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Ayrton's Bericht. – Die Absichten seiner früheren Spießgesellen. – Ihre Einrichtung in der Hürde – Der Richter der Insel Lincoln. – Der Bonadventure. – Nachforschungen rund um den Franklin-Berg. – Die oberen Thäler. – Unterirdische Geräusche. – Eine Antwort Pencroff's. – Im Grunde des Kraters. – Rückkehr.
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Was war hier geschehen? Wer hatte die Sträflinge tödtlich getroffen? Ayrton? Nein, denn kurz vorher befürchtete er noch deren Rückkehr.
Ayrton litt aber vorläufig unter einer tiefen Erschöpfung, der er gar nicht zu entreißen war. Nach den wenigen mühsam hervorgestoßenen Worten erlag er ja einer unwiderstehlichen Betäubung, und sank bewegungslos auf sein Bett zurück.
Die Colonisten warteten, eine Beute tausend sich durchkreuzender Gedanken, und mit erklärlicher Erregung, die ganze Nacht, ohne Ayrton's Häuschen zu verlassen oder nach der Stelle zurückzukehren, an der die Leichen ihrer Todfeinde lagen. Ueber die Umstände, unter welchen Jene den Tod gefunden hatten, erwarteten sie von Ayrton kaum eine ausreichende Erklärung, da er ja nicht einmal wußte, wo er sich befand. Vielleicht vermochte er aber Etwas über die Vorfälle vor dieser schrecklichen Execution zu berichten.
Am andern Tage erwachte Ayrton aus der Betäubung, und seine Gefährten bezeugten ihm die herzliche Freude, welche sie über sein Wiedersehen empfanden, und daß er sich nach hundertviertägiger Trennung nahezu heil und gesund befinde.
Ayrton erzählte in kurzen Worten, was vorgefallen war, mindestens was er davon wußte.
Am Tage nach seiner Ankunft an der Hürde, am 10. November, wurde er mit Einbruch der Nacht von den Sträflingen, die über die Umzäunung geklettert waren, gefangen. Diese fesselten und knebelten ihn. Hierauf ward er nach einer dunkeln Höhle des Franklin-Berges, den Schlupfwinkel der Verbrecher, abgeführt.
Schon war sein Tod beschlossen, und sollte er am folgenden Tage erschossen werden, als Einer der Sträflinge ihn erkannte und mit seinem in Australien geführten Namen anrief. Die Elenden wollten Ayrton niedermachen; Ben Joyce respectirten sie!
Von da ab konnte Ayrton aber dem Zureden seiner früheren Genossen gar nicht mehr entfliehen. Sie suchten ihn für sich zu gewinnen, wollten mit seiner Hilfe das Granithaus in Besitz nehmen, in diese unangreifbare Wohnung eindringen, und sich nach Ermordung der Colonisten zu Herren der Insel aufwerfen.
Ayrton widerstand. Der alte reuige und begnadigte Sträfling zog den Tod dem Verrathe seiner Freunde vor.
Vier lange Monate fast verbrachte Ayrton, gebunden und festgelegt, in jener Höhle.
Inzwischen hatten die Sträflinge die Hürde entdeckt, schon kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel, und von da ab lebten sie zwar von deren Vorräthen, bewohnten sie jedoch nicht. Am 11. November feuerten zwei der durch das Auftauchen der Colonisten überraschten Banditen auf Harbert, und einer von diesen kam prahlend zurück, daß er einen der Ansiedler erlegt habe, aber er kam allein. Sein Gefährte war, wie bekannt, von Cyrus Smith's Dolchstoße gefallen.
Nun bedenke man Ayrton's Unruhe und Verzweiflung bei dieser Nachricht von Harbert's Tode! Die Colonisten, jetzt nur noch vier, waren nun der Gnade der Sträflinge preisgegeben.
Nach diesem Vorfalle, und während des ganzen durch Harbert's Darniederliegen verzögerten Aufenthaltes der Colonisten in der Hürde, verließen die Piraten ihre Höhle nicht, und auch nach der Plünderung des Plateaus der Freien Umschau hielten sie es für gerathen, verborgen zu bleiben.
Ayrton erfuhr eine immer härtere Behandlung. Seine Hände und Füße verriethen sie noch durch die blutigen Spuren. Jeden Augenblick erwartete er den Tod, dem er nicht mehr entgehen zu können schien.
