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Die Camaldolenserin

Erstes Kapitel

Der Mann, aus dessen Munde ich diese Geschichte erfuhr, ist längst tot. Sonst dürfte ich sie nicht erzählen. Daß ich schweigen könnte!

Denn der Mann war mein Freund. Und er war einer von jenen Freunden, die ein Stück unsres besten Selbst mit sich nehmen, wenn sie davongehen; einer von jenen, die den Platz an unsrer Seite, von dem sie entwichen, für alle Zeit leer lassen und welchen wir ihren Tod wie eine Treulosigkeit gegen uns vorwerfen möchten: »Warum thatest du uns das an?!«

Aber er starb, und ich darf, er erlaubte mir's, diese seltsame Begebenheit mitteilen. Von ihm selbst will ich berichten, daß er zu den Menschen gehörte, die man lieben mußte. Ihn, der nicht mehr ist, mußte man nicht nur lieben, sondern man mußte ihm auch in demselben Maße vertrauen. Niemals kannte ich jemand, dem von allen Seiten solche Liebe, solches Vertrauen entgegengebracht ward wie meinem verstorbenen Freunde Ferdinand W ... .. Er zwang geradezu zu beidem. Ihn nicht zu lieben, ihm nicht zu vertrauen, gehörte für die, die ihn kannten, zu den Unmöglichkeiten. Er war ein Mensch, zu dem die Mühseligen und Beladenen wie zu einem Priester kamen: »Hier bin ich, und so steht es mit mir. Nun hilf mir! Ich weiß, daß du mir helfen wirst.« Und ihm selbst konnte keiner helfen!

Mein verstorbener Freund war nicht nur der Gütigsten, sondern auch der Wahrhaftigsten einer. Niemals begegnete ich jemand, der an meines lieben Toten Wort gezweifelt hätte: Er sagte, es war so und so; und so und so war es! In seiner Nähe überkam mich jedesmal das Gefühl, daß es Menschen gibt, in deren Seele nichts Unwahres, also Unsauberes haften bleiben kann, nicht einmal ein Stäubchen.

Und gerade aus dem Munde dieses Wahren und Reinen vernahm ich eine Geschichte, die ich nicht glauben kann – nicht kann! Denn ich vermag nur zu glauben, was ich im stande bin zu verstehen: und meine Vernunft würde in Stücke gehen, müßte ich die Geschichte meines verstorbenen Freundes begreifen. Ich darf nicht sagen: »Mein Freund log.« Ich muß im Gegenteil sagen: »Mein Freund konnte nicht lügen!« Aber ich muß zugleich gestehen, daß es mir unmöglich ist, an die Geschichte meines unglücklichen Freundes zu glauben.

Jawohl: meines unglücklichen Freundes! Und ich kannte ihn noch, als er ein glücklicher Mensch war, geradezu überschwenglich glücklich. Damals war er jung, und die Ueberschwenglichkeit seines Glückes rührte daher, daß er verliebt war und zum erstenmal nach Italien ging – nach Rom! Er war nämlich ein Künstler, ein Maler, und zwar ein ganz vortrefflicher Maler. Seine Bilder, ideale Landschaften mit entsprechender Staffage, waren ebenso heiter, lebensfreudig und sonnig wie der ganze Mensch.

Alles an ihm strahlte: Augen, Seele, Kunst. Dabei war er über die Ohren in seine Braut verliebt, ein blutjunges, feines und reizendes Geschöpf, das am liebsten lachte. Also kamen zwei überaus gute und zwei glückliche Menschen zusammen. Und als begabter Künstler, als glücklicher Bräutigam ging dieser beneidenswerte junge Sterbliche nach Rom; und wenn er – nach zwei oder drei Jahren – aus Rom zurückkam, sollte sofort geheiratet werden. Man stelle sich das doch nur vor! An zeitlichen Gütern war er auch reich gesegnet, so daß seine Kunst nicht nach Brot, sondern nur nach – Kunst zu gehen brauchte. Ob also mein unglücklicher Freund damals wohl glücklich war?

Und niemand, der ihm sein Glück mißgönnt hätte, denn dieser gute Mensch hatte wirklich keinen Feind, konnte gar keinen haben. Leute, die nur vergnügt waren, wenn sie hörten, daß es jemand schlecht gehe – sie hatten es leicht, auf dieser miserablen Welt fröhlich zu sein, freuten sich über das Glück des guten Ferdinand, der nach Rom ging und der, wenn er von Rom zurückkam, sein liebes, lachendes Mädchen bekam. Ich gehörte zu denen, die ihn, in dem lieben, alten München war's, auf den Bahnhof begleiteten. Es war, die Braut an der Spitze, ein ganzer Schwarm, und wir benahmen uns samt und sonders wie Schulbuben, die in die Ferien reisten: aus lauter Freude, weil unser lieber Ferdinand zum erstenmal nach Rom ging und ein gar so glücklicher Mensch war.

Unvergessen bleibt mir das Gesicht, mit dem er, aus dem Fenster des abfahrenden Zuges weit vorgebeugt, seine zurückbleibende Braut und uns, die Freunde, noch ein letztes Mal grüßte. Es war nicht nur das hübscheste und liebenswürdigste, sondern auch das strahlendste und beste junge Menschenantlitz, das zu denken war. Seine Verlobte blickte ihm nach und lachte mit Augen, Blicken und Seele ihm zu.

 


 

Aber alles ward anders; selbst seinen intimsten Freunden ganz unverständlich anders. Dabei war alles so traurig, so wahrhaft trostlos verändert. Wir erfuhren auch niemals, was die Wandlung bewirkte; begriffen sie niemals. Dann, nach vielen Jahren, erzählte er es mir; und jetzt, nach wiederum vielen Jahren, darf ich davon zu andern sprechen – nachdem er längst tot ist.

Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt erhielten seine Braut und die Freunde von ihm Briefe, die voll römischen Sonnenscheins waren. Im Sommer dann schrieb er aus dem Sabinergebirge, wo er in einem Kloster ein altes merkwürdiges Altarbild kopierte. Das Heiligtum mußte in einer für Europa ganz unwahrscheinlichen wilden Oede liegen; denn er teilte uns mit, er könnte uns von dort nur spärlich Nachrichten zukommen lassen.

Dieser Brief war in einem ganz andern Tone gehalten als alle seine früheren Berichte. Aber damals dachten wir uns nichts weiter dabei.

Dann, nach Monaten, die Nachricht: Ferdinand sei schwer krank gewesen, sei noch nicht wieder gesund. In eben jenem einsamen Bergkloster hatte er auf den Tod gelegen: an einer heftigen Malaria, vermuteten wir: denn Genaueres konnten wir nicht erfahren. Auch von einer unter geheimnisvollen Umständen erhaltenen schweren Verwundung hörten wir.

Plötzlich das Gerücht: Der Freund sei in einer eigentümlichen seelischen Verfassung aus Italien zurückgekehrt, seine Verlobung mit dem reizenden Mädchen habe er gelöst. Wie hatte das geschehen können?

Als ich ihn sah, erkannte ich ihn kaum wieder. Nichts Jugendfrisches, Frohes, Sonniges mehr an ihm! Wie ausgelöscht der Glanz aus seinen Augen, aus seiner Seele. In keiner Miene seines Angesichts, in keinem Zuge seines Wesens mehr der alte glückliche Mensch. Aber der gütige, liebenswerte Mensch war er in allem geblieben. Ja, er war es womöglich noch mehr geworden. Nur, daß man in seiner jetzt so stillen Gegenwart wehmütig wurde, von einem tiefen Mitleid beschlichen. Und dabei konnte keiner ihm helfen, ganz unmöglich!

Er hatte so etwas an sich, was Scheu einflößte, ihn danach zu fragen: »Um Himmels willen, liebster Mensch – wie konntest du denn nur so werden?« Für uns alle voller Teilnahme und Güte, ließ er keinen von uns an sich heran: er, Ferdinand, dessen Seele so offen vor seinen Freunden gelegen, daß sie darin lesen konnten wie in einem Buche! Und seine Braut, das gute, süße Kind, das so gern lachte, für das Lachen Lebenslust war? ... Aber sie war ja seine Braut nicht mehr.

Auch sie sah ich wieder, ein solch blasses, stummes Geschöpf, ein solch trauriges, glückloses Menschenkind! Von ihm sprachen wir nicht, kein Wort! Wir konnten nicht.

Da faßte ich mir denn eines Tages ein Herz, ging zu ihm und sagte: »Ferdinand, Ferdinand, sie geht ja daran zu Grunde! Ist es denn nur möglich? Du – du kannst einen Menschen zu Grunde gehen lassen! Ein hilfloses Weib, ein junges, armes Ding, das dich liebt, das an dich geglaubt hat! Und warum – warum?«

Er war zusammengefahren, als würde durch meine Worte sein Herz getroffen. Dann saß er blaß und regungslos, sah mich aus hoffnungslosen Augen an, sagte leise, als spräche er zu sich selbst: »Ich darf nicht. Wie dürfte ich wohl? Sie würde als mein Weib ja doch niemals mehr lachen können. Denn ich müßte ihr ja doch sagen ...«

Er verstummte, saß wie in Entgeisterung. Da rief ich ihn an: »Was müßtest du ihr sagen, was? ... Sage es mir! Vertraue dich mir, deinem Freunde an, wenn du es für ihr Herz zu fürchterlich hältst. Aber ihr Herz ist stark. Unglück, auch das größte, wird es ertragen; nur deine Treulosigkeit nicht. Diese bricht ihr das Herz.« Er stöhnte jammervoll auf und schwieg. Es war nichts mit ihm anzufangen.

Wer beschreibt mein freudiges Erstaunen, als eines Tages die arme Entlobte zu mir kam und mit einem matten Schimmer ihres alten strahlenden Lächelns mir mitteilte: »Wir werden uns heiraten. Er wollte mich wirklich sitzen lassen, der böse, liebe Mensch! Ich will jedoch nun einmal nicht sitzen bleiben. In drei Wochen ist Hochzeit, die stillste, die es jemals gegeben hat; aber gewiß nicht die unglücklichste. Sie müssen natürlich mit dabei sein.«

Natürlich mußte ich ... Aber ich begriff noch immer nicht. Da entfuhr es mir: »Hat er Ihnen denn gesagt ...«

Ich stockte. Ahnte ich doch nicht einmal, ob er ihr überhaupt etwas zu sagen hatte.

»Ja, lieber Freund, er hat es mir gesagt.«

»Und?«

»Und eben darum muß er mich zur Frau haben.«

Das alles verstand ich damals nicht. Aber mit welchem Tone, mit welchem Blicke das kleine, feine Wesen, mehr als je machte sie den Eindruck eines Kindes auf mich, mir sagte: »Und eben darum muß er mich zur Frau haben!«

Auch diesen Ton, diesen Blick werde ich niemals vergessen.

 

Zweites Kapitel

Wie das im Leben so geht, verlor ich meinen lieben Freund – nicht aus dem Herzen (das gewiß nicht!), aber aus den Augen. Er lebte mit seiner jungen Frau in einer entlegenen Provinzstadt, was ich nicht für das Glück seiner Ehe und für seinen sonstigen seelischen Menschen, wohl aber für seine Kunst für im höchsten Grade bedenklich hielt. Die Thatsachen sollten mir denn auch leider recht geben. Er wurde zwar in der großen Zurückgezogenheit kein schlechterer, vielmehr: kein weniger guter Maler; doch gedieh er in seiner Weltabgeschiedenheit seltsam rasch zu einem sonderbaren, fast bizarren Kopf. Er ward ein Träumer, ein Schwärmer, geradezu ein Mystiker: er, mein einst so klarer, sonniger und schönheitstrunkener Ferdinand! Die Richtung, die er so unvermerkt in seiner Kunst einschlug, erschien seinen getreuen Freunden ebenso betrüblich, ebenso unbegreiflich wie die Veränderung, die in Italien mit dem ganzen Menschen vorgegangen war.

Seine Bilder, die er auf die Ausstellungen schickte, erregten ein gewisses Aufsehen. Häufig hatten sie durchaus spiritistische Motive, lauter Probleme, die der vierten Dimension angehörten. Sie waren schnell entworfen und ebenso ausgeführt, gleichsam in nervöser Hast, als wäre der Künstler leidenschaftlich bestrebt gewesen, sich durch sein Bild etwas Unheimliches, Grausiges von der Seele zu malen, von einem gespenstischen Alp sich zu befreien. Meine Frau meinte, ich legte das alles wieder einmal in die Dinge hinein. Sie mochte ja auch recht haben. Es war das so meine fabulierende Art.

Einige Jahre blieb die Ehe unserer Freunde kinderlos; dann wurde ein Töchterchen geboren. Wir erhielten von Vater und Mutter der jungen Weltbürgerin selige Briefe. Aus den Worten Ferdinands leuchtete mir ganz der alte strahlende Mensch entgegen. Wir teilten sein Glück. »Nun wird alles gut!«

Das hatte er auf den Rand der vollgeschriebenen vier Seiten gekritzelt ... »Nun wird alles gut!« Also war bis dahin vieles immer noch nicht gut, vielleicht sogar schlecht gewesen? Was? Und was sollte durch die Geburt eines Kindes gut werden? Das Eheglück der beiden einsamen Menschen natürlich.

Die Armen! Gott sei Dank, daß das Kind geboren, daß die kleine Mittlerin gekommen war – endlich!

 


 

Jetzt immer nur glückselige Briefe. Und immer nur über das Kind, über die kleine, süße Riccarda. Es mußte ein reizendes Geschöpf sein, ein wahres Märchenkind. Auch geistig und seelisch. Jedes Jahr erhielten wir Photographieen; entweder nach dem Leben oder nach Porträts. Ferdinand malte sein vergöttertes Kind jedes Jahr wohl ein vierteldutzendmal und legte seine ganze überschwengliche Vaterliebe hinein.

Es war ein feines, zartes Wesen – so sehr fein, so beängstigend zart (wie uns schien). Das blasse Gesichtchen – es sollte fast weiß sein – wurde von langen rötlichen Locken umringelt. Die dunklen Augen waren unnatürlich groß und unnatürlich traurig. Es mußte ein Kind sein, das nicht lachen konnte – nicht konnte! Gewiß ein engelhaft schönes, aber ein unheimlich apartes Geschöpf.

Und diese Glückseligkeit, diese Vergötterung! Uns ward ganz angst dabei. Wenn dem feinen, zarten Wesen etwas Menschliches zustoßen sollte? Wie würden es die Eltern ertragen? Das Kind hatte so wie so etwas schier Unirdisches.

Und dann starb das Kind.

 


 

Alle unsre Briefe, selbst unsre Depeschen blieben unbeantwortet. Ich hätte zu den ärmsten Eltern eilen müssen: aber wir wohnten in Italien, in der Villa Falconieri bei Frascati, und ich konnte aus triftigen Gründen nicht fort.

Wir baten in unsrer Sorge flehentlich um Nachricht, erhielten jedoch keine. Auch die anderen Freunde, denen wir schrieben, wußten von nichts. Alles, was wir erfahren konnten, war, daß sie einige Tage nach dem ganz plötzlich erfolgten Tode des Kindes abgereist waren. Eine Adresse ließen sie nicht zurück, die Post konnte ihnen also nichts nachschicken. Wir mußten geduldig warten, mußten uns fortsorgen.

Plötzlich eines Frühlingsabends fuhren beide durch das Falkenthor Vignolas bei uns ein: zwei blasse, stumme, unglückliche Menschen. Wie sie uns dauerten!

Sie wollten uns nur begrüßen und dann gleich wieder fortgehen, irgend wohin. Wir waren die ersten Freunde, die sie sahen, seitdem. – Sie konnten es noch nicht aussprechen. Auch wir hüteten uns, von dem Ereignis zu reden, das sie so schwer betroffen hatte, unnatürlich schwer – da sie sich ja doch noch hatten. Wir verkehrten mit ihnen wie mit zwei Schwerkranken. Das waren sie auch.

Sie gingen nicht wieder fort. Es war nicht ganz leicht für uns: aber wir waren glücklich, sie bei uns behalten und ihnen unsre Liebe zeigen, sie darin so recht einhüllen zu können. Auch hofften wir, ihnen möchte unter unsern feierlichen Steineichenwipfeln, angesichts der Campagna Roms, das Leben vielleicht doch um ein weniges erträglicher erscheinen.

Und wiederum schien zwischen den beiden trostlosen Menschen etwas Unverständliches, Dunkles und Geheimnisvolles zu liegen. Wir erkannten dies aus der seltsamen Art, in der sie miteinander verkehrten. In Ferdinands Wesen seiner Frau gegenüber lag etwas – wie kann ich es nur am besten ausdrücken? Es war nichts andres, als ob er gegen seine Frau ein schuldbeladenes Gewissen hatte. Schlimmer! Als ob er an der Mutter seines Kindes ein Verbrechen, eine Unthat begangen hätte; und sie schien nur noch dafür zu leben, ihn nicht empfinden zu lassen, daß es so war. Aber wie sie uns dauerten!

Zugleich mußten wir immer und immer darüber grübeln, was es mit ihnen nur sein konnte?

Wir fanden es nicht.

 

Drittes Kapitel

Um den Freund nach Möglichkeit zu zerstreuen, unternahm ich mit ihm zu Fuß und zu Pferde Ausflüge in die Umgebung Frascatis. Mitunter dehnten wir unsre Wanderungen und Ritte ziemlich weit aus. Wir übernachteten in irgend einem kleinen Nest, kamen wohl auch dazu, in einer Hirtenkapanne oder am Feuer von Feldarbeitern nächtigen zu müssen. Dann war unsre Speise ein am Stecken aus hartem Olivenholz über der offenen Glut gebratenes Zicklein oder ein Gericht Schwämme, die wir selbst suchten und zubereiteten.

Eine dieser Exkursionen führte uns in das Sabinergebirge, und zwar in einen Teil desselben, wohin selten ein Fremder gelangt und der so öde, rauh und unwirtlich war, daß er kaum nomadisierenden Hirten zum Aufenthalte diente. Selten stießen wir auf eine Kapanne, die gewöhnlich verlassen war, noch seltener sahen wir in der Entfernung in der Höhe auf wüstem Felsengipfel einige aus grauem Kalkstein ausgemauerte Hütten, die Häuser vorstellten und deren mehrere ein Dorf bilden sollten: ein » paese«. Begegnete uns einmal ein Mensch, so war es ein mit halbem Leib im Felle steckender Hirte, der ebenso gut hätte ein flüchtiger Brigant sein können; denn nur solche Gestalten hatten in diesen weiten Einöden, die Wildnisse waren, etwas zu suchen. Gut, daß wir einigen Proviant mit uns führten; sonst wäre es uns übel gegangen. Auch hatten wir keine Aussicht, an diesem Tage noch eine leidliche Unterkunft zu erhalten, mußten darauf gefaßt sein, die Nacht mitten in der Steinwüste zuzubringen, durften uns freuen, wenn wir zur Stillung unsres Durstes ein Wässerlein fanden. Längst hatten wir jede Richtung verloren, stiegen am Saume der Campagna auf Herdenpfaden steile Felsenlehnen empor.

Bereits den ganzen Tag über war mir an Ferdinands Wesen eine Veränderung aufgefallen. Sie äußerte sich vornehmlich in einer heftigen Unruhe, einer leidenschaftlichen Erregung, die bei ihm um so ungewöhnlicher war, da er durch seine pathologische Trauer um sein verlornes Kind – so müßte ich es nennen, in einen Zustand von starrer Ruhe, von halber Entgeisterung versetzt worden war.

Er achtete nicht auf die Landschaft, die von einer homerischen Großheit war, achtete nicht auf das Lichtphänomen eines blau-schwarzen Gewitterhimmels, den die Sonne mit goldenen Strahlenbündeln, von einer purpurfarbenen Gloriole umflossen, durchbrach. Bald ging er wortlos neben mir, bald eilte er mir wie gejagt weit voraus. Holte ich ihn ein und versuchte ich, ihn in ein Gespräch zu ziehen, so merkte ich an seinen Antworten, daß er mich gar nicht gehört hatte. Dabei redete er wie ein Fiebernder, so daß ich anfing, mich ernstlich um ihn zu sorgen.

Endlich ertrug ich es nicht länger und fragte ihn gerade heraus nach der Ursache seines beunruhigenden Benehmens, für das ich mir keine Erklärung wußte.

»Also hast du's bemerkt?«

»Was bemerkt?«

»Daß ich etwas aufgeregt bin?«

»Etwas aufgeregt? Nimm mir nicht übel, alter Freund; aber ich habe die größte Lust, dir den letzten Rest von Chinin einzugeben, den ich bei mir führe, du hast ja das Fieber! Und das nennst du etwas aufgeregt? Dabei machst du ein Gesicht, als ob du das abgeschlagene Haupt der Gorgo sähst.«

Er versuchte zu lächeln, was ihm in einer Weise mißlang, daß ich mir im stillen Vorwürfe machte, in solchem Ton mit ihm geredet zu haben. Wußte ich doch, daß er am Sterbebette seines Kindes der Meduse ins entgeisterte Antlitz gesehen hatte! Unaussprechlich leid that es mir, als er mit seinen zuckenden Lippen, die lächeln sollten, antwortete: »Verzeih, mich quält eine Erinnerung. Ich muß dich ernstlich um Verzeihung bitten, denn ich bin heute ein besonders unleidlicher Reisegenosse.« »Wenn sich an diese Gegend eine schmerzliche Erinnerung für dich knüpft, so durften wir nicht hierher kommen. Du kannst dergleichen traurige Reminiscenzen jetzt gerade brauchen.«

»Du hast recht, ich hätte nicht hierher kommen dürfen, hätte dich schon gestern bitten müssen, umzukehren oder einen ganz andern Weg zu nehmen. Gestern hatte ich es auch den ganzen Tag über im Sinn. Selbst heute noch immerfort. Aber plötzlich war es zu spät. Ja, und dann siehst du –«

Er stockte. Ich mußte ihn fragen, was dann noch wäre?

»Mich trieb's hierher! Sträuben half nichts! Ich mußte kommen! Es war stärker als ich! ... Stelle dir vor: Seit länger als zehn Jahren wollte ich jedes Jahr hierher kommen. Es gelang mir immer, mich zurückzuhalten, bis, – nun ja, bis zu diesem Jahre. Denn ich will dir nur gestehen, daß ich nur deshalb nach Rom und zu euch nach Frascati kam, um in der Nähe dieser Gegend zu sein.«

Er sprach hastig, die Worte mühsam hervorstoßend und vermeidend, mich anzusehen. Ich war auf das höchste erstaunt: vielmehr: ich wurde schwer betroffen. Denn was mußte das für eine Sache sein, die meinen so ganz in seinen schweren Kummer versunkenen Freund dermaßen beschäftigen und bewegen konnte? Seit länger als zehn Jahren hatte er nach dieser öden Felsgegend gestrebt; seit länger als zehn Jahren mit Anstrengung davon sich ferngehalten, bis plötzlich sein angebetetes Kind starb, bis er länger nicht widerstehen konnte zu kommen. Denn: es war stärker als er.

Was war stärker?

Eine Erinnerung? Eine Erinnerung, die an diesen wüsten Stätten haftete und die so schrecklich war, daß die Qual der Gedanken sein bleiches Gesicht noch bleicher machen konnte, dem Antlitz eines Sterbenden gleich. Es mußte die Erinnerung an etwas Furchtbares sein.

