fiel. Niemand hat gesehen, daß Steine von der Klippe herunterfallen, aber es kommt tatsächlich vor. Vor einer Stunde wäre ich beinahe selbst von einem solchen Stein erschlagen worden. Es war ein Liebespaar, und die beiden hatten, wie sie glaubten, einen geschützten Platz am Fuß der Klippe gefunden. Das wurde für das junge Mädchen zur Todesursache.«
»Also ist der junge Mann unschuldig?«
»Zweifellos. Ich habe die Tote genau untersucht..., aber darüber wollte ich eigentlich nicht sprechen. Wie geht es denn Sir John?«
»Ach, meinen Sie Thorley? Hat man Ihnen erzählt, daß er krank war? Er kam heute nachmittag. Der arme Mann ist furchtbar erschüttert durch diese ganzen traurigen Vorgänge.«
Dr. Kay rauchte behaglich und hatte die Augen halb geschlossen. Er schien mit sich und der Umwelt vollkommen zufrieden zu sein.
»Ich möchte Sir John gern einmal sprechen«, sagte er schließlich. »Ich glaube, er könnte verschiedene Einzelheiten im Zusammenhang mit dem Tod Colonel Boyds aufklären. Sein Kammerdiener könnte es natürlich ebensogut tun, aber ich ziehe es immer vor, direkt aus der Quelle zu schöpfen.«
»Das wäre nicht schwer. Er ist auf ein oder zwei Tage nach Eastbourne gekommen, um die Vermögensangelegenheiten seines Schwagers zu regeln. Sir John ist sehr großzügig gewesen und hat Mary tausend Pfund vorgestreckt, so daß sie gut auskommen kann, bis die Vermögensaufnahme stattgefunden hat... Ach, Sie fragen, ob er reich ist? Ja, ich halte ihn für sehr vermögend. Er hat ein großes Haus in der Stadt und ein Landgut in Worcestershire, außerdem noch eine Villa in Mentone. Er trägt immer viel Geld bei sich, was ich für sehr unklug halte. So hat er zum Beispiel Mary bares Geld gegeben.«
Killer Kay richtete sich plötzlich in seinem Stuhl auf. Seine Augen leuchteten.
»Was? Banknoten? Das ist ja großartig... Nun, wir werden weitersehen.«
*
Am nächsten Abend ging er die lange Zufahrtstraße zu dem Haus des verstorbenen Colonels Boyd entlang. Noch bevor der Hausmeister ihn anmelden konnte, kam Mary in die Halle, um ihn zu begrüßen.
»Ich hatte keine Ahnung, daß ich mit einem so großen Mann zusammen reiste«, sagte sie und lächelte ihn an. »Ich habe meinem Onkel noch nichts über Ihren – Beruf gesagt. Er ist im Augenblick sehr angegriffen, und ich dachte, das könnte ihn vielleicht ...«
»Ja, der Meinung bin ich auch, Miss Boyd. Sie sind sehr vorsorglich. Sie haben jetzt natürlich sehr viel zu tun?«
Sie nickte.
»Sie mußten wohl viele Unterschriften leisten, auch mußten andere Leute Ihre Unterschrift als Zeugen bestätigen?«
Sie nickte wieder.
»Onkel John kann Rechtsanwälte nicht leiden. Morgen kommt mein Notar. Aber es gab verschiedene Dinge zu regeln, die meinen verstorbenen Vater betrafen und die wir um seines Andenkens willen lieber unter uns abgemacht haben. Ich weiß allerdings nicht, wie ich dazu komme, Ihnen das zu erzählen.«
Sie lachte ein wenig verlegen.
»Bevor wir hineingehen, möchte ich Sie noch um einen Gefallen bitten.«
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Ich werde Ihnen gern einen Wunsch erfüllen, wenn ich kann.«
»Versprechen Sie mir, mich telegrafisch zu benachrichtigen, welchen Zug Sie benützen, wenn Sie das nächstemal nach London kommen.«
Sie starrte ihn verwundert an.
