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Die Stadt war beflaggt, und alle Glocken läuteten. Die große Parade zur Gedächtnisfeier von Nuits hatte begonnen. Die ganze Mitte des Marktplatzes nahm das Militär ein; rechts und links, an den Fenstern der Häuser zeigte sich Kopf an Kopf; auf der Gasse, fast bis zu den Trottoirs zurückgedrängt, stand das Volk, von den Schutzleuten und Soldaten streng in Ordnung gehalten.
Jetzt schritt der Landesfürst inmitten der Generalität und unter den Klängen des Präsentiermarsches die Front seiner alten Krieger ab. Es folgte das erste Präsentieren für die Gefallenen, sodann führten die Veteranenoffiziere ihre Leute unter den Klängen des Parademarsches an dem Landesfürsten vorbei.
Es stand da unter dem Volk, ganz vorn, eine Frau, die zur großen Belustigung der Umstehenden, 178 sich ohne Unterschied bald mit dem Polizeidiener, bald mit dem Posten herumstritt, die sich immer wieder gezwungen sahen, sie mit einem: Zurück! zur Ordnung zu rufen. Allein das höchst resolut aussehende Frauenzimmer drängte sich schon im nächsten Augenblick wieder aus der Reihe heraus.
»Jetzt höre Sie 'mal,« fuhr endlich der Polizeidiener sie an, »Sie habe zu gehorche und Respekt vor mir zu habe, wenn ich Ihne was sag'!«
»Du lieber Gott, auch noch,« lachte sie auf, »da schaue Sie mich an, ich und Respekt vor jemand habe, den Buckel möcht' mer sich voll lache; was meine Sie dann, warum ich vom Bühlerthal rein komm'?«
»Das ist mir ganz einerlei, Sie habe sich ruhig zu verhalte oder Sie gehe da weg.«
»Natürlich, auf der Stell', da kenne Sie mich schlecht; wann eins da her gehört, so bin ich's – ach Herr Jessesle, Herr Jessesle,« schluchzte sie plötzlich auf, »da kommt sie, da kommt mei Kompanie – der ganz' Krieg lang sind mir zusamme g'west – ich und mei Kompanie, ein Herz und ein' Seel' – auf der erst' Blick hab' ich den Schwarze, der Fahneträger, wieder kennt, aber sonst, großer Himmel, habe sich die Manne 179 verändert, z'meist graue Kerle sind's worde; wer isch auch der Offizier, der sie führt?«
Man nannte ihr einen Namen. »Ha, das isch jo mei Leutnant, freilich isch's mei Leutnant, nur der Bart hat er sich wachse lasse, drum hab' ich ihn net gleich kennt; er war damals unser Jüngster; ach Gott, ich weiß noch wie heut', wie er emal ganz verfrore an mei'm Feuerle g'sesse isch, und ich hab' ihm ein Schüssele Kaffee eingeschenkt; er isch damals ein frischbacket's Leutnantle g'west von achtzehn Jahr, ich war neunundzwanzig. Jetzt will ich Ihne was sage, hab' ich zu ihm gesagt, jetzt sind Sie emal gleich net so leichtsinnig, denn Sie habe ein paar unruhige Eltern daheim, und ziehe Sie frische Socke an, denn Sie habe ganz nasse Füß –«
Sie brach von neuem in Thränen aus! »Wer isch denn – ja, wer isch denn der Stelzfuß dort, der Flügelmann im letzte Zug – was isch jetzt das für einer? Ich mein', ich sollt' ihn kenne –«
Der Polizeidiener riß die Frau, die Anstalten machte, »ihrer Kompanie« nachzueilen, zurück.