Nach einer Weile sagte ich mit möglichstem Gleichmut: »Daß du schon im Sabinergebirge warst, wußte ich ja. Aber ich ahnte nicht, daß du gerade in dieser Gegend so gut bekannt seiest. Es ist hier ja auch eine Wüstenei, eine wahre Wildnis. Nirgends ein Haus, geschweige denn ein Ort! Was also kann dir damals hier begegnet sein? Ich vermag mir nichts andres vorzustellen, als daß du hier von Banditen überfallen worden bist. Richtig, jetzt erinnere ich mich! Du wurdest in einem römischen Kloster tödlich verwundet. Du hast jedoch niemals davon reden wollen, was eigentlich wunderlich von dir war ... Also hier geschah das interessante Abenteuer? Aber, daß dich die Erinnerung daran so erregen kann? Dahinter muß noch etwas andres stecken! Gewiß ein Weib! Denn ich wüßte nicht, was es sonst sein könnte.«

Aufs neue bedauerte ich sofort auf das heftigste, zu meinem bleichen Freunde wiederum in solcher Weise geredet zu haben. Er sah mich mit einem unbeschreiblich traurigen Blick an und sagte – immerfort mit jenem schmerzlichen Zucken um seinen Mund: »Verwundet wurde ich allerdings in dieser Gegend, und mit einer Frau hat die Sache auch zu thun; allerdings mit keiner lebendigen.«

»Ferdinand! Um Himmels willen ...«

Der Ton, mit dem er mir diese seltsame Antwort gab, ließ mich ihn so laut und heftig anrufen. In seiner Stimme war Grausen, dabei dieser Ausdruck von Entsetzen, als sähe er jene Frau, die keine »lebendige« war, leibhaftig in der grauen Steinwüste vor sich, wie man ein Gespenst eben leibhaftig zu sehen vermag. Auf meinen angstvollen Ruf versetzte er: »Ja, es war furchtbar. Ich kann noch heute nicht sagen, wie furchtbar es damals war.«

»So sprich nicht davon, so denke nicht daran!«

»Nur einmal sprach ich davon – zu meiner Frau. Daß ich ein einziges Mal davon sprach, hat unser Leben vernichtet.«

»Ferdinand! Ferdinand!«

»Es ist so. Daran laßt sich nichts ändern. Das Kind ist ja auch tot ... Du meinst: nicht denken soll ich daran? Seit der Zeit, wo ich es erlebte – ich habe es nämlich erlebt, denke ich an nichts andres. Ich muß immerfort daran denken! Und ich werde daran denken, wenn ich auf meinem Sterbebette liege.«

Ganz außer mir rief ich: »Und trotzdem kommst du hierher?«

»Ich mußte herkommen, einmal mußte ich. Es ist stärker als ich.«

»Zum Glück sind wir noch nicht da; denn hier ist nichts als eine Wüstenei ... Laß uns nicht weiter gehen, laß uns sofort umkehren. Komm! Komm!«

»Ich muß den Ort wiedersehen.« »Nein, nein!«

»Kehre du um! Laß mich allein weiter gehen.«

»Ich bleibe bei dir.«

»So komm.«

»Wohin denn nur? Es ist ja kein Ort in der Nähe.«

»Siehst du dort oben auf dem kahlen Gipfel?«

»Du meinst, die Felsenklippen?«

»Es sind Häuser.«

»Unmöglich!«

»Ein Hirtendorf. Ich wohnte dort einmal.«

»Damals?«

»Allerdings nur für kurze Zeit; dann siedelte ich aus dem Dorf in das Kloster über.«

»In jenes Kloster, wo du das alte Oelgemälde kopiertest und dann auf den Tod erkranktest?«

»Ja. Auf den Tod.«

»Dieses Kloster liegt in der Nähe?«

»Bis Sonnenuntergang können wir dort sein.«

»Verzeih. Aber ich muß dich noch mehr fragen.«

»Frage mich nur.«

»Und in jenem Kloster erlebtest du das Schreckliche?«

»Dort erlebte ich's ... Jetzt komm, komm!«

Ich sah ein, daß kein Widerstand half. Also ging ich mit ihm.

 

Viertes Kapitel

Auf steilem Felsenpfade stiegen wir hinan, vor uns die leuchtende Majestät des Apennins, hinter uns die Campagna Roms. Blieb ich einmal stehen und schaute aufatmend zurück, lag es wie eine Unendlichkeit unter mir. Eine Weite war's, darin das große Rom nur ein winziger schimmernder Flecken war, der hohe Wogengang des römischen Landes vollkommen als Ebene erschien, die ausgedehnten Wildnisse der Küste wie eine schmale Schattenlinie längs des hellen Strandes sich hinzogen.

Breit und strahlend stieg das Meer hoch in den Horizont hinauf. Ich glaubte in den heiteren Lüften die Gestade Korsikas zu sehen.

Der Ort, den wir, nach Aussage Ferdinands, bis Anbruch der Dunkelheit erreichen sollten, mußte in einer Falte des Felsengebirges liegen; jedenfalls blieb er meinen spähenden Blicken verborgen. Eine Einsamkeit umfing uns, als wären wir in dieser Wüste öden Gesteins die einzigen Lebendigen. Nicht einmal das Geläute einer weidenden Herde, das Gebell eines wachsamen Hundes unterbrach das schwere Schweigen. Ein Falkenpaar kreiste lautlos über uns; nur die schnellen Lacerten schlüpften raschelnd durch das von der Sommersonne versengte Dornengestrüpp, das auf dem nackten Kalkstein kümmerlich gedieh.

Mein Freund eilte voraus, so hastig, daß ich Mühe hatte, zu folgen. Sein Fieber ergriff allmählich auch mich. Dazu kamen die Verlassenheit und die Wildheit der Gegend, die sich die erregte Phantasie mit schattenhaften Gestalten belebte, darin sie etwas Geheimnisvolles, etwas Schauriges sich ereignen ließ. Und immer wieder die quälende Frage: »Was kann es nur gewesen sein; wohin kann er mich nur führen, was ist es nur mit ihm?«

Einmal blieb Ferdinand stehen, erwartete mich, murmelte: »Ich begreife nicht, was das ist. Einsam war es hier ja auch schon damals. Aber es war doch nicht solche totenhafte Einsamkeit! Der Weg wird ja gar nicht mehr benutzt, hier scheint er sogar vollkommen aufzuhören. Was ist das nur?«

Ich versuchte, ihn zu beruhigen: »Man wird wohl auf einem neuen Weg in das Kloster gelangen. Dieser ist so wie so nur ein Herdenpfad. Du mußt bedenken, daß du vor länger als zehn Jahren hier warst; da kannst du dich doch nicht wundern, daß hier manches anders geworden ist – selbst in dieser Wildnis.«

»Es kann kein andrer Weg hinführen!«

»Weswegen nicht?«

»Du wirst schon sehen.«

Ich machte einen letzten schwachen Versuch, ihn abzuhalten, einen Ort aufzusuchen, an den sich für ihn solche scheinbar schauervollen Erinnerungen knüpften. Ueberdies war er ein kranker, schlimmer, ein gebrochener Mann. Einen fast heiteren Ton anschlagend, bemerkte ich: »Weißt du, mein Junge, es ist doch wohl am besten, umzukehren – für heute wenigstens. Ich rate, noch zu dem Steinhaufen hinaufzuklettern, von dem du behauptest, es sei ein Dorf. Auch verspüre ich einen gar gewaltigen Appetit nach etwas Warmem und Gebratenem. Ein Lämmlein ist dort oben sicher aufzutreiben. Ich verspreche dir, es mit einer Sauce zuzubereiten, daß wir einen lukullischen Schmaus halten werden. Das Wie? ist meine Sache. Morgen können wir dann in aller Frühe nach deinem verzauberten Kloster aufbrechen,«

»Gut!«

»Also, du bist einverstanden?«

»Vollkommen.«

»Dann kehren wir um.«

»Steige du hinauf und erwarte mich oben.«

»Und du?«

»Ich gehe weiter.«

»Ohne mich?«

»Brate du dir dein Lamm. Ich hole dich morgen oben ab.«

»Ich vermute, du willst mich los sein?«

»Noch einmal: ich gehe weiter.«

»Auf diesem Weg, der kein Weg mehr ist?«

»Es gibt keinen andern.«

»Dann gehen wir also diesen; denn los wirst du mich nicht ... Bedenkst du auch, daß wir, wenn wir jetzt weiter gehen, im Kloster übernachten müssen? Ist dir das nach allem, was an jenem Ort vorgefallen scheint, recht?«

»Ich will jedenfalls noch hin ... Dem Wege nach zu urteilen, scheinen sie das Kloster wirklich verlassen zu haben. Warum wohl?«

»Welchem Mönchsorden gehört es?«

»Es ist ein Nonnenkloster.«

Ich rief: »In dieser Wildnis hausen Frauen?«

»Camaldolenserinnen.«

»Und bei diesen verbrachtest du einen vollen Sommer?«

»Nun ja.«

»Wie war das möglich?«

»Sie ließen mich eben bleiben.«

»Im Kloster?«

»In einem kleinen Hause, das zum Kloster gehört.«

»Und dort, glaubst du, werden die frommen Frauen uns übernachten lassen?«

»Wenn sie noch da sind und wenn du ...«

Er stockte.

»Und wenn ich was?«

»Wenn du dich nicht vor Geistern fürchtest.« »An die du zu glauben scheinst?«

»An die ich glauben muß. Verstehst du wohl! muß!«

Er sagte das so eigentümlich, sah mich dabei so sonderbar, so geisterhaft an (ich finde für seinen Blick noch heute keinen andern Ausdruck), daß ich Mühe hatte, ihn nicht merken zu lassen, welchen Eindruck Ton und Blick auf mich machten.

Während ich mich noch besann, was ich ihm wohl antworten könnte, fühlte ich seine Hand in der meinen. Die seine war kalt und feucht.

»Begreifst du denn nicht, daß ich mein Leben darum geben würde, wenn ich nicht dran glauben müßte? Jawohl, ja: müßte! Unser süßes Kind würde noch heute am Leben sein, wenn ich, was mir in jenem Kloster widerfuhr, nur geträumt hätte.«

Diese unsinnigen Worte flüsterte er mir mit heiserer, vor Erregung fast erstickter Stimme zu, als verrate er ein furchtbares Geheimnis, dabei meine Hand krampfhaft pressend und mir mit seinem Geisterblick starr in die Augen sehend.

Ich riß meine Hand aus der seinen und rief: »Ich lasse dich nicht weiter gehen! Ich fordere von dir, daß du sofort mit mir umkehrst! Ich verlange es von dir, im Namen deiner Frau, gegen die du dich durch dieses ganze Gebaren unverzeihlich versündigst.«

»Meine arme Frau!«

Es klang wie ein Stöhnen ... Den nächsten Augenblick war er von mir fort und mir voraus. Da er meinen stärksten Beschwörungen nicht Folge leistete, da ich keine Gewalt anwenden konnte, so mußte ich wohl oder übel ihn gehen lassen, wohl oder übel ihm folgen.

Es war spät inzwischen geworden; bald würde es Abend sein.

Wo wir uns jetzt befanden, mußte der Berg seit Jahren ungangbar sein. Das Geröll eines Bergsturzes hatte den ehemaligen Pfad verschüttet, Disteln und Dornengestrüpp waren zwischen den Steinen hoch aufgeschossen. Blieb ich jetzt stehen und schaute zurück, so war das gewaltige Landschaftsbild der Campagna spurlos verschwunden, wie auf Zauberschlag in den Erdboden versunken, und eine steinige Oede, eine Felsenwildnis war daraus emporgestiegen. Vor uns öffnete sich der Berg in einer Schlucht, mit senkrechten, himmelhohen Wänden eng wie ein Spalt, ohne die Spur einer Vegetation.

Dieser Kluft eilte Ferdinand zu.

Also in dieser trostlosen Enge mußte das Kloster liegen, hier hausten jahraus, jahrein Menschen – Frauen. Allerdings waren es Gemüter, die von der Welt und dem Leben sich abgewandt hatten, dem Grabe und dem Himmel zu. Aber warum dann nicht lieber sofort den Tod und die Ewigkeit?

Ich erreichte den Vorauseilenden und es gelang mir, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Ich hörte ihn murmeln: »Es müßte jetzt zum Ave läuten ... Sie scheinen wirklich fort zu sein, ihr Kloster wirklich verlassen zu haben. Weswegen?«

»Für sie wäre es mir lieb, wenn wir sie nicht mehr finden sollten. Ich könnte ihnen nichts Besseres wünschen, den Armen! Jeder andre Ort muß weniger schauervoll sein, als dieser es ist. Wer hier auszuhalten vermag, Jahre und Jahre, und bei einem solchen Leben seinen Verstand nicht verliert, ›der hat keinen zu verlieren‹, müßte ich mit der tollen Gräfin sprechen ... Sage mir nur, wie es möglich war, diesen Aufenthalt für Verdammte einen vollen Sommer, ja, nur Wochen, nur Tage zu ertragen?«

In seinem heiseren Flüsterton erwiderte er mir: »Sie ließ mich nicht fort.«

»Wer hielt dich in diesem Felsenloch gewaltsam zurück?«

»Die Camaldolenserin.«

»Und du ließest dich halten?«

»Ich mußte ja doch.«

»So warst du eben toll in sie verliebt; denn nur durch solchen Wahnsinn läßt sich dein unsinniges Verweilen erklären.«

»Ich verliebt in eine Tote?!«

»Fängst du schon wieder damit an? Mit deiner fixen Idee,« wollte ich hinzusetzen.

Aber ein Blick in das bleiche Gesicht des Unglücklichen verschloß mir den Mund. In demselben Augenblicke rief er: »Dort liegt es!«

 

Fünftes Kapitel.

Dort lag es!

Um eine scharfe Felsenecke biegend, standen wir plötzlich am Anfang der Schlucht und sahen das Kloster über einem Abgrund vor uns liegen: an drei Seiten eng eingekeilt zwischen schroffen, nackten, himmelhohen Felsenmauern, nach der vierten Seite zu der schmale Spalt als Eingang von der Welt, als Ausgang in die Welt.

Alles, was ich von dem Heiligtum selbst erblicken konnte, war ein Stück weißer Mauer, darin ein schwarzes Thor, darüber ein blutrotes Kreuz. Nie hatte ich etwas so Einsames, etwas so Trostloses gesehen!

Wer durch diese Felsenpforte in dieses Thal einging, der ließ alle Hoffnung hinter sich – alle!

Aber der Pfad führte in ein Kloster, in ein Heiligtum... Also alle diejenigen, die durch dieses Thor eingingen, um nie wieder herauszutreten: sie alle, die, auf dieser düsteren Schwelle stehend, die Hoffnung der Welt hinter sich ließen – sie alle, alle lebten in der schauerlichen Alpenklause für die größte und leuchtendste Hoffnung des mühseligen und beladenen Menschengeschlechts: für die Hoffnung auf ein glanzvolles Leben nach dem Tode, auf ein inniges Beisammensein mit der Gottheit und allen, die der hier lebendig Begrabene auf Erden geliebt und die er freiwillig verlassen hatte, um einstmals mit ihnen ein glückseliges Auferstehen zu feiern. Die Wohnstätte der Weltabgeschiedenen vor mir sehend, konnte ich mich nicht enthalten, einen lauten Ausruf des Schreckens, des Grauens zu thun. Ferdinand, der neben mir stand und schwer Atem holte, murmelte: »Nicht wahr, es ist schauervoll? Und an dieser grausigen Stätte Grausiges erlebt zu haben ...«

Außer mir rief ich: »Warum kamst du her! Du bist ja doch krank, denn du redest beständig im Fieber! Alles, was du mir über diesen fürchterlichen Ort sagtest, sind Fieberphantasieen.«

»Ist etwa der Ort eine Fieberphantasie? Dort liegt er! So wahr er dort vor uns liegt, so wahr ist, was ich hier erlebt habe, Wirklichkeit gewesen. ... Aber jetzt komm, es wird Nacht.«

Bei der schnell hereinbrechenden Dämmerung eines römischen Sommerabends legten wir das letzte Stück Wegs zurück, das plötzlich wieder zum Wege geworden war: ein in den lebendigen Fels eingehauener Pfad, längs des Abgrundes hin, aus dessen Tiefen dumpfes Rauschen eines Bergbaches heraufdrang. An manchen Stellen war der Steg so eng, daß in die Wände eiserne Klammern eingelassen waren. An diesen uns haltend, schritten wir weiter, tappend und tastend, bei den immer dichter werdenden Schatten wie über dem Abgrund schwebend, zwischen Himmel und Erde.

Der Gang war schaurig wie das Ziel, das wir endlich erreichten und das mir, was ich für unmöglich gehalten hatte, noch eine Steigerung des mächtigen Eindruckes bringen sollte. Die Kluft endete in eine Felsenterrasse, auf der sich gerade Raum genug für eine Ansiedelung fand: eine Klause in der Klause, ein Asyl für Weltabgeschiedene in Weltabgeschiedenheit, eine Gruft in einer Gruft.

Wie in Verzauberung hing das Kloster am Rande des Abgrundes; ringsum unzugängliche, starrende, leichenfarbene Felsen, darüber ein Stücklein Himmels, darunter die schwarze Tiefe. Das war hier die Welt, und – »das ist eine Welt!«

Das Heiligtum war in der That verlassen worden, wofür ich im Herzen dem Himmel dankte. Das schwarze Thor in der weißen Mauer, darüber das rote Kreuz aufstieg und das verschlossen das Kloster zur Festung machte, stand weit offen. Gras und Unkraut bedeckten die Schwelle, die ich, von keiner Hüterin der heiligen Gruft – keiner lebendig Begrabenen zürnend zurückgewiesen, zögernd überschritt.

Da stand ich nun und wäre am liebsten wieder zurückgewichen, am liebsten geflohen. Denn wenn die schwarze Pforte plötzlich hinter mir zugeschlagen, ich hinter dem roten Kreuze gefangen wäre, lebendig begraben in dem toten Ort. ... In der hereinbrechenden Nacht vor mir ein mit Gras und Unkraut überwucherter kleiner Hof, eine von Gras und Unkraut überwucherte steinerne Treppe, die zu einem hohen monumentalen Portal emporführte, darüber sich lebensgroß eine Gestalt erhob, umwallt von weißen, feierlichen Gewändern; die Bildsäule S. Romualds!

Ich hatte bis dahin nicht für möglich gehalten, daß eine Statue einen solchen spukhaften Eindruck hervorbringen konnte.

Wie der Geist der Stätte, als der Genius des trostlosen Ortes schien das blasse Marmorbild über dem Eingange zu dem Hause des Heiligen zu schweben, sein Wächter in der Wildnis.

Langsam die Stufen hinaufschreitend, vor der Kirchenthür stehend, mußte ich denken, wie viel Menschenleid in dieses Gotteshaus seinen Einzug gehalten, und ich fühlte mich von des Lebens ganzem Jammer gepackt.

In dieser Stimmung achtete ich nicht des Mannes, der mich hierher gebracht und der hier etwas Geheimnisvolles, etwas Schauervolles erlebt hatte. Ich merkte kaum, daß er mir auch jetzt wieder vorausgeeilt war. In der Einsamkeit, die mich mit der Ruhe eines Kirchhofs umgab, hatte ich das Gefühl, als müßte ich den Atem anhalten, dürfte um Himmels willen nicht aufseufzen, um die Geister der Abgeschiedenen, die hier umgingen, nicht zu beschwören.

Wie geschah mir? Noch vor einer Stunde hatte mich der Geisterglauben meines armen Freundes mit Entsetzen erfüllt, hatte ich seinen wirren Reden zugehört, als vernähme ich die Phantasieen eines Fiebernden; war mir bei ihm wie in der Gegenwart eines Wahnsinnigen zu Mute gewesen: und von dem Geisterhauch dieses Ortes kaum umwittert, begann ich bereits zu glauben, daß es zwischen Erde und Himmel Dinge gibt, die unsre Vernunft aus den Fugen bringen, wie es bei meinem Freunde der Fall zu sein schien.

Da entsetzte ich mich fast!

Plötzlich ein Schein, eine bleiche Helle ringsum!

Meine Einbildungskraft war in solchem Grade erregt, daß der liebe Mond, der voll und groß über den Felsenwänden aufging und mit seinem Licht die Schlucht füllte, mir Schrecken einflößte.

Ich stand noch immer auf der Treppe, die zu dem verlassenen Gotteshause emporführte, stieg sie jetzt vollends hinauf, trat durch die weit offene Pforte in das Heiligtum, daraus die kleine Gemeinde von Beterinnen, die Büßerinnen waren, für immer entwichen: darin Dornen und Disteln, die Vögel und Tiere der Wildnis Einzug gehalten. Durch die leeren Fensterhöhlen schien der Mond und entzündete mit seinem mystischen Glänze die Königskerzen, die den seiner Heiligtümer beraubten Hochaltar umblühten. Auch das Bildnis war verschwunden, und an dem seines frommen Schmuckes beraubten feuchten Mauerwerk waren Nymphenfarne aufgesprossen, die die Wand mit einem grünen Vorhang umhüllten. Auf dem zerborstenen Marmorboden widerhallten gespenstisch meine Schritte und schreckten eine große graue Eule auf, die mit heiserem Klagelaut lautlosen Fluges ein Kreuz umstrich, darunter die Kirchengängerinnen ihre Pönitenz gethan haben mochten. Es war eine Stätte, an der Blut und Thränen geflossen, Seufzer und Jammerlaute gen Himmel aufgestiegen waren.

Ich ging weiter.

Aus der Kirche trat ich und stand vor einem Seitenbau. Wiederum eine offene Pforte in einer weißen Wand und darüber ein Wort in großen schwarzen Lettern: » Resurgemus« – Wir werden auferstehen!

Nach einem solchen dem richtenden und rächenden Himmel geweihten, in Gebet und Buße verbrachten Leben würden die Toten, die hier von dem Jammer des Daseins ausruhten, einstmals ein seliges Auferstehen feiern.

Ich trat ein.

Vier nackte bleiche Wände, in denen in langen schmalen Nischen die Körper der Frauen eingesargt lagen, die in diesem lebendigen Grabe dem Tode und einem neuen Leben entgegenharrten. Nischen vom Fußboden bis zur Decke empor; alle vier Wände Grüfte von oben bis unten! Welch ein Augenblick der Befreiung, des Glückes, der höchsten Wonne muß es gewesen sein, als alle diese Begrabenen endlich, endlich ihren letzten Seufzer aushauchen durften: »Hosianna, hosianna; denn wir sind vom Leben erlöst!«

Auf den Mauern, die der Mond beschien, vermochte ich mit einiger Mühe die Namen der Bestatteten zu entziffern:

 


 

Serafina de Collepardo, Eremita Camaldoleste; Beata da Tivoli; Angelita da Ferentino; Maria da Poli ...

Die Namen waren mit schwarzer Schrift über dem vermauerten Grabe geschrieben! aber weder das Datum der Geburt noch das des Todes stand daneben verzeichnet. Nur das Alter war angegeben: und – schrecklich, schrecklich! Viele waren alt, uralt geworden: siebzig, achtzig, fünfundachtzig Jahre!

Uralt zu werden in diesem Felsenloch, unter sich einen Abgrund, über sich ein winziges Stück Aethers und in den himmelhohen Mauern einen Spalt als Ein- und Ausgang. Für mich war die Vorstellung eines derartigen Lebens bis in ein Alter von achtzig und mehr Jahren über jede Vorstellung.

In der großen Gruft war die letzte Grabnische ausgefüllt. Der Frische der Inschrift nach zu urteilen, war die letzte Gestorbene jene Schwester Angelika gewesen.