»Aber warum denn?«
»Wollen Sie es mir versprechen? Sie sagten doch eben, daß Sie mir gern einen Wunsch erfüllen würden, wenn Sie könnten.«
»Ja, ich werde Ihnen telegrafieren, wenn es Ihnen Freude macht, aber ...«
»Ich lasse kein Aber gelten«, erwiderte er gutgelaunt und folgte ihr dann ins Wohnzimmer.
Sir John Thorley war ein untersetzter Herr mit rotem Gesicht, weißem Schnurrbart und weißen Augenbrauen. Er sah aus wie ein strenger Oberst, der viele Jahre in Indien gedient hat, und sein Wesen war auch ziemlich hart und rauh.
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Doktor«, sagte er. »Sie sind ein Freund des jungen Hallwell – hm.«
Es war eine dumme Angewohnheit von ihm, daß er am Ende eines Satzes dieses »Hm« hinzufügte, denn dadurch verwandelte er unwillkürlich jedes Kompliment ins Gegenteil. Es hatte immer den Anschein, als ob er mit seinen Worten weitergegangen wäre, als er vorher beabsichtigt hatte, und als ob er seiner Meinung nach liebenswürdiger und freundlicher gewesen wäre, als es die Situation verlangte. Nachher schien er den Doktor völlig zu ignorieren und sprach nur mit seiner Nichte.
»Es ist ein ziemlich großes Haus für ein junges Mädchen«, sagte er kopfschüttelnd. »Du würdest besser tun, eine Wohnung in der Stadt zu mieten oder ein paar Hotelzimmer zu nehmen. Leider kann ich dich nicht in mein Haus einladen – das ist mir einfach unmöglich –, du verstehst schon, was ich meine. Aber hier darfst du auf keinen Fall allein bleiben.«
»Warum denn nicht, Onkel John?« fragte sie beinahe belustigt.
»Warum nicht? Mein liebes Kind, du würdest dich hier zu Tode fürchten. Erst ist deine Tante gestorben, nun noch dein lieber Vater – nein, nein, das fällt auch dir auf die Nerven. Außerdem möchte ich dich gern in der Stadt wissen, so daß ich dich in meiner Nähe habe – hm. Bei mir wurde doch früher einmal eingebrochen ... Nein, ich weiß, wie das ist. Es ist besser, wenn du nicht allein sein mußt. Durch den Schreck ist damals deine arme Tante umgekommen. Der Mann hat sie furchtbar erschreckt ... Nachher ging es mit ihr zu Ende.«
Gleich darauf verließ Mary das Zimmer, und nun fand Dr. Kay die gewünschte Gelegenheit, eine Frage zu stellen.
»Sir John, wo wurden eigentlich die Hausschuhe von Colonel Boyd gefunden?«
Thorley blinzelte ihn an.
»Wo die Hausschuhe ... Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen. Die waren doch in seinem Zimmer. Wo hätten sie denn sonst sein sollen?«
»Er hätte sie doch an den Füßen haben können«, erwiderte Killer Kay freundlich. »Soviel ich hörte, waren es weiche Pantoffeln, und ich wundere mich, daß er sie ausgezogen hat.«
»Mir ist das nicht aufgefallen. Aber auf jeden Fall war der alte Boyd mehr oder weniger verrückt. Der Tochter habe ich das natürlich nicht gesagt, aber es besteht kein Zweifel, daß der Alte den Verstand verloren hatte. Es ist schließlich auch kein Wunder, wenn man so trinkt, wie er es tat. Es war geradezu schrecklich. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, es hat mir wirklich leid getan.«
Er schüttelte den Kopf. Da kam Mary zurück, und die Unterhaltung wandte sich einem anderen Thema zu.
*
Am nächsten Morgen fuhr Killer Kay nach London und stellte verschiedene Nachforschungen an. Nachmittags verließ er die Hauptstadt mit dem Schnellzug nach Westen; er hatte ein Ermächtigungsschreiben des Innenministeriums in der Tasche.