So dauerte das bis zur dritten Februarwoche. Die Sträflinge, immer auf der Lauer nach einer günstigen Gelegenheit, verließen nur selten ihre Zuflucht, und unternahmen höchstens eine Jagd in das Innere der Insel oder nach ihrer Südküste zu. Ayrton hörte nichts wieder von seinen Freunden, und hoffte nicht, sie jemals wieder zu sehen.
Endlich verfiel der Unglückliche, dessen Kräfte die traurige Behandlung aufzehrte, in tiefe Betäubung, so daß er nichts mehr sah oder hörte. Von da ab, d.h. seit zwei Tagen, vermochte er auch nicht mehr zu sagen, was noch vorgefallen sei.
»Doch, Herr Smith, fügte er hinzu, da ich in der Höhle gefangen lag, wie kommt es, daß ich mich in der Hürde befinde?
– Wie kommt es, fragte der Ingenieur dagegen, daß die Sträflinge dort, mitten in der Umzäunung, todt hingestreckt liegen?
– Todt!« schrie Ayrton, der sich trotz seiner Schwäche halb aufrichtete.
Seine Gefährten hielten ihn. Er wollte sich erheben, man ließ es geschehen, und Alle begaben sich nach dem Bachesrande.
Es war jetzt heller Tag.
Dort lagen, von einem blitzartigen Tode ereilt, die fünf Leichname der Verbrecher.
Ayrton stand wie angewurzelt. Cyrus Smith und seine Freunde betrachteten ihn schweigend.
Auf ein Zeichen des Ingenieurs untersuchten Pencroff und Nab die Leichen, welche sich schon kalt und starr erwiesen.
Eine äußere Verletzung zeigte sich an denselben nirgends.
Nach genauester Besichtigung erkannte Pencroff nur an der Stirn des Einen, an der Brust des Andern, am Rücken von Diesem und der Schulter von Jenem ein kleines rothes Pünktchen, dessen Ursprung ein Räthsel blieb.
»An diesen Stellen sind sie getroffen worden, sagte Cyrus Smith.
– Doch mit welcher Waffe! rief der Reporter.
– Mit einer Blitze schleudernden Waffe, die für uns ein Geheimniß ist!
– Und wer hat sie mit Blitzen erschlagen? fragte Pencroff.
– Der Richter und Rächer der Insel, antwortete Cyrus Smith, der Euch hierher gebracht hat, Ayrton; dessen Macht noch immer wieder sichtbar ist; der für uns Alles das ausführt, woran wir selbst scheitern müßten, und der sich nachher – unseren Blicken entzieht.
– Suchen wir ihn! rief Pencroff.
– Ja, suchen wir ihn, fuhr Cyrus Smith fort; aber dieses höhere Wesen, das solche Wunder vollbringt, werden wir nicht eher finden, als bis es uns zu sich ruft!«
Der unsichtbare Schutz, der ihre eigene Thätigkeit unnöthig machte, berührte und erregte vor Allen den Ingenieur. Die Inferiorität, welche er constatirte, war eine derartige, daß sich eine stolze Seele dadurch verletzt fühlen konnte. Ein Edelmuth, der sich jeder Anerkennung zu entziehen sucht, verräth etwas wie Mißachtung gegen die Beschützten, und glich in Cyrus Smith's Augen den Preis der Wohlthaten bis zu einem gewissen Punkte aus.
»Suchen wir ihn, begann er nochmals, und Gott wolle es uns dereinst noch gestatten, dem stolzen Wohlthäter zu beweisen, daß er keine Undankbaren vor sich hatte! Was gäb' ich darum, wenn wir gegen ihn Vergeltung üben und ihm, sei's um den Preis unseres Lebens, einen hervorragenden Dienst leisten könnten!«
Seit diesem Tage beschäftigte diese Aufsuchung fast allein die Gedanken der Ansiedler. Alles trieb sie, die Lösung des Räthsels zu finden, die nur in dem Namen eines Mannes liegen konnte, der mit außergewöhnlichen und fast übermenschlichen Kräften ausgestattet war.
Bald kehrten die Colonisten nach der Wohnung in der Hürde zurück, wo ihre Sorgfalt Ayrton in kurzer Zeit seine moralische und physische Energie wieder gab.
Nab und Pencroff schafften die Leichen der Verbrecher weit in den Wald hinein und verscharrten sie in einer tiefen Grube.
