Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was man an Top findet. – Herstellung von Pfeilen und Bögen. – Eine Ziegelei. – Der Töpferofen. – Verschiedenes Küchengeräthe. – Der erste Topf Suppe. – Wermuthkraut. – Das südliche Kreuz. – Eine wichtige astronomische Beobachtung.
———
»Nun, Mr. Cyrus, fragte Pencroff am nächsten Morgen den Ingenieur, womit beginnen wir nun?
– Mit dem Anfange«, antwortete lakonisch Cyrus Smith.
Wirklich mußten die Colonisten vollständig »von Adam anfangen«, wie man zu sagen pflegt. Sie besaßen nicht einmal das Nothdürftigste, um sich Werkzeuge herzustellen, und befanden sich nicht in der glücklichen Lage der Natur, welche »die Kräfte spart, weil sie Zeit hat«. Ihnen gebrach es an Zeit, sie mußten so schnell als möglich für die nothwendigsten Lebensbedürfnisse sorgen, und wenn sie in Folge früher gesammelter Erfahrungen auch nicht gezwungen waren, erst neue Erfindungen zu machen, so hatten sie sich dafür doch alles Nothwendige erst selbst zu schaffen. Ihr Eisen und Stahl befand sich noch im Zustande des Minerals, ihr Topfgeschirr in dem des Thones, ihre Kleidung und Wäsche noch in dem der Faserpflanzen.
Man muß übrigens zugeben, daß die Colonisten »Männer« waren im besten Sinne des Worts. Der Ingenieur Smith konnte begabtere, ergebenere und eifrigere Helfer gar nicht finden. Er hatte sie ja geprüft und kannte ihre Fähigkeiten.
Gedeon Spilett, ein Berichterstatter von hervorragender Begabung, wußte von Allem soviel, um darüber sprechen zu können, und sollte Kopf und Hand vielfach der Colonisation der Insel widmen. Er schreckte vor keinem Unternehmen zurück, und als leidenschaftlicher Jäger betrieb er bald als Geschäft, was ihm früher nur Vergnügen gewesen war.
Harbert, ein wackerer und in den Naturwissenschaften vorzüglich erfahrener junger Mann, half zum allgemeinen Wohle nach besten Kräften.
Nab repräsentirte die verkörperte Ergebenheit. Geschickt, einsichtig, unermüdlich, kräftig und von eiserner Gesundheit, verstand er sich ein wenig auf Schmiedearbeiten, versprach also der Ansiedelung besonders nützlich zu werden.
Pencroff, ein auf allen Meeren gereister Seemann, hatte als Zimmermann auf den Werften von Brooklyn, als Hilfsschneider auf den Kriegsschiffen, als Gärtner und Landmann gearbeitet, wenn er ohne Schiffsdienst war, und wußte, so wie die Seeleute überhaupt, eigentlich Alles richtig anzufassen.
Es wäre wohl schwierig gewesen, fünf Menschen zusammenzufinden, welche besser gegen ein widriges Geschick zu kämpfen und ein solches sicherer zu besiegen gewußt hätten.
»Beim Anfange«, lauteten die Worte Cyrus Smith's. Der Anfang, den er dabei im Sinne hatte, bezog sich auf eine geeignete Einrichtung zur Umwandlung der Naturproducte.
Die wichtige Rolle, welche die Wärme bei derartigen Processen spielt, ist ja hinlänglich bekannt. Das Brennmaterial allein, ob Holz oder Steinkohle, erschien unmittelbar verwendbar und verlangte nur die Herstellung eines passenden Ofens.
»Und wozu soll dieser Brennofen dienen? fragte Pencroff.
– Zur Beschaffung der Töpferwaare für unseren Bedarf, antwortete Cyrus Smith.
– Und woraus bauen wir den Ofen?
– Aus Ziegelsteinen.
– Und diese bereiten wir…?
– Aus thonigem Lehm. An's Werk, Ihr Freunde. Um Transporte zu vermeiden, etabliren wir unsere Werkstatt am Productionsorte selbst. Nab wird uns Proviant nachführen, und das Feuer zur Zubereitung der Speisen wird ja nicht fehlen.
– Das wohl nicht, bemerkte der Reporter, wenn uns nur die Nahrungsmittel selbst, in Folge Mangels an Jagdgeräthen, nicht ausgehen.