Die Nacht brachte er in Plymouth zu, und am nächsten Morgen fuhr er in einem Mietauto nach Princetown.
Auf dem Gefängnishof ging eine Kolonne von Sträflingen im Kreise über den mit großen Steinplatten belegten Boden. Die Abstände zwischen den einzelnen Leuten betrugen gleichmäßig eineinviertel Meter. Meistens sahen sie stumpf vor sich hin, denn sie hatten sonst nichts zu beobachten. Die eine Seite des Hofes wurde von einer großen, eintönigen, grauen Mauer eingenommen, die andere durch die häßliche Gefängniskirche begrenzt, die mit schwarzem Teeranstrich versehen war, um die Mauern gegen die Witterung zu schützen. Die dritte Seite bildete eine etwas niedrigere Mauer, und auf der vierten erhob sich der Flügel B der Strafanstalt mit dem gelbangestrichenen, mit Eisengittern versehenen Tor.
An drei Stellen außerhalb des Kreises standen uniformierte Wärter. Sie schwiegen und beobachteten argwöhnisch die Gefangenen. Waffen trugen sie nicht, aber Gummiknüppel. Mit gleichmäßigen Schritten gingen die Leute im Kreise umher – sie waren alle von der Sonne tief gebräunt und seit einigen Tagen nicht rasiert. Die Kleidung bestand aus schmutzig gelbgrauem Tuch, um die Waden trugen sie Schnürgamaschen. Die blau- und weißgestreiften Hemden standen am Hals offen; als Kopfbedeckung dienten schwarze Kappen, auf denen in ziemlich roher Stickerei Buchstaben angebracht waren. Die Tritte der schweren Stiefel verursachten ein melancholisches Geräusch, wenn sie im Gleichtakt über den Steinboden schleiften.
»Hören Sie sofort auf zu reden – da drüben!«
Einer der Aufsichtsbeamten rief diese Worte scharf zu einem Gefangenen hinüber. Die Sträflinge in den gelbgrauen Anzügen machten erstaunt unschuldige Gesichter.
»Halt!«
Die Leute auf der rechten Seite sahen gleich, warum dieser Befehl gegeben wurde – der Vizedirektor der Anstalt war in den Hof getreten, und es war Vorschrift, daß die Sträflinge nicht weitergehen durften, wenn der Gefängnisdirektor oder dessen Stellvertreter in der Nähe war.
»Dreißig Mann – alles in Ordnung«, meldete der Aufseher. Der älteste Wärter salutierte steif und militärisch.
Aber es war nicht der Anblick des verhältnismäßig jungen Direktors in seinem leichten Mantel, der diese Aufregung unter den Gefangenen hervorrief, wenn sie sich auch nach außen hin nichts anmerken ließen. Seinen Begleiter starrten sie entsetzt an.
Killer Kay!
Von Mann zu Mann wurde der Name im Flüsterton durchgegeben, damit es alle erfuhren, selbst die, die dem Arzt den Rücken zuwandten.
Sie kannten alle seinen Ruf; verschiedene hatten ihn schon früher gesehen oder kennengelernt. Auch wußten sie, daß er viele ihrer Kameraden bereits an den Galgen gebracht hatte. Er stand ruhig da und beobachtete den Kreis, während er sich mit der schmalen Hand das Kinn strich. Sein Gesichtsausdruck war düster.
»Dort drüben ist Ridgeman. Er steht in der Nähe des Wärters«, erklärte der Direktor, der durch das plötzliche Auftauchen Kays ebenso überrascht war wie die Sträflinge.
»Ja. Den muß ich sprechen.« Der Direktor winkte dem betreffenden Wärter. »Bringen Sie den Gefangenen Nr. 367 zu Dr. Kay.« Der Arzt trat etwas beiseite.
Gleich darauf kam der Gefangene Nr. 367 zu ihm. Der Sträfling war ein wenig bleich geworden und wußte nicht recht, worum es sich handelte. Er war verhältnismäßig klein und hatte schon graue Haare.
