Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Nun war es schon novembergrau. Mine hatte sich erst gar nicht darein finden können, daß sie nicht alle Sonntag mehr, und auch oftmals noch einen Abend in der Woche, draußen zubringen durfte auf ihrer Scholle.

Aber fast schwerer noch als sie schickte sich Arthur darein. Er hatte ja so viele Jahre nachzuholen – ein ganzes Leben. »Wieder eingespunden,« sagte er und sah mit einem Seufzer durchs Fenster hinab in den engen Hof und hinauf zu dem bißchen Himmel. Er schlief auch längst nicht so gut mehr. Ei, wie hatte er geschlafen, wenn er mal eine Nacht draußen geblieben war in der Laube! Sein Bett war zwar besser hier drinnen als das Heidekrautlager draußen, aber diese Unruhe die ganze Nacht, das Auf und Ab auf den Treppen im übervölkerten Haus, das beständige dumpfe Rollen, von dem man nicht wußte, woher es kam, und das niemals schwieg, das Tuten der Autos, das Pfeifen vom Stettiner her, das alles konnte er gar nicht mehr ertragen. Draußen hörte man auch wohl den Pfiff einer vorbeirollenden Lokomotive, aber das war ja gerade so schön gewesen, man hatte sich herumgedreht und gefühlt: weit weg und doch so dicht dabei.

In den langen Nächten unterhielt sich das Ehepaar von seinem Land draußen. Daß sie es nur in Pacht hatten, hatten sie längst vergessen. Es war ihr Land, ihr Eigentum, an dem sie hingen. Bei Mine war diese Liebe angeboren, war sie doch selber herausgewachsen aus dem Boden, der die Kartoffeln bringt und das tägliche Brot; bei Arthur war sie ganz plötzlich gekommen. Das hätte man ihm, dem Großstädter, noch vor einem Jahre sagen sollen, daß er das beste Sonntagsvergnügen darin finden würde, sich draußen hinzusetzen in seine Laube!

Mit Riedels gegenüber vom Flur, mit denen sie sonst kaum gesprochen hatten, kamen sie jetzt öfters zusammen. Die wollten, sowie erste Frühlingsluft wehte, ja auch hinaus. Besonders die Älteste, die Schauspielerin, die von ihrem Manne geschieden war, war sehr für Freiheit. »Es wird himmlisch werden!« Sie rollte ihre ein bißchen vorstehenden großen Augen. »Das Jroßstadtleben steht mir zum Halse raus. Da draußen wird man janz Mensch sein!«

Arthur wunderte sich über sich selber, daß er die älteste Riedel einmal hatte in einem Verdacht haben können. Es war vielleicht die zweite gewesen, die sich damals einen Herrn mitgebracht hatte, als er vom Café Amor spät nach Hause gekommen war. Nun, es war wohl der Bräutigam gewesen, Fräulein Elsa war ja verlobt.

Mutter Riedel versicherte immer: ihre Töchter, oh, ihre Töchter, die waren anständig, hochanständig! Und so talentiert! »Was meine Ella is, die Älteste, die is wirklich 'ne Künstlerin. Se schwebt immer in anderen Rejonen. Un ebend, weil se nich so for 's Reelle is, dadrum is se ooch so rinjefallen mit ihrem Ersten. Aber meine Zweite, die Elsa, die kann man jehen lassen, wo se will!«

Fräulein Elsa Riedel war für diesen Winter in Budapest. »Da lernt se Artistin bei 's Fareté,« erzählte die stolze Mutter. »Das is 'ne janz Schlaue. Se war noch so 'n Keber, 'n kleenet Ding, da jeh 'ck mal mit se uf de Straße, kommt da 'n Herr, sagt se rasch: ›Mutter, bleib mal 'n Ende hinter, damit der nich sieht, daß wir zusammjehörn. Er kennt mir!‹ Un als se denn in de Tanzstunde jing – wir wohnten dazumal noch in 'n Keller – un de Tanzstundenherrn ihr nach Hause brachten, sagt se: ›Ich klopfe hier. Der große Hausschlüssel ist mir zu lästig. Die Frau da unten weiß Bescheid, die läßt mich durch den Keller. Ich lasse sie gern den Groschen verdienen!‹ Ick habe mir beinah jekugelt dadrüber!« Wenn die Riedel das erzählte und alle lachten, stand die Jüngste dabei mit großen Augen und hörte zu.

Noch immer hatte Mine Mitleid mit dem Kind. Nicht darum, weil sie wußte, die Kleine sollte auch einmal zum Varieté. Was Varieté war, davon hatte sie ja keine Ahnung. »Na, das is so 'ne Art Theater,« erklärte Arthur. »Da sind ebenso gut Künstlerinnen wie bei's Königliche.« Mine wußte es selber nicht, warum ihr Irene Riedel so leid tat. Die Kleine hatte oft ein so trübes Gesicht; wenn sie aus der Schule kam, hingen ihre Locken wie matte Schlangen, und sie war bleich.