Ob eine Ueberlebende sie bestattet hatte? Ob diese dann als einzige Hüterin des Heiligtums zurückgeblieben war?

Ob die Letzte einsam starb und unbestattet in ihrer Zelle verweste? Ob Grauen vor dem einsamen Tode sie von Sinnen brachte, daß sie sich in den Abgrund zu ihren Füßen warf, ihr Haupt an den Felsen zerschellte? oder ob sie geflohen war, ehe sie in Wahnsinn verfallen?

Wer gab mir Antwort auf diese Fragen?

Und ich ging weiter ...

Durch ein zweites lose in den verrosteten Angeln hängendes Thor gelangte ich in jenen Teil der heiligen Niederlassung, wo die frommen Frauen gelebt hatten: eine jede in einem winzigen Hause, daran das von einer hohen Mauer umfriedete Gärtchen stieß. In dieser tödlichen Einsamkeit hauste eine jede einsam für sich!

In der weißen Gartenmauer ein schwarzes Pförtlein und darüber ein blutrotes Kreuz ...

Jeder Garten war zu einer köstlichen Wildnis geworden, die Wege und Stege überwuchert und von all den leeren Zellen Besitz ergriffen hatte. Ich zählte zwölf Häuslein, zwölf Gärtlein. Hier nun sah ich, von dem unirdischen Schimmer des Mondes umflossen, etwas Wundersames: Es mußte Brauch gewesen sein, daß jede Eremitin in ihrem Garten eine besondere Blumenart zog: nur eine! und nur weiße Blumen! Die eine Schwester pflegte weiße Rosen, die zweite weiße Spiräen. Eine dritte pflanzte weiße Nelken, eine vierte weiße Levkoyen, weiße Verbenen die fünfte. In einem Garten blühten nur weiße Malven, in einem andern ausschließlich weiße Lilien.

Wie in Verzauberung schritt ich von einem blassen Blumengefilde zum andern. Ich mußte mir durch Blüten den Weg bahnen, mußte sie niedertreten. Auch die Hauswände waren einst weiß getüncht gewesen und leuchteten nun im Mondlicht. In dieser bleichen Welt die in weiße wallende Gewänder gehüllten Frauengestalten – der Anblick mußte wie ein Gesang aus Dante gewirkt haben.

Die Blumen hauchten einen schwülen Wohlgeruch aus, den einzuatmen betäubte, so daß meine Stimmung immer traumhafter, immer unirdischer ward.

Gebannt stand ich und schaute zu, wie die weißen Wellen des Mondlichts lautlos, lautlos diese Blüteneilande umrannen.

 

Sechstes Kapitel

Nachdem ich lange Ferdinands Namen vergeblich gerufen, lange umsonst nach ihm gesucht hatte, fand ich den Freund.

Es war noch ein dreizehntes kleines Haus, ein dreizehnter kleiner Garten vorhanden, abseits von den zwölfen wie ein Ausgestoßener, ein Verfemter gelegen.

Diese dreizehnte Klausur umschloß eine eigene Mauer, durch die ich den Eingang nicht gleich zu finden vermochte, da ein Holunderstrauch ihn verbarg.

Holunder, hoch wie Bäume, füllten den inneren Raum. Es hatte den Anschein, als wäre dieser von ihren Gefährtinnen abgesondert hausenden dreizehnten nicht gestattet gewesen, Blumen zu pflanzen und zu pflegen.

Der Holunder stand in voller Blüte. Wie in einem leuchtenden Hain schritt ich dahin. Oft mußte ich mich der Zweige mit beiden Armen erwehren. Eine innere Stimme sagte mir, hier würde ich den Gesuchten finden.

Ich fand ihn! Er lag vor dem Eingang des Hauses, über dessen Dach die weißen Wipfel zusammenschlugen. Das Gesicht gegen den Boden gepreßt, lag er da, daß ich mit einem erstickten Schrei zu ihm stürzte, als könnten die entsetzlichen Erinnerungen, die der Ort für ihn hatte, an der Schwelle des Hauses, wo er vermutlich so Furchtbares erlebte, ihn getötet haben.

Ich kniete neben ihn, richtete seinen Kopf auf, sprach zu ihm, als wäre er ein krankes Kind. Lange schien er mich nicht zu hören, verharrte in halber Bewußtlosigkeit. Aber dann erhob er sich. Er war von Seelenqualen so ermattet, daß ich ihm beistehen mußte aufzustehen, als wäre er ein Schwerkranker. Dabei mußten wir eine Unterkunft für die Nacht haben: denn bei der Beschaffenheit des Weges und dem Zustande meines Freundes war an eine Rückkehr durch die Schlucht nicht zu denken. Also mußten wir bleiben. Ich wollte ihn mit sanfter Gewalt fortführen: aber er wünschte, die Nacht in dem Hause zuzubringen, an dessen Schwelle wir uns befanden.

Da ich im Interesse meines Freundes allen Grund hatte, jedes andre Nachtquartier in den Klostergebäuden der verlassenen Einsiedelei unter den Holunderbäumen vorzuziehen, sagte ich ihm geradeheraus: ich wollte an diesem unheimlichen Orte nicht bleiben! Ueberdies wäre das Gebäude sicher sehr feucht und wir würden uns darin das Fieber zuziehen.

Ferdinand entgegnete: »Damals war es nicht anders. Ich bewohnte es fast einen ganzen Sommer hindurch, lag darin schwer krank.«

Ich rief: »Du siehst, wie recht ich habe! Natürlich mußtest du hier auf den Tod erkranken! Du kannst von Glück sagen, mit einer starken Malaria davongekommen zu sein. Es hätte daraus ebensogut die Perniziosa entstehen und du in dem Mauerloch elend zu Grunde gehen können.«

»Nicht an der Malaria lag ich in dem Hause danieder, sondern an der Wunde, die ich darin erhielt. Es war ein Dolchstich.«

Ich gab möglichst leichthin zur Antwort: »Du sprachst heute schon einmal davon ... Also hier geschah es? Jedenfalls suchen wir uns für die Nacht ein andres Quartier; selbst für den Fall, kein besseres zu finden.«

»Wenn du die schlechte Luft in dem Hause fürchtest, so können wir draußen bleiben.«

»Unter den blühenden Holunderbäumen? Es ist ja ein Duft, der einem den Atem versetzt, um die Besinnung bringt!«

Er wiederum, wie heute schon einmal: »Also geh. Ich bleibe.«

»Aber Ferdinand!«

»Ich bleibe.«

»Da ich dich nicht allein lassen will, dich hier nicht allein lassen darf, so muß ich natürlich auch bleiben. Ich werde morgen ein Kopfweh haben, daß ich mich nicht zu regen vermag. Dann magst du sehen, was mit mir anzufangen.«

Aber er hörte gar nicht auf mich, in ein Brüten versinkend, darüber er meine Gegenwart vollständig zu vergessen schien. Er stand vor der offenen Thür des verlassenen Hauses, starrte vor sich hin und murmelte: »Ob sie mir wohl auch heute nacht erscheinen wird? Ich könnte ihr dann sagen, welches Elend sie über uns brachte, könnte sie zur Rechenschaft ziehen, könnte ihr fluchen ... schade, daß sie ein Geist ist. Wäre sie ein Wesen von Fleisch und Blut, so würde ich sie töten, wie sie unser Kind getötet hat.« ... Plötzlich abbrechend und dann mit leidenschaftlicher Stimme fortfahrend: »Unser holdes Kind habe ich selber getötet!« ... Dann aufschreiend: »Umgebracht habe ich unser Kind!«

Ich trat auf den Aermsten zu, legte meinen Arm um ihn und sagte leise: »Starb jene Person, von der du sprichst, während du hier warst?«

Er stieß hervor: »Wie konnte sie damals erst sterben, da ihr Geist mir ja doch hier erschien: Nacht für Nacht, fast einen vollen Sommer über. Sie wird jetzt bereits über fünfzig Jahre tot sein. Vor dieser Schwelle ward sie begraben.«

Es half und half mir nicht, ich mußte in seine tollen Ideen eingehen.

»Warum ward sie vor diesem Hause begraben und nicht bei den andern gestorbenen Schwestern?«

»In diesem Hause wohnten die großen Büßerinnen. Da sie während ihrer Pönitenz in dem Hause starb, so wurde sie auch getrennt von den übrigen bestattet, in ungeweihter Erde.«

»Also war ihr ihre Schuld, derentwillen sie hier leben mußte, nicht vergeben worden?«

»Nicht vergeben. Darum konnte sie ja eben keine Ruhe finden im Grabe.«

»Aber daß sie gerade dir erschien?«

»Ja, daß sie gerade mir erscheinen mußte ... Es war furchtbar für mich, ein schreckliches Schicksal. Mein ganzes Leben hat sie vernichtet, meines und das meiner Frau. Ich konnte mich jedoch meinem Schicksal nicht entziehen ...«

»Du sagtest, während eines ganzen Sommers bliebst du hier? Also ertrugst du das Entsetzliche einen ganzen Sommer über. Um Gottes willen, warum?«

»Sie ließ mich nicht fort.«

Ich rief: »Du hättest fliehen sollen!«

»Das that ich; aber –«

Er stockte.

»Nun?«

»Aber sie brachte mich wieder zurück.« »Du mußtest wieder herkommen?«

»Ich mußte – es half mir nichts, ich mußte!«

»Wie kamst du überhaupt an diesen verwunschenen Ort, der für dich zu einem verfluchten ward?«

Und da erzählte er mir's.

Vor dem Hause, darin er es erlebt, auf dem Grabe der Toten, die sein Leben zerstört hatte, erzählte er mir die seltsame Geschichte, die ich eine unglaubliche nenne. Er aber glaubte sie, er! Freilich hatte er sie erlebt.

 

Siebentes Kapitel.

Und Ferdinand erzählte:

Bei meinem ersten römischen Aufenthalt auch diese wilden und herrlichen Gegenden durchstreifend, gelangte ich hierher. Welchen Eindruck ich empfing, als ich diese Felsenenge betrat, darin weiter und weiter vordrang, bis an die Pforte des Heiligtums, das hast du heute an dir selber erlebt. Ich fand das Thor verschlossen und zog den Glockenstrang. Ein schriller, wimmernder Ton wurde hörbar, die tiefe Stille so grell durchschneidend, daß es mich kalt überlief. Es war wie eine Vorahnung, Seitdem habe ich mir oft, ach so oft, zugerufen: »Unglücklicher, wenn du damals umgekehrt wärst, als dir die Pforte so lange nicht aufgethan ward!« ... Es war indessen eben mein Schicksal, das dahinter auf mich lauerte und dem ich mich nicht entziehen konnte.

Endlich wurde mir aufgethan....

Als die schwarze Pforte plötzlich knarrend aufging, als unerwartet die weiße Frauengestalt vor mir stand, wußte ich auf einmal wie durch Eingebung: »Hier wirst du dein Schicksal erleben!« Aber ich konnte nicht mehr zurück. Nein! Ich konnte nicht.

Ich fragte die blasse Erscheinung: »Darf ich eintreten?«

»Sie dürfen in die Kirche gehen.«

»Sonst nirgends?«

»Nein.«

»Sind Sie die Schwester Pförtnerin?«

»Ja.« »Es kommen wohl selten Fremde hierher?«

»Niemals.«

»Wie ertragen Sie es hier nur?«

»Sie meinen?«

»Wie vermögen Sie diese mörderische Einsamkeit auszuhalten, ohne darüber allmählich von Sinnen zu kommen?«

»Wir sind Camaldolenserinnen, mein Herr.«

»Ich weiß, Sie sind fromme Einsiedlerinnen. Aber eine Existenz in dieser Felsenwildnis muß ja lebendiger Tod sein!«

»O, das macht nichts.«

Wie die blasse Frau – ihr Gesicht war fast ebenso weiß wie ihr Gewand – das sagte! So gleichmütig, so tonlos, so trostlos. Dabei sprach sie leise, ganz leise, gleichsam mit ersterbender Stimme. Es wäre auch unmöglich gewesen, in dieser Umgebung laut zu reden. Der Ton der eigenen Stimme mußte unheimlich tönen wie Geisterlaut, Erst jetzt ward ich mir bewußt, daß auch ich leise, ganz leise sprach.

»Wenn es also gestattet ist, möchte ich in die Kirche gehen.«

»Gehen Sie.«

»Dürfen Sie mich begleiten?«

»Ich darf Sie führen.«

Da trat ich ein ... Mit einem Ton wie ersticktes Wimmern schlug die Pforte hinter mir zu. Mir war's, als könnte sie niemals wieder für mich aufgethan werden.

 


 

Wir gingen. Ich glaube, ich schlich auf den Zehen, um den Hall meiner eigenen Schritte nicht zu hören. Vor mir her wandelte lautlos, lautlos, die schlanke, blasse Gestalt. Wie gewaltsam nachgezogen, folgte ich.

Um gegen den Bann, der sich meiner mehr und mehr zu bemächtigen drohte, mich zu wehren, begann ich zu reden: »Ich bin sehr durstig. Würden Sie mir später nicht ein Glas Wein geben können?«

»Ja ... vor der Pforte vielleicht!«

Schweigen. Ich mußte mehr erfahren, ich mußte fragen, forschen.

»Also das ist ein Camaldolenserkloster? ... Ich wußte gar nicht, daß es auch Camaldolenserinnen gibt.«

»Nicht viele.« »Aber im Winter sind Sie doch nicht hier?«

»Auch des Winters.«

»Während des Winters müssen Sie hier ja kaum Sonnenschein haben?«

»Viele Monate überhaupt nicht.«

Ich rief aus: »Ohne einen Sonnenstrahl in diesem finstern feuchten Felsengrabe viele Monate!«

»Was thut das?«

Wiederum Stille. Dann begann ich von neuem: »Wie viele fromme Frauen leben hier?«

»Wir sind unsrer zwölf.«

»Dann mag es etwas weniger schrecklich sein: weil Sie das Furchtbare eines solchen Daseins doch miteinander ertragen.«

»Wir kommen nur in der Kirche zusammen.«

»Nur in der Kirche?«

»Beim Gottesdienst und bei den Andachten.«

Ich wiederholte: »Nur in der Kirche zusammen?«

»Sie sind wohl kein Christ?«

»Gewiß bin ich das.«

»Aber kein katholischer Christ?«

»Ich bin Protestant.«

»Protestant ...«

Sie sagte das Wort so sonderbar, daß ich unwillkürlich hinzufügte: »Also für Sie kein Christ, wie es scheint?«

Ich erhielt keine Antwort. Lautlos, lautlos schritt die bleiche Gestalt vor mir her und ich folgte. Ich mußte folgen!

Dann fragte ich weiter: »Da ich kein katholischer Christ bin, darf ich Sie wohl bitten, mir Auskunft zu erteilen, wie Sie nach Ihrer Ordensregel hier leben?«

»Wie?«

»Nun ja.«

»Wir entsagten der Welt und dienen dem Himmel.«

»Jede von Ihnen für sich allein?«

»Jede für sich in ihrer Klausur.«

»Aber die Mahlzeiten?«

»Wir leben für uns allein.«

»Auch bei den Mahlzeiten? Das ganze Jahr über?«

»Nicht das ganze Jahr.«

»Gott sei Dank!«

»Sechsmal im Jahre speisen wir zusammen.« »Dann dürfen Sie also miteinander sprechen, miteinander guter Dinge sein?«

»Bisweilen ist uns bei den gemeinsamen Mahlzeiten das Reden gestattet,«

»Nur bisweilen?«

»Es ist genug für uns.«

»Also müssen Sie fast immer schweigen?«

»Wir beten und halten Andacht.«

Ich rief wieder: »Fast immer schweigen!«

»Was thut das?«

Wir waren inzwischen vor der Kirche angelangt. Doch zauderte ich einzutreten: ich mußte immer noch mehr, immer noch mehr erfahren!

»Wieviel Male des Tages finden Gebet und Andacht statt?«

»Alle zwei Stunden.«

»Auch des Nachts?«

»Des Nachts weniger.«

»Also doch auch während der Nacht?«

»Um Mitternacht begeben wir uns das erste Mal in die Kirche. Um zwei Uhr dürfen wir uns von neuem zur Ruhe legen bis vier Uhr.«

»Dann nicht mehr?«

»Nein.«

»Sie Armen!«

»Sie meinen: Wir Glücklichen. Sie haben recht, wir sind sehr glücklich. Der Herr erleuchte und erlöse Sie.«

Wiederum der seltsame Ton ...

Ich stand vor der Kirchenthür, kämpfte mit mir, wollte nicht eintreten, wollte zurück und gleich fort, hörte sie sagen: »Gehen Sie nur hinein. Den Wein werde ich Ihnen später bringen: vor die Klosterpforte oder auch hierher.«

Ich versuchte einen Scherz: »Trotzdem ich für Sie kein Christ bin, wollen Sie christlich meinen Durst löschen?«

»Der Herr wird Sie erleuchten.«

»Wodurch?«

»Durch ein Wunder, wenn es sein muß.«

»Sie meinen: Es müßte erst ein Wunder geschehen, um mich zu einem Christen zu machen?«

»Ich werde für Sie beten.«

»Ich danke Ihnen ... Wie heißen Sie?«

»Ich bin die Schwester Angelika da Collepardo.« »Gute Schwester Angelika, auch ich will für Sie den Himmel bitten,«

»Für mich?«

»Möchten Sie bald von diesem Leben erlöst sein.«

»Wir sind hier glücklich, sagte ich Ihnen.«

Und lautlos, lautlos glitt sie die Stufen hinab, mich allein lassend. Aber ihr erstorbener Blick und ihre erloschene Stimme blieben bei mir.

 

Achtes Kapitel

Ich trat in die Kirche, sah mich darin flüchtig um, wollte mich auf eine Bank sehen, um Körper und Seele auszuruhen; denn dieses Haus des Heiligen in der Wildnis und das Leben der armen Priesterinnen, dieser Fanatikerinnen und Märtyrerinnen, griff mir ans Herz. Fort und fort versuchte ich mir vorzustellen, welche Schicksale dazu gehörten, um einen Menschen in ein solches Asyl sich flüchten zu lassen, an einen Zufluchtsort, dessen Schrecken für mich über alle Vorstellung waren.

Zufällig fiel mein Blick auf das Altargemälde und sogleich wurde ich meinen Grübeleien entrissen, fühlte mich sogleich mächtig angezogen. Ich erhob mich, trat hin, stand wie gebannt, schaute und schaute, vermochte mich nach langem Anschauen nur gewaltsam von dem Bilde zu trennen.

Was es vorstellte, war ein zu tausend Malen variiertes Lieblingsthema christlich-katholischer Kirchenmalerei: Dem gekreuzigten Gottessohne wird ein Menschenherz dargebracht! Hier nun, in dem Kloster der Camaldolenserinnen, war es eine junge Nonne, die dem Herrn in Gestalt ihres blutenden Herzens ihr ganzes Sein zu Füßen legte.

Sofort war zu ernennen, daß der Künstler – das Gemälde schien aus der Mitte des Jahrhunderts zu sein, nach einem Modell gearbeitet hatte! denn das Gesicht der jungen Camaldolenserin trug Züge von solcher Individualität, wie es mir bei derartigen symbolischen Darstellungen eines mystischen Vorgangs bis dahin noch niemals vorgekommen war. Aber gerade dieses Allerpersönlichste gab dem Bilde einen unwiderstehlichen, für mich geradezu magischen Reiz. Zugleich begriff ich nicht, wie man dieses Porträt in der Kirche hatte aufhängen, dasselbe zum Altargemälde erheben können; wie man, da das Unbegreifliche einmal geschehen war, es nicht sehr bald wieder entfernt, tief verborgen gehalten, es womöglich zerstört hatte.

Denn diese anbetende, dem Himmel geweihte Camaldolenserin brachte ihr Herz dem Herrn nicht freiwillig zum Opfer dar. In jeder Miene ihres schönen todblassen Gesichtes, in jeder Bewegung ihrer mädchenhaft zarten Gestalt war der Zwang zu erkennen, der sie vor dem Gottessohn auf die Kniee niederzog. Und zu erkennen war, daß sie gegen die Gewalt, die ihrer Seele angethan wurde, sich wehrte, dagegen mit jedem Gedanken, jedem Empfinden sich auflehnte, sich empörte. Nur bezwungen sank sie dem Auferstandenen zu Füßen, eine Besiegte, eine Unterworfene.

Aber sie unterwarf sich mit Zorn, hassend die himmlische Hand, die sie niedergestreckt. Das Herz, das sie darbrachte, blutete von den Todeswunden, die es in dem grimmigen Kampfe davontrug. Der Künstler hatte sie dargestellt als eine Gefangene, von unsichtbaren Fesseln umschmiedet, die ihren Nacken ihrer priesterlichen Devotion beugten. Auf den Knieen liegend, das Antlitz aufgehoben, in den emporgestreckten Händen das Herz haltend, sagte sie mit einem erstickten Aufschrei dem Heiland ins Antlitz: »Hier liege ich vor dir im Staube, dem Zwange gehorchend und mit Widerwillen dir dienend. Jawohl, mit Widerwillen! Würde ich nicht geknechtet, wäre ich frei, so würde ich aufstehen, mich von dir wenden und hinausschreiten, wo die himmlische Sonne leuchtet, die duftenden Rosen glühen und im Schatten blühender Myrtenbäume der Geliebte meiner harrt, dem sie mich entrissen haben, um mich dir zu eigen zu geben – durch Gewalt! Aber hüte, o hüte dich! denn ich werde dir eine treulose Braut, eine schlechte Dienerin, eine falsche Priesterin sein.«

Solche unchristliche, gegen den Himmel sich auflehnende Empfindungen hatte der Künstler in seiner Frauengestalt ausdrücken wollen und seine Absicht war ihm gelungen. Dabei war die dem Herrn Geopferte noch ein blutjunges Geschöpf. Lichtes gelöstes Haar umfloß die knieende Gestalt, neben der eine Schere lag, als Zeichen, daß sie außer ihrem Herzen auch ihre Jugend, ihre Schönheit und Lebensfreude dem Himmel darbringen würde. Ich mußte mir immerfort vorstellen, mit welcher Gebärde, welchem Antlitz sie ihr leuchtendes Haupt unter das grausame Schermesser der Askese gebeugt hatte.

Christus war abgebildet als stehend vor der Camaldolenserin. Auch der Heiland schien mir seltsamerweise Porträtzüge zu tragen: die Züge eines schönen, leidenschaftlichen Menschen, der die Macht besaß, ein junges, stolzes Weib zu seinen Füßen niederzudrücken. In voller Ruhe stand er vor der Niedergesunkenen, auf die durch ihn Bezwungene mit der Miene eines Triumphators herabschauend. Ob er je seine Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu sich emporzuziehen? Ob er ihr je verzieh, daß er sie sich erst unterwerfen mußte, ihr jemals nur gestattete, aufzustehen und sich von dannen zu schleichen?

Die beiden Einsamen, der Gott und seine Dienerin, befanden sich inmitten einer geradezu trostlosen Felsenöde, darin leicht die Schlucht zu erkennen war, in der das Haus Sankt Romualds lag. Ein bleicher, unirdischer Schein ergoß sich sowohl über die wilde Landschaft wie über die beiden Gestalten, was um so mystischer wirkte, da auch der Auferstandene ein lichtes Gewand trug. Darauf waren von dem aus der Brust der Camaldolenserin gerissenen und dem Herrn dargebrachten Herzen Blutstropfen gefallen.