Dr. Kay nickte dem Wärter zu, und dieser entfernte sich.
»Ridgeman, Sie erinnern sich, daß Sie in das Haus Nr. 408 am Lowndes Square einbrachen?«
»Jawohl. Dafür habe ich die Strafe bekommen, die ich jetzt absitze.«
»Ja, ich weiß. Können Sie sich noch an die Einzelheiten des Einbruchs erinnern? Sie stiegen durch ein Fenster ein und kamen in das Zimmer der Haushälterin?«
»Jawohl. Der Raum stand leer, weil sie zu Besuch auf dem Lande war. Die Tür nach dem Gang war geschlossen, ich mußte sie mit einem Dietrich öffnen.«
Dr. Kay atmete erleichtert auf. Seine Augen glänzten.
»Das wollte ich gerade wissen. Die Tür war verschlossen. Es war nichts Wertvolles in dem Raum? Es war ein gewöhnliches Zimmer, in dem sonst eine Haushälterin zu logieren pflegte. Ein paar Nippsachen standen herum und ein paar Fotografien von Verwandten der Frau?«
Ridgeman wunderte sich, nickte aber.
»War sonst nichts in dem Zimmer?« fragte der Doktor weiter und sah den Mann scharf an.
»Doch, ein Paket in rotem Papier –«
»Lag es etwa auf dem Bett?« Dr. Kay hatte die Frage so schnell und so scharf gestellt, daß Ridgeman einen Schritt zurücktaumelte, als ob er von einem Schlag getroffen worden wäre.
»Es lag auch noch eine Art weißes Überkleid dort – nein, es sah mehr wie der Arbeitskittel eines Malers aus.« »Haben Sie auch Handschuhe gesehen?« Kay sah den Mann erwartungsvoll an, während er dies fragte.
»ja, ich habe auch ein paar alte Handschuhe gesehen. Sie steckten in der Tasche des weißen Kittels.«
Dr. Kay rieb sich die Hände und lächelte sonderbar.
»Es war das einzige Zimmer, in dem die Sachen sein konnten, Ridgeman. Nun sagen Sie mir noch eins. War eine Aufschrift auf dem Paket oder eine aufgeklebte Adresse? Sah es aus, als ob die Sachen sorgfältig eingepackt wären, oder war es nur nachlässig zusammengepackt?«
»Nein, es war sehr sorgfältig eingepackt und zusammengebunden, aber die Adresse war abgekratzt worden. Ich habe das Paket nicht aufgemacht, weil ich auf Schmucksachen aus war. Ich wußte, daß Lady Thorley eine Menge Juwelen besaß. Es ist nicht wahr, was damals bei der Totenschau gesagt wurde. Ich habe sie nicht zu Tode geängstigt. Absichtlich bin ich nicht in ihr Zimmer gegangen, weil ich wußte, daß sie krank war und eine Pflegerin bei sich hatte. Außerdem war mir bekannt, daß die Schmucksachen in einem Safe in der Bibliothek aufbewahrt wurden. Als ich daran arbeitete, wurde ich von Sir John überrascht. Es war eine Dummheit von mir, ihn mit einem Sandsack niederzuschlagen. Ich wäre mit zwölf Monaten davongekommen, und nun habe ich sieben Jahre, weil ich das getan habe. Aber es ist eine schwere Lüge, wenn die Leute behaupten, ich hätte etwas mit dem Tod von Lady Thorley zu tun. Ich habe überhaupt nicht gewußt, daß sie starb. Erst bei meinem Prozeß habe ich davon erfahren.«
»Ich danke Ihnen, Ridgeman«, sagte Dr. Kay. »Vielleicht brauchen Sie nicht Ihre ganze Zeit abzusitzen. Ich will einmal sehen, ob ich etwas für Sie tun kann.«
Ridgeman trat in den Kreis zurück, und der Direktor ging mit seinem Besuch wieder in das Verwaltungsgebäude.