Die jüngste Riedel ging auf die Ballettschule. Aber nur zur allgemeinen Vorbildung; sie sollte Barfußtänzerin werden. So etwas bestimmte alles Mutter Riedel, der Vater sagte nichts dazu. Mit seinen schon silbrigen, sauber gekämmten Haaren, die ihm lang auf den Rockkragen fielen unter dem breitkrämpigen Künstlerhut, ging er in die Biergärten bei schönem Wetter und, wenn es kühl war, in die Kneipen der Stadt, bis tief in die Nacht hinein und schnitt die Leute aus in schwarzem Papier. Er machte immer gute Figur, sah aus wie ein wirklicher Künstler. Es war ein hübsches Bild, wenn seine blonde Jüngste sich an seinen Arm hing; sie waren schon einmal so zusammen gemalt worden, das Bild kam sogar auf die Ausstellung. Die Älteste wollte sich auch gern an des Vaters Arm hängen, er sollte sie führen auf offener Straße, aber so wenig Vater Riedel sich sonst zu sagen traute, das unterstand er sich doch: »Nein, zum Aushängeschild geb ich mich nicht her!«

Arthur neckte sich oft mit den Fräuleins – die Geschiedene wurde auch wieder Fräulein genannt – aber Mine hatte nicht Zeit, mit Frau Riedel zu schwatzen, vor Weihnachten gab es viel zu tun, sie war oft Tag für Tag nicht zu Hause. Und das war auch gut, die Laube draußen, die Pflanzen, die Sämereien hatten viel gekostet; mehr als man gedacht hatte. Und dann das Fahrgeld! Auch das lange Zuhausesitzen von Max hatte Geld geschluckt; nun hatte er zwar Arbeit, er hatte Wände zu tünchen in den Neubauten und Fußböden zu streichen, aber wenn es erst rechter Winter wurde, dann war's damit wieder vorbei.

Und es wurde Winter. Draußen in den Villen der Gartenstadt tauten die Fenster bald kaum mehr ab. Ein eisiger Wind blies durch die breitangelegten, spärlich bebauten Straßen. Jetzt merkte man die Entfernung von Berlin. Es war sehr einsam. »Furchtbar einsam,« sagte Julie Zimmer. Totenstill war das Haus.

Um hier draußen zu wohnen auch im Winter, mußte man eine Familie sein, das sagte sich auch der Doktor – eine glückliche Familie. Nicht so ein alter Mann sein, allein mit einer Hausdame, zu der man nicht einmal viel sprechen durfte, sonst nahm sie es gleich für eine Ermunterung – nicht allein sein mit zwei Dienstmädchen, die beständig froren und unfreundlich waren, wie die Nachmittage, an denen es schon um vier düsterte. In Berlin düsterte es schon um drei, aber da gab es die großen Schaufenster, die ihren glanzvollen Schein auf die Straße warfen, und soviel Leben, das nie aufhörte zu pulsen, das trotz der Winterkälte durch die Stadt flutete wie ein warmer Strom.

Um das Haus am Kieferngrund ging die kalte Eintönigkeit herum und schaute mit leeren Augen in die Fenster. Julie Zimmer kam oft mit verweinten Augen aus der Stube, und dann machten die Mädchen ihr gar nichts recht; es war wenigstens eine kleine Abwechslung, mit denen zu zanken. Sonst fühlte sie sich wie gelähmt; an Händen, an Füßen, und auch an der Seele. Keine Anregung, keine Erheiterung. Am besten, man verschlief den ganzen Tag. Das dachten sich auch die Dienstmägde; wenn sie morgens endlich zum Vorschein kamen, waren ihre Haare noch zottelig, und die Gesichter grau wie der Tag, der spät zwischen den Kiefern aufstand.

Mit einer unabschüttelbaren Trauer hatte der einsame Mann den Winter kommen sehen. Er hatte sich gewehrt: hatte er denn nicht jetzt, was er gewollt? Allein sein! Wollte er nun doch wieder anders? Hörte dieses Nagen in der Brust, dieses Verlangen der Seele denn niemals auf? War er nicht alt genug, um endlich nichts mehr zu wünschen? Hatte er nicht sein Teil Glück schon gehabt, ein Glück, so groß, daß die Erinnerung daran nun ausreichen konnte bis zum Ende –?!