»Jetzt sag' ich's Ihne zum letztemal, entweder Sie bleibe auf ihrem Platz, oder –«
180 Sie sah ihn mit blitzenden Augen an. »Mache Sie mich net wild, Sie, indem Sie kein' Respekt habe und zwar vor der Vergangeheit. Was meine Sie denn, wie mir's zu Mut isch, alle die wieder zu sehe, mit dene ich jung war; jetzt sind mer alt, viele hat's koscht', Gott hab' sie selig, dazwische hat mer hingelebt und 's meist' vergesse; heut steht's wieder uf; jung sein isch schön, Herr Polizeidiener, aber heut' möcht' ich net mal mit Ihne tausche, und wenn noch so viele Leut vor Ihne Respekt hän – ha, schau doher!« jubelte sie auf, »als hätt's ihne mei guter Engel 181 gesteckt, stellt sich mei Kompanie geradewegs vor meiner Nas' auf – He, he!« rief sie den ihr gegenüber stehenden Veteranen zu, »ich bin's jo – kennt ihr mich denn net? Ich, ich –«
Die Männer sahen die rundliche, lebhaft gestikulierende Frau, deren dunkles Haar ein leichter Reif bedeckte, verständnislos an, und der Polizeidiener triumphierte schon: »Habe Sie's jetzt gesehe, kein Mensch will was von Ihne wisse.«
Allein eh' er sich's versah, stand die Frau mitten auf dem Platz vor dem Bataillonskommandeur.
»Sie, Herr Leutnant, ich bitt' Ihne um alles in der Welt, bin ich denn so eine alte Hutzel worde, daß Sie die luschtig' Weber-Mine nimmer kenne?«
»Was!« der Offizier packte die Person an beiden Schultern und schüttelte sie, »richtig, das sind Ihre schwarzen Augen, und bei Gott, die schönen Zähne sind auch noch da!«
»Gelle Sie,« rief sie aus, »und die dumme Kerle kenne ei'm nimmer!«
Der Offizier wandte sich um: »Es ist die Weber-Mine, unsere Markedenterin, ihr Leute!«
Das war eine Freude, ein Geschrei, sie 182 vergaßen alle, daß sie in Reih' und Glied zu stehen hatten, und stürzten auf die Frau zu; viele umarmten sie, die anderen schüttelten ihr die Hände, und jeder fragte sie 'was anderes.
Nur einer war nicht gekommen – der Stelzenmann war auf seinem Platz geblieben, und als die Frau ihn mit ihrem Blick suchte, begegnete sie dem seinen. Und nun wußte sie, wer er war, und von dem Augenblick an lag's ihr wie ein Dämpfer auf der Freude, daß sie nur noch halb auf die Worte der Männer hinhörte, die sie bestürmten: »Du kommsch heut abend zur Feschtfeier, gelt, Weber-Mine, wir müsse zusamme anstoße – gelle Sie, Herr Major, sie gehört dazu, sie isch so gut unser Kamerad wie jeder andere?«
Sie nickte nur und sagte ja, dann stellten sich die Veteranen wieder in Reih und Glied, und die Veteranin kehrte auf ihren Platz zurück. Der Polizeidiener behandelte sie jetzt mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, und sie war der Gegenstand der Neugier für alle Umstehenden: aber sie bemerkte nichts davon, sondern stand in Gedanken verloren ihrer Kompanie gegenüber, bis diese sich in Bewegung setzte.
183 Das also war aus dem Steiner geworden, aus dem jungen Soldaten, dem sie einst gut gewesen, bis ein anderer ihn aus ihrem Herzen verdrängt. Sie hatte es damals nicht Wort haben wollen und die Blinde und Taube gespielt, aber trotzdem hatte sie es bemerken müssen, wie aus dem stillen, zurückhaltenden und ordentlichen Menschen auf einmal ein Trinker geworden war, der ausgelassene Reden führte und von dem es da und dort in der Kompanie hieß: der Steiner ruht nicht, bis er eine Kugel hat, der thut wahrhaft Gott versuchen, so tollkühn stellt er sich an.
Und er hatte seine Kugel gekriegt, aber sie, die Weber-Mine, hatte damals ihren eigenen Kampf zu kämpfen und keine Zeit, an Steiners Schicksal zu denken.
Des Abends in der Festhalle traf die Marketenderin wieder mit ihrer Kompanie zusammen. Eine mehr als tausendköpfige Menge trieb sich in dem mächtigen Saal herum, dessen Galerien bis hoch hinauf von der jungen Mannschaft besetzt waren. Lebende Bilder aus den Feldzugstagen des Regiments wurden aufgeführt, und der Landesfürst hielt an seine alten Soldaten eine Rede, die 184 ihnen ein Hochgeschrei entlockte, das wie Donnerschall durch den Saal brauste.