Nun ward Ayrton auch von dem unterrichtet, was sich seit seiner Gefangennehmung zugetragen hatte. Er vernahm Harbert's gefährliches Abenteuer und die Reihe von Prüfungen, welche über die Colonisten gekommen waren. Letztere hatten längst nicht mehr gehofft, Ayrton je wieder zu sehen, ihn vielmehr von den Sträflingen erbarmungslos ermordet geglaubt.
»Und nun, sagte Cyrus Smith, indem er seinen Bericht schloß, bleibt uns noch eine Pflicht zu erfüllen. Die eine Hälfte unseres Zweckes wäre erreicht; wenn die Sträflinge aber nicht mehr zu fürchten und wir wieder die Herren der Insel geworden sind, so verdanken wir das nicht unseren eigenen Kräften.
– Gewiß, erklärte Gedeon Spilett, so wollen wir also das ganze Labyrinth der Ausläufer des Franklin durchsuchen; keine Höhle, keine Oeffnung unergründet lassen. O, wenn ein Reporter jemals vor einem spannenden Räthsel stand, so bin ich es jetzt, meine Freunde.
– Und wir kehren nicht eher nach dem Granithause heim, sprach Harbert, als bis wir unsern Wohlthäter fanden.
– Ja wohl! stimmte ihm der Ingenieur zu, wir wollen Alles thun, was Menschen zu leisten vermögen… Doch ich wiederhole, wir werden Jenen nicht finden, sobald er es selbst nicht für gut findet.
– Bleiben wir in der Hürde? fragte Pencroff.
– Ich meine es, antwortete Cyrus Smith. An Lebensmitteln ist hier Ueberfluß, und dazu liegt der Ort gerade dem Ziele unserer Ausflüge nahe. Sollte es sich nöthig machen, so ist ja der Wagen stets schnell nach dem Granithause zu senden.
– Gut, erwiderte der Seemann; nur eine Bemerkung…
– Welche?
– Die schöne Jahreszeit schreitet voran, und wir dürfen nicht vergessen, daß uns noch eine Fahrt über See bevorsteht.
– Eine Seefahrt? sagte Gedeon Spilett.
– Ja wohl! Nach der Insel Tabor, belehrte ihn Pencroff. Es ist nothwendig, eine Notiz dahin zu schaffen, welche die Lage unserer Insel und den Ort, an dem Ayrton sich jetzt befindet, angiebt, für den Fall, daß die schottische Yacht zur Wiederaufnahme desselben zurückkehrt. Wer weiß, ob's jetzt nicht schon zu spät ist.
– Aber, Pencroff, fragte Ayrton, wie denken Sie dorthin zu gelangen?
– Nun, auf dem Bonadventure.
– Der Bonadventure, rief Ayrton,… existirt nicht mehr.
– Mein Bonadventure existirt nicht mehr! heulte Pencroff, entsetzt aufspringend.
– Nein, erwiderte Ayrton. Die Sträflinge hatten ihn, es sind kaum acht Tage, in seinem kleinen Hafen aufgefunden, sind auf's Meer gegangen, und ...
– Und? drängte Pencroff, dessen Herz hörbar klopfte.
– Und da sie keinen Bob Harvey zur Führung hatten, sind sie an den Felsen gescheitert, und ist das Fahrzeug total zertrümmert.
– O, die Elenden! Die Banditen! Diese vermaledeiten Schurken! brach Pencroff aus.
– Pencroff, sagte Harbert, und ergriff des Seemanns Hand, so bauen wir uns einen anderen und größeren Bonadventure! Wir haben ja alle Eisentheile und das ganze Takelwerk der Brigg dazu.
– Ja, aber bedenkt Ihr, daß zur Construction eines Schiffes von dreißig bis vierzig Tonnen eine Zeit von fünf bis sechs Monaten gehört?
– Wir nehmen uns die Zeit, antwortete der Reporter, und verzichten für dieses Jahr auf die Ueberfahrt nach der Insel Tabor.
– Nun, Pencroff, suchte diesen auch der Ingenieur zu beruhigen, man muß sich eben in's Unvermeidliche fügen, und ich hoffe, diese Verzögerung wird uns nicht zu nachtheilig sein.
– Ach, mein Bonadventure! Mein armer Bonadventure!« jammerte Pencroff, dem der Verlust des Fahrzeugs, auf das er so stolz gewesen, recht tief zu Herzen ging.