Und war es nicht schön hier, wenn draußen in der Heide die Birken ihre Blätter niedergossen wie einen goldenen Regen? Zart standen sie dann mit gelichtetem Geäst, das wie feines Geäder sich hob gegen den matten Himmel. Und doch hätte er jedes fallende Blatt festhalten mögen: geh nicht! Durch die sich entlaubenden Heidebäume hatte der Wind weiße Fäden gefegt – sie waren der Einschlag zum Leichentuch. Selbst der Sonnenschein am Mittag konnte keine Hoffnung erwecken; er war kein Wundertäter mehr, der da spricht: ›Stehe auf und wandle.‹ Im Wald roch es nach Moder. Krächzend strichen Krähen umher und fanden sich ein in der Nähe der Wohnungen. Und etwas Ängstliches war in der Stille. Bangte die Natur auch so vor dem Sterben, wie er sich jetzt bangte?

Hirsekorn glaubte nie Furcht vor dem Tode empfunden zu haben – wie oft hatte er schon den Gedanken gehabt: wäre es doch so weit! – und jetzt kam ihm doch das Grauen davor. Wie konnte das möglich sein? Hatte sein Herz denn keine Festigkeit mehr? Er hatte als Arzt an so manchem Bett gestanden, das auch ihm den Tod bringen konnte, und hatte sich nie gefürchtet, aber jetzt zitterte er vor dem leise frostigen Hauch, der ihm in den Nacken blies.

Es war Abend. Der Doktor saß in seinem Zimmer, das er sich ganz so hatte einrichten lassen, wie sein Arbeitszimmer in der Wilhelmstraße gewesen war. Da stand der breite Schrank mit der Glasscheibe, dahinter die Instrumente wohlgeordnet lagen; da war der große Schreibtisch, über den weg er die Patienten musterte, die ihre Leiden vortrugen. Und da an der Wand, vom Schreibtisch geradeaus, hing Mariannes Bild. Es zeigte sie als noch jüngere Frau. Ein guter Künstler hatte das Bild gemalt, und doch war der Doktor nicht zufrieden damit; er verstand nichts von lebendigmachender Kunst, er fand nur, die echten Points auf dem schwarzen Seidenkleid waren besser getroffen als das liebe Lächeln seiner Frau.

Nun sah er das Bild an, wie er es alle Abend ansah, ehe er ihr gute Nacht sagte. Er sah es lange an, in grüblerischem Sinnen versunken. Da fing es ihm an, vor den Augen zu flimmern, er stützte den Kopf in die Hand, die Lider wurden ihm schwer. – –

– – – So einsam wie heute war ihm noch niemals ein Tag erschienen. Es hatte geschneit vom Morgen an, nun war es Nacht, und es schneite noch. Man hörte gar nichts, nicht einmal das gewohnte Rauschen des Nachtwinds, die Kiefern waren zu schwer belastet, sie rührten sich nicht.

Und wie er jetzt so in das blonde Gesicht starrte, das seines Lebens Sonne gewesen war, das aber auf der Leinwand etwas Festgefrorenes hatte, kam ihm ein Zweifel an diesem Glück. War es denn wirklich ein Glück gewesen, ein so großes Glück, daß es ausreichte für sein Leben?! Hatte es nicht doch Stunden gegeben, in denen er uneins gewesen mit ihr, Stunden, in denen es ein Mißverstehen gegeben hatte, Stunden, in denen er etwas in sich aufsteigen fühlte, das an Abneigung grenzte? Um die Kinder war es zumeist gekommen. Marianne war viel zu nachsichtig gewesen, sie verstand es nicht, daß der Vater mit eiserner Strenge den Knaben drängte: ›Du mußt versetzt werden!‹ Sie hatte geweint, wenn der Vater den Sohn schalt. Eine unverständige Mutter hatte er sie genannt. Und mit der Tochter war es nicht anders gewesen, nur daß es da die Mutter war, die nicht zufrieden war. Es hatte Nächte gegeben, in denen sie Seite an Seite lagen und doch weit voneinander fort waren – sie waren sich fremd.

Der Einsame sah starr hinauf in das gemalte Gesicht: »Bist du, bist du immer glücklich gewesen, Marianne? Ich glaube es nicht. Es gibt gar kein Glück!«

Er stöhnte, er sprang auf vom Schreibtisch, wie von einem plötzlichen Entsetzen befallen. Er trat dicht an das Bild seiner Frau heran, seine Hand berührte die gemalte Wange: »Verzeih mir, Marianne, verzeih jeden bösen Gedanken. Ich bin so allein in der Finsternis, darum werde ich blind. Ich kann selbst das nicht mehr sehen, was einstmals da war – ich sehe nicht mehr mein gewesenes Glück!«