»Haben Sie Ihren Zweck erreicht? Hat er Ihnen die gewünschte Auskunft gegeben?«
»Ja. Wieviel Morde werden wohl im Lauf eines Jahres begangen?«
Der Direktor sah ihn erstaunt an.
»Ungefähr fünfzig«, meinte er.
Dr. Kay lächelte.
»Ja, fünfzig werden vor den Geschworenen verhandelt, aber soweit ich es beurteilen kann, liegt die Zahl der Morde zwischen vier- und fünfhundert. Es ist sehr schwer, sie wirklich zu schätzen. Sie hören immer nur von den Leuten, die einen Fehler gemacht haben, von Männern und Frauen, die ihre Opfer durch Anwendung von Gewalt ermordeten. Gewöhnlich sind das Verbrechen, die in der Aufregung begangen werden und infolgedessen auch leichter aufgeklärt werden können. Wenn zum Beispiel jemand einen anderen vergiftet und man findet nachher das Gift in seinem Besitz, dann ist sicher irgendwo ein Apotheker, Chemiker oder Drogist in der Nähe, der genauer sagen kann, auf welche Weise sich der Mann dieses Gift verschafft hat. Der betreffende Mörder wird natürlich unweigerlich vor Gericht behaupten, daß er das Gift gekauft hat, um Ratten zu töten oder einen Hund beiseitezuschaffen. Jemand ermordet zum Beispiel seine Frau, weil er eine andere liebt, und wirft sie in einen Brunnen – und so weiter. Wenn man nun die Mentalität dieser Leute prüft, dann sind neunzig Prozent von ihnen ungebildete Menschen, die nicht viel wissen. Die großen Berichte über frühere Verbrechen, aus denen sie hätten lernen können, kennen sie nicht, und sie wissen auch nicht, wie sie dazu kommen sollen. Wenn sie jemand umbringen wollen, müssen sie das in ihrer eigenen primitiven Weise tun. Der Trieb, andere Leute zu ermorden, ist aber nicht allein auf die weniger gebildete Klasse beschränkt. Es werden auch andere Methoden angewandt – manche von ihnen sind so schlau erdacht, daß sie bisher jedem Versuch der Aufklärung Hohn sprachen. Wenn ich einen großen Leichenzug in den Straßen der Stadt beobachte, kommt mir häufig der Gedanke, in welchem der Wagen wohl der Mörder sitzen mag.«
Dr. Kay sagte das alles sehr ernst, so daß der Direktor sein Lächeln unterdrückte.
»Sie wollen also damit sagen, daß auch das Morden schließlich zu einer hohen Kunst entwickelt wurde?«
»Ja, der Mord in diesem Sinn ist eine Kunst«, entgegnete Killer Kay nachdenklich. »Und dabei ist die Sache doch so furchtbar einfach. Die Erziehung in den Schulen hat Kenntnisse von wissenschaftlichen Tatsachen unter vielen Millionen Menschen verbreitet, so daß Leute, die einen ihrer Mitmenschen ermorden wollen, nicht mehr zu Gift oder zum Beil zu greifen brauchen. Die Leute besitzen heutzutage Waffen, von denen sich ihre Großväter selbst im Traum nichts vorstellen konnten. Wir wissen heute von Bakterien, die ein Menschenleben ebenso sicher zerstören wie ein Geschoß. Wir kennen Naturkräfte, die einen menschlichen Körper schneller vernichten können als Dolch oder Guillotine. Und meinen Sie, daß die Leute ihre Kenntnisse auch gebrauchen werden? Selbstverständlich tun sie das! Ein Mann, der weiß, daß die Polizei nach Fingerabdrücken sucht und dadurch den Nachweis der Täterschaft führen kann, hütet sich natürlich, derartige Spuren zu hinterlassen. Ein Giftmörder, dem die Tatsache bekannt ist, daß Arsen oder irgendein anderes metallisches Gift lange in dem Körper seines Opfers zurückbleibt, so daß man es selbst noch nach Jahren bei einer Exhumierung feststellen kann, wird Pflanzengifte wählen, um andere Menschen zu ermorden. Jemand, der sich von einem unliebsamen Partner befreien will, kann das alles so schlau und vorsorglich einrichten, daß ihm die Leute noch ihr Beileid ausdrücken.«
Der stellvertretende Direktor lächelte leicht.