Der Vorgang, der auf mich den Eindruck der letzten Scene einer Tragödie machte, war mit einer kühnen, einer genialen Hand auf die Leinwand geworfen. Der Künstler schien noch sehr jung gewesen zu sein und etwas durchaus Persönliches dargestellt zu haben, mit einer Seele noch ganz durchglüht von dem Empfundenen und Erlebten, in jedem Nerv davon noch erzitternd.

Wer war der Künstler gewesen? Wer das Modell seines Gottes, seiner Camaldolenserin? Was war mit den beiden geschehen? Wie hatte es geschehen können, wenn das Urbild der Opfernden bereits eine Nonne gewesen?

Ja, und wo war das Bildnis entstanden? ... An Ort und Stelle? An diesem Ort? Wann?

Ich stand, betrachtete, fühlte mich mehr und mehr angezogen, tiefer und tiefer von einem dunklen Etwas ergriffen, das aus dem seltsamen Gemälde zu mir sprach, mich wie mit einem Zauber umstrickte.

Das Bild hatte eine Geschichte, eine tragische, eine unselige Geschichte, die ich erfahren mußte. »Herr!«

Die erloschene Stimme der Schwester Pförtnerin weckte mich aus meinem Brüten. Durch alles Erlebte war ich in solche Erregung versetzt, daß ich erschreckt zusammenfuhr, als plötzlich dicht neben mir eine Menschenstimme ertönte – diese Menschenstimme!

»Herr!«

»Sie sind es ... Ich blieb gewiß zu lange aus?«

»Ihr Wein steht draußen für Sie bereit.«

»Danke ... Wie es scheint, haben Sie hier keine Fremdenherberge? Bis jetzt traf ich nämlich in jedem Kloster eine solche; selbst bei dem Orden der Eremiten.«

»Da zu uns keine Fremden kommen, so gibt es für solche bei uns keine Unterkunft.«

»Nun ja. Aber wenn Sie hier auch niemals Fremde sehen, so kommen doch bisweilen gewiß die Angehörigen der Klosterfrauen?«

»Zu uns kommen keine Angehörigen.«

»Niemals eine Mutter, ein Bruder, eine Schwester?«

»Niemals.«

Und sie setzte gewiß im Geiste hinzu: »Was thut das?«

Ich fragte: »Demnach könnte ich unmöglich einige Tage hier bleiben?«

»Einige Tage bleiben? ... Sie? Bei uns? ... Unmöglich ... Sie wollten einige Tage hier bleiben?«

»Das verstehen Sie nicht?«

Sie überhörte meine Frage.

»Weswegen wollten Sie bleiben?«

»Um jenes Bild zu kopieren, wenn es mir gestattet werden sollte.«

»Sie sind Künstler?«

»Ja, Und ich möchte für mein Leben gern jenes Gemälde kopieren.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Es ist ein seltsames Bild.«

»Wirklich?«

»Finden Sie nicht?«

»Ich sehe es mir nicht daraufhin an, ob es ein seltsames Bild sei, wie Sie es nennen,«

»Wen stellt es vor?«

»Wen?«

»Den Heiland und eine Camaldolenserin, ich weiß ... Aber ist nicht bekannt, ob der Maler eine bestimmte Persönlichkeit abbildete?«

»Ueber das Bild ist nichts bekannt.«

»Wissen Sie das genau?«

»Was sollte darüber bekannt sein?«

»Je nun ...«

»Es ist eben da; weiter wissen wir nichts davon.«

»So wird es sein.«

»Sie meinen?«

»Das Bild ist eben da und damit ist es gut.«

»Herr, Ihr Wein.«

»Ich komme.«

Ich folgte der Mahnerin, die, ehe sie die Kirche verließ, niederkniete und den Boden des Heiligtums inbrünstig küßte. Draußen ließ sie mich dann sofort allein.

Nicht vor der Klosterpforte, sondern auf der obersten Stufe der Kirchentreppe war für mich eine Labung bereit gestellt: ein mit einer trüben Flüssigkeit gefülltes Thongefäß und ein Stück grauen Brotes. Ich setzte mich, aß und trank.

Trotz meines heftigen Durstes fand ich den Wein ungenießbar und das Brot steinhart. Vor mir hatte ich die weiße Klostermauer mit der schwarzen Pforte, dem blutroten Kreuz, dahinter die kahlen, fahlen Felswände aufragten: Ueber mir schwamm ein von bleichem Sciroccodunst überzogenes Stück Himmel. Es war ein solch kleines, ein solch winziges Stück! Aber ich dachte nicht mehr an die schauervolle, fromme Klausur in der Felsenenge: nicht mehr an das Schicksal der darin Eingekerkerten – immerfort dachte ich an das Altargemälde: an den Künstler, der es geschaffen, an die Person, die darauf dargestellt; dachte immerfort nur an die Geschichte des Bildes.

Ich konnte an nichts andres mehr denken!

Plötzlich Glockengeläut.

Ueber mir schwebten die Töne durch die schwere, schwüle Mittagsluft: Langsam, langsam; fort und fort der nämliche, laute, harte, erbarmungslose Ton des klingenden Metalls. Wie mußte das sein, diesen einen Ton Tag für Tag, Nacht für Nacht zu hören? Immer den nämlichen Ton, Jahr für Jahr, viele Jahre! So viele Jahre, daß man bei dem Ton uralt werden konnte. Und während eines uralten Lebens als einzige Stimme des Lebens beständig dieser eine laute, harte, erbarmungslose Glockenschlag ... Während des Geläutes erschienen die Nonnen, um sich in die Kirche zu begeben. Von meiner hohen Treppenstufe aus, durch eine Mauer von ihnen geschieden, konnte ich sie kommen sehen, in Wahrheit Erscheinungen gleich.

In jenem innersten Klosterbezirk, auf den ich hinabsah, erblickte ich zwei Reihen kleiner weißer Häuser, jedes Haus in einem Gefilde weißer Blüten gelegen, das eine hohe Mauer umschloß. Bei dem Glockenton schien die Wand sich zu öffnen, eine weiße Gestalt nach der andren trat daraus hervor und schritt, das gesenkte Haupt von einer Kapuze verhüllt, langsam, langsam, lautlos, lautlos, zur Kirche.

Alle die lichten Frauen bei dem leichenfarbenen Schein des Sciroccohimmels in gespenstischer Stille dem Gotteshaus zuwallen zu sehen, wie hingezogen von dem Glockenton, – du kennst jetzt den Ort, du kannst dir's jetzt vorstellen. Es war eine Geisterprozession am hellen Tag!

Von keiner Nonne sah ich das Gesicht. Nur an ihren Gestalten, an Gang und Haltung erriet ich, ob sie jung oder alt waren. Es schienen darunter blutjunge und – uralte zu sein.

Sie mußten mich droben auf der Treppe gewahren; aber nicht bei einer einzigen, auch nicht bei den jungen verriet mir irgend ein Zeichen, daß sie mich überhaupt nur sahen. Und doch kam niemals, niemals ein Fremder zu ihnen! Das Geläut hörte auf, Sommermittagsstille ruhte über dem Ort, Aber bald wurde das feierliche Schweigen von neuem gestört.

In der Kirche sangen sie. Es war ein Chor von Frauenstimmen, so dumpf, so voll stumpfer Trauer, voll todmüder Klage, daß die Töne nicht aus Menschenmund zu dringen schienen. Regungslos dastehend und lauschend, packte mich auf einmal eine Angst vor diesem lebendigen Tode, eine Sehnsucht nach dem Leben mit seinem Glanz und seiner Freude, daß ich's nicht länger ertrug. Ich legte meine Spende auf die Stufe, eilte die Treppe hinunter, fand an der Pforte keine Hüterin, öffnete mir selbst und entwich.

 

Neuntes Kapitel

Du wirst nun hören wollen, wie es geschah, daß ich doch wiederkam, wie es geschehen konnte.

Beständig mußte ich an das Bild denken: an das Antlitz der jungen Nonne, die dem Herrn voller Zorn und Haß ihr blutendes Herz darbrachte. An die beiden einsamen weißen Gestalten in der Felsenwüste unter dem bleichen Sciroccohimmel ... Denken mußte ich beständig an ihre Geschichte. Aber auch künstlerisch beschäftigte mich das geheimnisvolle Gemälde unausgesetzt. Ich würde es nicht minder eifrig, nicht minder begeistert kopiert haben als einen Tizian oder Giorgione.

Ich nächtigte in dem nächsten Hirtendorfe, wo ich, wie du dir denken kannst, nicht unterließ, nach dem Kloster und seinen frommen Bewohnerinnen zu forschen. Bei der Apathie des hiesigen Landvolks gegen alles, was nicht »Quattrini« sind, war darüber nicht viel zu erfahren ... Das Kloster war überaus arm, vermochte daher nicht viel Almosen zu geben. Wer würde auch in die Wildnis gehen, um sich einen Teller schlechter Klostersuppe zu holen? Bisweilen kam ein hungriger Hirt oder verfolgter Bandit bis an die schwarze Pforte unter dem blutroten Kreuz. Was die Klosterfrauen für ihren Lebensunterhalt brauchten: Mehl und Salz, Oel und Wein, sowie ein Säcklein Holzkohlen, wurde ihnen von jenem Hirtendorf aus jede Woche durch einen Knaben auf einem Maulesel zugeführt. Im Winter traf zu hohen Feiertagen aus Rom ein Korb Fische für sie ein. Bisweilen konnte der Bube den Nonnen die Sachen nicht bringen: denn bei Sturm war der Felsenpfad gefährlich zu passieren: Mensch und Tier standen in Gefahr, vom Orkan in die Tiefe gerissen zu werden! Alsdann waren die Frauen von der Welt gänzlich abgeschnitten. Es ereignete sich sogar bisweilen, daß sie einschneiten.

Am 19. Juni war das Fest ihres Heiligen. Dann schmückten sie die Kirche herrlich mit Blumen, die sämtlich schneeweiß waren und die sie in ihren Gärten in Mengen zogen. Von weit her kamen die Landleute herbeigeströmt. Am Rande der Schlucht lagerten sie, ruhten aus, entzündeten Wachskerzen, wallfahrteten mit den brennenden Lichtern unter Gesängen und lauten Gebeten den Felsenpfad in die Kirche, wo sie die Kerzen opferten, Andacht verrichteten, ein Scherflein zurückließen und wieder von dannen zogen. Die meisten Pilger nächtigten am Rande der Schlucht neben großen Feuern. Von ihrem Lagerplatz aus sahen sie zu, wie die Nonnen ihre Kirche erleuchteten und zu Ehren ihres lieben Heiligen ein kleines Feuerwerk abbrannten. Um ein solches von ihrem Vermögen beschaffen zu können, hatten sie vielleicht durch lange Monate Hunger gelitten. Es waren eben heilige Frauen!

Am nächsten Morgen war mein Entschluß gefaßt. Ich kaufte in dem elenden Nest Lebensmittel ein – Ziegenkäse, Brot und einige Eier war alles, was ich auftreiben konnte, ließ mir die Eier senden, packte die Fourage zu meinem Malgerät, sagte meinem Wirt, ich würde zur Nacht wiederkommen und machte mich auf den Weg, mir vornehmend, den nächsten Morgen schon bei Tagesgrauen auszuziehen – wenn mir wirklich gestattet werden sollte, das Bild zu kopieren. Der heutige Tag sollte einem Versuch geopfert werden, auf dessen gänzliches Mißglücken ich nur zu sehr gefaßt war.

Jedenfalls mußte er einmal gethan werden. Ich hätte sonst immer und immer an das Bild denken müssen, mir immer und immer Vorwürfe gemacht, den Versuch unterlassen zu haben. Das Gemälde kopierend, hoffte ich dadurch von dem Zauber, den es auf mich ausübte, mich zu befreien.

Nach zwei Stunden beschwerlichen Wanderns befand ich mich wiederum unter dem roten Kreuz vor der schwarzen Klosterpforte, zog ich wiederum den Glockenstrang, vernahm wiederum jenen schrillen, wimmernden, durch Mark und Bein dringenden Ton.

 


 

Ich glaubte, meine gute Bekannte, die Pförtnerin, würde über meine Rückkunft wenigstens ein schwaches Zeichen von Erstaunen geben. Aber nein! In ihrem weißen, unbewegten Gesicht änderte sich keine Miene. Ihr Blick blieb gleich leer, ihre Stimme verriet nicht durch den leisesten Ton ein Befremden, als sie, aufschließend, mich vor sich sah und wie einen gänzlich Fremden mich fragte: »Sie wünschen?«

»Ich möchte die Frau Oberin sprechen.«

»Unmöglich, mein Herr.« »Weswegen unmöglich?«

»Wir haben kein Sprechzimmer, da wir hier niemals Fremde sehen.«

Um sie an unsre alte Bekanntschaft zu erinnern, antwortete ich: »Das sagten Sie mir schon gestern, gute Schwester Angelika,«

Aber fremd wie zuvor wiederholte sie: »Wir sehen hier niemals Fremde; also können Sie die ehrwürdige Frau Oberin nicht sprechen.«

»Auch nicht hier an der Pforte?«

»Auch hier nicht.«

»Dann bitte ich Sie, der ehrwürdigen Frau Oberin mein Anliegen vorzutragen und mich die Antwort in der Kirche erwarten zu lassen.«

»Was wünschen Sie?«

»Ich bin Maler und möchte die Erlaubnis erhalten, das Altarbild in der Kirche zu kopieren; da der Eintritt in die Kirche gestattet ist, wird man mir darin gewiß nicht den Aufenthalt verweigern. Ich werde durch meine Gegenwart niemand belästigen.«

»Sind Sie Katholik?«

Da sie mich fragte, als wüßte sie's nicht, so entgegnete ich: »Ich bin Protestant.«

»Und dann wollen Sie in einer katholischen Kirche ein Altarbild abmalen?«

»Da ich zugleich Künstler bin ...« und ich setzte unwillkürlich hinzu: »Vielleicht, daß der Herr mich erleuchtet.«

»Vielleicht.«

»Wollten Sie also der Frau Oberin mein Gesuch vortragen?«

»Warten Sie!«

»In der Kirche?«

»Hier draußen.«

Sie wollte gehen. Da sagte ich noch: »Ein deutscher Künstler läßt die ehrwürdige Frau Oberin recht dringlich bitten.«

Die schwarze Thür fiel vor mir ins Schloß. Ich stand allein unter dem hohen Kreuz, das die Farbe des an ihm geflossenen göttlichen Blutes hatte. Im Abgrund, dicht an meiner Seite, rauschte der Bergbach. Wie ersticktes Schluchzen drang es aus der schwarzen Tiefe zu mir herauf.

 


 

Lange Zeit mußte ich vor der verschlossenen Pforte warten; eine Stunde und noch länger. Es hätte mir zu lange dauern und ich hätte umkehren sollen. Aber es hielt mich wie gefesselt, wie mit mystischen Banden an die Stätte gebunden. Also blieb ich.

Endlich erhielt ich Bescheid. Er lautete: »Sie dürfen eintreten, dürfen das Gemälde kopieren: solange Sie sich in dem Gotteshaus für niemand störend verhalten. Bis zum Aveläuten müssen Sie sich jedoch entfernt haben.«

»Ich lasse der ehrwürdigen Mutter Oberin danken. Niemand soll von mir einen lauten Ton zu hören bekommen, soll über mich eine Klage führen dürfen und bis zu der mir bewilligten Stunde will ich fort sein.«

»Ich soll Ihnen Wein vorsetzen, so oft Sie dessen bedürfen. Auch eine Suppe können Sie durch mich erhalten und vor der Kirche oder hier draußen verzehren. Aber unsre Gastfreundschaft ist nur eine geringe und armselige.«

»Jedenfalls ist die Güte groß, mit der sie mir angeboten ward. Ich nehme sie mit warmer Dankbarkeit an, wenn mir gestattet wird, dagegen ein Almosen für die Armen zu hinterlegen.«

»Den Armen zu geben, ist keinem verwehrt.«

»Also darf ich bleiben?«

»Treten Sie ein.«

Und ich trat ein ...

 

Zehntes Kapitel

Meine Arbeit war nicht leicht. Jeden Morgen einen beschwerlichen Weg von zwei Stunden, den ich, teils der bald beginnenden Hitze, teils der drängenden Zeit wegen, in aller Herrgottsfrühe zurücklegen mußte; dann eine fieberhafte Thätigkeit, nur unterbrochen, wenn ich vor der Kirchenthür eine hastige Mahlzeit einnahm: Einen Teller Fastensuppe; dazu ein Glas jenes abscheulichen Weines und ein Stück grauen steinharten Brotes. Darauf von neuem heiße Arbeit, bis die mir bestimmte Stunde und die späte Tageszeit mich forttrieben, den weiten, mühseligen Weg wieder zurück. Abends sättigte mich freilich ein am offenen Feuer bereiteter Ziegen- oder Lammbraten zur Genüge: aber das Nachtlager in der von Schmutz starrenden höhlenartigen Hirtenhütte war schwer zu ertragen. Ein Glück, daß ich im Morgengrauen aufstehen und nach einem Trunk frischer Ziegenmilch fort mußte.

Trotzdem bereute ich keinen Augenblick, so viele Mühseligkeiten und manche Entbehrungen auf mich genommen zu haben; denn mehr und mehr beschäftigte mich die Arbeit an meiner Kopie. Es war jedoch das Malerische: die Kühnheit der Zeichnung, die Leuchtkraft des Kolorits, die Genialität des gesamten Könnens, was jetzt meine leidenschaftliche Teilnahme an dem Gemälde erregte.

Saß ich in der Kirche vor meiner Staffelei – ich hatte zum Glück das denkbar günstigste Licht, so hörte ich zu bestimmten Zeiten über mir das dumpfe Glockengeläut, sah ich hinter dem Altar die Nonnen in den Chor treten: eine nach der andern. Mir war's, als schlichen sie in das Haus ihres Heiligen, als schleppten sie ihre todmüde Seele zu ihm, als brächte jede in beiden Händen ihr blutendes Herz zum Herrn und Heiland getragen. Wenn sie dann ihre Gebete begannen, ihre Gesänge anstimmten, so mußte ich mir zu den matten Stimmen die Gesichter vorstellen. Gewiß hatte eine jede solche weiße regungslose Züge, solchen leeren erloschenen Blick wie Schwester Angelika, die durch ihr Pförtneramt nicht einmal zu den Einsamsten und Weltabgeschiedensten zählte.

Konnte ich meine Arbeit nur irgendwie unterbrechen, so begab ich mich bei den ersten Glockentönen hinaus auf die Kirchentreppe, um die weißen Gestalten eine nach der andern aus ihren weißen Häusern treten und der Kirche zuwallen zu sehen. Ich brauchte nicht zu befürchten, die heiligen Frauen durch meinen Anblick zu stören: denn hinter ihren weit vorgezogenen Kapuzen gewahrten sie nichts Irdisches, wollten sie von der Welt nichts gewahren. Sie hielten die Augen zu Boden gesenkt, schauten nie auf: nicht ein einziges Mal!

Höchst unerwarteterweise erhielt ich eines Tages, nachdem ich etwas über eine Woche kopiert hatte, eine Mitteilung, die meine mühseligen Hin- und Herwege plötzlich aufhob.

Als ich eines Mittags meine Klosterkost verzehrte, trat Schwester Angelika zu mir, was bis dahin niemals geschehen war.

»Unsre ehrwürdige Mutter Oberin läßt sich erkundigen, wie lange Sie noch in der Kirche zu kopieren haben.«

Ich fragte: »Benahm ich mich störend, werde ich fortgeschickt?«

»Sollten Sie noch längere Zeit malen müssen, so könnten Sie, wenn Sie wollen, hier eine Unterkunft finden.«

»Im Kloster?«

»Ich soll Sie fragen.«

Freudig überrascht rief ich: »Die Frau Oberin ist wirklich sehr gütig! Der weite Weg morgens und abends erschwert meine Arbeit sehr. Aber wo könnte mir hier eine Unterkunft gewährt werden?«

»Mir ward geboten, sie Ihnen zu zeigen.«

»Danke, danke!«

»Kommen Sie!«

Auf das Aeußerste gespannt, folge ich der Schwester ... Zwischen den hohen Wänden, welche die Häuser und Gärten der Nonnen umschlossen – ich zählte deren zwölf, und der äußeren Klostermauer befand sich ein schmaler Gang, der selten betreten zu werden schien, denn Gras und Unkraut führten hier ein ersprießliches Dasein. Auf diesem verwachsenen Pfade umschritten wir die innerste Klausur, gelangten auf einen kleinen, ebenfalls vollständig überwucherten Platz und zu einer Mauer, die blühender Holunder überragte. Allein der Duft war für mich ein Heimatsgruß.

Die Mauer zog sich um dasjenige Haus, das mir von Schwester Angelika als Wohnung angewiesen ward, wo ich einziehen konnte und zwar, wenn ich wollte, sogleich.

Bevor ich das kleine Haus – es hatte keinen Garten, nur die Holunderbäume, besichtigte, erkundigte ich mich nach dem Grunde seiner Isolierung und sichtlichen Verwahrlosung.

»Gehört das Haus nicht mehr zum Kloster?«

»Gewiß.«

»Und dann darf ich es doch bewohnen?«

»Es liegt außerhalb der Klausur. Wenigstens jetzt.«

»Also diente es früher auch einer Schwester zum Aufenthalt?«

»Zu Zeiten.«

»Weshalb nur zu Zeiten?« »Das Haus enthielt früher die Strafzelle.«

»Oh ... Sie sagten: ›enthielt früher‹. Also befindet sich die Strafzelle jetzt an einem andern Ort?«

»Hinter dem Kirchenchor.«

»Darf ich fragen, aus welcher Ursache das Haus jetzt nicht mehr zu seinem ursprünglichen Zweck benutzt wird?«

»Sie fragen viel.«

»Wurde das Haus etwa wegen Malaria verlassen?«

»Dann würde es Ihnen die ehrwürdige Frau Oberin nicht zum Bewohnen anbieten lassen.«

»Sie haben recht. Verzeihen Sie.«

»Wollen Sie das Haus ansehen?«

»Gern.«

»So thun Sie's.«

»Sie begleiten mich nicht?«

»Ich warte hier.«

Also ging ich allein weiter ... Durch einen kleinen, verwilderten Hof, darin der liebe deutsche Holunder wuchs, trat ich vor das Haus, dessen Thür damals wie heute weit offen stand. Mein erster Blick fiel auf einen langen schmalen Stein, der vor dem Eingang in den Boden eingelassen war und der unter dem Kreuzeszeichen folgende Inschrift trug: »Schwester Maddalena da Padua. Alter 20 Jahre. Der Herr sei der Sünderin gnädig.«

Du kannst die Inschrift selbst lesen.

 

Elftes Kapitel

Aus dem Freien trat ich in den Raum, der der Büßerin als Aufenthalt diente. Er empfing sein Licht durch die Thür. War diese verschlossen, mußte die Kammer einem fensterlosen Gewölbe gleichen. Ich entdeckte in der hinteren Wand eine kleine Oeffnung, mit Brettern schlecht verschlossen. Vielleicht ward ehedem durch dieselbe der jeweiligen Bewohnerin der Zelle die Nahrung gereicht. Aus der Kammer führte es unmittelbar in eine kleine Kapelle. Sie war gleichfalls fensterlos, also gleichfalls vollständig lichtlos. Das Haus enthielt nur diese beiden Gelasse.

In der Kapelle stand noch der Altar und ein Betschemel; in der Zelle befand sich noch die Bettstatt. Sie war hoch vom Boden aufgemauert und lag der Hausthür gerade gegenüber, unter jener jetzt verschlossenen Oeffnung. Aufgeschüttetes Laub mochte das Lager gewesen sein.

