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18. Der kleine Vogel

Ein Mann und eine Frau wohnten in einem hübschen kleinen Hause, und es fehlte ihnen nichts zu ihrer vollen Glückseligkeit. Hinter dem Hause war ein Garten mit schönen alten Bäumen, in dem die Frau die seltensten Pflanzen und Blumen zog. Eines Tages ging der Mann im Garten spazieren, freute sich über die herrlichen Gerüche, welche die Blumen ausströmten, und dachte bei sich selbst: ›Was du doch für ein glücklicher Mensch bist und für eine gute, hübsche, geschickte Frau hast!‹ Wie er das so bei sich dachte, da bewegte sich etwas zu seinen Füßen.

Der Mann, der sehr kurzsichtig war, bückte sich und entdeckte einen kleinen Vogel, der wahrscheinlich aus dem Neste gefallen war und noch nicht fliegen konnte.

Er hob ihn auf, besah ihn sich und trug ihn zu seiner Frau.

»Herzensfrau,« rief er ihr zu, »ich habe einen kleinen Vogel gefangen; ich glaube, es wird eine Nachtigall!«

»Lieber gar!« antwortete die Frau, ohne den Vogel auch nur anzusehen. »Wie soll eine junge Nachtigall in unseren Garten kommen? Es nisten ja keine alten drin.«

»Du kannst dich darauf verlassen, es ist eine Nachtigall! Übrigens habe ich schon einmal eine in unserem Garten schlagen hören. Das wird herrlich, wenn sie groß wird und zu singen beginnt! Ich höre die Nachtigallen so gern!«

»Es ist doch keine!« wiederholte die Frau, indem sie immer noch nicht aufsah; denn sie war gerade mit ihrem Strickstrumpf beschäftigt, und es war ihr eine Masche heruntergefallen.

»Doch, doch!« sagte der Mann, »ich sehe es jetzt ganz genau!« und hielt sich den Vogel dicht an die Nase.

Da trat die Frau heran, lachte laut und rief: »Männchen, es ist ja bloß ein Spatz!«

»Frau,« entgegnete hierauf der Mann und wurde schon etwas heftig, »wie kannst du denken, daß ich eine Nachtigall gerade mit dem Allergemeinsten verwechseln werde, was es gibt! Du verstehst gar nichts von Naturgeschichte, und ich habe als Knabe eine Schmetterlings- und eine Käfersammlung gehabt.«

»Aber, Mann, ich bitte dich, hat denn wohl eine Nachtigall einen so breiten Schnabel und einen so dicken Kopf?«

»Jawohl, das hat sie; und es ist eine Nachtigall!«

»Ich sage dir aber, es ist keine; höre doch, wie er piepst!«

»Kleine Nachtigallen piepsen auch.«

Und so ging es fort, bis sie sich ganz ernstlich zankten. Zuletzt ging der Mann ärgerlich aus der Stube und holte einen kleinen Käfig.

»Daß du mir das eklige Tier nicht in die Stube setzt!« rief ihm die Frau entgegen, als er noch in der Türe stand. »Ich will es nicht haben!«

»Ich werde doch sehen, ob ich noch Herr im Hause bin!« antwortete der Mann, tat den Vogel in den Käfig, ließ Ameiseneier holen und fütterte ihn – und der kleine Vogel ließ sich's gut schmecken.

Beim Abendessen aber saßen der Mann und die Frau jeder an einer Tischecke und sprachen kein Wort miteinander.

Am nächsten Morgen trat die Frau schon ganz früh an das Bett ihres Mannes und sagte ernsthaft: »Lieber Mann, du bist gestern recht unvernünftig und gegen mich sehr unfreundlich gewesen. Ich habe mir eben den kleinen Vogel noch einmal besehen. Es ist ganz sicher ein junger Spatz; erlaube, daß ich ihn fortlasse.«

»Daß du mir die Nachtigall nicht anrührst!« rief der Mann wütend und würdigte seine Frau keines Blickes.