– Wenn wir nur wenigstens ein Messer besäßen, rief der Seemann.
– Nun dann? fragte Cyrus Smith.
– Dann hätte ich schnellstens einen Bogen und Pfeile angefertigt und unsere Speisekammer reichlich gefüllt.
– Ja wohl… ein Messer… eine schneidende Klinge…!« sagte der Ingenieur mehr zu sich selbst.
Da trafen seine Blicke Top, der am Ufer hin und her lief.
Plötzlich leuchteten Cyrus Smith's Augen auf.
»Top, hier!« rief er.
Der Hund gehorchte dem Zurufe seines Herrn. Dieser nahm Tops Kopf zwischen die Knie, löste ihm das Halsband ab und zerbrach dasselbe in zwei Stücke.
»Da sind zwei Messer, Pencroff.«
Zwei Hurrahs des Seemanns erschallten als Antwort. Tops Halsband bestand nämlich aus einem dünnen Streifen von gehärtetem Stahle. Man brauchte die Stücke nur auf einem groben Sandstein zu schleifen und den entstandenen Grath an der Schneide durch einen feinkörnigeren Stein weg zu nehmen. Sandsteinfelsen gab es nun genügend, und zwei Stunden später bestanden die Werkzeuge der Colonie aus zwei schneidenden Klingen, welche leicht in einem Hefte handgerecht befestigt waren.
Diese Errungenschaft, das erste Werkzeug, wurde als Triumph begrüßt; eine Errungenschaft, die auch wirklich sehr gelegen kam.
Man brach auf. Cyrus Smith beabsichtigte nach der Westseite des Sees an die Stelle zurückzukehren, wo sich Tags vorher das Thonerdelager, von dem er eine Probe mitgenommen, gezeigt hatte. Längs des Ufers der Mercy, nach dem Plateau der Freien Umschau hinziehend, erreichte man nach einem Wege von höchstens fünf Meilen eine zweihundert Schritte vom Grants-See entfernte Lichtung.
Unterwegs hatte Harbert einen Baum entdeckt, aus dessen Zweigen die Indianer Nordamerikas ihre Bögen herzustellen pflegen, den »Erejimba«, der zu einer Palmenfamilie ohne eßbare Früchte gehört. Man schnitt von diesem lange, gerade Zweige ab, entblätterte dieselben und schnitzte sie in der Weise zu, daß sie in der Mitte am stärksten blieben. Jetzt bedurfte man also nur noch einer Pflanze, welche passende Sehnen an die Bögen lieferte. Diese fand man in einer Malvenart, dem » Hibiscus heterophyllus«, dessen zähe, dauerhafte Fasern eine thierische Sehne im Nothfalle zu ersetzen vermögen. Nun hatte wohl Pencroff seinen kräftigen Bogen, noch fehlten ihm aber die Pfeile dazu. Ließen sich diese auch aus kleineren, dünnen und astfreien Zweigen unschwer herstellen, so veranlaßte doch die nothwendige Ausrüstung der Spitze mit einer Substanz, die das Eisen zu ersetzen im Stande war, weit mehr Kopfzerbrechen. Doch sagte sich Pencroff endlich, daß, nachdem er das Seinige gethan, der Zufall ihm schon zu Hilfe kommen werde.
Die Colonisten waren auf dem am vergangenen Tage untersuchten Terrain angekommen. Dieses bestand aus einer Thonerde, wie sie zu Backsteinen und Ziegeln verwendet wird, und welche ihren Zwecken demnach vollkommen entsprach. Besondere Schwierigkeiten stellten sich nicht entgegen. Der Thon wurde nur mittels Sand etwas entfettet, dann formte man Mauersteine daraus, um diese bei Holzfeuer zu brennen.
Gewöhnlich werden die Backsteine zwar in Formen gedrückt, der Ingenieur begnügte sich jedoch mit ihrer Herstellung aus freier Hand. Zwei volle Tag verwendete man auf diese Arbeit. Der angefeuchtete Thon wurde mit Hände und Füßen durchgeknetet, und dann in Prismen von gleicher Größe getheilt Ein geübter Arbeiter vermag ohne Maschine in Zeit von zwölf Stunden bis 10,000 Stück Backsteine herzustellen; die fünf Ziegelstreicher der Insel Lincoln hatten freilich in zwei Arbeitstagen nur etwa 3000 angefertigt, welche reihenweise aufgestellt wurden, bis sie in drei bis vier Tagen vollkommen ausgetrocknet und damit zum Brennen geeignet wurden.
