Edgar Wallace
Geheimagent Nr. 6
Edgar Wallace

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14

In dem Garten des kleinen Hotels, von dem aus man die schöne Bucht von Babbacombe überschauen konnte, saßen ein alter Herr und eine junge Dame beim Frühstück. Die Rasenflächen des Parks erstreckten sich bis zum Rand der Klippen; hohe Hecken und Rosengebüsche verbargen ihn vor neugierigem Blicken. Mr. Ross las eine Zeitung, während Stephanie auf das Meer hinaussah.

»Liebling«, sagte er schließlich und legte die Zeitung nieder, »nun ist es schon drei Tage her, und wir haben noch immer keine Nachricht von Monsieur Lecomte.«

Sie streichelte seine Hand.

»Wir müssen Geduld haben. Ich bin fest davon überzeugt, daß Lecomte alles tut, was er kann. Er hat Cäsars Schloß vom Keller bis zum Dachboden durchsucht, und er glaubt bestimmt, daß meine Mutter noch am Leben ist.«

»Aber er hat sie doch nicht gefunden«, erwiderte der alte Herr kopfschüttelnd. »Das ist sehr schlimm. Dieser Cäsar Valentine ist ein Teufel, und ich sage dir –«

»Ein paar Tage vorher war sie aber noch dort. Diese Frau – ich meine Madonna Beatrice – hat das doch bei ihrer Verhaftung eingestanden.«

»Hat Cäsar davon gehört?« fragte er schnell.

Stephanie verzog das Gesicht.

»Das kann uns doch gleichgültig sein. Aber bestimmt hat er meine Mutter nach England gebracht.«

»Hätten sie doch nur das Schloß durchsucht, während ich noch in Paris war. Offenbar halten sie Cäsar für einen amerikanischen Bürger. Deshalb wandten sie sich zunächst an das Konsulat der Vereinigten Staaten. Und dieser verdammte Konsul mußte erst wieder nachforschen, ob Cäsar Amerikaner oder Engländer ist. Wer ist denn eigentlich Madonna Beatrice?«

»Eine alte Dienerin der Valentines, soviel ich weiß.«

»Wir werden ihn doch noch fassen!« entgegnete der Alte und nahm seine Zeitung wieder auf.

In diesem Augenblick erschien Smith im Garten. Er trug einen hellgrauen Anzug und ging nachlässig über den Rasen auf die beiden zu. Als Stephanie ihn erblickte, erhob sie sich rasch.

»Aber wie kommt es denn, daß . . .«, sagte sie fassungslos.

»Wer ist das?« fragte Mr. Ross scharf. »Mr. Smith?«

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie störe«, erwiderte der junge Mann. »Ich habe nicht die geringste Absicht, Sie durch meine Gesellschaft zu belästigen, aber ich habe direkten Auftrag von meinem Freund Valentine, mich um neun Uhr hier einzufinden. Deshalb bin ich gekommen.«

Ross schaute ihn düster an.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie wieder gingen«, sagte er barsch. »Mit Leuten Ihres Schlages will ich nichts zu tun haben.«

Vor dem Eingang zum Hotelgarten hatte inzwischen ein eleganter Wagen angehalten. Stephanie hörte es, ebenso Smith, aber sie legten beide der Sache keine Bedeutung bei. Zweifellos hätten sie das aber getan, wenn sie den Mann und die Frau gesehen hätten, die aus dem Auto stiegen.

»Gehen Sie zu Ihrem Mr. Valentine zurück«, fuhr Ross ärgerlich fort, »und bestellen Sie ihm, daß ich mich weder vor ihm noch vor seinen Meuchelmördern fürchte. Leute mit Ihrer Bildung sollten sich eigentlich nicht dazu herbeilassen, einem solchen Schurken zu dienen. Jeder anständige Mensch muß Sie mehr verachten als die armen Kerle, die in den Gefängnissen sitzen.«

Smith lächelte ironisch.