Da taute das festgefrorene Antlitz auf. Wie das liebe Gesicht lächelte! Es lächelte ihn an. Und weiser als Marianne im Leben jemals gesprochen hatte, sprach sie jetzt als Tote zu ihm: ›Ich war sehr glücklich. So glücklich, wie der sein kann, der lebt. Weißt du denn nicht, mein lieber Mann, daß Leben und Glück – vollkommenes Glück – nicht eins sein können? Warum ist denn in unserer Brust eine stete Sehnsucht? Du küßtest mich, ich küßte dich, ich war ganz dein, du warst mein – aber diese ewige Sehnsucht, die blieb!‹

»Ich sehne mich immer – immer noch!« Der alte Mann schrie auf wie ein Junger. Er rang die Hände: »Marianne, höre mich, immer noch!«

Da neigte sie sich zu ihm herab aus dem Rahmen. Es streifte etwas seine Wange wie ein milder Hauch, es flüsterte ihm ins Ohr: » Ein Glück gibt es doch – das ist ganz vollkommen. Ich sehne mich nicht mehr. Laß Blumen wachsen auf meinem Grab – lauter bunte, heitere, glückliche Blumen – gute Nacht!« –

– – – Doktor Hirsekorn schrak auf. Seine Hausdame stand vor ihm im Nachtgewand, über das sie die Decke von ihrem Tisch gehängt hatte. Fräulein Zimmer war sehr erschrocken, sie hatte einen Schrei gehört aus des Doktors Zimmer. »Fehlt Ihnen etwas?« Noch zitterte sie. »Ich habe gedacht, Ihnen wäre etwas zugestoßen. O Gott, es bebt noch alles an mir! Sie haben wohl geschlafen, Herr Doktor, wie?«

»Habe ich geschlafen?« Er sah sie starr an, noch wie weit fort.

Schämig zog sie die rote Plüschdecke fester um sich. »Gräßlich geträumt, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Geträumt – ja,« sagte er. »Aber nicht gräßlich!«

Schwer stand er auf vom Schreibtisch. Er kam ihr zum erstenmal alt vor, hinfällig fast. Sie bot ihm den Arm, und er nahm den Arm. Sie fühlte mit geheimer Freude, wie er sich drauf lehnte.

Er mußte es tun, die Füße waren ihm schwach.

* * *

Rentier Hippelt war es nicht gewohnt, etwas unausgenützt zu lassen. Eine Begierde, die sich mit jedem der Tage steigerte, die seltsam einförmig hier draußen verstrichen, trieb ihn hinaus aufs winterlich öde Feld. Seine sonst täglichen Fahrten nach der Stadt hatte er beschränkt in der letzten Zeit, es wurde ihm bei dem ungemütlichen Wetter schwer, in seinen schlorrenden Galoschen zur Bahn zu stapfen.

Könnte man da draußen nicht etwas ausbauen, ähnlich wie hier die Gartenstadt? Wohnhäuser für eine Partei oder zwei Parteien, kleine Heimstätten, die bezogen werden durften nach einer geringen Anzahlung? Vierhundert, fünfhundert Mark Ersparnisse hatte wohl jeder. Diese Heimstätten konnten erworben werden, so nach und nach – vorausgesetzt, daß die Miete pro Monat pünktlich bezahlt wurde – von den Liebhabern eines Eigenheims. Das wäre am Ende eine Idee! Warum sollten allein Aktiengesellschaften, Genossenschaften so etwas unternehmen? Er, er allein war sich Genossenschaft genug. Man mußte es nur nicht großartig anfangen, sondern ganz bescheiden. Darin hatte Bernhard, der Schlemihl, ausnahmsweise einmal recht: der Norden bedingte das!

Immer wieder strich Hippelt über sein neues Terrain. Er studierte es förmlich. Ein Phantast würde vielleicht aus dem Pechpfuhl einen See gemacht haben mit Badeanstalt, aus der Sandwehe davor einen Aussichtshügel, aus Reschkes elender Bretterbude einen rosenumsponnenen Pavillon, aber Hippelt war ein Praktiker. Was brauchen kleine Leute einen See, eine Badeanstalt? Wenn die baden wollen, tauchen sie auch in den Pechpfuhl. Für so etwas braucht man kein Geld zu verplempern. Einzig Reklame, Reklame – Versprechungen kosten nichts – nur die Insertionsgebühren, und die bringen sich ein!

Wie ein Storch, der Frösche sucht, um sie zu spießen, stakte der kleine Mann heute über das Feld. Der Blick, mit dem er die Ausdehnung abmaß, die einzelnen Parzellen abschätzte, hatte etwas Gieriges. Es hatte ihn befallen wie eine fixe Idee; sein Fuß stampfte die magere Scholle: hier, hier mußte er etwas herauspressen. Sollte da hinten, da jenseits der Gartenstadt, näher Berlin zu, die ›Freie Scholle‹ einzig in ihrer Art bleiben, diese Kolonie der kleinen Leute? Die Männer wurden gepriesen, die sie ins Leben gerufen hatten. Auch er, auch er würde gepriesen werden als Wohltäter – hei, als was für ein Wohltäter! Es regte sich plötzlich in seiner engen Brust ein stolzes Gefühl, ein Gefühl geschmeichelter Eitelkeit. Er vergaß ganz, daß er ›unbekannter Wohltäter‹ hatte bleiben wollen.