Am 2. April war es, als Cyrus Smith die Orientation der Insel näher feststellte. Am Tage vorher hatte er mit Berücksichtigung der Strahlenbrechung die Zeit, um welche die Sonne unter dem Horizonte verschwand, genau aufgezeichnet. An diesem Morgen beobachtete er den Aufgang derselben mit der nämlichen Aufmerksamkeit. Zwischen diesem Unter- und Aufgange lagen elf Stunden sechzehn Minuten, so daß die Sonne sechs Stunden zweiundzwanzig Minuten nach ihrem Aufgange den Meridian des Ortes passiren und für denselben genau im Norden stehen mußte. Wirklich geht zu jener Jahreszeit und unter der betreffenden Breite die Sonne um fünf Uhr dreiunddreißig Minuten auf, und um sechs Uhr siebenzehn Minuten unter.
Zur erwähnten Zeit beobachtete Cyrus Smith jenen Punkt am Himmel, und wählte zwei in derselben Richtung liegende Bäume aus, die ihm demnach für spätere Aufnahmen eine unveränderliche Mittagslinie bildeten.
Während der beiden Tage vor dem Brennen der Mauersteine beschaffte man sich die nöthigen Holzvorräthe. In der Umgebung schnitt man Aeste von den Bäumen und sammelte alles umherliegende Holz. Es versteht sich, daß die Jagd dabei nicht vollständig vernachlässigt wurde, zumal da Pencroff jetzt wohl ein Dutzend Pfeile mit sehr scharfen Spitzen besaß. Diese verdankte man Top, der ein Stachelschwein eingefangen hatte, das als Wild zwar nur von untergeordnetem Werthe, wegen der spitzen Stacheln aber, mit denen es bedeckt ist, in diesem Falle doch eine hochwillkommene Beute bildete. Mit jenen rüstete man nun die Spitzen der Pfeile aus, während ihre Fluglinie durch Kakadufederfahnen gesichert wurde. Der Reporter und Harbert zeichneten sich bald als geschickte Bogenschützen aus. An Wild, z.B. an Wasserschweinen, Tauben, Agutis, Auerhähnen u.s.w., war in der Nachbarschaft Ueberfluß. Den größten Theil dieser Thiere erlegte man in dem Walde neben dem linken Ufer der Mercy, dem man den Namen des »Jacamar-Waldes« beilegte, unter Beziehung auf die Vögel, welche Harbert und Pencroff bei ihrem ersten Ausfluge dahin verfolgt hatten.
Das meiste Wild verzehrte man zwar frisch, conservirte dagegen die Cabiai- (Wasserschwein-)Keulen und räucherte diese mit grünem Holze, nachdem sie in aromatische Blätter gehüllt kurze Zeit gelegen hatten. Diese zwar sehr kräftigende Nahrung, welche nur aus Braten und wieder Braten bestand, ließ doch allmälig den Wunsch aufkommen, auf dem Herde einmal einen Suppentopf brodeln zu hören. Dazu mußte man freilich einen Topf besitzen und folglich den Bau des Brennofens abwarten.
Gelegentlich dieser Excursionen, die nur in einem beschränkten Kreise um die Ziegelei herum stattfanden, bemerkten die Jäger dann und wann ziemlich frische Spuren größerer Thiere. Cyrus Smith empfahl ihnen deshalb die äußerste Vorsicht, denn die Wahrscheinlichkeit lag sehr nahe, daß das Gehölz einige gefährliche Raubthiere bergen könne.
Wie berechtigt diese Mahnung war, sollte man bald erfahren. Gedeon Spilett und Harbert sahen eines Tages ein Thier, das dem Jaguar sehr ähnlich erschien. Zum Glücke griff es sie nicht an, da sie ohne ernstliche Verletzung wohl nicht davon gekommen wären. Hätte der Reporter nur eine ordentliche Waffe besessen, d.h. ein Gewehr, wie es Pencroff verlangte, so gelobte er sich, gegen die Raubthiere den erbittertsten Krieg zu führen, und die Insel bald von dem Gesindel zu säubern.