So vergingen vierzehn Tage. Aus dem kleinen Häuschen schienen Glück und Friede auf immer gewichen zu sein. Der Mann brummte, und wenn die Frau nicht brummte, weinte sie. Nur der kleine Vogel wurde bei seinen Ameiseneiern immer größer, und seine Federn wuchsen zusehends, als wenn er bald flügge werden wollte. Er hüpfte im Käfig umher, setzte sich in den Sand auf den Boden des Käfigs, zog den Kopf ein und plusterte die Federn auf, indem er sich schüttelte, und piepste und piepste – wie ein richtiger junger Spatz. Und jedesmal, wenn er piepste, fuhr es der Frau wie ein Dolchstich durchs Herz. –

Eines Tages war der Mann ausgegangen, und die Frau saß weinend allein im Zimmer und dachte darüber nach, wie glücklich sie doch mit ihrem Manne gelebt habe; wie vergnügt sie von früh bis zum Abend gewesen seien und wie ihr Mann sie geliebt – und wie nun alles, alles aus sei, seit der verwünschte Vogel ins Haus gekommen.

Plötzlich sprang sie auf wie jemand, der einen raschen Entschluß faßt, nahm den Vogel aus dem Käfig und ließ ihn zum Fenster in den Garten hinaushüpfen.

Gleich darauf kam der Mann.

»Lieber Mann,« sagte die Frau, indem sie nicht wagte, ihn anzusehen, »es ist ein Unglück passiert; den kleinen Vogel hat die Katze gefressen.«

»Die Katze gefressen?« wiederholte der Mann, indem er starr vor Entsetzen wurde. »Die Katze gefressen? Du lügst! Du hast die Nachtigall absichtlich fortgelassen! Das hätte ich dir nie zugetraut. Du bist eine schlechte Frau. Nun ist es für ewig mit unserer Freundschaft aus!« Dabei wurde er ganz blaß, und es traten ihm die Tränen in die Augen.

Wie dies die Frau sah, wurde sie auf einmal inne, daß sie doch ein recht großes Unrecht getan habe, den Vogel fortzulassen, und laut weinend eilte sie in den Garten, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht dort noch fände und haschen könnte. Und richtig, mitten auf dem Wege hüpfte und flatterte das Vögelchen; denn es konnte immer noch nicht ordentlich fliegen.

Da stürzte die Frau auf dasselbe zu, um es zu fangen, aber das Vögelchen huschte ins Beet und vom Beet in einen Busch, und von diesem wieder unter einen andern, und die Frau stürzte in ihrer Herzensangst hinter ihm her. Sie zertrat die Beete und Blumen, ohne im geringsten darauf zu achten, und jagte sich wohl eine halbe Stunde lang mit dem Vogel im Garten herum. Endlich erhaschte sie ihn, und purpurrot im Gesicht und mit ganz verwildertem Haar kam sie in die Stube zurück. Ihre Augen funkelten vor Freude und ihr Herz klopfte heftig.

»Goldner Mann,« sagte sie, »ich habe die Nachtigall wieder gefangen. Sei nicht mehr böse; es war recht häßlich von mir!«

Da sah der Mann seine Frau zum ersten Male wieder freundlich an, und wie er sie ansah, meinte er, daß sie noch nie so hübsch gewesen wäre wie in diesem Augenblicke. Er nahm ihr den kleinen Vogel aus der Hand, hielt ihn sich wieder dicht vor die Nase, besah ihn sich von allen Seiten, schüttelte den Kopf und sagte dann: »Kindchen, du hattest doch recht! Jetzt sehe ich's erst; es ist wirklich nur ein Spatz. Es ist doch merkwürdig, wie sehr man sich täuschen kann.«

»Männchen,« erwiderte die Frau, »du sagst mir das bloß zuliebe. Heute sieht mir der Vogel wirklich selbst ganz wie eine Nachtigall aus.«

»Nein, nein!« fiel ihr der Mann ins Wort, indem er den Vogel noch einmal besah und laut lachte, »es ist ein ganz gewöhnlicher – Gelbschnabel.« Dann gab er seiner Frau einen herzhaften Kuß und fuhr fort: »Trag ihn wieder in den Garten und laß den dummen Spatz, der uns vierzehn Tage lang so unglücklich gemacht hat, fliegen.«

»Nein,« entgegnete die Frau, »das wäre grausam! Er ist noch nicht recht flügge, und die Katze könnte ihn wirklich kriegen. Wir wollen ihn noch einige Tage füttern, bis ihm die Federn noch mehr gewachsen sind, und dann – dann wollen wir ihn fliegen lassen!« –

Die Moral von der Geschichte aber ist: wenn jemand einen Spatz gefangen hat und denkt, es sei eine Nachtigall – sag's ihm beileibe nicht; denn er nimmt's sonst übel, und später wird er's gewiß von selbst merken.

*


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