Erst zu vorgerückter Stunde fand das Bankett statt. »So, jetzt kommt mer endlich auch zu Wort,« sagte die Weber-Mine, nachdem sie mit ihrer Kompanie an einem Tische Platz genommen, »das isch ja alles recht schön, aber immer nur gucke und horche, das macht eine thatkräftige Natur, wie ich eine bin, ganz kaput. Jetzt, Ihr Manne, do wäre mer wieder bei'nander!«
»Alte Köpf' habe mer kriegt,« schrie einer, »ich hab' siebe Bube, wer noch?«
In kurzer Zeit hatte die aus vierzig Mann bestehende Kompanie ausgerechnet, daß sie eine Nachkommenschaft von hundertundfünfzig Buben und Mädeln aufzuweisen hatte, auf deren Gedeihen alsbald ein Glas geleert wurde.
Die Markedenterin und der Stelzenmann ihr gegenüber trafen sich mit dem Blick und stellten dann plötzlich wie auf Verabredung ihr halbvolles Glas auf den Tisch.
»He, Weber-Mine,« rief einer, »hascht du net auch Famill'?«
»Ich bin allei',« gab sie zur Antwort, »der 185 Mann isch vor sechs Jahr g'storbe, Kinder hab' ich keine.«
»Hui, das war eine Lieb' damals,« meinte einer der Männer, »wißt ihr noch, d' Weber-Mine und ihr Bergerle? Er war so ein geschniegelt's Bürschle und hat uns alle den Rang abgelaufe; von kei'm hat sie was wisse wolle, als von dem –«
»Lasse mer die alte Zeite,« meinte sie, einen verlegenen Blick auf den ihr gegenüber sitzenden Stelzfuß werfend, der jedoch nicht aufsah, sondern sein Essen mit der Aufmerksamkeit eines Menschen genoß, dem nicht alle Tage was Gutes beschert wird.
»Aber,« sagte einer der Männer, »wir nenne die alte Kriegskamerädin immer noch Weber-Mine und müßten doch eigentlich Frau Bergerle zu ihr sage –«
»Gott bewahr',« fiel sie dem Mann ins Wort, »ich bin immer d' Weber-Mine g'west, auch verheirat', und die bleib' ich, und wär' ich so dumm, und thät noch emal heirate.«
»Sie scheint net ganz vergnügt g'west zu sein in der Eh',« meinte einer.
»Net b'sonders,« warf sie hin.
186 »Herrgott,« schrieen sie durcheinander, »und hat ihren Schatz mitte aus'm Feuer geholt, damals –«
»Ja, ja, der Feind war auf der Höhe und hat in die Marschkolonne 'neingeschosse – der Bergerle isch gefalle, und über ei'mal bleibt d' Weber-Mine mit ihrem Wage zurück, schleppt ihren Schatz daher und ladet ihn auf –«
»Kreuzelement, und nachher hat er net emal der Herr im Haus sein derfe!«
Die alte Markedenterin schlug auf den Tisch: »So will ich net daher gered' habe, denn nix Dümmers auf der Welt, als das Regischtriere: do gehört der Mann hin, do gehört 's Weib hin! Manchmal isch halt der Mann 's Weib und 's Weib der Mann, und das schmeißt alle Grundsätz' über den Haufe. Ich für mei' Person stamm' von einer martialische Großmutter ab – immer mit dem Pfeifle im Mund und zwei Schnapsflasche in den Rocktasche, so isch sie daher komme, denn das ware ihre russische Gewohnheite; sie hat den Feldzug mitgemacht von anno 13 und isch mit der Medail' zurückkomme und einer schöne Pension, dafor, daß sie in Rußland drinne irgend ein' hohe 187 Herr, der verwundet war, auf dem Buckel über den Berg Sinai trage hat –«
»Potz Wetter!« lachten die Zuhörer auf, »der isch ja in der Bibel –«
»Sie wird die Beresina meine,« sagte der Stelzfuß, »was ein großer Fluß in Rußland ist –«
»No ja,« unterbrach ihn die Weber-Mine, ich bin damals noch ein kleines Mädele g'west, wie sie's verzählt habe, da weiß ich's halt nimmer so recht. Weber-Klein hat sie geheißen und isch in Durlach daheim g'west. Wenn ich mich auf der Gass' mit dem Bubevolk so recht 'rum'balgt hab', hat mei Vader immer g'sagt: ›Die isch ihr nämliche Großmutter, die kennt auch kei Forcht auf der Welt.‹«
»Daß du aber nachher grad den Bergerle genomme hasch,« meinte einer der Männer, »das hätt' ich dir damals schon sage könne, daß der –«
»Lasse ihn in Friede ruhe,« unterbrach ihn die Frau, wobei sie einen Seufzer unterdrückte.