»Man nennt mich den ›Killer‹«, fuhr Dr. Kay fort, »und ich bin stolz auf diesen Namen. Ich bin viel mehr geneigt, schlechte Menschen aus diesem Leben zu entfernen, als ein Waisenhaus zu gründen. Die Jagd nach dem Verbrecher macht mir ein unheimliches Vergnügen. Wenn der Mann am Galgen und damit die Sache zu Ende ist, komme ich mir immer wie jemand vor, der sein Lebensziel verfehlt hat.«
Der Direktor brachte ihn durch das große Eisengittertor, dann blieb er noch stehen, bis er das Auto des Doktors nicht mehr sehen konnte.
»Nur schade, daß die interessantesten Fälle, die Dr. Kay aufgeklärt hat, nicht nach Dartmoor eingeliefert werden«, sagte er später.
Dr. Kay mußte nach seiner Rückkehr nach London zwei Besuche machen. In Somerset House suchte er nach bestimmten Akten; dann sprach er in einer Waschanstalt vor. Was er an diesen beiden Stellen erfuhr, befriedigte ihn außerordentlich. Den Rest des Tages brachte er in seinem Laboratorium zu und experimentierte mit gelöstem Arsen.
Es war nahezu eine Woche nach der Abreise Sir Johns vergangen, als Mary Boyd plötzlich einen Brief von ihrem Onkel erhielt. Er bat sie darin, mit ihm in seinem Klub zu Mittag zu speisen.
Als sie im Zug saß, fiel ihr plötzlich ein, daß sie ihr Versprechen Dr. Kay gegenüber nicht gehalten hatte. Im Victoria-Bahnhof verfehlte sie ihren Onkel und ging ruhelos in der Station auf und ab. Dabei kam sie auch in die Nähe des Telegrafenamts. Als sie die große Aufschrift las, fragte sie sich, ob sie Dr. Kay telegrafieren sollte oder nicht. Zuerst zögerte sie, denn es erschien ihr sonderbar. Sie war doch jetzt schon in der Stadt angekommen, und sie hatte ihm versprochen, ein Telegramm zu senden, bevor sie Eastbourne verließ. Jetzt hatte es doch sicher wenig Zweck, ihm noch mitzuteilen, wann der Zug hier angekommen war.
Sie wollte gerade gehen, als sie aus einem unerklärlichen Grund doch noch den Entschluß faßte, den Arzt zu benachrichtigen. Sie trat in das Postamt und schrieb auf ein Telegrammformular:
Bin in der Stadt und speise im Regal-Club zu Mittag.
Mary Boyd.
Sobald sie das Telegramm abgesandt hatte, bedauerte sie ihre Handlungsweise, und als sie kurz darauf Sir John traf, hielt sie sich für töricht und albern.
»Hallo, mein liebes Kind! Beinahe hätte ich dich verfehlt. An wen hast du denn telegrafiert?«
»An die Haushälterin. Ich wollte ihr nur mitteilen, um welche Zeit ich nach Eastbourne zurückkomme.«
Es war ihr furchtbar, daß sie lügen mußte, aber die Wahrheit konnte sie ihm doch unmöglich erklären. Wenn sie ihm das gesagt hätte, würde er sie geradezu für unzurechnungsfähig gehalten haben.
»Wie ist es? Hast du deinen Rechtsanwalt aufgesucht? Hoffentlich hast du ihm nichts von dem Jugendstreich deines Vaters erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Als sie Whitehall entlangfuhren, überlegte sie, in welchem dieser großen, düsteren Gebäude wohl das Büro Dr. Kays liegen mochte.