Hippelt machte selten ein zufriedenes Gesicht, heute machte er eines; und doch war das Wetter nicht angenehm für einen Spaziergang. Über die gegen Osten durch keinen Waldsaum geschützte Heide schnob der scharfe Wind mit aller Gewalt. Der schwache Körper des Mannes mußte sich stemmen. Die Kleider waren ihm wie Papier auf dem Leib – gar keine Wärmkraft drinnen – sollte er sich etwa schon wieder einen Überzieher kaufen müssen?

Er fingerte an den Knöpfen herunter, die in den ausgerissenen Knopflöchern so lose saßen, daß der Überzieher bei jedem Windstoß auseinanderflog und das Vorhemdchen über der mageren Brust bloßlegte. O nein, der Überzieher war noch sehr gut, der hielt noch diesen Winter aus und den nächsten. Wenn er erst mal hier einen ordentlichen Betrieb hatte, daß er es sich leisten durfte, verschwenderisch zu sein, dann würde er sich einen Pelz kaufen: schwarzes Tuch mit Kanin gefüttert. Dann würde er auch Sophie eine Pelzjacke kaufen – vielleicht! – Sie lag ihm immer schon in den Ohren, daß es sie friere in ihrem Cape.

Vornübergebeugt, um den Wind zu parieren, stand Hippelt. Das weite Feld lag bereits dämmergrau, aber er konnte sich noch immer nicht trennen. Wie eiserne Finger streckte es sich aus dem dürren Heidekraut und hielt ihn fest.

So traf ihn die Bröse. Sie war plötzlich neben ihm aufgetaucht; grau im grauen Feld, düster im Düsteren, hatte er sie nicht sich nähern gesehen. Er verbarg sein Erschrecken: die Alte sollte nicht sagen, daß sie den Hippelt ins Bockshorn gejagt. Mit Nachbarn muß man sich gut verhalten – war sie denn nicht seine Nachbarin? Er scheute sich nicht, ihr die Hand zu reichen.

Oft mochte ihr das nicht vorgekommen sein, sie hielt die seine ein Weilchen fest und schmunzelte. Und dann sprach sie, aber nicht in dem groben Ton, den sie gehabt hatte bei seinem ersten Besuch: wußte er's denn schon? Der Bernhard bemauste ihn. Der machte sich einen schönen Profit. Er forderte denen, die pachten wollten, mehr ab, als er dann Herrn Hippelt notierte; bei jeder Rute strich er etwas ein! Die Alte neigte ihr Hexengesicht ganz nahe zu Hippelt, ihr widriger Atem hauchte ihn an, er merkte das nicht.

Was, der Schlehmil, der elende Mensch, den er großgemacht hatte, von seinem ehemaligen Laufburschen erhoben hatte zu solcher Stellung, dieser Hund betrog ihn jetzt? Und wenn's zwanzig Pfennig wären bei jeder Rute! Bei vielen Ruten macht das was aus. Zitternd vor Empörung und doch begierig, mehr zu erfahren, steckte Hippelt seinen Kopf mit dem der Alten zusammen. Sie mußten sich nahe sein, sonst riß der Wind die Worte vom Mund weg, man konnte sich nicht verstehen.

Lange standen die beiden so mitsammen auf dem öden Feld, das ihnen mehr war, weit mehr, als ein unfruchtbares Stück Land; beide waren umflossen von demselben traurigen Grau, beide umsaust von demselben widrigen Wind. Sie erschienen, von ferne gesehen, wie eine Gestalt, wie etwas, das zusammengehört, ineinander gewoben ist in Nacht und Graus.

War die schlau! Als Hippelt sich von der Bröse trennte, zog er vor ihr den Hut. Die würde er sich als Aufpasserin halten, die war ja besser als der beste Spürhund. Und doch bedauerte er es jetzt, seinen Pluto nicht bei sich zu haben, denn mit einer erschreckenden Schnelligkeit sank die Nacht.