An eine wohnlichere Einrichtung der Kamine dachte man jetzt gar nicht mehr, denn der Ingenieur hoffte in allernächster Zeit eine bequemere Wohnung zu entdecken oder zu erbauen.
Man begnügte sich, die Lagerstätten auf dem Sande mit frischen Schichten weichen Mooses und trockener Blätter zu bedecken, und auf diesen etwas urwüchsigen Matratzen genossen die ermüdeten Arbeiter einen trefflichen Schlaf.
Nun bekümmerte man sich auch um die Anzahl der seit der Ankunft auf der Insel verflossenen Tage, und führte eine exacte Zeitrechnung ein. Am 5. April, Mittwochs, waren zwölf Tage verflossen, seit der Sturm die Schiffbrüchigen auf die Insel geschleudert hatte.
Am 6. April versammelten sich der Ingenieur und seine Gefährten mit Tagesanbruch in der Waldblöße an der Stelle, wo das Brennen der Ziegel vor sich gehen sollte, natürlich unter freiem Himmel und nicht in geschlossenen Oefen, vielmehr bildeten die zusammengesetzten Backsteine einen Ofen, der sich eben selbst brennen sollte. Das aus Reisigbündeln bestehende Brennmaterial wurde auf geeignete Art und Weise ausgebreitet, mit mehreren Reihen lufttrockener Backsteine umgeben, welche bald einen großen Würfel bildeten, in dessen Seiten die nöthigen Zuglöcher ausgespart blieben. Diese Arbeit nahm den ganzen Tag in Anspruch und erst am Abend zündete man die Holzbündel an.
Niemand legte sich die Nacht über nieder, sondern Alle suchten das Feuer gut in Brand zu erhalten.
Der Brennproceß währte achtundvierzig Stunden lang und erwies sich als vollkommen gelungen. Da man das Auskühlen der rauchenden Masse abwarten mußte, so schafften Nab und Pencroff unter Cyrus Smiths Leitung inzwischen auf einer aus verbundenen Aesten gebildeten Schleife mehrere Ladungen kohlensauren Kalkgesteins von dem nördlichen Ufer des Sees herbei. Dieses Gestein lieferte, durch Hitze zersetzt, einen sehr fetten, beim Löschen ausgiebigen Aetzkalk, welcher ebenso rein erschien, als wäre er aus dem reinsten Marmor dargestellt. Mit Sand vermischt, den man hinzusetzte, um die allzu große Zusammenziehung des Kalkbreies zu verhindern, lieferte derselbe einen ganz ausgezeichneten Mörtel.
Bei Beendigung dieser Arbeiten, am 9. April, standen dem Ingenieur nun schon eine gehörige Menge völlig fertigen Maurerkalkes und einige Tausend gebrannte Ziegel zur Verfügung.
Man schritt demnach unverzüglich zum Bau eines passenden Brennofens, um das nöthige Küchengeschirr für den Hausbedarf herzustellen, was ohne zu große Schwierigkeit gelang. Fünf Tage später wurde der Ofen mit Steinkohle beschickt, von der der Ingenieur nahe dem Rothen Flusse ein zu Tage tretendes Lager entdeckt hatte, und zum ersten Male wirbelte der Rauch aus einem etwa zwanzig Fuß hohen Schornsteine empor. Die Waldblöße ward zur Werkstatt, und Pencroff nährte den heimlichen Glauben, daß der Ofen hier bald alle Erzeugnisse der modernen Industrie liefern werde.
Die ersten Artikel der Colonisten bestanden nun freilich blos in gewöhnlicher Töpferwaare, welche indeß zum Kochen der Speisen vollkommen ausreichte. Das Material dazu entnahm man dem Thonboden, und ließ Cyrus Smith demselben noch etwas Kalk und Quarzkörner beimengen. Der teigige Thon stellte eine wirkliche »Pfeifenerde« dar, aus der man Töpfe, über geeigneten Steinen geformte Tassen, Teller, größere Krüge, Wasserbehälter u.s.w. erzeugte. Die Form dieser Gegenstände ließ freilich zu wünschen übrig, nachdem sie jedoch bei hohen Hitzegraden gebrannt waren, zählte die Küche der Kamine eine Reihe Geräthschaften, die unter den gegebenen Verhältnissen ebenso kostbar waren, als hätte man zu ihrer Herstellung die feinste Porzellanerde verwendet.