»Ja, Jugend kennt keine Tugend, das wird immer so bleiben«, erklärte Sir John. »Wenn dein Vater schließlich auch eine Liebesaffäre in seiner Jugend hatte, so ist es doch besser, wir teilen den Rechtsanwälten darüber nichts mit. Die kümmern sich zuviel um Angelegenheiten, die sie nichts angehen.«
Sie war nicht in der Stimmung, die Jugendsünden ihres Vaters mit ihm zu besprechen; sie war damit zufrieden, daß sie die Urkunde unterzeichnet hatte, die der betreffenden Frau eine kleine Rente sicherte. Damals hatte sie ein paar unangenehme Minuten durchlebt, als sie erfuhr, daß das Dokument von zwei ihrer Dienstboten als Zeugen gegengezeichnet sein mußte. Aber Sir John hatte ihr die Versicherung gegeben, daß das absolut notwendig sei und daß die Dienstboten doch den Inhalt des Schreibens nicht zu lesen brauchten. Selbst sie hatte das Schriftstück nicht noch einmal durchgesehen, nachdem sie doch den Inhalt des aufgesetzten Textes genau kannte.
»Also, hier sind wir am Ziel«, sagte er und half ihr beim Aussteigen vor dem Eingang des Regal-Clubs.
Das Menü war glänzend zusammengestellt, denn Sir John Thorley war ein Feinschmecker.
Beim Nachtisch unterhielten sie sich angeregt, und schließlich wurde der Kaffee serviert.
»Nimm keinen Zucker«, sagte Sir John plötzlich. »Das macht nur unnötig korpulent.«
Sie lächelte nachsichtig, als er ihr eine Sacharintablette über den Tisch zuschob.
»Danke, Onkel John. Ich glaube allerdings kaum, daß ich die Veranlagung habe, viel Fett anzusetzen, aber ...«
Sie hielt die weiße Tablette zwischen Daumen und Zeigefinger über ihrer Kaffeetasse. Im nächsten Augenblick hätte sie die Tablette in den Kaffee geworfen, wenn nicht ...
»Entschuldigen Sie vielmals.«
Eine Hand tauchte plötzlich unter der ihren auf, und Mary ließ die Tablette hineinfallen. Erschreckt wandte sie sich um und sah das lächelnde Gesicht Dr. Kays.
»Seien Sie doch so gut und gehen Sie einen Augenblick zu Frank Hallwell. Er sitzt dort drüben an dem Fenstertisch«, sagte er freundlich.
»Zum Teufel, was soll das bedeuten?« fuhr ihn Sir John wütend an und wurde dunkelrot im Gesicht.
Aber Killer Kay antwortete nicht, bis Mary nach einem ängstlichen Blick auf die beiden Herren den Tisch verlassen hatte.
»Ich erspare mir eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten dadurch, daß ich mir die Tablette beschafft habe«, erwiderte Dr. Kay in der liebenswürdigsten Art und Weise. »Sonst hätte ich den Inhalt der Tasse in eine Flasche füllen müssen und hätte dadurch die Aufmerksamkeit aller anderen Gäste auf mich gelenkt.«
»Wollen Sie mir bitte sagen ...«
Sir Johns Stimme war heiser und unsicher.
»Kommen Sie mit.«
Kays Worte klangen wie ein Befehl, und Sir John folgte dem Arzt ohne weiteren Protest.
In der Eingangshalle des Klubs saßen zwei Herren, als ob sie auf jemand warteten. Sie erhoben sich, als sie den Doktor sahen, und gingen auf ihn zu.