Solange Hippelt auf offener Heide gewesen war, schimmerte der weiße Sand, man konnte noch sehen, aber jetzt, im Wald, sah er gar nichts. Er wußte nicht mehr, ging er auf dem Weg oder ging er ohne Weg. Er fühlte sich an den Bäumen weiter; hier war kein Pfuhl, in dem er ertrinken, kein Abgrund, in den er stürzen konnte, und doch wich er plötzlich zurück. In Berlin hatte er sich noch nie gefürchtet. Da hatte ihm sogar einmal einer gegenübergestanden im Kontor und den Revolver aus der Tasche gerissen – er hatte ihm den einfach aus der Hand geschlagen, und als der Revolver sich auf der Diele entlud und auf den Knall hin Bernhard hereinstürzte: ›Gott der Gerechte!‹ da hatte er nur ganz wenig erregt gesprochen: ›Machen Sie, daß Sie 'rauskommen!‹ und zu dem andern mit dem Revolver: »Sie wollen mir drohen? Mich zwingen zu prolongieren? Ich prolongiere nicht!‹

Heute, hier, fürchtete er sich. Die Einsamkeit packte ihn. Und er glaubte hinter sich ein Huschen zu hören. So spät war er noch nie allein hier draußen gegangen. Wenn ihm jetzt einer begegnete, einer, der wußte, wie reich er war?! Unwillkürlich machte sich Hippelt kleiner. Er fing an, rascher zu gehen, er stolperte – da lachte es hinter ihm. Ganz laut. Er fuhr zusammen. War im Walde ein Echo? Es lachte nochmals. Wer lachte ihn aus? Er getraute sich nicht, sich umzudrehen.

Aber wie er jetzt anfing zu laufen, lief ihm etwas nach. Bald hörte er's tappeln hinter sich, bald ihm zur Linken, und bald ihm zur Rechten. Wer hetzte ihn so? In seiner Brust begann es zu pochen. Sein Herz, von dem er sonst nie etwas wußte, meldete sich.

War es ein Mensch, der hinter ihm dreinkam? Der Wind? Ein Hund, irgendein anderes Tier? Seine Gedanken fingen an zu springen, zu fliegen. Dieser Bernhard – dieser Halunke – anzeigen sollte man ihn – Betrug, Urkundenfälschung – nein, nein, lieber nicht anzeigen – nicht vors Gericht, wer weiß, was der alles noch sagte!

Die springenden Gedanken des Gehetzten ordneten sich in merkwürdiger Reihenfolge: Sachen, an die er sich kaum je mehr erinnert, längst begrabene Geschichten, fielen ihm jetzt plötzlich ein. Unangenehme Dinge wurden auf einmal lebendig. Es schwirrte hinter ihm drein im Zickzackflug, es kläffte ihm nach wie bissige Hunde. Verwünschte Idee, hier so einsam zu rennen! Verwünschtes Feld, verwünschter Wald! Wäre er nur zu Haus!

Von der majestätischen Weite, die sich eröffnete, nun er aus dem Walde heraus war, sah Hippelt nichts. Er empfand nichts von der großen Ruhe.

Über dem nächtlichen Wald wölbte sich hoch der Sternenhimmel; Stern bei Stern, eine unzählig bevölkerte, flimmernde Heerstraße. Nur hinten weit am Horizont, da zeigte das Firmament seine nächtlichen Lichter nicht mehr, da wurden die überschimmert von warm-rötlicher Farbe. Da war Berlin, das große Berlin, das färbte den nächtlich-stillen, graublauen Himmel wie mit dem letzten Verglühen einer Feuersbrunst.

Die Waldmassen zogen schweigend lange, tiefschwarze, schlummernde Schatten. Nur wo baumlose Strecken dazwischen lagen, lichtete das Schwarz sich ein wenig. Eine ungeheure Abgeschlossenheit, ein Fertigsein mit aller Unruhe war da: ein weihevoller Friede.

Hippelt spürte nichts davon, er ächzte. Der Atem war ihm ausgegangen, so war er noch nie gejagt. Verwünschte Idee, hier herauszuziehen! Mit zitternder Hand zog er sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gott sei Dank, da blinkten endlich, nicht größer als kleine Zehnmarkstücke, goldene Punkte im Dunkel auf: die Lichter der Gartenstadt. Vereinzelt flimmerten sie. Der Flüchtende fing an, langsamer zu gehen, sein Fuß sank nicht mehr in losen Sand, jetzt spürte er gepflasterte Straße. Die erste Laterne flinzelte trüb, er hätte ihren Pfahl umarmen mögen. – – –

Als Hippelt sein Haus betrat, kam ihm seine Frau erregt entgegen. Nicht, daß sie sich wegen seines langen Ausbleibens geängstigt hatte, sie war empört über Albert, den Diener. Auf ihren mageren Backenknochen brannten zwei rote Flecken. So ein unverschämter Mensch! Das war ihm nicht genug gewesen, was sie ihm zugeteilt hatte vom Schellfisch am Mittag – den ganzen großen Kopf und das Schwanzteil – ›Fische machten nicht satt‹. Er verlangte zum Nachmittagskaffee zwei Schrippen, und die geschmiert. Und am Abend Belag!