Ich wollte die Gastfreundschaft des Klosters annehmen, wollte ein Bewohner des verlassenen Hauses werden!

Etwas unheimlich war mir freilich gleich zu Mute; aber daran trug meine lebhafte Einbildung Schuld. Sie zeigte mir beständig das verlassene Gebäude in seiner ehemaligen Bestimmung, alle die Büßerinnen, die zur Strafe ihrer Sünden hier eingekerkert waren. Zu welcher Strafe, für welche Schuld?

Und welches Menschenleid war hier zum Himmel aufgeschrieen worden, aufgeschrieen zu einem allgütigen, allverzeihenden Gott! Welche Seufzer, welches Schluchzen, welche Wehelaute hatten diese Mauern vernommen? Welche Bekenntnisse wurden hier dem Himmel gethan, Angstschweiß und Thränen, vom Geißelstrang niederrinnendes Blut hatten diese Stätte des Lebens ganzem Jammer geweiht.

Dennoch wollte ich kommen!

Der heimatliche Holunder duftete gar so süß, in seinen Zweigen rauschte es gar so sanft! Der heimatliche Holunder trug die Schuld, daß ich von dieser Schwelle nicht schaudernd zurückwich, als hätte ich darüber das Haupt der Medusa als Hüterin und Genius des Ortes schweben erblickt.

 


 

Ich begab mich an jenem Tage noch einmal in das Hirtendorf, packte meine Siebensachen, kaufte an Lebensmitteln ein, so viel es davon einzukaufen gab, zahlte meinem Wirt, nahm Abschied und lud am nächsten Morgen mein Eigentum auf den Rücken eines Maultiers, das Klosterbesitz war und das mir die guten Frauen zu jenem Zwecke überlassen hatten.

Ich glaube, die ganze Dorfbevölkerung hielt mich für einen Wahnsinnigen. Denn wer sich aus freien Stücken, obenein zum Vergnügen, an einen Ort begab, der sogar für die Bewohner der wilden Sabina als schauervoll galt, der konnte unmöglich recht bei Vernunft sein: › Ma chè volete? E Inglese!

Das Maultier, das meine gesamte Habe auf seinem Rücken davontrug, gehörte zum schönen Geschlecht und hieß Checca; Checco aber war der wohllautende Name des Jünglings, der gewöhnlich den Mulo und heute mich zum Kloster führte, Checca blieb zur Sättigung ihres Appetits bei jedem elenden Dornengestrüpp am Wege stehen und Checco wollte zur Bereicherung seiner Kenntnisse von mir erfahren, ob die Deutschen in Amerika wohnten und bisweilen Appetit auf Menschenfleisch verspürten. Während Checca ihren Heißhunger an Dornen befriedigte, versuchte ich Checcos Wissensdurst zu stillen: und so gelangten wir drei im besten Einvernehmen unter das rote Kreuz und an die schwarze Klosterpforte, durch die Checca gewöhnlich allein einzog, während dem Knaben Checco, wenn er nicht in der Kirche beten wollte, an dieser Stelle Halt geboten ward. Heute durften mich die beiden auf dem schmalen verwachsenen Wege zwischen den Mauern zu dem ehemaligen Hause der Sünder und Sünderinnen geleiten.

Ich fand das Haus gesäubert und in der Zelle, darin die Schwester Maddalena gebüßt hatte und gestorben war, das ausgemauerte Lager mit frischen trockenen Kräutern und reinlichen Decken gut bestellt. Auch für Tisch und Stuhl war Sorge getragen, und den Altar in der ehemaligen stockfinsteren Kapelle hatte eine fromme Frauenhand mit den herrlichsten Blumen hoch überschüttet! Lilien und Levkojen, Nelken und Rosen, Malven und Margueriten, alle Blumen schneeweiß! Dazu leuchtete draußen die Holunderblüte, Hof und Haus mit Heimatsduft füllend.

In weniger als einer Stunde war ich häuslich eingerichtet und konnte mich nun als »Ferdinando da Monaco, Eremite Camaldolese« und als eine sehr würdige Persönlichkeit fühlen. Es war jedenfalls Romantik genug und mehr als genug.

Schwester Angelika teilte mir mit: ich müßte mir die beiden Mahlzeiten, die mir im Kloster bereitet werden konnten, zur bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort selbst holen. Die Zeiten waren vormittags um halb Zwölf und abends um halb Acht; und die Stelle, wo mir von Schwester Angelika die Speisen übergeben wurden, befand sich am Anfang jenes Pfades, der zu meiner Einsiedelei führte. Ich hatte um Erlaubnis gebeten, täglich für meinen Bedarf aufkommen zu dürfen, und dafür eine möglichst hohe Summe angesetzt. Ich durfte zahlen: aber nicht mehr als der dritte Teil der kleinen Summe, die ich den guten Frauen so gern zugewendet hätte, wurde angenommen. Es dämmerte bereits, als ich das erste Mal bei meinem einsamen Mahl saß. Als echter Deutscher hatte ich meinen Tisch hinausgetragen und befand mich nun unter den Holunderbäumen wie in einer dichten Laube. Dicht vor mir befand sich der Grabstein jener Maddalena da Padua, deren Schuld so groß und deren Buße so gering gewesen sein mußte, daß ihr sogar nach ihrem Tode noch eine einsame Strafzelle angewiesen worden war, fernab von ihren weniger schuldbeladenen und mehr durch Sühne verklärten Schwestern in Christo: Dabei war sie jung gewesen: erst zwanzig Jahre!

Welch ein Leben, welch ein Sterben! ... Jetzt teilte ich mit ihrem toten, längst vermoderten Leib die Wohnstätte: nur daß sie kühler gebettet lag als ich.

Wann mochte sie in diesem Hause gestorben sein? Keine Zahl nannte einen Jahrestag. Wie mochte sie gestorben sein? Nach langen Leiden, die vielleicht Qualen waren? Lag sie hier schwer krank, wurde sie gepflegt, berührte sie eine sanfte Hand, neigte sich ein gütiges Antlitz zu ihr hinab, spendete ihr ein mitleidiger Mund einen letzten Trost?

Öder ließ man sie sterben, wie man ein krankes Tier verenden läßt, das von seinem Herrn verjagt ward?

Zwanzig Jahre!

Vielleicht lag sie drinnen im Todeskampf, Menschen und Gott um Hilfe, um Barmherzigkeit anschreiend! aber weder Mensch noch Gott wollte sich ihrer in der Todesstunde erbarmen.

Vielleicht starb sie mit einer Verwünschung gegen Gott und die Menschen, die sie hier erbarmungslos umkommen ließen?

Und sie war erst zwanzig Jahre!

Es that mir nicht gut, so viel an die Verstorbene zu denken, deren Grabstein ich fast unter meinen Füßen hatte. Auch der starke Duft des blühenden Holunders stieg mir zu Kopfe. Mit weher Seele und schmerzendem Haupt erhob ich mich, trug den Tisch hinein, wobei ich acht gab, nicht auf das Grab der Schwester Maddalena zu treten. Das that ich hinfort stets, so oft ich über diese Schwelle schritt.

Eine schwarze Nacht war angebrochen. Aber selbst bei der Finsternis leuchtete die weiße Holunderblüte in einem Schein wie fahles Sonnenlicht; denn ich hatte die Thür weit offen gelassen. Ein Gefühl von Gefangenschaft bemächtigte sich meiner. Um es von mir zu schütteln, stand ich auf, ging zum Hause, zum Hofe hinaus. Ich ging den schmalen Pfad, gelangte auf den kleinen Platz vor der Kirche, kam an das Thor. Ich wollte nicht hinaus, ich wollte nur öffnen, um die Empfindung zu haben, zu jeder Zeit hinaus zu können.

Ich fand das Thor verschlossen und den Schlüssel abgezogen. Ich war das, als was ich mich fühlte: ein Gefangener!

Mich selbst ausscheltend, begab ich mich zurück ... Sonderbar! Sowie ich den Hof wieder betrat, mußte ich wieder der Toten vor der Schwelle des Hauses gedenken. Um mich gewaltsam von diesem Gedanken abzuziehen, dachte ich an meine Arbeit, an das Oelgemälde und – und mußte sofort wiederum an die Gestorbene denken.

Zwanzig Jahre konnte auch die Camaldolenserin gewesen sein, die dem Herrn ihr blutendes Herz zum Opfer darbringen mußte. Vielleicht hatte auch die Schwester Maddalena solche düstere Augen gehabt: vielleicht war auch sie gezwungen worden ...

Aber ich wollte und wollte nicht der Toten gedenken! Ihrer nicht gedenken in dem Hause, worin sie gelitten hatte und gestorben war, davor sie begraben lag und wo ich jetzt mutterseelenallein schlafen sollte.

Daß sie in ihrem einsamen Grabe Ruhe fand; daß sie, die eines unbußfertigen, also unchristlichen Todes gestorben, aus ihrem ungesegneten Grabe nicht auferstand, um als armer irrender Geist ruhelos, ruhelos zu wandern, bis ihrem Schatten vergeben ward, was sie im Leben verbrochen!

Aber ich wollte ja doch nicht an sie denken!

 


 

In der Nacht träumte mir von ihr.

Ich sah sie leibhaftig vor mir an meinem Bette stehen und führte sogar mit ihr ein Gespräch. Es grauste mir nicht einmal, obgleich ich wußte, daß sie ein Gespenst war, im Grabe keine Ruhe fand und aus dem Grabe zu mir kam, um mit mir zu plaudern. Sie war natürlich die Nonne auf dem Altargemälde, also meine Nonne! Ich erzählte ihr, daß ich ihretwillen gekommen sei, ihretwillen in dem gespenstischen Hause über ihrem Grabe wohne, ihretwillen auch bleiben werde, bis ihr Bild fertig sei. Sie antwortete mir: es sei ihr nichts Neues, gemalt zu werden. Sie sei schon einmal gemalt worden: damals, als sie noch lebte. Das sei jedoch lange her. Der Maler habe sich in sie verliebt und sie sich in ihn, und es sei daraus eine traurige Geschichte geworden. Ich sollte mich in acht nehmen, mich nicht auch in sie zu verlieben: sie sei zwanzig Jahre alt und schön, wunderschön! Aber jetzt sei sie schon länger als fünfzig Jahre tot, und wenn ich mich in ihren Geist verliebte, so könnte das auch eine traurige, eine sehr traurige Geschichte werden – für mich!

Ich versprach ihr, zu versuchen, mich nicht in sie zu verlieben, da es wirklich unangenehm sein müßte, in eine Leidenschaft für ein Gespenst zu fallen.

Sie erwiderte: »Allerdings, sehr unangenehm.«

Dann ging sie, nachdem ich sie gebeten hatte wiederzukommen; da wir beide doch sozusagen Nachbarn waren. Sie versprach es auch.

Gerade als sie aus der Thüre hinaus wollte, erwachte ich. Aber ich schlief und träumte gewiß noch, träumte also auch, daß ich erwacht war. Ich sah im Traum, wie ein blasser, blasser Schein aus der Thür glitt und über dem Grabe der Schwester Maddalena stehen blieb. Ich wollte den Schein fragen, ob er das Gespenst sei und ob ich ihm nicht helfen könne, wieder in das Grab hinunterzusteigen? Da merkte ich, daß ich den Schein wirklich sah, daß ich wirklich wachte.

An meinem Wachen konnte ich nicht zweifeln: denn ich war aufgesprungen. Aber der Schimmer, den ich aus der Thür gleiten sah, war natürlich Täuschung gewesen: eine Nachwirkung meines wunderlichen Traumgebildes. Ich trat vor das Haus. Da schien das matte Licht auf dem Grabstein der Schwester Maddalena zu liegen.

Nein, – ja! ... Nein – nein! ... Ja –ja – ja! Es war da! ... Jetzt war es fort!

Als ich noch stand, vernahm ich dumpfen Gesang. Er drang aus der Kirche zu mir herüber. Es war aber kein Geistergesang, Die Nonnen psalmierten in der Kirche. Gerade schlug es ein Uhr.

Diese Nacht konnte ich nicht mehr einschlafen.

 

Zwölftes Kapitel

Es war nicht in der nächsten, sondern vielleicht in der dritten Nacht, die ich nach jener ersten in dem Sterbezimmer der Schwester Maddalena verbrachte, daß ich jäh auffuhr.

Mich weckte ein eigentümliches, nicht zu beschreibendes Gefühl. Im tiefsten Schlaf überlief mich ein Schauer. Ich erwachte und zitterte wie bei heftigem Fieberfrost, Meine Zähne schlugen gegeneinander, kalter Schweiß trat mir auf die Stirn und ich hatte die Empfindung, als ob etwas Glühendes und doch zugleich Eisiges vom Haupt den Rücken herabrann, als ob meine Haare sich sträubten – wie man es nennt.

In dem nämlichen Augenblick überkam mich das deutliche Gefühl einer fremden Gegenwart.

Ich hatte so viel vom Grauen gehört, diesen Zustand zuvor niemals gehabt, mich niemals in einen solchen hineindenken können. Jetzt grauste mir's! Was ich empfand, konnte nichts andres sein als jenes geheimnisvolle, unnennbare Etwas, das den Menschen befällt, wenn er sich plötzlich einer dunklen, unwiderstehlichen Gewalt gegenüber befindet, wofür es keinen rechten Begriff und nicht einmal den rechten Ausdruck gibt.

Ich blieb ruhig genug, mich scharf zu beobachten, jedes Gefühl zu analysieren und kaltblütig nach einer Ursache zu forschen; denn jedes Ding auf Erden hat seinen Grund.

Wie war es plötzlich über mich gekommen?

Ermüdet von angestrengter Arbeit, ohne erregt gewesen zu sein, ohne mich innerlich mit etwas anderm als meiner Kopie beschäftigt zu haben, war ich früh zu Bett gegangen, war ich sehr bald fest eingeschlafen, ward ich auf die geschilderte Weise geweckt.

Also eine Ursache!

Ich richtete mich auf, spähte um mich, gewahrte nichts, gewahrte nicht das Geringste, Aber das Grauen blieb in mir und mir blieb die deutliche Empfindung: Jemand ist bei dir im Zimmer!

Aber nichts, gar nichts! ...

Oder doch? Und zwar vor mir! Mir gerade gegenüber!

Mir gerade gegenüber befand sich, wie ich schon sagte, die Hausthür, die ich des Nachts offen ließ. Wenn ich mich aufrichtete, sah ich von meinem Lager aus auf den Hof hinaus. Bei hellem Sternenlichte erkannte ich deutlich die Holunderblüte, den Grabstein, die Hausschwelle.

Einige Schritte von der Schwelle entfernt stand etwas Langes und Schmales, etwas Blasses, ganz Blasses, kaum Bemerkbares.

Unmöglich konnte das die Ursache meines Erschauderns, meines jähen Erwachens sein. Es war eben das Sternenlicht, Oder es mochte fahles Morgengrauen sein.

Diese Nacht schienen jedoch keine Sterne. Auch der Tag brach noch nicht an. Denn aus der Kirche klangen dumpfe Töne herüber: die Stimmen der betenden Nonnen.

Mitternacht war's!

Der Traum aus jener ersten Nacht fiel mir ein. In meinem Traum hatte ich gerade solchen langen und schmalen, solchen blassen Schimmer gesehen. Mir hatte von meiner Nonne auf dem Altargemälde und dem Geist der armen, jung und unglückselig gestorbenen Schwester Maddalena geträumt. Plötzlich war ich erwacht und hatte mir eingebildet, ich sähe einen langen schmalen Schein zur Thür hinausgleiten. Ich war aufgestanden, hinausgegangen, hatte den Nebelstreif auf dem langen, schmalen Grabstein der Schwester Maddalena liegen sehen, von dem er dann verschwunden war. Was ich heute nacht so lang, schmal und blaß auf dem Grabstein stehen sah, glich genau meinem Traumbild; und – ja, und heute nacht grauste mir's!

Wieder wollte ich aufstehen, wieder wollte ich hingehen und nachschauen. Aber mein Grauen hielt mich auf meinem Lager fest, daß ich wie mit gebundenen Gliedern lag: halb aufgelichtet und unverwandt hinstarrend, wo regungslos der fahle Nebelstreif stand.

Und er wollte nicht weichen!

Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte. Die Augen wurden mir schwer und schwerer. Plötzlich muß ich zurückgesunken und in einen totenähnlichen Schlaf verfallen sein, aus dem ich erst spät und mit heftig schmerzendem Haupte erwachte. Des nächtlichen Vorgangs erinnerte ich mich wie eines Traumes.

Den nämlichen »Traum« hatte ich jedoch die nächste Nacht wieder, auch die zweite, die dritte Nacht. Und jedesmal war dieselbe Sache von denselben Umständen begleitet, genau von denselben ... Ein eisiger Schauer weckte mich. Ich fühlte mich von Fieber geschüttelt, fühlte eine fremde Nähe, sah durch die offene Thür den Nebelstreif, hörte das mitternächtliche Psalmieren der Klosterfrauen, befand mich wie unter einem Banne, wurde plötzlich von einer totenhaften Ermattung ergriffen, sank auf mein Lager zurück, schlief sogleich ein. Ueber Tags spürte ich's wie Blei im Kopf und in allen Gliedern, konnte nicht arbeiten, mochte nicht essen, fühlte mich an Leib und Seele wie zerschlagen, fürchtete mich schon des Morgens beim Erwachen auf die Nacht, auf mein Einschlafen und meinen Traum.

Denn etwas andres konnte es nicht sein. Es konnte nicht! Schon in meinen Schülerjahren war mir der Geist von Hamlets Vater sehr wenig wahrscheinlich vorgekommen; obgleich ich gestehen mußte, daß der alte Herr Grund hatte, als Geist umzugehen.

Bei solchem Skepticismus der vierten Dimension gegenüber mich vor der Dunkelheit, vor meinem Einschlafen und dem Erwachen allen Ernstes zu fürchten ging mir über den Spaß. Ich überhäufte mich mit Vorwürfen, schalt mich einen nervösen Phantasten, schämte mich meiner Furcht und – fürchtete mich trotzdem.

Endlich kam ich auf den weisen Einfall, die Thür zu schließen.

Als ich meine Mahlzeit eingenommen hatte, müde in mein Zimmer ging, schloß ich also die Thür, d. h. ich machte sie zu; denn Schloß sowohl wie Riegel fehlten. Trotzdem fühlte ich mich gleichsam gesichert, ärgerte mich nur, auf dieses allereinfachste Mittel gegen die Hallucination nicht gleich verfallen zu sein. Vielleicht, daß der scharfe Geruch der Holunderblüte an meinen seltsamen Zuständen Schuld trug. Auch nährte ich mich herzlichst schlecht, und das schon seit Wochen. Nun machten zwar die Klosterfrauen geradezu rührende Versuche, ihrem »Pensionär« allerlei Genüsse zu beschaffen. Sogar Tauben wurden für mich gebraten. Leider in Oel! Und leider war das Oel so alt, schmeckte es so ranzig, daß meine gebratenen Tauben der großen, grauen Klosterkatze in den Mund flogen, die denn auch zusehends fetter ward. Außer dem Holunderduft mochte also auch meine miserable Ernährung Ursache von vielem sein. Wie man sieht, war ich ruhig und verständig genug, um alles »Uebernatürliche« nach Möglichkeit auf die natürlichste Art zu erklären. Beruhigt legte ich mich nieder, schlief bald sehr fest ein – erwachte, von Grausen geweckt.

In meinem finstern Gemach, vor der geschlossenen Thür der lange, schmale, blasse Nebelstreif.

Wie ein Wächter stand er unbeweglich da.

Mir wollte es vorkommen, als wäre er schimmernder, weißer, dichter geworden; als erkennte ich die Umrisse einer Gestalt.

Aber sie waren so schwach auf den schwarzen Hintergrund der Thür gezeichnet; ich war durch das Wiedererscheinen der rätselhaften Lichtwirkung dermaßen betroffen, daß ich mich, was jene matte Kontur anbetraf, leicht täuschen konnte.

Sicher täuschte ich mich!

Doch bevor ich mich davon zu überzeugen vermochte, war ich von neuem fest eingeschlafen.

Nun beschloß ich, die nächste Nacht überhaupt nicht zu Bett zu gehen, überhaupt nicht zu schlafen; jedenfalls nicht vor Morgengrauen, das zum Glück sehr früh kam. Auf solche Weise würde ich dem unerklärlichen, nachgerade mich aufregenden Vorfall sicher entgehen.

Vollkommen beruhigt hatte ich einen guten Tag, Ich arbeitete mit Lust und Erfolg, genoß mit besserem Appetit als seit langem mein Gericht gebackener Gemüse – im Kloster eine Seltenheit, hielt darauf, um für meine Nachtwache möglichst frisch zu bleiben, ziemlich lange Siesta, arbeitete wieder, unternahm einen kleinen Spaziergang auf dem Felsenpfad durch die Schlucht, nahm mein Nachtmahl im Freien unter meinen Holunderbäumen und freute mich des herrlichen Abends.

Noch immer fühlte ich mich vollständig sicher, ohne eine Spur von Bedürfnis nach Schlaf und in vorzüglicher Stimmung. Ich sang sogar leise ein deutsches Liebeslied. Nichts konnte mir leichter werden, als die halbe, als die ganze Sommernacht im Freien zu durchwachen.

Ich hatte meinen Stuhl so gestellt, daß ich, wenn ich saß, dem Hause den Rücken zukehrte und in die Holunderblüte hineinblickte. Bisweilen stand ich auf, ging eine Zeit lang auf und ab, wobei ich acht gab, nicht auf den Grabstein der Schwester Maddalena zu treten. Dann setzte ich mich wieder, dachte an meine Arbeit, an die Heimat, an meine liebe Braut, die Freunde – lauter frohe Gedanken. Es war Mondschein. Ueber dem Felsengipfel, darunter ich mich wie in der Tiefe eines ungeheuren Brunnenbeckens befand, stieg das milde Himmelslicht empor, und ich freute mich auf den Augenblick, wo es so hoch gestiegen war, daß es mit seinem Glanze die Luft füllte. Es mußte eine Nacht von wahrer Magie sein und der Mond hier eine Wirkung haben ähnlich wie im Kolosseum.

Eine Stunde nach der andern verstrich, Mitternacht! Die Klosterglocken begannen zu läuten. Ich hatte mich noch immer nicht an den gellenden Glockenton gewöhnen können, schreckte noch immer beim ersten schrillen Klange zusammen ... Jetzt zogen die Nonnen in die Kirche zur Andacht, die zwei volle Stunden währte ... Es mußte ein gespenstischer Anblick sein: Die blassen Gestalten traten eine nach der andern um Mitternacht aus den kleinen weißen Häusern, schritten durch den kleinen weißen Garten, öffneten das schwarze Pförtlein in der weißen Mauer, wallten lautlos, lautlos der weißen Kirche zu. Und erst wenn der Mond die Prozession der Stillen und Bleichen beschien ...

Ich saß auf meinem Stuhl, hörte auf das mißtönende Geläut, malte mir das Bild der nächtlich zur Kirche ziehenden Camaldolenserinnen aus und – wurde plötzlich von kaltem Grausen gefaßt.

Es war wieder da! Es befand sich hinter mir, dicht hinter mir! Ich mußte mich umwenden, mußte es sehen!

Und ich sah es ...

Aus dem Boden quoll es empor, aus dem Grabstein der Camaldolenserin stieg es auf: ein Nebelstreif, lang, schmal, wie Mondlicht hell.