Es verdient erwähnt zu werden, daß Pencroff, begierig zu wissen, ob jene Pfeifenerde ihren Namen in der That verdiene, sich einige ziemlich plumpe Pfeifen zurecht machte, die er zwar ganz ausgezeichnet fand, zu denen ihm aber leider der Tabak fehlte, – für Pencroff, den leidenschaftlichen Raucher, eine bittere Entbehrung.
»Tabak wird sich schon noch finden, so gut, wie alles Uebrige!« tröstete er sich bei seiner grenzenlosen Vertrauensseligkeit.
Diese Arbeiten dauerten bis zum 15. April, und bedarf es wohl keiner besonderen Versicherung, daß die Zeit dabei gut ausgenutzt wurde. Die Colonisten, einmal zu Töpfern geworden, beschäftigten sich ausschließlich mit der Anfertigung von Töpfergeschirr. Wenn es Cyrus Smith gefiel, aus ihnen Schmiede zu machen, so würden sie auch solche werden. Da der folgende Tag aber Sonntag, und noch dazu Ostersonntag war, so beschloß man, denselben der Ruhe und Erholung zu weihen. Diese Amerikaner sind sehr religiöse Menschen und beobachten mit peinlicher Genauigkeit die Vorschriften der Bibel; die Lage, in der sie sich befanden, konnte aber ihr Gefühl des Vertrauens zu dem Schöpfer aller Dinge nur verdoppeln.
Am Abend des 15. April kehrte man also nach den Kaminen zurück. Die letzten Topfwaaren wurden mitgenommen und der Brennofen verlosch in Erwartung seiner neuen Bestimmung. Auf dem Rückwege gelang dem Ingenieur noch die glückliche Entdeckung einer Substanz, welche den Feuerschwamm ersetzen konnte. Bekanntlich stammt diese sammtweiche Masse von einem gewissen Champignon aus der Gattung der Polyporen her. Vorzüglich, wenn sie in einer Lösung von salpetersaurem Natron abgekocht wird, erlangt dieselbe einen hohen Grad von Entzündbarkeit. Bis dahin hatte man freilich noch keine zu den Polyporen gehörige Pflanze, noch auch eine Morchelart gefunden, welche wohl an deren Stelle treten könnte. Heute entdeckte der Ingenieur ein zum Geschlechte des Wermuths gehörendes Gewächs, welches als Hauptarten den Absynth, die Melisse, den Kaisersalat u.a. enthält. Von diesem riß er einige Büschel ab und zeigte sie dem Seemanne.
»Hier, Pencroff, ist Etwas, das Ihnen Freude machen wird.«
Aufmerksam betrachtete der Angeredete die Pflanze, welche lange, seidenartige Haare und mit wolligem Flaum bedeckte Blätter hatte.
»Was ist das, Mr. Cyrus? fragte Pencroff. Herr Gott! Doch nicht etwa Tabak?
– Nein, entgegnete Cyrus Smith, das ist eine Wermuthart, für die Gelehrten chinesischer Wermuth, für uns Zündschwamm.«
Wirklich zeigte sich diese Substanz in sehr gut getrocknetem Zustande recht leicht entzündlich, vorzüglich als sie der Ingenieur später mit einer Lösung von salpetersaurem Natron, d.h. dem gewöhnlichen Salpeter, den die Insel in mehreren Lagern darbot, imprägnirt hatte.
An diesem Abend speisten die in dem Mittelraum versammelten Colonisten recht mit Behagen. Nab hatte Agutifleisch gekocht und eine Suppe der bereitet, Cabiaischinken aufgeschnitten und einige Knollen von » Caladium makrorhizum« abgesotten. Letztere Pflanze zählt zu den Araceen und wächst in der Tropenzone baumartig. Ihre Wurzelknollen sind von ausgezeichnetem Geschmack, sehr nahrhaft und der Substanz sehr ähnlich, welche in England unter Namen »Portlandsago« verkauft wird. In gewisser Hinsicht kann sie wohl das Brod ersetzen, welches den Colonisten der Insel Lincoln noch abging.