»Ihre Ansicht über meinen Charakter ist ungeheuer interessant. Ihre Enkelin wird Ihnen wahrscheinlich sagen –«

Er wurde plötzlich unterbrochen, und er allein verstand, was die kommende Szene zu bedeuten hatte. Er holte tief Atem, als eine Frau mit zögernden Schritten auf die Gruppe zukam.

Stephanie betrachtete sie erstaunt, während Mr. Ross immer noch finster zu Smith hinübersah. Die Fremde war eine hagere Frau mit eingefallenem, bleichem Gesicht. Sie streckte merkwürdigerweise die Hand aus, als ob sie halb blind wäre und ihren Weg ertasten müßte, um nicht anzustoßen. Auf ihren weißen Händen waren die blauen Adern deutlich zu sehen. Stephanie schrie plötzlich auf und eilte auf die alte Frau zu, die vor ihr zurückschrak.

»Mutter – Mutter! Kennst du mich denn nicht?« rief sie schluchzend und schloß die Fremde in die Arme . . .

Ein Kellner kam mit einem schweren Tablett den engen Gang entlang, der von der Küche durch den Rosengarten zum Rasen führte. Er war erstaunt, als er einen schlanken jungen Mann auf einer Bank sitzen sah, der ihm zuwinkte.

»Könnten Sie mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?«

»Gewiß. Ich will nur eben erst den Kaffee zu den Herrschaften dort bringen –«

»Ach, es ist doch schnell geschehen«, erwiderte der Mann schwach, faßte in die Tasche und gab dem Kellner eine Handvoll Silbergeld. »Ich leide an einem Herzanfall. Mein Leben kann davon abhängen, daß Sie mir rasch helfen.«

Der Kellner setzte das Tablett ab, eilte zur Küche zurück und kam sofort mit einem Glas Wasser wieder.

Der Fremde nahm es mit zitternder Hand und trank es aus.

»Ich danke Ihnen«, sagte er dann. »Nun fühle ich mich schon wieder besser.«

Der Kellner brachte nun den Kaffee zu der Gesellschaft auf dem Rasen. Als er zurückkam, war der Herr gegangen.

Smith fühlte sich sehr unbehaglich und überflüssig, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als auszuhalten. Cäsar hätte ihm nicht telegrafiert, daß er hier genau um neun Uhr erscheinen solle, wenn nicht viel auf dem Spiel gestanden hätte. Er war zur Seite getreten und hörte wenig von der Unterhaltung der anderen. Die Frau hatte er sofort wiedererkannt.

Mr. Ross winkte ihm plötzlich, und wenn seine Stimme auch noch nicht freundlich klang, so hatte sie doch den feindseligen Ton verloren.

»Mr. Smith«, fragte er, »haben Sie etwas davon gewußt?«

»Nein. Ich hatte allerdings den Verdacht, daß die Dame in Cäsars Haus in Maisons Lafitte gefangengehalten wurde.«

»Können Sie mir nicht sagen, warum er sie freigelassen und heute morgen hierhergebracht hat?«

Smith schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nichts. Ich habe nur Anweisung erhalten, um neun Uhr vormittags hier an dieser Stelle zu sein.«

Es war für ihn ein peinlicher Augenblick, und die Situation erforderte größte Vorsicht. Als er sich eben wieder zurückziehen wollte, winkte ihm die hagere Frau. Sie sah müde von ihrer Tochter zu dem alten Mann und verstand allem Anschein nach nicht, was um sie her vorging.

»Sind Sie Smith?« fragte sie langsam wie jemand, der nicht daran gewöhnt ist, sich mit anderen zu unterhalten. »Er sagte mir, daß Sie mich erwarteten.«

»Wo ist er denn?« entgegnete Smith schnell.

»Er war hier – in dem Wagen.« Sie zeigte in die Richtung, woher sie gekommen war. »Aber ich glaube, er ist wieder gegangen. Er wollte meinen Vater nicht sehen . . .«

Smith trat zu der Gruppe zurück, und auf einen Wink von Mr. Ross setzte er sich an den Tisch.