Sie hatte es schon eine Weile mit angesehen, wie einer der aufwartenden Soldaten immer wieder vorsprach, um aus dem Glase des Stelzenmannes zu trinken.
188 »Isch das Euer Sohn? wandte sie sich an den Veteranen.
Dieser schüttelte das Haupt. »Ich bin net verheirat', ein Krüppel, der nur wenig verdienen kann, isch just kein begehrter Artikel; es isch der Schwester Bub. Ich hab' sie zu mir genomme; im Spätjahr isch sie gestorbe; es hat mir recht leid gethu'.«
»Ja, der Steiner hat's bös getroffe,« meinte einer der Männer.
»Ha, net so übel,« sagte der Stelzenmann, »ich bin sonst gesund, und wenn d' Schwester und der Bub net g'west wäre, hätt' ich's ganz kommod gehabt mit meiner Invalideunterstützung und was 189 ich sonst beim Kappenmacher verdien'. Für drei war's freilich ein bisle knapp, aber wenn der Bub aus den Koschte isch, hab' ich's gut.«
Es wurden in diesem Augenblick ein paar Liter Wein auf den Tisch gesetzt, und die Weber-Mine gab die Erklärung: »Den spendier' ich, denn ich kann's, ich hab' ein schönes Gütle im Bühlerthal, mit einem rentablen Weingeschäft –«
Sie schenkte ein und erhob ihr Glas: »Möge mer alle mit'nander noch lang lebe und gesund bleibe! Wer von euch Manne kann sage, daß ihm sein Geschäft über zweitausend Märkle im Jahr einbringt? Ihr schweigt? No ja, da habe mer's jo, ich kann's sage und bin's einzig' Weib unter euch; daß sich so eine net ducke mag und in Hintergrund stelle laßt, werdet ihr begreife – Steiner, Ihr solle net immer dem junge Soldat Euer Glas hinschiebe, Ihr sollet selber trinke,« wandte sie sich an den Stelzenmann.
Der lächelte: »Wenn einer nur ein Bein hat, thut er besser, sich den Kopf frei halte.«
»Ich bin der Ansicht,« sagte sie, »daß auch die jung' Mannschaft den Abend mit Verstand und net im Dusel genieße soll; ein Exempel solle 190 sie sich nemme an unsere Veterane, und sich umschaue, ob einer laut isch oder wüscht thut und seine Disziplin vergesse hat. Nei, den gute Ton aus ihrer alte Zeit habe sie nach fünfundzwanzig Jahr wieder mitbracht, eine gute Gesinnung und ein schön's Benemme. Drum bleib' du nur auch nüchtern, du Grünschnabel,« wandte sie sich an den jungen Soldaten, »damit du's bei hellem Kopf mit ansehe magsch, wie unser Kompanie sich zu halte versteht, net nur vor dem Feind, sondern auch vor die Flasche.«
»Ame!« riefen die Männer aus, »Mine, das war eine Red', wie gestoche, Mine, du sollsch lebe!«
Der Stelzenmann war der erste, welcher die Festhalle verließ. Die Nacht war schön und mild, der Himmel voll Sterne; der Mann schritt langsam dahin, und das harte Aufstoßen seines hölzernen Beines war der einzige Laut weit und breit. Steiner seufzte leise auf; alte Erinnerungen hatte ihm der Tag gebracht, alte Gefühle und Schmerzen.