Es stand da, dicht vor mir! Dicht vor mir blieb es unbeweglich und – es hatte einen Umriß!

Immer noch waren die Linien kaum zu erkennen. Aber Linien waren es: Die scharfe Kontur einer menschlichen Gestalt, einer weiblichen Gestalt, einer Nonne, einer Camaldolenserin.

Einbildung, Täuschung, Hallucination, Wahngebilde!

Dabei war ich absolut fieberfrei. Nur ward ich wie von Fieberschauern geschüttelt. Meine Gedanken waren so klar, daß ich das Trugbild als solches vollkommen erkannte. Nur wollte dieses nicht weichen.

Ich war aufgesprungen, stand dem Schemen gegenüber, starrte es an, wartete auf sein Verschwinden. Es blieb jedoch und ich blieb, es regungslos anstarrend, es fort und fort bei mir selbst eine Fieberphantasie heißend und auf sein Vergehen wartend.

Ich wartete und wartete ...

In der Kirche psalmierten die Nonnen: in den Holunderbäumen klagte ein grauer Kauz; der Nachtwind strich durch die Blütenzweige, auf denen das Mondlicht wie ein weißes Leichentuch lag.

Eine Viertel-, eine halbe Stunde verging! Und immer noch stand es da, dicht vor mir, und immer noch wartete ich.

Jetzt drei Viertelstunden, eine volle Stunde, eine Ewigkeit.

Da endlich, endlich!

Vor meinen Augen bewegte es sich. Es sank in den Boden, versank in den Grabstein der Schwester Maddalena. Ich sah es hinabsinken: mit diesen meinen sehenden Augen.

Bewußtlos stürzte ich hin.

 

Dreizehntes Kapitel

Ich wollte fort von dem unheimlichen Ort, der mich das Fürchten, schlimmer! der mich das Grausen gelehrt hatte. Meine Arbeit wollte ich unvollendet lassen, entfliehen wollte ich, feige sein. Nur fort, nur fort!

Ich wollte nicht an Geister und Gespenster glauben, glauben müssen. Es vertrug sich solcher Aberglaube mit meinem ganzen Menschen so wenig, wie ich das Hineinragen einer Geisterwelt in die der Erde und der Wirklichkeit zu ertragen vermochte. Mein Gemüt mußte darunter leiden, meine Vernunft. Also fort, fort, fort!

Ich packte meine Sachen. Ich verließ das unheilvolle Haus, ich schritt über das Grab der Schwester Maddalena, durchschritt den Holunderwald, wollte zur Pforte hinaus, blieb stehen, zauderte, kämpfte mit mir, schämte mich meiner Furcht, meiner Feigheit, kehrte um.

Mit lauter Stimme sagte ich zu mir selbst: Pfui, schäme dich, großes Kind! Wenn Kinder im Dunkeln sich graulen, so sind ihre einfältigen Wärterinnen zu tadeln; wenn dich aber ein Grausen anwandelt, trägst du selbst die Schuld daran. Mache dich also selbst wieder verständig, hörst du, mein Junge! Keine Ausflüchte, rate ich dir! Du bleibst, du mußt bleiben! Und zwar mußt du so lange bleiben, bis dein Bild fertig ist; bis du die Einbildung, die Täuschung, die Hallucination, das Wahnbild vollständig erkanntest und jede Spur von Grausen überwandest. Nimm Vernunft an! Gingst du heute davon, würdest du Zeit deines Lebens glauben, du wärst vor einem Gespenst geflohen, würdest du Zeit deines Lebens daran kranken. Krankheit kannst Du nicht brauchen, weder für dich selbst, noch für deine Kunst. Also wirst du dich gefälligst nicht von der Stelle rühren.

Ich ging zurück, schritt wiederum über den Grabstein, packte meine Sachen aus, begab mich in die Kirche an meine Arbeit, malte fleißig, malte, ohne an etwas andres zu denken als an mein Bild. Schlag Zehn ging ich zur Ruhe, ließ die Thür weit offen, warf mich angekleidet aufs Bett, war todmüde, schlief ein, wachte um Mitternacht auf, sah es dastehen.

Dieses Mal stand es nicht mehr in der Hausthür, sondern in meinem Zimmer selbst; und dieses Mal gewahrte ich deutlich: ja! es war eine Gestalt, eine Frau, eine Nonne, eine Camaldolenserin.

Vom Gesicht war nichts zu erkennen, wie denn überhaupt die ganze Erscheinung einem Nebelgebilde glich.

Ich floh nicht; ich blieb, und fortan kam es jede Nacht zu mir. Und von Nacht zu Nacht nahm es mehr Gestalt an. Der Dunst verdichtete sich, gewann feste Form, Körper, Das Nebelhaupt bekam ein Antlitz, dieses Züge.

Der ganze Prozeß des Werdens und Entstehens, vom ersten matten Lichtschimmer an bis zur vollständigen Verkörperung, hatte durch Wochen gedauert. Jetzt stand die Erscheinung greifbar vor mir im weißen Gewande der Camaldolenserin, die Kapuze über das Haupt gezogen; aber aus der düsteren Umhüllung das goldige Haar hervorquellend, in dem jungen, wachsbleichen, wunderschönen Antlitz dunkle düstere Augen.

Die Schwester Maddalena da Padua, die mit zwanzig Jahren als Büßerin in der Strafzelle eines unbußfertigen Todes gestorben war und vor der Schwelle ihres Kerkers begraben lag, diese unchristlich begrabene Schwester Maddalena war – die junge Nonne auf dem Altargemälde.

 


 

Ich weiß jetzt wirklich nicht mehr zu sagen, wie ich es fertig bekam, meinen Vorsatz auszuführen und zu bleiben. Jedenfalls blieb ich. Und Nacht für Nacht ertrug ich das Grauenvolle, von dem ich jetzt wußte, daß es keine Einbildung, keine Täuschung, leine Hallucination, kein Trugbild war. Ich weiß jetzt auch nicht mehr, wie es mir damals möglich ward, die Erkenntnis: ›Die Geisterwelt ist nicht verschlossen!‹ zu ertragen.

Ich ertrug es eben.

Möglich, daß ich mich während der ganzen Zeit in einem beständigen Traumzustand befand, daß ich es ohne diesen doch wohl nicht ertragen hätte. Vielleicht kam sogar etwas Malaria dazu.

Jedenfalls war ich den ganzen Tag auf, den ganzen Tag über bei der Arbeit und fühlte mich durchaus als gesunder, klar denkender und normaler Mensch.

Denn ich beobachtete mich unausgesetzt. Ich bewachte, kontrollierte mich. Keine Regung ließ ich meiner Beachtung entgehen. Heute will es mich fast bedünken, als lebte ich damals in unaufhörlicher Angst: es könnte mit mir etwas nicht richtig sein. Mit anderen Worten, ich fürchtete, mich auf dem besten Weg zu befinden, allmählich meinen Verstand zu verlieren. Daß ich es fürchtete, war ein sicheres Zeichen meiner gesunden Vernunft.

Noch immer war Schwester Angelika die einzige, die ich von den Klosterfrauen zu sprechen bekam. Niemals begegnete ich einer der andern. Noch immer sah ich die Nonnen nur von der Kirchentreppe aus, wenn sie zum Gottesdienst gingen; und noch immer hatte ich nicht bemerkt, daß auf diesen Kirchgängen auch nur eine einzige von ihnen aus ihren Kapuzen hervor einen flüchtigen Blick auf mich geworfen hatte. Ich wußte nicht einmal, welche von den Zwölfen die ehrwürdige Mutter Oberin war.

Ich hatte mir vorgenommen, der Schwester Angelika von den allnächtlichen, schauervollen Vorgängen in meinem Hause kein Wort zu sagen; und es gelang mir wirklich, vollkommen darüber zu schweigen. Was hätte es mir auch helfen können?

 


 

In einer Nacht faßte ich mir ein Herz und sprach das Gespenst an: »Wer bist du und was willst du von mir? Warum verfolgst du mich? Ich that dir nichts zu leide und du vergällst mir das Leben. Kann ich etwas für dich thun? Was? Sprich zu mir! Ich werde auch das ertragen. Im Namen Gottes sprich zu mir!«

Aber es schwieg.

Nun begann ich, alle meine Fragen einzeln zu stellen: »Wer bist du?«

Keine Antwort.

»Warum verfolgst du mich?«

Keine Antwort.

»Kann ich dir helfen?«

Auch das dritte Mal keine Antwort.

Nun rief ich: »Wenn du nicht reden kannst, so gib mir wenigstens ein Zeichen, ob du eine Menschenstimme verstehst? ... Willst du mir ein Zeichen geben?«

Es regte sich nicht.

Von neuem stellte ich meine Fragen: »Bist du der Geist der toten Schwester Maddalena? Bist du's? ... So antworte, so rege dich doch! Du brauchst nur eine Bewegung zu thun.«

Aber es blieb regungslos vor mir, so lange, bis mich jählings jene wundersame Mattigkeit befiel und ich wie in einer Betäubung auf mein Lager zurücksank.

 


 

»Du bleibst, du hältst aus; jetzt mußt du bleiben, mußt du aushalten! Von etwas andrem darf jetzt nicht mehr die Rede sein, und sollte es deinen Verstand wirklich ins Schwanken bringen. Das Uebernatürliche hat nun einmal in dein Leben gegriffen. Es ist nun einmal so; und du mußt jetzt sehen, wie du damit fertig wirst. Vermagst du es auch nicht zu begreifen, so mußt du dein Möglichstes thun, um deine Begriffe darüber nicht zu verlieren. Hörst du: du mußt!«

So sprach ich fort und fort zu mir selbst. Dabei arbeitete ich unausgesetzt an meinem Bilde weiter: jetzt schier fieberhaft. Denn seitdem ich in der Erscheinung die Heldin meines Gemäldes erkannte, steigerte sich, wie man denken kann, mein leidenschaftliches Interesse an dem merkwürdigen Bilde. Es nahm nachgerade einen ganz pathologischen Charakter an: ich malte eine Frauengestalt, die mir nachts als Geist erschien! Welche menschliche Vernunft wollte das fassen können!

Auch das andre, was ich mir selbst auferlegt hatte, wurde von mir streng gehalten: Mit keinem Wort verriet ich der Schwester Angelika die schrecklichen Ereignisse meiner Nächte. Wir sahen uns täglich, sprachen selten zusammen, gingen mit einem stummen Gruß aneinander vorüber. In der unirdischen Stimmung, in die ich tiefer und tiefer versank, begann mir sogar sie, die Lebende, mit ihrem erloschenen Blick und ihrer tonlosen Stimme mehr und mehr wie ein gespenstisches Wesen zu erscheinen – mein ganzer Aufenthalt mehr und mehr wie eine verfluchte Stätte, von den Geistern Abgeschiedener bewohnt. Ein Grausen lag darüber, dem nicht nachzusinnen war, das ich nicht ausdenken durfte.

Am zweiten oder dritten Tage nach der Nacht, in der ich die Erscheinung so vergeblich beschworen hatte zu reden, sprach mich zu meinem Erstaunen Schwester Angelika plötzlich wieder einmal an: »Verzeihen Sie, mein Herr! Aber ist Ihr Bild noch immer nicht bald fertig?«

»Es ist eine große Arbeit. Warum fragen Sie? Bleibe ich zu lange? Störe ich vielleicht doch, trotzdem ich mich bemühe, mich so wenig wie möglich bemerklich zu machen? Sagen Sie es nur offen. Ich bitte Sie sehr darum.«

»Sie stören hier niemand. Ich fragte um Ihretwillen.«

» Inwiefern meinetwillen?«

»Sie arbeiten zu viel.«

»Viel Arbeit ist großes Glück, gute Schwester Angelika.«

»Dabei genießen Sie fast nichts.«

»Es schmeckt mir aber sehr gut. Ich mache Ihrer Klosterküche gewiß rechte Mühe?«

»Sie sehen schlecht aus. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Ganz wohl. Ich danke Ihnen.«

»Und doch müssen Sie krank sein.«

»Gewiß nicht.«

»Verzeihen Sie; aber Sie sehen von Tag zu Tag schlechter aus, werden von Tag zu Tag müder.«

»Merken Sie das?«

»Ist Ihre Wohnung vielleicht doch ungesund?«

»Ich glaube nicht.« »Oder haben Sie schlechte Nächte?«

»Sie sind sehr freundlich, Schwester Angelika, Ich danke Ihnen von Herzen.«

»Es ist fast, als würde Ihnen bei uns von Ihrer Lebenskraft genommen. Jeden Tag mehr und mehr.«

»Ich arbeite vielleicht wirklich zu viel,«

»Hoffentlich sind Sie bald fertig und können uns bald verlassen.«

Alles das sagte sie mit ihrer todmatten Stimme, mit ihrem hoffnungslosen Blick. Dann grüßte sie stumm, ging weiter.

Von diesem Gespräch klang ein Satz fort und fort in mir nach: »Es ist fast, als würde Ihnen bei uns von Ihrer Lebenskraft genommen. Jeden Tag mehr und mehr.«

Ja, so war es! Es war, als ob das Gespenst seine Materialisation dadurch bewirkte, daß es mir das Mark aussaugte, sich von meinem Lebensblut nährend.

Aber bleiben mußte ich!

 

Vierzehntes Kapitel

Mir war's jetzt, als ob die Erscheinung der Schwester Maddalena – denn sie mußte es ja sein! in ein andres Stadium zu treten beginne. Sie war nunmehr so leibhaftig geworden, wie es für einen Geist nur irgend in der Möglichkeit lag. An ihrem weißen gespenstischen Nonnengewand hätte ich Faltenwurf studieren und statt der Camaldolenserin auf dem Altargemälde direkt das Original porträtieren können. Auch der Ausdruck ihrer Züge war fast der nämliche wie auf dem Kirchenbilde. Es war der Ausdruck eines jungen, schönen und leidenschaftlichen Weibes, das einer unerbittlichen, bezwingenden Gewalt sich unterwerfen soll und dagegen mit trotziger Seele sich auflehnt. In ihren nächtig dunklen großen und machtvollen Augen leuchtete die Glut einer Empfindung, die selbst der Tod nicht zu löschen vermocht.

Aber nicht gegen den auferstandenen Gottessohn schien sich Schwester Maddalena noch im Tode zu empören: sondern es war der Tod selbst, den sie bezwingen wollte, den sie bezwungen hatte: aus dem Grabe stieg sie empor und wandelte!

Aber der arme ruhelose Geist war stumm; zum vollen gespenstischen Leben fehlte ihm noch die Sprache.

Das allmähliche, ganz allmähliche Gewinnen der Stimme war der zweite Prozeß, in dem die Materialisation des Schemen sich vollzog und vollendete.

In seinem bis dahin gänzlich regungslosen Gesicht begann eine Veränderung vor sich zu gehen. Es zuckte um die Lippen, als wollte der Mund sich öffnen. Dieser war fest geschlossen, während die Augen von Anfang an weit offen gewesen, als wenn keine barmherzige Hand sie im Tode zugedrückt hätte.

Eine volle Mitternacht währten die Bemühungen des Gespenstes, seine fest geschlossenen Lippen zu öffnen. Es schien wahre Qualen zu leiden, so daß ich von Mitleid erfaßt war.

Der erste Laut, den ich alsdann aus dem gespenstischen Munde vernahm, war ein tiefer, tiefer Seufzer. Ein ersticktes Stöhnen war's, ein klägliches Wimmern, ein dumpfer Jammerlaut, ein schrecklicher Ton! Ich hatte nicht gewußt, daß eine Menschenstimme solchen Laut hervorbringen könnte.

Nur ein Geist, nur ein ruheloser Schatten, ein Wesen aus dem Grabe konnte solchen Laut von sich geben.

Das Entsetzen, das der Ton mir einflößte, überwältigte mich, so daß ich in jener Nacht nichts mehr vernahm.

In der Reihe der folgenden Nächte gestaltete sich aus den Seufzern ein Lallen, aus dem Wimmern ein Stammeln, Aus diesem begannen dann endlich, endlich sich Worte zu bilden.

Noch wurden sie unter Qualen hervorgestoßen; noch entrangen sie sich wie Angstrufe einer gleichsam mit einem Stricke gewürgten Kehle; noch waren sie für mich unverständlich. Aber immerhin waren es doch bereits Worte.

Und allmählich, ganz allmählich lernte ich die Sprache des Geistes verstehen.

Alsdann redete dieser zu mir.

 


 

Inzwischen war geschehen, was ich bis dahin für ebenso unmöglich gehalten hatte wie eine Geistererscheinung: ich hatte mich an das Grausige gewöhnt, mich gewöhnt an das Uebernatürliche, als wäre dieses eine durchaus natürliche Sache. In vollen Kleidern warf ich mich Abend für Abend auf mein Lager, schlief sehr bald fest ein, wurde Nacht für Nacht durch jenen mir treu gebliebenen eisigen Schauer zur bestimmten Stunde geweckt, sah das Gespenst in der offenen Thür stehen, erlebte alle seine Wandlungen, hatte es regungslos vor mir, bis ich in totenhaften Schlummer sank, um, von Tag zu Tag matter, meine Stunden in Arbeit an meinem Bilde und in Erwartung der Nacht zu verbringen.

Und jetzt redete der Geist der Schwester Maddalena zu mir! Nacht für Nacht sprach er, Nacht für Nacht mußte ich hören. Was er das erste Mal, als ich ihn zu verstehen vermochte, mir sagte, war: »Höre mich! Damit ich zu dir reden kann, damit du mich hören sollst, entstieg ich meinem Grabe, nährte ich mein Geisterdasein mit deinem Leben. Und jetzt rede ich zu dir.

Versuche nicht, mich nicht anzuhören; versuche nicht, mir zu entfliehen. Jeder Versuch einer Flucht würde vergeblich sein. Du kannst mir nicht entrinnen.

Ich ward Leben von deinem Leben: Geist ward ich von deinem Geist.

Du wirst von mir vernehmen, was ich einstmals in meinem Leben war, was ich einstmals beging, wofür ich noch nach meinem Tode verdammt ward.

Ich werde dir einen Auftrag erteilen.

Diesen meinen Auftrag wirst du erfüllen.

Versuche nicht, ihn unerfüllt zu lassen. Es würde vergeblich sein.

Meinen Auftrag zu erfüllen, ward dir bestimmt.

Um mich zu schauen, um mich zu hören, meine Geschichte zu vernehmen, meinen Auftrag zu empfangen, meiner Macht dich zu unterwerfen, kamst du an diesen Ort, bliebst du an diesem Ort, mußtest du bleiben, bis ich dich von dannen lasse.

Was ich dir sage, was du aus meinem Geistermunde vernehmen wirst, hast du streng zu verschweigen. Solange du am Leben bist, hat es tot für dich zu sein. Hüte dich, zu sprechen. Wehe dir, wenn du sprichst – außer zu jenen, zu denen ich dich senden werde.

Hast du einen Freund, und du sagst es diesem: einen Bruder, eine Geliebte, und du sagst es diesen: hast du ein Weib, und du sagst es deinem Weibe – so werde ich von dir nehmen, was dir auf Erden das Liebste ist.

Darum hüte dich, hüte dich! Darum schweige, schweige!

Und jetzt höre mich –«

Da schrie ich auf: »Ich will nicht hören! Weiche von mir, laß ab von mir! Was habe ich mit dir zu schaffen? Was that ich dir, daß du so Grauenvolles, so Gräßliches von mir fordern darfst? Ich will nicht hören, sage ich dir! Du zerstörst ja mein ganzes Leben: mir, der ich mit dir nichts zu thun habe. Gleich morgen gehe ich fort von diesem verfluchten Ort, gleich diese Nacht noch. Keine Macht der Welt soll mich wieder zurückführen.«

Es antwortete nicht.

Wiederum rief ich: »Hörst du wohl? Keine Gewalt auf Erden gibt mich in deine Gewalt! Du bist ein von Gott verfluchter Geist; aber auch ich, auch ich fluche dir, ruheloses Gespenst! Und ich befehle dir, von mir zu weichen im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes,«

Ich sprang auf. Ich stürzte auf das furchtbare Phantom zu, das sich nicht regte und das sprach: »Morgen nacht wirst du wiederum hier sein, wirst du mich wiederum erwarten. Ich werde kommen und zu dir reden. Und du wirst mich hören.«

»Nein, nein, nein!«

»Und du wirst mich hören.«

Es verschwand.

 

Fünfzehntes Kapitel

Ich erspähte einen Augenblick, wo früh am Morgen die Pforte offen stand.

Wie ein Dieb schlich ich aus dem Kloster.

Alle meine Sachen ließ ich zurück.

Auch meine Kopie.

Ueber einen Monat hatte ich daran gearbeitet.

Ich würde mir durch solchen Geist doch nicht mein ganzes Leben zerstören lassen!

Deswegen sollte ich hierher gekommen sein? Deswegen wäre ich geblieben, hätte ich bleiben müssen?

Als wäre es meine Bestimmung, mein Schicksal, der Sklave eines Gespenstes zu werden!

Als gäbe es keine Selbstbestimmung, als hätte der Mensch keinen freien Willen!

Der meine war in dem Geisterhause erkrankt; schwach und schier ohnmächtig war er geworden.

Heute hatte mein gelähmter Wille endlich, endlich sich aufgerafft. Ich hatte den Bann von mir gethan, hatte mich dem bösen Zauber gewaltsam entrissen.

Und jetzt war ich fort, war ich frei!

Als ich den Ausgang der Schlucht erreichte, blieb ich stehen, wandte mich um, schaute ein letztes Mal zurück.

Ein letztes Mal sah ich die hohe weiße Mauer mit der schwarzen Pforte und das blutrote Kreuz darüber ragend. Wer an dieser Schwelle stand und das Heiligtum zum erstenmal erblickte, der ahnte nicht, was hinter der weißen Mauer mit der schwarzen Pforte und dem roten Kreuz sich barg.

Ich wußte es jetzt – ich!

Ein Grab war's, das seine Toten wiederum ausspie, um durch sie das Leben andrer zerstören zu lassen: das Leben Unschuldiger!

Dann ging ich weiter –

Noch einige Schritte, und mich wiederum umsehend sah ich von jenem Aufenthalt des Grausens nichts mehr.

Immer noch erblickte ich rings um mich eine stumme Felsenwildnis; doch ahnte ich bereits die Nähe der Welt und des Lebens. Wenn ich bis an den Rand des Klippenmeeres gelangte und die römische Campagna unter mir sich ausdehnen sah, wollte ich meine beiden Arme ausstrecken, wollte ich aufjubeln: »Thalatta! Thalatta!«

Ich eilte, so sehr ich nur konnte: denn ich mußte noch heute entfliehen, so weit ich vermochte.

Es war noch früh. Wenn ich so fortwanderte, war ich im stande, über Tag eine gute Strecke zurückzulegen, und konnte abends in Tivoli sein. Dort war ich geborgen. Ich würde in der ›Sibylla‹ übernachten, würde köstliche Anioforellen speisen, einen herrlichen Wein dazu trinken, in einem wundervollen Bett schlafen – schlafen, ohne durch ein eisiges Grausen geweckt zu werden, ohne etwas Gräßliches zu erleben, ohne die Gegenwart eines Gespenstes ertragen zu müssen. Ich würde mit lebendigen Menschen sprechen, würde lebendige Menschen sprechen hören. Wie ich schwatzen wollte! Von den gleichgültigsten Dingen, von heiteren, lustigen. In Tivoli sangen die Leute gewiß und spielten Mandoline, Leben, Lebensfreude! Gütiger Gott, wie schön konnte deine Welt sein.