»Ich habe gestern auf dem Dampfer das Schriftstück unterschrieben, wie er es verlangte«, fuhr sie fort. »Und ein Steward hat es auch unterzeichnet.«

»Ein Schriftstück?« fragte Stephanie schnell. »Um was hat es sich denn gehandelt, Mutter?«

Die alte Frau legte die Stirn in Falten.

»Sie nennen mich Mutter?« Sie schaute das Mädchen merkwürdig an. »Früher hatte ich einmal ein kleines Kind.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Stephanie nahm ihre Hand und streichelte sie.

»Erzähle doch«, sagte Mr. Ross freundlich. »Sicher hat Mr. Smith nichts dagegen, uns dabei Gesellschaft zu leisten. Stephanie, schenke doch bitte den Kaffee ein. Auch eine Tasse für Mr. Smith.«

»Soviel ich weiß, ist es eine Woche her«, begann jetzt die alte Frau, die sich wieder etwas gefaßt hatte. »Cäsar kam ins Haus und sagte mir, daß er mich zu meinem Vater nach England zurückbringen wollte. Darüber freute ich mich natürlich sehr, denn es war furchtbar einsam auf dem Schloß. Alles war so geheimnisvoll, und manchmal war Cäsar grausam zu mir. Sie fürchteten, ich könnte fliehen, und ließen mich daher nur nachts ins Freie gehen. Auch dann legten sie mir noch Fesseln an Hände und Füße, daß ich kaum laufen konnte. Einmal habe ich versucht, zu entkommen.«

Smith beobachtete sie über den Rand seiner Tasse hinweg, während er einen winzigen Schluck nahm.

Stephanie wollte gerade die Tasse an die Lippen setzen, als Smith sie ihr aus der Hand schlug. Der heiße Kaffee floß über ihr hübsches Kleid, und sie sprang entrüstet auf.

»Entschuldigen Sie«, meinte er kühl. »Es tut mir leid, daß ich die Geschichte unterbrechen mußte, aber der Kaffee schmeckt schlecht.«

»Was meinen Sie?« fragte Ross verwundert.

»Ich habe den Eindruck, daß Cäsar Valentine uns alle auf einen Schlag beseitigen will. Aber ich habe noch keine Lust zu sterben.« Er roch an dem Kaffee und winkte dem Kellner, der gerade wieder auf dem Rasen erschien.

»Schmeckt der Kaffee nicht?« fragte der Mann überrascht. »Er ist doch sonst immer so gut?«

Er hob die Tasse, um zu kosten, aber Smith hinderte ihn daran.

»Wenn Sie nicht in kürzester Zeit ein toter Mann sein wollen, versuchen Sie den Kaffee nicht. Aber sagen Sie mir – haben Sie die Kanne direkt von der Küche hierhergebracht?«

»Jawohl.«

»Ist Ihnen unterwegs nicht jemand begegnet?«

»Nein – ach doch, jetzt besinne ich mich! Da war ein Herr, der fühlte sich sehr elend und bat mich, ihm ein Glas Wasser zu holen.«

»Das haben Sie natürlich getan? Und den Kaffee haben Sie zurückgelassen? Nun verstehe ich den Zusammenhang.«

»Soll ich den Kaffee forttragen?« fragte der Kellner.

»Nein, danke«, erwiderte Smith grimmig. »Lassen Sie ihn hier. Ich möchte mich davon überzeugen, ob Cäsar Valentine mich betrogen hat, aber es ist nicht nötig, daß deswegen Menschen umkommen. Bringen Sie mir eine Flasche – eine alte Whiskyflasche genügt vollkommen. Ich will den Kaffee hineinschütten.«

Es herrschte tiefes Schweigen, als der Kellner verschwunden war.

»Sie meinen doch nicht, daß er einen derartig teuflischen Plan gegen uns alle ausgeheckt hat?« fragte Ross schließlich.

»Ihm ist alles zuzutrauen. Ich bin sicher, daß er uns ermorden wollte, um alle Mitwisser seiner Schandtaten auf einmal loszuwerden.«


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