Die Zerstörung des Bonadventure war für die Colonisten offenbar ein sehr betrübendes Ereigniß, und sie beschlossen auch, diesen Verlust baldmöglichst zu ersetzen. Hierauf aber beschäftigte sie zunächst nur der Wunsch, die Erforschung der verborgensten Theile der Insel zum guten Ende zu führen.
Die Nachsuchungen begannen an demselben Tage, dem 19. Februar, und nahmen eine ganze Woche in Anspruch. Der Grundstock des Berges bildete zwischen seinen Ausläufern und deren zahlreichen Verzweigungen ein Labyrinth der verworrensten Thäler und Schluchten. Gerade hier, im Grunde der oft engen Spalten, vielleicht selbst im Innern der Bergmasse des Franklin galt es, am aufmerksamsten zu spähen. Kein Theil der Insel erschien geeigneter, eine Wohnung zu verbergen, deren Insasse unerkannt zu bleiben wünschte. Das Gewirr dieser Wälle und Kämme war aber ein so großes, daß Cyrus Smith bei der Durchsuchung derselben nach strenger Methode verfahren mußte.
Die Colonisten begingen zuerst das Thal, das sich südlich vom Vulkane öffnete und die ersten Anfänge des Cascadenflusses sammelte. Dort zeigte ihnen Ayrton die Höhle, welche den Sträflingen als Schlupfwinkel und ihm selbst zum Gefängniß, bis zu seiner Ueberführung nach der Hürde, gedient hatte. Die Höhle befand sich noch ganz in demselben Zustand, wie ihn Ayrton kannte. Man fand daselbst eine ziemliche Menge Munition und Lebensmittel, welche die Verbrecher in der Absicht, sich eine Reserve zu sichern, hierher geschleppt hatten.
Das ganze in jener Grotte endigende, von schönen Bäumen und vorzüglich von Coniferen beschattete Thal ward mit größter Sorgfalt durchsucht, und vertieften sich die Colonisten, nach Umgehung seiner südwestlichen Bergwand, in das pittoreske Basaltgestein, das bis nach der Küste reichte. Hier traten Bäume nur seltener auf, und Steine an die Stelle des Grases. Wilde Ziegen und Mouflons kletterten auf den Felsen. Hier begann der unfruchtbare Theil der Insel. Schon konnte man erkennen, daß von den zahlreichen vom Franklin-Berge auslaufenden Thälern nur drei bewaldet und reich an Weideplätzen waren, so wie das der Viehhürde, das im Westen an das Thal des Cascadenflusses, im Osten an das des Rothen Flusses grenzte. Diese beiden Bäche, welche erst weiterhin durch Aufnahme verschiedener Zuflüsse den Charakter von Flüssen annahmen, bildeten sich aus dem ganzen Gewässer des Berges und begründeten die Fruchtbarkeit der südlichen Umgebung. Die Mercy dagegen nährte sich directer durch zahlreiche unter dem Laubdache des Jacamarwaldes verborgene Quellen, und ebenso tränkten ähnliche, in tausend Fädchen verlaufende Wasseradern die im Grün prangende Schlangenhalbinsel.
Von obigen drei Thälern hätte eines recht wohl als Versteck eines Einsiedlers dienen können, der daselbst alles zum Leben nothwendige vorfand. Nirgends entdeckten die Colonisten aber bei ihrer Durchsuchung auch nur Spuren von einem Menschen.
Sollten sich die Wohnung und ihr Insasse in jenen öden Schlünden, mitten unter den übereinander geworfenen Felsen in den rauhen Schluchten nach Norden hin, zwischen den erstarrten Lavamassen finden?
Der nördliche Theil des Franklin-Berges bestand eigentlich nur aus zwei breiten, seichten Thälern, ohne Pflanzenwuchs und erfüllt von erratischen Blöcken, gestreift von langen Moränen, zerrissen von formlosen Gesteinsmassen und bestreut mit Obsidianen und Labradoriten. Dieser Theil erforderte eine längere und mühsame Untersuchung. Dort gähnten tausend Höhlen, welche zwar möglichst unbequem zu erreichen sein mochten, aber bei ihrer absoluten Verstecktheit auch vor jedem Angriffe sicherten. Die Colonisten drangen selbst in dunkle Tunnels aus der plutonischen Erdperiode ein, die sich, noch immer geschwärzt von dem vorgeschichtlichen Feuer, durch die Felsmassen hinzogen. Man durchsuchte bei Fackellicht diese tiefen Galerien, und ließ nicht die geringsten Aushöhlungen unbeachtet, die kleinsten Vertiefungen, ohne sie zu sondiren, vorüber. Aber überall Schweigen, überall Finsterniß. Kaum jemals schien ein Menschenfuß diese uralten Gänge betreten, oder ein Arm nur einen dieser Steine verrückt zu haben. Alles lag noch so vor ihnen, wie es der Vulkan zur Zeit der Entstehung der Insel aus den Wassern emporgedrängt hatte.