In der ersten Stunde meiner Flucht – bei diesem Namen muß ich wohl bleiben, war meine Aufregung zu groß, als daß ich eine Erschöpfung verspürt hätte. Allmählich aber geschah dies. Ich wollte jedoch keine Ermattung empfinden, wollte stark sein, wollte vorwärts eilen!

Wie müde ich war, wie ich immer müder wurde! Fast von Augenblick zu Augenblick immer müder –

Was war das nur mit mir?

Ich fühlte mich freilich seit langem angegriffen, geradezu miserabel. Von Tag zu Tag war ich elender geworden. Schwester Angelika hatte doch wohl recht mit ihrer Ansicht, daß die für mich kaum zu genießende Klosterkost wirtlich Schuld an meinem Befinden trug.

Und dann meine fieberhafte Arbeit, die grauenvolle Einsamkeit meines Aufenthaltes, die furchtbare Erregung meiner nächtlichen Erlebnisse. Auch sollte ja wohl von meiner Kraft, meinem Leben, meinem ganzen irdischen Dasein das Gespenst gezehrt haben, bis es ihm gelungen war, körperlich vor mir zu stehen, mit mir zu reden.

Es war Wahnsinn; aber auch Wahnsinn konnte Wahrheit sein.

Immer müder und müder! Dazu der hochsommerliche Sonnenbrand in der Steinwüste. Der Boden glühte, es glühte die Luft. Glut war, was ich einatmete.

Wenn ich wenigstens auf ein Hirtendorf stieß, wo ich mir einen Esel hätte nehmen können! Aber an dem von mir gewählten Weg lag nicht einmal eine Kapanne.

Um mich bei Kräften zu erhalten, stellte ich mir die Genüsse vor, die meiner am Abend warteten, wenn ich Tivoli glücklich erreicht hatte. Ich bildete mir diese Freuden mit einer Lebendigkeit ein, daß ich die Kaskaden des Anio rauschen hörte und vor mir über der grünen dunklen Schlucht den Sibyllentempel aufsteigen sah, unter dessen feierlichen Säulen ich ausruhen und ein lukullisches Mahl halten wollte.

Um mich bei Kräften zu erhalten, stellte ich mir vor, wie heute nacht meine Zelle im Kloster leer bleiben, wie die Mitternachtsglocke ertönen, wie die weißen Frauen zur Kirche ziehen, wie der Geist der Schwester Maddalena erscheinen und – sein Opfer nicht finden würde.

Welcher Triumph für mich, welche Niederlage für das Gespenst!

Aber hatte es mir nicht gesagt, daß es mir unmöglich sein werde, ihm zu entrinnen? Hatte es mich nicht gewarnt, den Versuch zu machen? Mich nicht bedroht für den Fall, daß ich den Versuch trotzdem wagen sollte –

Womit mich bedroht?

Eben damit, daß ich seiner Macht nicht entrinnen könne, daß ich in seiner Gewalt bleiben müßte. Nun, ich hatte mich dennoch von ihm freigemacht!

Was war das nur? Gott im Himmel, was war das nur, daß ich fort und fort nichts andres zu denken vermochte als: Es hilft dir nichts! Es ist vergeblich! Das Gespenst läßt dich nicht los! Du mußt ihm gehorsamen! Du mußt dich ihm unterwerfen, mußt es anhören, mußt seinen Auftrag ausführen! Keine Anstrengung hilft dir, du mußt wieder zurück.

Wieder zurück –

Angstschweiß brach aus meiner Stirn, Schauer schüttelte, Grauen ergriff mich. Ich stöhnte laut auf.

Wieder zurück, wieder zurück!

Du mußt wieder zurück!

Nein, nein, nein – Ich wollte nicht!

Also vorwärts, vorwärts durch die totenstille, braune, glühende Felsenwüste.

Und von Schritt zu Schritt müder, immer müder –

Ich konnte mich kaum noch aufrecht halten, schleppte mich weiter, schwankend, strauchelnd, hinstürzend.

Eine Weile blieb ich liegen. Dann packte mich Todesangst. Ich raffte mich auf, taumelte weiter, die Augen geschlossen, stöhnend, laut rufend, schreiend: »Ich will nicht zurück! Ich will nicht, will nicht!«

Mittag mußte vorbei sein. Wenn ich noch eine halbe, nur noch eine Viertelstunde weiter ging, so hätte ich bis Abend gar nicht wieder im Kloster zurück sein können – selbst wenn ich gewollt hatte.

Und ich wollte nicht!

 


 

Allmächtiger Gott, steh mir bei!

Helft mir, alle guten Geister des Himmels!

Ich mußte wieder zurück!

Das Gespenst selbst holte mich!

An meinem eigenen Grausen empfand ich seine Nähe, Am hellen, lichten Tage war es aus seiner Gruft gestiegen, war es mir gefolgt.

Es hatte mich eingeholt, es war bei mir, dicht hinter, dicht neben mir.

Es jagte mich zurück.

Ich konnte es nicht sehen; aber ich hörte es hinter mir, neben mir lachen.

Sein Lachen gellte durch das feierliche Schweigen des Mittags, durch die Kirchhofsstille der Einsamkeit.

Die glühenden Lüfte lachten mit; es lachte der brennende Felsenboden. Gräßlich war dieses Hohnlachen des Geistes, Die ganze Natur stimmte mit ein. Es war ein mürrisches Lachen; es tötete meine Vernunft.

Zurück! Zurück! Zurück!

Es riß mich um, es trieb mich zurück.

Wie vom Gespenst gejagt, eilte ich vorwärts. Das Schemen an meinen Fersen, vorwärts, immer vorwärts! Obgleich ich so ermattet war, daß ich glaubte meinen Geist aufgeben zu müssen, lief ich fast.

Hatte ich wenigstens hinsinken und halbtot liegen bleiben können. Aber das Gespenst gönnte nur nicht einmal das.

Es hetzte mich vorwärts, vorwärts, vorwärts!

Und bei jedem Schritt, den ich unter seiner Gewalt vorwärts that, sein gellendes, gräßliches, von Sinnen bringendes Hohnlachen.

 


 

Noch vor Abend war ich wieder da, stand ich wieder bei der weißen Mauer, vor der schwarzen Pforte, unter dem blutroten Kreuz.

Ich wollte nicht mehr fliehen.

 

Sechzehntes Kapitel

Nacht für Nacht kam es wieder zu mir; Nacht für Nacht sprach es zu mir.

Was es sprach?

Wenn ich einem Freunde oder einer Geliebten oder meinem Weibe oder sonst einem Menschen auf der Welt wiedersagte, was der Geist der Schwester Maddalena in jenen Nächten mir berichtete, so sollte das an dem liebsten Menschen, den ich auf Erden besaß, gerächt werden. Niemand auf der Welt durfte ich also es wiedersagen.

Ausgenommen waren diejenigen Personen, die das Geheimnis betraf. Sie lebten. Sie hießen so und so, wohnten dort und dort.

Ich sollte sie aufsuchen, sollte ihnen des Geheimnisses Lösung bringen, die allein die Gestorbene gekannt hatte, eine Lösung, durch die ein noch ungesühntes Verbrechen gesühnt, ein an den Sünden der Väter unschuldiges Geschlecht von einem Fluche erlöst, ein ganzes Haus von dem Verderben gerettet werden sollte.

Das war der Auftrag, den mir der Geist erteilte.

 


 

In einer Nacht befragte ich das Gespenst: »Unseliger Geist, warum hast du so lange gewartet, bis du kamst und sprachst? Und warum erschienst du nicht jenen, die dein Geheimnis betrifft? Warum, o warum mußte gerade ich der Unglückliche sein, den du dir zu der furchtbaren Mission auserkorst?«

Ich erhielt zur Antwort: »Mein Geist vermag nicht die Stätte zu verlassen, wo mein Körper in ungeheiligter Erde bestattet liegt. Da kamst du. Du besaßest die Kräfte, deren ich bedurfte, um zur Erscheinung werden zu können. Nur durch dich selbst konnte ich zu dir kommen.«

Ich stöhnt »So verwünsche ich mich selbst!«

Als es die nächste Nacht kam, that ich eine andre Frage: »Es war Flaminio, der dein Bild malte?«

»Es war Flaminio.«

»Wie konnte das geschehen? Du warst ja doch bereits Nonne.«

»Der Kardinal gebot es.«

»Bald darauf starb Flaminio?«

»Er war schon zum Tode verurteilt, als er mein Bild malte. Ich wurde zu ihm nach Rom gebracht,«

»Ins – – Gefängnis?«

»Es sollte meine Strafe sein, ihn in seinem Kerker zu sehen, um meine Schuld zum Tode verurteilt.«

»Was mußt du gelitten haben!«

»Mein Herzblut überströmte ihn,«

»Das also bedeuten die Blutstropfen, die von deinem Herzen, das du dem Herrn darbringst, auf sein Gewand niederfallen?«

»Das.«

»Deinetwillen zum Tode verurteilt, als Sterbender dein Bild malend, überwand er dich?«

»Erst dann sagte ich ihm, daß ich ihn liebte.«

»Du Unglückliche!«

»Im Tode triumphierte er über mich.«

»Ja, ja! Seine Liebe war die gewaltigere; denn sie überwand dich doch.«

»Ich brachte ihm mein blutendes Herz zum Opfer dar. Geschmückt mit meinem Herzblut, trat er seinen Todesgang an. Sein letzter Seufzer war mein Name.«

»Sterbend vergab er dir?«

»Wie der gekreuzigte Gottessohn seinen Feinden vergab.«

»Und du?«

»Mich brachten sie von Rom hierher, nachdem ich ihn hatte sterben sehen. Ich sagte ihnen, daß ich ihn liebte. Den Gott verwünschend, dem sie mich opferten, schrie ich es ihnen zu. Sie schleppten mich in dieses Haus, schlossen mich ein, damit ich bereuen sollte. Aber ich bereute nicht! Sie marterten mich hier langsam zu Tode. Aber ich bereute nicht! Sie ließen mich hier umkommen. Aber ich bereute nicht! War er doch gestorben mit meinem Namen auf seinen Lippen; hatte er mich doch geliebt bis zum Grabe und darüber hinaus.«

»Sage mir nur noch ...«

»Nichts mehr sage ich dir.«

»Ich beschwöre dich, Geist der unseligen Fürstin ...«

»Nenne den Namen nicht!«

»Ein letztes Wort! ... Das Kind, jener Knabe, es war doch –«

»Nichts mehr!«

»Nur dies eine, einzige! Ich muß es wissen!«

»Ja, du sollst wissen! Wissen sollst du, wie du in meiner Gewalt stehst, höre daher mein letztes Wort. ... Ich komme nicht wieder zu dir. Du vernahmst, was du zu erfüllen hast, und du wirst es erfüllen. Du weißt, daß du schweigen mußt, und du wirst schweigen. Du wirst von hier scheiden, aber auch fern von hier bleibst du in meiner Gewalt. Damit du erkennst, daß ich Macht habe, dich tödlich zu treffen – sieh her!«

Sie griff in ihr weites wallendes Gewand und zog aus den lichten Falten etwas hervor, was sie dann hoch in der rechten Hand hielt. Es war etwas Blinkendes, etwas wie ein goldener Pfeil oder ein Dolch. Bis dahin war sie Nacht für Nacht in der Thüre gestanden. Niemals war sie auch nur um einen Schritt vorgetreten; niemals hatte sie auch nur eine Bewegung gethan.

Als sie in die Falten ihres Gewandes griff, als sie den Arm erhob, ging sie, glitt sie, erhobenen Arms, langsam auf mich zu, bis dicht vor mich hin. Dicht neben mir stehend, wiederholte sie ihre letzten Worte: »Damit du erkennst, daß ich Macht habe, dich tödlich zu treffen...«

Sie beugte sich vor; sie neigte sich herab; sie führte mit ihrem erhobenen Arm einen Stoß nach mir, nach meiner Brust; ich fühlte an meiner Brust etwas Hartes, Stechendes, Glühendes und – fühlte dann nichts mehr vom Leben.

 


 

Als ich den ganzen nächsten Vormittag unsichtbar blieb, weder in die Kirche zu meiner Arbeit kam, noch um die bestimmte Stunde mein Essen holte, wurde Schwester Angelika unruhig, bereits seit langem bei mir den Ausbruch einer schweren Krankheit besorgend. Sie teilte der Frau Oberin ihre Befürchtung mit, erhielt Erlaubnis, nach mir zu sehen, fand meine Thüre weit offen und mich in vollen Kleidern auf meinem Lager.

Ich war bewußtlos und schwamm im Blut.

Ohne Beistand andrer leistete mir Schwester Angelika die erste notwendige Hilfe. Da ich wie leblos war, so schnitt sie mir mit einem Messer Rock und Hemd auf, reinigte meinen Oberkörper von Blut, suchte nach der Wunde. ..

Sie war fast unmerklich und rührte von einem Dolchstoß her. Die Waffe mußte äußerst scharf geschliffen gewesen und von einer kraftvollen Hand ungemein sicher geführt worden sein: gerade gegen mein Herz! Eine Linie tiefer – nur eine – und der Stahl hätte mein Herz unfehlbar durchbohrt.

Aber ich durfte nicht sterben; denn ich sollte nur eine furchtbare Warnung erhalten. Am Leben sollte ich bleiben! denn ich mußte einem Gebote gehorchen, einen Auftrag erfüllen.

Schwester Angelika stillte das Blut, wusch und untersuchte die Wunde, legte einen Verband an, brachte mich zum Bewußtsein, was ihr erst nach vieler Mühe gelang. Kaum war ich zur Besinnung gekommen, so brach das Wundfieber aus.

Lange lag ich schwer krank. Ich rang mit dem Tode, konnte nicht sterben; denn ich mußte ja leben.

Schwester Angelika pflegte mich bei Tag und bei Nacht, sie allein! Von den andern frommen Frauen kümmerte sich keine um mich, auch nicht die ehrwürdige Frau Oberin, die allerdings die einzige war, welche die innerste Klausur verlassen durfte. Auch als das Fieber nachgelassen, das Delirium aufgehört hatte und für mein Leben keine Gefahr mehr bestand, sorgte Schwester Angelika wahrhaft schwesterlich, wahrhaft christlich um mich.

Aber niemals fragte sie, wie ich zu der tödlichen Wunde gekommen sei; wie es möglich gewesen, daß ich dazu kommen konnte: im Kloster, in diesem Kloster! Wer hätte sich hier einschleichen, wer einem harmlosen Fremden nach dem Leben trachten sollen, welcher Mörder oder Rächer?

Es war so eigentümlich, schien so unmöglich, daß es unbegreiflich blieb. Trotzdem keine Frage! Nicht ein einziges Wort! Meines Wissens auch nicht von seiten der Oberin.

Schwester Angelika hatte mich in der ehemaligen, längst verlassenen Strafzelle zu Tode verwundet gefunden, es hatte geschehen können – es war eben geschehen.

Ich dankte Gott, daß keinerlei Fragen an mich gestellt wurden. Unmöglich hätte ich erwidern können: »Mich erdolchte ein Gespenst!« Und mitteilen, alles mitteilen – eher hätte ich mir selbst, ich weiß nicht welches Leid zugefügt.

Als ich endlich von meinem Schmerzenslager aufstehen konnte, war der Sommer vorbei. Längst waren die ›lieben heimatlichen‹ Bäume abgeblüht und purpurschwarz hingen die reifen Trauben an den Zweigen, diese schwer niederdrückend.

Schwester Angelika hatte mir im Freien ein Lager bereitet, darauf ich bis zur Abendkühle liegen blieb, denn immer noch war ich unfähig, auch nur einen Schritt zu thun. Mein Lager war derart aufgestellt, daß ich den Grabstein der Schwester Maddalena nicht sehen konnte.

Sobald ich nun einigermaßen erstarkt war, wollte ich fort. Aber es ist nicht zu sagen, wie langsam meine Kräfte zunahmen. Dabei erhielt ich jetzt guten Wein und auf meine Kost ward eine Sorgfalt verwendet, die mich rührte. Man mußte gemerkt haben, daß ich die mit Oel zubereiteten Speisen nicht genießen konnte, und so wurde denn eigens für mich mit Butter gekocht. Später erfuhr ich, daß die Beschaffung derselben mit unendlicher Mühe verbunden gewesen.

Da Schwester Angelika mit mir nur das Notwendigste sprach, da ich keine Lektüre besaß, da ich mich gewaltsam von meinen Gedanken und Grübeleien abziehen mußte, so bat ich, mir etwas zu lesen zu geben, ganz gleich, was. Vielleicht Legenden oder sonst christliche Erbauungsbücher. Unter den verschiedenen Sachen, die Schwester Angelika mir brachte, befanden sich einige Blätter einer von einer ungeübten Frauenhand verfaßten Klosterchronik.

Wie es zugegangen war, daß das Heft zerrissen worden und einige lose Blätter in das Buch gelangten, das ich zur Lektüre bekam, darüber vermochte ich keinerlei Auskunft zu erhalten. Als ich Schwester Angelika danach fragte, wußte sie von nichts, sie hatte in der kleinen Klosterbibliothek die Bücher für mich genommen und mir gebracht. An diesem Bescheid mußte ich mir genügen lassen.

Auf der einen Seite der Blätter aus der Klosterchronik fand ich verzeichnet:

»Heute starb die Schwester Maddalena da Padua, die im Leben und im Tod eine große Sünderin war. Zur Buße ihrer schweren Schuld in die Strafzelle verbracht, verführte sie Satanas, an ihr dem Herrn geweihtes Leben selbst Hand anzulegen, indem sie sich mit einem kleinen, goldenen Messer, das sie an ihrem Leibe verborgen bei sich trug, in das Herz stieß. Ihr sündiger Leib wurde vor der Schwelle des Hauses begraben, in ihrer Kutte ohne Sarg und statt des Rosenkranzes mit der Waffe, mit der sie die Unthat vollbrachte.

»Also geschehen und von mir, der Schwester Chiarina da Alatri, in diesem Buche verzeichnet, den siebzehnten Julius, Anno Domini 1815 ...«

Von einer andern Hand stand darunter geschrieben:

»Wir müssen unsre Strafzelle fortan unbenutzt lassen, indem daselbst die Schwester Beata da Terni von Sinnen gekommen ist. In ihrem Wahnwitz sagte die Schwester aus, daß über dem Grabstein der in ihren Sünden dahingegangenen Schwester Magdalena da Padua allnächtlich ein weißer Schein liege.

»Dieses seltsame Licht ward auch von vielen andern Schwestern gesehen.

»Der Herr erbarme sich unser aller. Amen.«

 

Siebzehntes Kapitel

Mein unglücklicher Freund erzählte mir diese ungeheuerlichen Dinge, mit mir vor dem Hause, darin sie ihm begegnet waren, auf und ab gehend in einer Erregung, als wären sie erst gestern geschehen. Ich hörte zu, von Zeit zu Zeit seine Hand fassend, sie ihm drückend, sie fest in der meinen haltend. Zu sprechen war ich nicht im stande. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Noch dazu an dieser Stätte! Niemals konnte er mich zu dem Glauben bekehren, daß es wirklich der Geist jener Nonne war, den er hier gesehen, der hier zu ihm gesprochen, ihm einen mysteriösen Auftrag erteilt, ihm schließlich einen Dolch in die Brust gestoßen hatte. Aber über jeden Zweifel erhaben galt es mir, daß Ferdinand das Entsetzliche in Wahrheit erlebt hatte – erlebt zu haben wähnte. Wie dies hatte geschehen können, wie es möglich gewesen, wie ein Mann von seiner klaren, festen Natur dermaßen einer langen Reihe von Wahnvorstellungen unterliegen und aus seinem ganzen Gleichgewicht gebracht werden konnte, das war eine Thatsache, die ich als solche anerkennen mußte und die mich vollständig um meine Fassung brachte.

Und wenn ich bedachte, daß das ganze grausige Abenteuer nicht etwa in einer einzigen Nacht, sondern in einer langen Reihenfolge von Nächten sich abspielte, denn im Frühsommer kam Ferdinand an diesen Ort und im Spätsommer befand er sich immer noch dort! so wuchs für mich das Unbegreifliche des gespenstischen Vorganges ins Riesenhafte, Wie ein Alp drückte das Gefühl des Gehörten auf mich. Angstvoll rang ich danach, für das Unerklärliche eine Erklärung zu finden, das Unfaßliche fassen zu können. ... Seine Phantasie hatte sich an dem geheimnisvollen Gemälde erhitzt, er hatte sich miserabel genährt, wochenlang, durch Monate geradezu erbärmlich gelebt; hatte in dem verlassenen Hause vielleicht doch Malaria bekommen, also vielleicht doch Fieber gehabt!

Immerhin war er nicht ernstlich erkrankt. Er arbeitete unausgesetzt, war sich der Ereignisse klar bewußt, reflektierte darüber! Und dann die Verwundung. Seine lange schwere Erkrankung an diesem gespenstischen und doch so wirklichen Dolchstich war keine Fieberphantasie. Niemand konnte sich schließlich einbilden, zu Tode verwundet worden zu sein.

Je mehr ich versuchte zu begreifen, je bedrängter ich nach einem Schatten von Verständnis suchte, um so größer wurde meine Verwirrung, meine Beunruhigung. Ich vermochte wirklich nichts andres zu thun, als des Aermsten Hand zu fassen und sie stumm in der meinigen zu halten.

Ueber die Maßen begierig war ich auf die letzte Entwickelung der Vorgänge. Das Gespenst hatte Ferdinand einen Auftrag gegeben. Gleich bei den ersten Versuchen, diesen zu erfüllen, mußte es sich zeigen, ob mein unglücklicher Freund –

Ich lasse den Satz unvollendet.

 


 

Ferdinand erzählte zu Ende: ... Du wirst hören wollen, wie es weiter kam.

Sobald ich Kräfte genug besaß, um mich auf einen Maulesel heben zu lassen und mich im Sattel zu halten, schied ich aus diesem Hause und von diesem Ort. Am letzten Abend schleppte ich mich, auf einen Stecken gestützt, noch einmal in die Kirche.

Dort stand meine Kopie unvollendet!

Meine Arbeit war gut. Aber erst an meiner guten Kopie erkannte ich die Meisterschaft des Originals; und in ihrem vollen Umfange erkannte ich sie erst heute.

Der Künstler, von dessen Kunst niemand wußte, der eines Todes durch Henkershand gestorben, war in Wahrheit ein zweiter Giorgione gewesen!

Und das Gesicht der Camaldolenserin, dieses junge, schöne, leidenschaftliche Frauenantlitz – wie gut, wie zum Entsetzen gut kannte ich jetzt diese wachsbleichen Züge, die einstmals so viel Unheil angerichtet hatten, die der Ausdruck einer solchen dämonischen Seele waren.

Aber bei dem Gedanken, das Bild mit mir zu nehmen, mein ganzes Leben damit zu belasten, grauste mir's. Es war wahrlich Schicksal genug, daß ich es an meinem Busen mit mir davon trug. Klebte doch das Blut, das aus dem Herzen der Camaldolenserin auf das lichte Gewand des Auferstandenen träufelte, jetzt auch an meinem eigenen Leben.

Auch mich hatte Schwester Maddalena besiegt: nach ihrem Tode noch!

Mit schwachen Händen löste ich die Leinwand aus ihrem Rahmen, rollte sie zusammen, schlich damit aus der Kirche. Gerade läutete die Klosterglocke das Ave. Wie die Stimme eines bösen Geistes schienen mir die gellenden Glockentöne durch die feierliche Ruhe des Abends über der Oede zu schweben.