»Merkwürdig,« sprach er vor sich hin, »da meint mer, wenn's emal den Fünfzig zugeht, da sei alles vorbei – 's isch net wohr – 's kann ei'm als noch ebbes nah' gehn.« –
191 Ja, ja, sie war eine bildhübsche Person gewesen, die Weber-Mine mit ihren schwarzen, blitzenden Augen, in die er viel zu tief für seinen Seelenfrieden hineingeschaut hatte. Eine Zeitlang war sie ihm auch gut gewesen, hatte ihn den anderen vorgezogen und ihm das Versprechen gegeben: Dich nehm' ich und sonst keinen – da kam der Bergerle – er sah ihn noch mit seinem blonden, schön frisierten Scheitel, dem gewichsten Bärtchen und den Grübchen in den Wangen; ein Benehmen hatte er wie ein Leutnant, und Steiner erinnerte sich, wie besonders linkisch, ungeschickt und blöd er sich immer neben dem Bergerle vorgekommen war, der ihm denn auch schließlich das Mädchen weggefischt hatte.
»Merkwürdig!« murmelte er wieder vor sich hin, »und nun ist der glücklich Bergerle schon tot, und ich, der Krüppel, bin noch da –«
»Steiner,« sagte plötzlich eine Stimme neben ihm, so daß er jäh zusammenschrak und ihm der Herzschlag einen Augenblick aussetzte, denn es war der alte Klang ihrer Stimme, jener Ton, der seine Seele einst in Freud' und Leid erbeben gemacht; seltsam, diese Stimme nun in der Nacht 192 sprechen zu hören, deren Dunkel die veränderten Züge verbarg.
»Steiner, ich hab' dich gehe sehe, ich bin dir nach – ich weiß, ich hab' dir weh gethu' – wolle mer net nach fünfundzwanzig Jahr Friede mache?«
»Ha, natürlich, lieber Gott, ich hab' keine Feindschaft nimmer, bisch jetzt so alleinig als ich, wenn du auch viel glücklicher g'west bisch.«
»Das fragt sich, Steiner.«
»Was, hätt' er dich schlecht behandelt?«
»Wie mer's nimmt.«
»Geschlage?«
»Das wär' noch 's wenigste g'west, denn das wär' net ein zweit's Mal passiert; nei, zum Schlage versteigt sich so einer net, aber denk' dir, einen Mann, der von morgens bis abends jammert, bald hat er ein bißle 's Kopfweh, bald einen Stich im Rücke, über alles isch er ängstlich, meint gleich, er müßt' sterbe und heult wie ein alt's Weib – mit so ei'm hab' ich lebe müsse, mit so einem miserablen Kerl ohne Knoche und Mark, der, wenn der Hund im Hof bellt hat, sich in sein Bett vergrabt und schreit: Mine, Mine, schau nach, 193 's isch ein Dieb im Haus! Vor jeder Arbeit hat er sich drückt, vor jeder Anstrengung hat er gethu, als thät sie ihn beiße – so ein nichtsnutzigs elendigs Gewächs Gottes, das war mei Mann – aber ich will ihm nix Schlechts nachgesagt habe, denn er isch tot und mag auch weger mir selig worde sein. Ich hab's ja net anders verdient für mei Feigheit; ja, Steiner; ich bin ein einzig's Mal in mei'm Lebe feig g'west, damals, nachdem ich ihn aus'm Kugelrege 'raustrage hab' – ich leg' ihn auf mein Wage und fahr' zu und denk' in meiner Todesangst: wo um's Gott'swille hat's ihn troffe? Isch er am End' gar tot, daß er so blaß daliegt und kein Muckser thut? Und wie mer aus'm Schlimmste 'raus sind, schau ich nach, wend' ihn und dreh' ihn, find' aber nix, keine Wund', keinen Hieb, net emal einen Streifschuß – ha Kerl, sag' ich, dir fehlt ja nix! Da macht er d' Auge auf: was, betäubt bin ich – eine fürchterliche Ohnmacht hab' ich gehabt – aber schon im nächste Augeblick schreit er laut auf: Ich bin doch verwund't – Jesses, Jesses, ich blut', ich blut'! Sei still, sag' ich, das kommt von mei'm Arm – ich hab' die Kugel kriegt, wie ich dich 194 geholt hab'. – Steiner, und mit dene Schmerze, mit dene Schmerze hat sich der gesund' Mensch von mir aus'm Feuer trage lasse!«