Wenn sich diese unterirdischen Galerien aber auch völlig verlassen und tiefdunkel erwiesen, so mußte Cyrus Smith doch die Ueberzeugung gewinnen, daß es daselbst nicht absolut still blieb.
Am Ende eines solchen dunkeln Hohlganges, der sich mehrere hundert Schritte weit in die Felsmasse fortsetzte, angelangt, vernahm er staunend eine Art dumpfes Murren, dessen Intensität die Schallfortleitung des Gesteins noch erhöhen mochte.
Der ihn begleitende Reporter hörte das Geräusch ebenfalls, das auf ein Wiederaufleben der unterirdischen Feuer hindeutete. Wiederholt horchten Beide aufmerksam und stimmten leicht in der Ansicht überein, daß sich in den Eingeweiden des Erdbodens jetzt irgend welcher chemische Proceß abspiele.
»Der Vulkan kann also nicht vollkommen erloschen sein, sagte Gedeon Spilett.
– Möglicherweise geht seit unserer Untersuchung des Kraters, erwiderte Cyrus Smith, in den untersten Schichten Etwas vor. Jeder Vulkan, auch der scheinbar gänzlich erloschene, kann bekanntlich wieder ausbrechen.
– Sollte eine erneute Eruption des Franklin-Berges aber, fragte der Reporter, nicht die ganze Insel Lincoln gefährden?
– Das glaub' ich nicht, antwortete der Ingenieur. Noch ist der Krater, d.h. das Sicherheitsventil, ja vorhanden, aus dem die Auswurfsmassen, wie ehedem durch die gewohnte Mündung, abfließen könnten.
– Mindestens, wenn sie nicht durch eine neue Oeffnung ihren Weg über die fruchtbaren Theile der Insel nehmen.
– Warum, lieber Spilett, entgegnete Cyrus Smith, sollten sie nicht dem ihnen von der Natur vorgezeichneten Wege folgen?
– O, die Vulkane haben auch ihre Launen! versetzte der Reporter.
– Bedenken Sie, sagte der Ingenieur dagegen, daß die Neigungsverhältnisse der ganzen Bergmasse eine Ausbreitung jener Auswurfsstoffe nach den jetzt von uns durchforschten Thälern begünstigen, und daß zur Umkehrung dieses Zustandes ein Erdbeben erst den Schwerpunkt des ganzen Berges verschieben müßte.
– Der Eintritt eines Erdbebens ist aber auch nicht unmöglich, bemerkte Gedeon Spilett.
– Gewiß nicht, bestätigte der Ingenieur, vorzüglich, wenn die unterirdischen Kräfte erwachen und die Erdschichten nach langer Ruhe zersprengt zu werden drohen. Jedenfalls, lieber Spilett, wäre eine neue Eruption auch für uns ein sehr ernstes Ding, und weit mehr zu wünschen, der Vulkan hätte die Gewogenheit, auch ferner zu schlummern. Jedenfalls vermögen wir dabei nichts zu thun. Doch, was auch geschehe, ich fürchte nicht, daß unser Gebiet an der Freien Umschau ernstlich bedroht würde. Zwischen ihm und dem Berge streckt sich eine merkliche Bodensenkung hin, und selbst wenn die Laven jemals nach der Seeseite hin abflössen, würden sie nach den Dünen und den Umgebungen des Haifisch-Golfes geleitet werden.
– Bis jetzt haben wir an der Spitze des Berges auch noch keinen Rauch als Vorboten einer demnächstigen Eruption wahrgenommen, sagte Gedeon Spilett.
– Nein, erwiderte Cyrus Smith; noch entweicht kein Dampfwölkchen aus dem Krater, dessen Gipfel ich gestern aufmerksam beobachtete. Doch kann die Zeit im Grunde des Kamines Felsgeröll, Asche und verhärtete Lavamassen angehäuft und das erwähnte Ventil jetzt gerade zu stark belastet haben. Bei der ersten Kraftäußerung aber würde jedes derartige Hinderniß beseitigt werden, und Sie dürfen sicher sein, lieber Spilett, daß weder die Insel, gewissermaßen der Dampfkessel, noch der Vulkan, dessen Rauchfang, unter der Spannung der Gase explodirt. Immerhin, wiederhole ich, wünschen wir lieber das Ausbleiben einer Eruption.