»Gib sie ihm doch,« sagte Hippelt schwach. Er war todmüde.

Was, auch er gab dem Lümmel recht, diesem Freßsack, diesem Gierschlung?!

Der Diener, der gekommen war, seinem Herrn aus dem Überzieher zu helfen, stand mit gesenktem Kopf. Ruhig ließ er die Scheltworte der Frau über sich ergehen. Als Hippelt sagte: ›Gib sie ihm doch,‹ war nur ein leis-triumphierendes Lächeln über sein Gesicht geglitten. Jetzt hob er den Kopf: »Herr Hippelt werden entschuldigen, ich bin groß und stark, ich wachse immer noch, ich kann wirklich nicht dabei bestehen. Ich bin nicht unverschämt, aber andere Diener kriegen anders zu essen!«

Was, er beklagte sich noch? Ein Mensch, der wie ein Sohn im Hause gehalten wurde? Wohl gar kündigen wollte so einer, der nie und nirgends eine Stelle gekriegt hätte! Wer hätte wohl so einen aus der Fürsorge Entlassenen genommen?! Die Frau regte sich noch immer mehr auf. Ihre schrillen Töne hallten gellend wider im leeren Hausflur. Draußen heulte der Hund auf.

Der Bursche, der bis dahin noch immer den Rücken krumm gemacht hatte, schnellte jetzt aus. In seiner ganzen Schlankheit stand er, sein unterwürfiger Blick wurde schielend: was unterstand sich das Weib? Eine jähe Empörung, ein wütendes Beleidigtsein lag deutlich aus seinem Gesicht, und etwas Drohendes.

Die Frau bemerkte es nicht in ihrer Wut, aber Hippelt sah es. Sophie sollte schweigen – oh, wenn die wüßte! »Halt deinen Mund!« fuhr Hippelt sie grob an. Und dann wandte er sich zu dem jungen Menschen, der knarrige Ton seiner Stimme mühte sich förmlich zum Schmeicheln: »Na, na, Albert, Sie werden doch nicht! Sophie, gib ihm die zwei Schrippen!« Als sie noch zögerte, ihn ganz entsetzt ansah ob solcher Freigebigkeit, schrie er zornig: »Sofort, sage ich!« Er holte eine Mark aus der Westentasche: »Da, Albert! Kaufen Sie sich eine Wurst oder Schinken, was Sie wollen!«

Die Frau machte den Mund auf, sie holte schon Atem zum Reden, aber sie machte ihn schnell wieder zu, ein so zorniger Blick schoß aus Herrn Hippelts Augen, daß sie sich nicht mehr getraute. Kopfschüttelnd ging sie: Hippelt mußte verrückt geworden sein.

Albert dankte. Aber seine Haltung war nicht die des Dieners vor seinem Herrn. –

In dieser Nacht fühlte sich Hippelt recht unwohl. Er hatte geschlafen, doch er wachte plötzlich auf. Mit einem jähen Schreck. Er tastete nach der Uhr auf seinem Nachttisch, aber unter seiner unruhigen Hand gingen immer wieder die Zündhölzer aus, er konnte nicht nachsehen, wie spät es war. Das angestrengte Laufen gestern abend – o Himmel, war er nervös! Er war entschieden zu rasch gegangen. Solch eine Dummheit, was sollte ihm wohl im Walde passieren – aber der Albert, der Albert! Wie der aufgemuckt hatte! Er mußte Sophie strenge Weisung geben: so etwas durfte nicht noch einmal vorkommen. Ein Glück, daß der Bengel nicht wußte, nicht ahnte – – – aber besser wäre es auf alle Fälle, man wäre ihn los. Wenn er doch nach Amerika ginge oder in die Kolonien – das Reisegeld würde er ihm schon geben. Dann kam der nicht wieder!

Mit einem Seufzer der Erleichterung streckte sich Hippelt lang. Aber er fand kein Behagen in diesem Ausstrecken. Es war so entsetzlich still um ihn; und auf der Straße war es auch so still. Eine drohende Stille. Er konnte sie gar nicht ertragen heute. Also darum war er hier herausgezogen, um sich so zu ängstigen vor Stille und Einsamkeit?! Er hatte es sich so schön gedacht nach der verstaubten Luft seines Kontors, das im Winkel lag, einmal frei atmen zu können, der Rentier hier zu sein, nichts, gar nichts anderes. Der in Berlin war ein anderer Hippelt, hier war er der Hippelt der Gartenstadt, der Herr Rentier, der im Kieferngrund seine bescheidene Villa hatte, der nach niemandem fragte, und nach dem niemand fragte. Warum trieb ihm denn nur jetzt die ungeheure Stille den Angstschweiß auf die Stirn? Sie tat ihm doch nichts – doch, doch! Mit vorquellenden Augen starrte Hippelt in einen Winkel.