»Hier ist Ihr Gefangener«, sagte Kay zu dem Polizeiinspektor. »Ich beschuldige ihn des vorsätzlichen Mordes, begangen an Isabell Alice Thorley, ebenso des Mordes an Bertram James Boyd.«
*
»Sir John Thorley war weit davon entfernt, ein Millionär zu sein«, sagte Dr. Kay zu Frank Hallwell, als sie zusammensaßen und rauchten. »Im Gegenteil, er ist äußerst arm. Seine Ehe war unglücklich; die Frau besaß allerdings ein großes Vermögen. Sie hatte, ohne daß er es wußte, ein Testament aufgesetzt, in dem sie ihr ganzes Vermögen ihrem Bruder vermachte. Thorley war früher Direktor des Hospitals in Wormwood. Dort hat sich die Gewohnheit herausgebildet, die Bettwäsche aller Patienten, die an einer ansteckenden Krankheit litten, an eine bestimmte Waschanstalt zu schicken. Es besteht die Vorschrift, daß diese Wäschestücke in rotem Papier verpackt werden, und sie kommen dann, wie sie sind, mit dem Papier in einen Desinfektionsapparat, bevor sie gewaschen und gereinigt werden können. Drei Tage, bevor Lady Thorley an Scharlachfieber erkrankte, machte er einen Besuch in dem Hospital und hielt seinen Wagen, den er selbst steuerte, unter dem offenen Fenster des Raumes an, in dem die infizierte Wäsche aufbewahrt wurde. Ohne Begleitung machte er einen Rundgang durch die Anstalt, und ich habe feststellen können, daß er auch in den Aufbewahrungsraum für schmutzige Wäsche ging. Später wurde ein Paket Kissenbezüge vermißt, aber damals legte man der Entdeckung keinen weiteren Wert bei. Er hat das Paket natürlich durch das offene Fenster in seinen Wagen geworfen.
Lady Thorley starb an heftigem Scharlachfieber, und es besteht kein Zweifel, daß Sir John in Abwesenheit der Krankenschwester das Kissen seiner Frau mit einem der infizierten Wäschestücke bezogen hat. Ais er dann später herausfand, daß der Bruder der Verstorbenen das Geld erbte, tötete er auch Boyd. Er sorgte dafür, daß der Colonel sich heftig betrank, schleppte ihn mitten in der Nacht die Treppe hinunter, arrangierte alles und täuschte einen Selbstmord vor. Unglücklicherweise trug aber Colonel Boyd lose Pantoffeln, die im Schlafzimmer auf den Boden fielen, als er ihn aufhob. Später fand man sie ordentlich zusammengestellt am Fußende des Bettes. Nun sind aber Selbstmörder nicht so ordentlich veranlagt!«
»Haben Sie die Sacharintablette untersucht?« fragte Frank leise.
Killer Kay nickte.
»Wenn Mary Boyd den Kaffee getrunken hätte, wäre sie heute morgen gestorben, und die Ärzte hätten wahrscheinlich irgendeine andere Diagnose gegeben, denn das Gift war so schlau ausgesucht, daß man es kaum nachweisen kann.«
»Aber warum wollte er sie denn umbringen? Das Geld wäre doch nicht an ihn gegangen, sondern an ihren Vetter in Kanada.«
Dr. Kay lachte grimmig.
»Sie hat ein Testament zugunsten Thorleys unterschrieben. Sie wußte selbst nicht, daß es sich um ein Testament handelte. Sir John gab ihr ein Schriftstück – irgendeiner Frau wurde darin eine Rente aus der Erbschaft ihres Vater zugesichert. Das Schriftstück, das sie aber später unterschrieb und das in ihrer Gegenwart von zwei weiteren Zeugen unterzeichnet wurde, war ein Testament, in dem sie ihr Vermögen Sir John Thorley vermachte. Die Schuld ihres Onkels ist vollkommen einwandfrei bewiesen, und er kommt an den Galgen, wenn er nicht vorher vor Furcht stirbt.«
Aber es geschah weder das eine noch das andere. Als die Gefängniswärter Sir John Thorley durchsuchten, übersahen sie eine kleine graue Tablette, die er in einer Westentasche bei sich trug – in der nächsten Nacht wurde er in seiner Zelle tot aufgefunden.