Eine Pause entstand, dann sagte der Veteran: »Am Tag drauf hab' ich mei Kugel kriegt.«
»Ich weiß, ich weiß, aber selbig'smal – du glaubsch net, wie's in mir zugange isch, wie ich den Kerl veracht' hab' und's doch net z'weg bringe könne, von ihm zu lasse. Das war mei Feigheit, ich hab' den Mut net gehabt, mei'm Herze weh zu thue. Ich sag' dir nur eins, Steiner, wenn du's knapp gehabt hasch, ich hab's schwer gehabt, und ich hab' oft denkt: mit'm Steiner wär's anders ausgefalle –«
Sie blieb stehen und ihre dunklen Augen spähten nach seinem Gesicht: »Du bisch jetzt allei, ich bin auch allei, und war unser Lebenssommer net schön, ein guter Winter isch auch was wert; ich mach' keine lange Umständ' – 's wär' mer wie eine heilige Vergeltung, könnt' ich dir dafür, daß ich dich in der Jugend angeführt, jetzt im Alter gute Täg' mache; darf ich, Steiner?«
Sie wartete eine Weile, und da der Mann gesenkten Haupte vor ihr stand, ohne zu reden, 195 nahm sie wieder das Wort: »Brauchst dich net zu geniere, Steiner, ich geh' schon lang auf Freiers Füße, ich möcht' eins habe, das mir d' Auge zudruckt, wann ich sterb', und die Beruhigung im Jenseits, daß mei schön's Anwese in gute Hände isch. Drum wär' mir's besonders lieb, weil ich mit dir auch gleich einen netten Erben in Kauf bekäm', denn daß ich's nur grad sag', der jung' Soldat hat mer gefalle, er könnt' dein ausg'schlupfter Sohn sein. Nu, wie lang besinnst dich noch?«
»Hm,« meinte er, »ich könnt's halt net vertrage, wenn mei Weib einen anderen Name führe wollt, als meiner.«
196 »Mannshochmut!« fuhr sie auf, »wo ich doch alles mitbring'! Und was soll ich denn mache, wenn's halt die Leut' einmal gewöhnt sind, mich d' Weber-Mine zu nenne?«
»Du sollsch's ihne verbiete.«
»Potz Wetter, thusch's net anders?«
»Nei.«
»Dann gut' Nacht!«
Sie lief nach rechts, er nach links, aber schon nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Klipp, klapp, tönte der Stelzfuß durch die stille Nacht, klipp, klapp – tönte es wie eine Mahnung an ihr Gewissen: er wär' vielleicht heil und gesund und kein einsamer Mann, wenn du ihn nicht in die Verzweiflung getrieben hättest. Sie beugte sich vor und lauschte, ob er nicht auch stille stand und sich nach ihr umsah. Aber er ging weiter, und sie erinnerte sich, daß er damals auch so stille, ohne ein Wort zu sagen, fern geblieben war, nachdem sie ihre Liebe dem anderen zugewandt hatte.
»Steiner! Steiner!« sie rannte ihm nach und blieb atemlos vor ihm stehen, »trenne mer uns net, Steiner, schau, wie ei'm in der Jugendzeit die Lieb plagt, so plagt mich jetzt d' Achtung, 197 d' Achtung vor dei'm Benemme, daß ich mein', 's müßt sein, daß ich dir's schön und gut mache dürft' – gell ja? Wenn ich dir sag', ich häng' in Gottesnamme mei berühmten Name an den Nagel und sag' in jedem, der mich in Zukunft noch Weber-Mine nennt: auf der Stell' nenne mich Frau Steiner! Isch's recht so?«
Er nickte: »Ja, so muß es sein, denn grad weil ich ein Krüppel bin, muß ich was auf mich halte.«
In diesem Augenblick ertönte der mehr als tausendstimmige Gesang der Wacht am Rhein von der Festhalle her und erfüllte die Nacht mit seinem Gebrause.
Der Veteran riß den Hut vom Kopf, und den Arm um die Schulter der alten Kriegsgefährtin legend, stimmten sie mit einer solchen Begeisterung in das Vaterlandslied ein, als gelte es einen neuen Kampf zu kämpfen, einen neuen Feind zu besiegen, heimlich aber flossen ihnen dicke Freudenthränen über die gealterten Wangen hinab.