Wäre er doch heute nicht so weit auf das verwünschte Feld gelaufen – nein, nein, hätte er doch den Albert nicht ins Haus genommen! Das einzige Mal, daß er sich hatte rühren lassen – – – was war es für eine Frechheit von der Person gewesen, ihn rufen zu lassen! Hätte die nicht sterben können, ohne daß sie ihn noch einmal sah?! Oh, wie dumm, wie dumm war er gewesen! Sie hatte ihn beschworen, den Jungen aus der Fürsorge-Erziehung zu sich zu nehmen – wurde ihm das so gelohnt?! Er stieß mit den Füßen unten gegen die Bettstatt, sein Herz schlug rasch und hart, er fühlte das schmerzhafte Tack-tack bis in den Hals.

»Sophie!« Er rief. Die Frau schlief nicht mit ihm in derselben Stube; wo ihr Bett hätte stehen sollen, stand der Geldschrank. Er rief noch einmal, aber sie hörte ihn nicht. Niemand hörte ihn. War er denn ganz allein?

Er versuchte aufzustehen, da stieß er den Kopf gegen den Geldschrank. Das beruhigte ihn: sein Geldschrank, sein Geldschrank! Was fiel ihm eigentlich ein, warum war er so aufgeregt? Der Albert hatte ja gar keine Ahnung. Ein zufälliges Glück war es für den Jungen aus der Fürsorge-Erziehung gewesen, daß ein Herr Hippelt, der gerade verzog aus dem Sündenbabel, einen einfachen Diener nötig hatte für seine Villa.

»Ruhig doch,« murmelte Hippelt und preßte die Hand auf die Stelle der Brust, wo das Herz sitzt. Wenn er jetzt nur einen Schluck Wasser hätte! Ein trockenes Hüsteln entrang sich ihm, die Kehle war ihm eng. Eine Beklemmung kam über ihn. So ähnlich hatte er's vor einiger Zeit schon einmal gehabt, aber er hatte es nicht weiter beachtet. So schlimm wie dieses Mal war es auch längst nicht gewesen. Eine bleierne Hand legte sich ihm auf Kehle und Brust – au, au, das schnürte ja zu!

Sich im Bett aufrecht setzend, rang Hippelt nach Luft. Der Schweiß fing an, ihm zu rinnen. Au, wie das drückte, wie die Hand sich immer enger um seine Kehle schloß! Er stieß einen halberstickten Ruf aus: wenn doch jemand käme! Mit den Händen griff er angstvoll in die leere Finsternis. Da quietschte die Tür.

Albert kam herein mit einem Kerzenstumpf, seine Hand schirmte das flackernde Licht. »Na, was is denn los?«

»Ach Albert, ach Albert!« Hippelt wimmerte. »Stecken Sie 'ne Lampe an – hell, hell – ach, bleiben Sie – bei mir – nicht allein sein – nicht von mir fortgehen!« Die bläulich gewordenen Lippen zitterten, Hippelts Nase war ganz spitz.

Mit einer Neugier, die nichts von Mitgefühl hatte, betrachtete ihn der Bursche: als ob dem der Tod um die Nase gewischt hätte! Sollte der Alte so bald schon eingehen?! Rücksichtslos streckte er seinen Arm aus: »Was krieg ich?« Es lag eine ungeheure Frechheit in der Gebärde.

»Krieg – krieg ich –?!« Überraschung, Wut, Schreck, all das war in diesem Stammeln. Hippelt wies mit dem zitternden Finger: ›Hinaus, frecher Lümmel!‹ wollte er sagen, aber er brachte es nur zu einem jämmerlichen: »Ich ver-mach dir – auch was!«

Albert hatte sich neben das Bett gesetzt, er stützte den nach Luft Ringenden, er öffnete ihm den Hemdkragen und benetzte ihm die Lippen mit Wasser. Auf seinen Arm gestützt, wankte Herr Hippelt dann zum Fenster: »Auf – auf – Luft!«

Eisig schlug die Nacht herein, Hippelt im kurzen Hemd, mit nackten Beinen zitterte, aber er blieb am Fenster stehen; er hatte noch immer nicht Luft genug. Als der Anfall endlich nachließ, und er, völlig erschöpft und willenlos, wieder im Bette lag, beugte sich der Bursche über ihn. Ganz dicht. Wie eine drohende Last legte sich seine Gestalt über den ausgemergelten Körper.

»Sie haben mir's versprochen – Sie, Sie – ich erinner' Sie dran!«


 << zurück weiter >>