Dann stand ich auf der höchsten Stufe der Kirchentreppe und sah zum letztenmal, wie die schwarzen Pforten in den weißen Mauern geöffnet wurden, wie aus den weißen Blütengefilden die weißen Frauengestalten hervortraten und langsam, lautlos, lautlos dem Gotteshause zuwallten.

Und da geschah, was noch niemals geschehen war: Alle die tiefgesenkten Häupter der langsam und lautlos Schreitenden hoben sich wie auf Kommando und wendeten sich mir zu. Aller Augen richteten sich auf mich und – aller Augen hatten jenen leeren, erloschenen, trostlosen Blick, mit dem sie mich jetzt grüßten wie einen, der fortan zu ihrer Gemeinschaft gehörte: zu einer Gemeinschaft von lebendig Begrabenen.

 


 

Es kam die letzte Nacht in diesem Hause!

Bis Mitternacht verharrte ich wachend auf meinem Lager. Als die Nonnen zu psalmieren anhuben, stand ich auf, nahm mein Bild, ging damit hinaus, legte es auf den Grabstein der Schwester Maddalena, zündete es an, verbrannte es zu Asche, begierig zuschauend, wie der Schein des Brandes über den Stein einen schier blutroten Glanz warf.

Bei Tagesanbruch war der Knabe Checco mit seinem Maultier da. Er belud die gute Checca mit meinen Sachen, half mir in den Sattel, und wir machten uns auf den Weg. Wir fanden das Thor weit offen und warteten auf die Pförtnerin. Aber keine Schwester Angelika war zu sehen! Checco rief, suchte. Doch sie erschien nicht. Der Knabe zog den Glockenstrang, läutete und läutete. Doch sie erschien nicht. Als wäre auch Schwester Angelika ein Geist gewesen, blieb sie für uns unsichtbar. Ohne ihr lebewohl zu sagen, ohne ihr danken zu können, mußte ich von dannen ziehen – fort, fort, weit fort!

 


 

Und dann? Und weiter?

Ich konnte nicht sogleich dorthin. Ich meine, nicht an den Ort, wohin ich gesendet worden war. Ich mußte einstweilen in Rom bleiben. Es ging mir zu schlecht, zu schlecht an Körper und Geist. Es kamen für mich noch viele böse Tage, noch viele böse, böse Nächte.

Der Geist der Schwester Maddalena erschien mir nicht mehr; aber er war in meiner Seele.

Dann ging ich ›dorthin‹...

Es war eine weite Reise. Ich langte an, ich suchte nach der mir genannten Straße, nach dem mir genannten Hause und – ich fand Straße und Haus. Ich fragte nach der mir genannten Familie und – sie lebte dort!

Das Haus war ein alter Palast und die Familie eine der ersten Fürstenfamilien Italiens.

Ich sagte den Leuten, was ihnen zu sagen mir geboten worden war. Ich brachte durch meine Aussagen die Aufklärung eines Geheimnisses, das der Fluch des Hauses gewesen. Ich machte Enthüllungen, die nicht allein für jene berühmte Familie, sondern auch für die hohe Politik Italiens von den weitgehendsten Folgen waren.

Ich erfüllte den mir erteilten Auftrag.

 

Achtzehntes Kapitel

In Rom wurde ich, der starre norddeutsche Protestant, Katholik. Eine innere Gewalt, die stärker war als jedes andre Gefühl, trieb mich dazu. Es zwang mich der Geist, den ich in mir trug.

Ich ließ in Rom Messen lesen: für die Seele der Schwester Maddalena da Padua. Jedes Jahr ließ ich für ihre Seele Messen lesen.

Es geschieht immer noch.

Erst nach vielen Jahren verheiratete ich mich. Meine Frau war meine erste Liebe, meine Jugendliebe. Wir hätten uns längst heiraten, hätten längst glücklich werden können. Ich fand jedoch nicht den Mut, das Leben eines geliebten Weibes an das meine zu ketten; ich fürchtete mich vor dem Geist in mir!

Nicht allein in meinem ganzen Denken und Fühlen verspürte ich die beständige Gegenwart des Gespenstes, sondern auch in meiner Kunst. Ich wurde Mystiker. Das wißt ihr alle. Aber niemand von euch wußte, wie ich es geworden war. Du weißt es jetzt: außer meiner Frau der einzige Mensch auf der Welt.

Ich hatte als Maler Erfolge und seltsamerweise gerade meiner mystischen Probleme wegen. Ich war glücklich in meiner Ehe. Ich gewann mir neue Freunde. Ich bekam ein holdseliges Kind.

Wir beteten unsre kleine Tochter an, trieben mit dem süßen Wesen Götzendienst ...

Aber ich vergaß, dir eines zu sagen ...

Bevor ich meine Braut heiratete, bekannte ich ihr, daß mein Leben durch ein Geheimnis belastet würde; daß ich dieses auch ihr gegenüber bewahren müßte; daß nichts mich veranlassen könnte, es ihr zu offenbaren. Ich bat sie, mir zu helfen, die schwere Last zu tragen: ich flehte sie an, niemals, niemals in mich zu dringen und wissen zu wollen; ich forderte von ihr ein Gelübde.

Sie schwur es mir; und sie hielt ihren Eid.

In einer glücklichen Ehe lebend, als Künstler geschätzt, von treuen Freunden und meiner guten Frau gebebt, in dem Lächeln unsrer reizenden Tochter den Sonnenschein meines Lebens sehend, war ich doch ein trauriger, unglücklicher Mann.

Mehr und mehr versank ich in Trübsinn. Ich konnte nicht mehr arbeiten, zog mich von allen Menschen zurück, wurde gemütskrank, mußte in einer Anstalt untergebracht werden.

Die Last des Schweigens war schuld daran!

Endlich ertrug ich es nicht länger.

Ich fühlte, daß ich von Sinnen kam, wenn ich länger geschwiegen hätte. Und ich mußte ja doch bei Verstand bleiben – meiner guten Frau, meines süßen Kindes willen!

Da sagte ich es denn meiner Frau.

Sie wollte nicht hören. Todblassen Angesichts flehte sie mich an, es ihr nicht zu sagen; beschwor sie mich, zu schweigen – um Gottes willen, um des Glückes unsres Kindes willen zu schweigen!

Ich aber sprach.

Den dritten Tag, nachdem ich es meiner Frau gesagt hatte, erkrankte unser Kind; und wiederum den dritten Tag darauf war unser Kind tot.

 


 

Mit beiden Armen umschlang ich den Unseligen. Ich weinte mit ihm – weinte um ihn! um seinen grausigen Wahn. Dann sprach ich zu ihm, so recht wie ein Mensch zum andern, wie ein Freund zum andern nur sprechen kann. Mit meiner ganzen mir zu Gebote stehenden Beredsamkeit, mit der ganzen Kraft meiner Empfindung beschwor ich ihn: an seines und seines ärmsten Weibes Leben sich nicht zu versündigen! Denn eine Versündigung war es, in dem Tod seines Kindes eine dämonische Rache und nicht eine natürliche Sache zu erkennen.

Er antwortete ganz gelassen: »In der Nacht, als unser Kind starb, kam sie zu mir.«

»Wer kam zu dir?«

»Schwester Maddalena.«

»Und sie sagte dir, daß...«

»Daß unser Kind in der nämlichen Nacht sterben müßte.«

»Weil du deiner Frau den Auftrag des Geistes verraten hast?«

»Darum.«

Ich schrie auf: »Ferdinand!«

Er wiederholte mir: »Darum mußte unser Kind sterben.«

 


 

Der Morgen dämmerte, als er mir dieses Letzte, dieses Furchtbarste sagte.

Ich sah mich um. Ich sah den Grabstein vor der Schwelle des verlassenen Hauses, dessen Thür weit offen stand. Ich las die Inschrift auf dem Stein.

Wenn von der ungeheuerlichen Geschichte alles so wahr war wie dieser Grabstein, vor dem wir standen. ... Ich las den Namen, der tief in den Stein eingegraben war; und ich mußte mich zwingen, ihn nicht mit einer lauten Verwünschung zu nennen: »Schwester Maddalena da Padua!«

Es war der Name des Dämons, der meines edlen Freundes Leben zerstört hatte.

Dann trat ich über den Stein ins Haus, aus dem mir eine feuchte Moderluft entgegendrang.

Es entsprach genau Ferdinands Schilderung. Gras und Unkraut füllte die beiden kleinen Räume; selbst die Wände waren mit dem schönen zarten Laub der Nymphenfarne umsponnen, ein bedenkliches Zeichen von großer Feuchtigkeit: denn wo der Nymphenfarn üppig gedeiht, ist Malaria. Wir durften von Glück sagen, hatten wir diese Nacht im Freien verbracht, ohne dem Genius des Ortes unsern Tribut zahlen zu müssen. Aber der mörderische Genius loci war ja nicht die Malaria, sondern Schwester Maddalena! Wenigstens war es dies für den Unseligen, der daran glaubte.

 


 

Mein Freund hatte mir seine Geschichte erzählt; wir hatten eine Nacht schlaflos an einem abscheulichen Ort in Fieberluft verbracht; wir durften gehen, was wir denn auch thaten, ohne uns in dem verlassenen Heiligtum Sant Romualds länger aufzuhalten, als wir zum Hinausschreiten brauchten.

Unvergeßlich wird mir der Eindruck bleiben, den das Kloster bei Morgengrauen auf mich machte: der ganze Ort schien das Gespenst einer Stätte zu sein! Wir eilten dann, daß auch unser Fortgang gleich Flucht war.

Nach zwei Stunden starken und beschwerlichen Marsches befanden wir uns in jenem Hirtendorf, wo Ferdinand damals gehaust hatte. Es war ein elender Aufenthalt, der mir jedoch, im Vergleich mit dem verlassenen Kloster in der Felsenklause, wie ein Garten Eden erschien.

Wir genossen Ziegenmilch, Brot und ein Gericht wilden Spargels mit Oel und Käse bereitet. Vollständig ausgehungert, wie wir waren, schmeckte es köstlich – mir wenigstens. Nach dem Essen legten wir uns vor unsrer Hütte unter einer alten Olive, dem einzigen Baum, der im Umkreise von einer Stunde in der Steinwüste wuchs, zur Ruhe nieder. In dem spärlichen Schatten thaten wir einen langen Schlaf, aus dem ich zuerst erwachte.

Ich erhob mich und schlenderte durch den armseligen Ort, dessen Bewohner mich für eine Sehenswürdigkeit zu halten schienen. Auch hatte ich bereits nach den ersten zwanzig Schritten sämtliche Kinder hinter mir. Die braune Brut heulte mich wie eine Schar von Wilden um »Bajochi« an. Da ich die Höllengeister nicht zu bannen vermochte, so flüchtete ich mich schließlich in die Hütte unsres Wirtes, diesen beschwörend, die Thür – sie diente zugleich als Fenster und Rauchfang, sofort zu schließen. Solchermaßen gegen einen Ueberfall gesichert, ließ ich mich mit dem Alten in ein Gespräch ein.

»Ihr wohnt hier einsam.«

»Was wollt Ihr? Es ist nun einmal so.«

»Aber Ihr habt hier oben gute Luft!«

»Der Madonna sei Dank, wir kennen hier keine Malaria.«

»Früher hattet Ihr wenigstens die guten Klosterfrauen in der Nachbarschaft?«

»Ja, früher.«

»Saht Ihr sie bisweilen?«

»Die sah niemand.«

»Heute nacht waren wir dort.«

»Im Kloster?«

»Nun ja.«

»Und die Nacht über, sagt Ihr, wart Ihr dort?«

»Wir kamen spät hin, glaubten dort Unterkunft zu finden.«

»Ihr wart die Nacht über im Kloster! Die ganze Nacht?«

»Was wollten wir thun? ... Das Kloster scheint schon lange verlassen zu sein.«

»Ziemlich lange.«

»Wohl wegen Malaria?«

»Und auch sonst wegen mancher Dinge.«

Ich zwang mich zu einem Auflachen.

»Es werden doch keine Geister umgehen?«

»Ihr wart ja wohl die ganze Nacht über im Kloster?«

»Ohne von einem Spuk etwas gesehen zu haben, versichere ich Euch.«

»Die Madonna behüte uns!«

»Euren Reden nach scheint es in dem verlassenen Kloster nicht richtig zu sein?« »Ich weiß von nichts.«

»Erzählt doch.«

»Das sind Sachen, darüber ein guter Christ nicht gern spricht.«

»Also der Geister wegen mußten die guten Klosterfrauen abziehen?«

»Ich weiß von nichts.«

»O, Ihr wißt recht gut und thätet mir einen Gefallen, wenn Ihr mir die Sachen, die Ihr wißt, erzählen würdet.«

»Als mein Sohn noch ein Bube war, brachte er den Schwestern jede Woche auf einem Maultier, das zum Kloster gehörte, allerlei Dinge.«

»Ist Euer Sohn hier?«

»Herr, er ist tot.«

»Der Arme!«

Nach einer Pause begann ich von neuem: »Euer Sohn ist wohl aufgehoben. ... Also er kannte die Nonnen?«

»Er kannte die Schwester Angelika.«

»Das war wohl die Pförtnerin?«

»Eine andere sah mein Sohn nie.«

»Aber von den Geistern, die im Kloster umgehen sollen, hörte er gewiß!«

»Er sprach nicht gern davon.«

Unser Gespräch stockte. Plötzlich fragte der Alte: »Seid Ihr Engländer?«

»Mein Freund und ich sind Deutsche.«

»Das ist doch das Nämliche?«

»Nicht ganz, 's ist aber einerlei.«

»Einmal wohnte im Dorf ein Engländer, der alle Tage ins Kloster ging.«

»War das erlaubt?«

»Er war kein Christ, wißt Ihr.«

»Ach so! Also weil er kein Christ war, ließen ihn die Nonnen ins Kloster?«

»Nun ja.«

»Woher wißt Ihr, daß der Mann kein Christ war?«

»Die Schwester Angelika hatte es meinem Buben gesagt.«

»So, so! Die Schwester Angelika ...«

»Mein Bube mußte dann seine Sachen hinbringen.«

»Er wohnte später im Kloster?«

»Den ganzen Sommer über.«

»Und dann?« »Dann ward er im Kloster verrückt.«

»Verrückt?«

»So meinte mein Sohn.«

»Aber wie konnte der Mann im Kloster verrückt werden?«

Flüsternd ward mir erwidert: »Weil er den Geist gesehen hatte.«

»Welchen Geist?«

»Nun, den Klostergeist.«

»Ach so!«

»Der Klostergeist war ihm erschienen, weil er kein Christ war.«

»Darum?«

»Er hatte ihm gesagt, daß er Christ werden sollte.«

»Der Klostergeist dem Fremden?«

»Dem Engländer.«

»Und darüber wurde dieser verrückt?«

»So meinte mein Sohn.«

»Und wurde der Engländer ein Christ?«

»Der Madonna sei Dank: sie hat seine Seele gerettet.«

»Von wem erfuhrt Ihr das?«

»Von meinem Sohn.«

»Der hörte es gewiß von der Schwester Angelika?«

»Freilich, von der.«

»So, so! Von der Schwester Angelika –«

Auf alle weiteren Fragen vernahm ich nur noch, daß die Nonnen vor ungefähr zehn Jahren das Kloster verlassen hatten und daß im Volke allgemein der Glaube herrschte, der Klostergeist hätte sie vertrieben. Mein alter Hirte schüttelte freilich etwas den Kopf zu diesem Geist und meinte: »Da sie doch heilige Frauen waren, hätten sie stärker sein müssen als das Gespenst.«

Das meinte auch ich.

 

Neunzehntes Kapitel

Dann starb mein Freund ... Beim ersten Wiedersehen mit seiner Witwe sagte diese, sobald wir allein waren: »Als Sie damals von der Villa Falconieri aus mit Ferdinand die Wanderung durch das Sabinergebirge machten und bei dieser Gelegenheit auch jenes verlassene Bergkloster besuchten, da erzählte er Ihnen, was ihm dort begegnet war?«

»Ja, liebe Freundin.«

»Glauben Sie an die Sache?«

»Glauben Sie nicht daran?«

Die arme Frau sah mich mit einem trostlosen Blick an, schwieg lange, sagte endlich leise: »Erlassen Sie mir die Antwort. ... Erzählte er Ihnen auch von dem Auftrag, den das Gespenst ihm erteilte?«

»Ja.«

»Und daß er den Auftrag ausführte?«

»Auch das.«

»Er sagte Ihnen aber doch nicht, worin dieser bestand?«

»Gewiß nicht. Sie wissen ja, daß er es mir nicht sagen durfte.«

»Mir sagte er's.«

»Leider, leider.«

»Gleich darauf starb unser Kind.«

Ich rief aus: »Sie werden seinen entsetzlichen Wahn doch nicht teilen?«

»Daß unser Kind darum starb?«

»Beste Freundin, um Gottes willen! ... Unmöglich können auch Sie das glauben!«

»Sie meinen: ohne darüber von Sinnen zu kommen?«

»Ich beschwöre Sie ...«

Sie machte eine angstvolle Gebärde: »Bitte nicht ...« Und nach einer Pause: »Ich kann nicht ertragen, davon zu reden; noch immer nicht.«

Wiederum trat zwischen uns eine lange Stille ein. Dann sagte sie: »Ich weiß, er hat Ihnen erlaubt, die Geschichte nach seinem Tode niederzuschreiben.«

»Ja. Wenn Sie jedoch wünschen, daß es nicht geschieht, so ist sie selbstverständlich bei mir begraben.«

»Schreiben Sie nur. Unser holdes Kind ist tot, mein armer Mann ist tot. ... Wissen Sie, daß mein Mann seinen Tod vorauswußte?«

»Nein.«

»Drei Tage vorher wußte er ihn.«

»Ihr Mann war sehr krank. Da war es denn sehr wohl möglich ...« »Er war kurz vor seinem Tode nicht kränker, als er es seit Jahren und Jahren war.«

»Wie? Seit Jahren!«

»Bereits seit seinem ersten römischen Aufenthalt.«

Ich wollte reden: aber ihr angstvoll flehender Blick bat mich von neuem um Schweigen und Schonung.

Dann sprach sie aber doch davon! »Als er mir sagte, daß wir uns nicht heiraten könnten, daß es ein Verbrechen wäre, mein Leben an das seine zu ketten, da wußte ich's gleich.«

»Seine Krankheit?«

Sie bejahte: »Er erzählte mir seine Erlebnisse in jenem Kloster, und da wußte ich's.«

»Und daß er unheilbar krank sei?«

»Ja, unheilbar.«

»O mein Gott!«

»Gott half uns nicht.«

»Aber Sie halfen Ihrem ärmsten Manne, Sie!«

»Er bedurfte der Hilfe einer Frau, die ihn über alles liebte. Sie waren sein bester Freund. Sie wissen, wie man ihn lieben konnte: eben über alles – wenn man eine Frau und sein Weib war.«

»Er war ein herrlicher Mensch, Sie können Hamlet citieren: Welch edler Geist ward hier zerstört« ...

 


 

Noch nach einem mußte ich seine Witwe fragen – ich mußte!

»Hielten Sie, die Sie in den Auftrag des Gespenstes durch Ihren Mann eingeweiht waren, niemals heimlich Nachforschungen in dieser Stadt, ob die bewußte Familie wirklich existiert?«

»Ich hielt Nachforschungen.«

»Nun, und? ... Ich bitte Sie, reden Sie, reden Sie!«

»Das ist es ja eben, was um den Verstand bringen kann.«

Ich rief: »Jene Familie ist kein Wahngebilde Ihres kranken Gatten?«

»Kein Wahngebilde!«

 


 

Später sprach ich noch einmal mit ihr darüber: »Ferdinand ist tot. Aber Sie werden nichts verraten wollen? Ich meine, was den Auftrag des Geistes an Ihren Mann und jene Familie betrifft?« »Ich kann davon nicht sprechen. Selbst zu Ihnen nicht. Zu Ihnen erst recht nicht.«

»Wieso gerade zu mir nicht?«

»Ein Unglück könnte Sie treffen,«

»Sie fürchten die Rache des Geistes auch für mich?«

»Ja, ich fürchte.«

Und sie sagte es noch einmal, mit einem Ton, einem Blick –

»Ich fürchte, ich fürchte! Es graust mir vor Furcht.«

Voller Entsetzen starrte ich sie an, als wäre auch sie von dem Furchtbaren befallen; von der Krankheit ihres Mannes, die diese Heldin, diese Märtyrerin von einer Gattin, bis zu seinem Tode vor aller Welt zu verbergen wußte.

Sie mißverstand meinen Blick, begann am ganzen Leibe zu zittern, rief schreckensbleich: »Es ist eine Art von italienischer Kaspar Hauser-Geschichte. Das Kind jener beiden ...

»... Aber nein, nein! Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«

 


 

Als sie sich beruhigt hatte, erzählte sie mir aus freien Stücken von Ferdinands Tod.

»Ich sagte Ihnen einmal, er hätte seinen Tod drei Tage vorausgewußt.«

»So sagten Sie.«

»Es war in der Nacht und ich wachte bei ihm. Die Dienstboten schliefen. Ich saß an seinem Bette, darin er mit geschlossenen Augen lag, ruhig atmend. Plötzlich ging die Thür auf, die aus dem Gang in das Schlafzimmer führte.«

»Sie sahen sie aufgehen?«

»Ich sah es, und ich sah ...«

»Was, was?«

»Einen langen, schmalen, blassen, ganz blassen Schein.«

»Der plötzlich durch die offene Thür ins Zimmer fiel?«

»Der aus dem Gang ins Zimmer glitt, bis zum Bette, In demselben Augenblick öffnete Ferdinand die Augen und sagte mit lauter klarer Stimme: ›Maddalena!‹«

»Er phantasierte!«

»Und er sagte mit lauter, klarer Stimme dreimal: ›Maddalena!‹«

»Aber Sie?« »Ich sah den schmalen, blassen Schein dicht an seinem Bette stehen, ihm zu Häupten. Er hatte Menschengröße.«

»Dann verschwand es?«

»Dann glitt es wieder aus dem Zimmer.«

»Und das sahen Sie?«

»Das sah ich. Und ich phantasierte nicht.«

»Was thaten Sie?«

»Ich ging dem Schein nach bis zur Thür. Dann sah ich nichts mehr. Ich schloß die Thüre und kehrte zu meinem Mann zurück. Er saß aufrecht im Bette und sagte mir: Die Schwester Maddalena sei bei ihm gewesen und – in drei Tagen werde er sterben. Er freute sich auf seinen Tod, der eine Erlösung war, eine Erlösung auch für mich – wie er meinte.«

»Was müssen Sie gelitten haben!«

»Mitunter war es nicht leicht. ... Wissen Sie, daß ich Stunden gehabt habe, in denen ich Gott auf meinen Knieen für seine Gnade dankte.«

»Für welche Gnade?«

»Daß er unser süßes Kind zu sich nahm.«

»Sagen Sie das nicht! Wie können Sie so etwas Furchtbares sagen? Gerade Sie?«

»Vielleicht hätte ich auch meinem Kinde lebenslang eine Hüterin und Wärterin sein müssen. Für mich wäre das freilich kein Unglück gewesen, aber für mein liebes Kind war es das Beste, daß es starb. Denn denken Sie doch ...«

Ich wandte mich ab, um die ärmste Gattin und Mutter, die als Braut so gerne gelacht hatte, nicht mein Gesicht sehen zu lassen.

 

Ende.


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