– Und doch täuschen wir uns nicht, bemerkte der Reporter. Man hört ein Murmeln im Innern des Vulkans ganz deutlich.
– Ja, es ist so, antwortete der Ingenieur aufmerksam lauschend, es kann keine Täuschung sein… Dort vollzieht sich eine Arbeit, deren Umfang und Endresultat wir nicht zu bestimmen vermögen.«
Cyrus Smith und Gedeon Spilett kehrten zurück und schlossen sich ihren Gefährten wieder an, denen sie den Stand der Sache mittheilten.
»Sehr schön, rief Pencroff, der Vulkan will dumme Streiche machen! Mag er's probiren! Er wird seinen Meister finden.
– Wen denn? fragte Nab.
– Unsern Schutzgeist, Nab, unsern Schutzgeist. O, der wird ihm den Krater schon zuknebeln, wenn er ihn öffnen will!«
Man sieht, Pencroff's Vertrauen zu diesem Genius der Insel kannte keine Grenzen und schien gegenüber jener verborgenen Macht, die sich wiederholt auf die unerklärlichste Weise bemerkbar gemacht, nicht unbegründet. Dazu wußte sie sich auch den peinlichsten Nachforschungen der Colonisten zu entziehen, denn trotz ihrer Bemühung, ihres Eifers, ja trotz aller Hartnäckigkeit, mit der sie dieses Ziel verfolgten, konnte deren wunderbarer Zufluchtsort nicht ermittelt werden.
Vom 19. bis 25. Februar wurde der Kreis der Untersuchungen auf die ganze Westseite der Insel ausgedehnt, deren geheimste Schlupfwinkel man erforschte. Die Colonisten beklopften sogar jede Felsenwand, wie es die Polizei an den Mauern eines verdächtigen Hauses zu thun pflegt. Der Ingenieur zeichnete einen genauen Aufriß des Berges und erstreckte seine Untersuchungen bis auf dessen unscheinbarste Ausläufer. Ebenso wurde er zuerst bis zur Höhe des abgestumpften Kegels abgesucht, der den ersten Felsenabsatz bildete, und hierauf bis zum obersten Kamme des riesigen Hutes, in dessen Grunde sich der Krater öffnete.
Noch mehr: Man drang bis in den jetzt unbewegten Abgrund, in dessen Tiefen das unheimliche Murmeln deutlich zu hören war. Doch zeigte kein Rauch, kein Dampf, keine warm gewordene Wand einen bevorstehenden Ausbruch an. Aber weder hier, noch sonst wo am Franklin-Berge entdeckten die Colonisten auch nur eine Spur des Gesuchten.
Jetzt wandte man sich nach der Gegend der Dünen, untersuchte die steilen Granitmauern des Haifisch-Golfes von oben bis unten, so schwer es auch war, bis zum Niveau des Golfes hinab zu klimmen. Niemand! – Nichts!
Von wie vielen nutzlosen Bemühungen und verfehlten hartnäckigen Versuchen sprechen diese beiden Worte! In das Mißgeschick Cyrus Smith's und seiner Genossen mischte sich ein gutes Theil zürnenden Unmuths.
Man mußte allmälig an die Rückkehr denken, denn in's Endlose konnten diese Nachsuchungen ja nicht fortgesetzt werden. Die Colonisten schienen zu dem Glauben berechtigt, daß das geheimnißvolle Wesen nicht auf der Oberfläche der Insel wohne, und nun drängten sich ihrer überreizten Phantasie die tollsten Hypothesen auf. Pencroff und Nab begnügten sich nicht mehr mit dem Begriffe des Außergewöhnlichen, Fremdartigen, sondern schweiften in die übernatürliche Welt.
Am 25. Februar zogen die Colonisten nach dem Granithause heim, und stellten mittels des Doppelpfeils, das ein Pfeilschuß nach dem Thürabsatz beförderte, die Verbindung zwischen ihrer Wohnung und dem Erdboden wieder her.
Einen Monat später, am 25. März, feierten sie den dritten Jahrestag ihrer Ankunft auf der Insel Lincoln!