Nach Beendigung des Abendessens gingen Cyrus Smith und seine Genossen noch ein wenig am Strande spazieren. Es war um acht Uhr und die Nacht versprach schön zu werden. Noch schien der Mond nicht, der fünf Tage vorher voll gewesen, doch färbte sich der Horizont schon mit jenem sanften Silberlichte, welches man die Mondmorgenröthe nennen könnte. Am südlichen Himmel erglänzten die circumpolaren Sternbilder, vor allen das Südliche Kreuz, welches der Ingenieur einige Tage vorher vom Franklin-Berge aus begrüßt hatte.
Eine Zeit lang beobachtete Cyrus Smith das glanzvolle Sternbild, das an seinem oberen und unteren Theile zwei Sterne erster, zur Linken einen zweiter und zur Rechten einen Stern dritter Größe hat.
Nach einigem Besinnen begann er:
»Haben wir heute nicht den 15. April, Harbert?
– Ja, Mr. Cyrus, erwiderte dieser.
– Nun, wenn ich nicht irre, ist dann morgen einer der vier Tage im Jahre, an welchem die wahre Zeit mit der mittleren bürgerlichen Zeit zusammenfällt, d.h. daß die Sonne morgen bis auf einige Secunden genau zu der Zeit durch den Meridian geht, zu welcher richtig gehende Uhren Mittag zeigen. Sollte also schönes Wetter sein, so gedenke ich morgen den Längengrad, unter dem wir uns befinden, so gut als möglich festzustellen.
– Ohne Instrumente, ohne Sextanten? fragte Gedeon Spilett.
– Ja, antwortete der Ingenieur. Da die Nacht klar ist, so möchte ich auch gleich heute versuchen, unsere Breitenlage durch Berechnung der Horizonthöhe des Südlichen Kreuzes, d.h. des Südpoles zu erfahren. Sie begreifen, meine Freunde, daß es, um sich auf weiter gehende Einrichtungen einlassen zu sollen, nicht genügt, zu wissen, daß dieses Land eine Insel ist; wir müssen uns auch darüber klar zu werden suchen, in welcher Entfernung entweder vom Festlande Amerikas, Australiens, oder auch von einem größeren Archipel des Pacifischen Oceans diese liegt.
– Gewiß, meinte der Reporter, denn statt eines Hauses könnte es sich uns empfehlen, ein Schiff zu bauen, wenn wir zufällig nur etwa hundert Meilen bis zu einer bewohnten Küste hätten.
– Eden deshalb, fuhr Cyrus Smith fort, will ich heute Abend die Breite der Insel Lincoln und morgen Mittag deren Länge zu erfahren versuchen.«
Hätte der Ingenieur einen Sextanten besessen, ein Instrument, das die Winkeldistanz zweier Spiegelbilder mit großer Genauigkeit zu messen gestattet, so wäre dieses Vorhaben leicht genug ausführbar gewesen. An diesem Abend hätte er durch die Polhöhe, am nächsten Tage durch die Beobachtung des Meridiandurchganges der Sonne die Coordinaten der Insel erhalten. In Ermangelung eines Instrumentes mußte er sich eben zu helfen suchen.
Cyrus Smith ging nach den Kaminen zurück. Dort schnitzte er beim Scheine des Herdfeuers zwei kleine flache Lineale, die er an ihren Enden in der Weise mit einander verband, daß sie eine Art hölzernen Zirkel darstellten, dessen Schenkel geöffnet und geschlossen werden konnten. Die Achse desselben bildete ein kräftiger Akaziendorn, den man an dem vorräthigen dürren Holze fand.
Mit dem fertigen Instrumente kam der Ingenieur nach dem Strande zurück; da es aber nothwendig ist, die Polhöhe über einen ganz glatten Horizont hin zu visiren, das Krallen-Cap jedoch den südlichen Horizont verdeckte, so mußte er eine geeignetere Position aufsuchen. Die beste wäre freilich an der südlichen Uferspitze selbst gewesen, diese zu erreichen hätte man aber die eben ziemlich wasserreiche Mercy überschreiten müssen.
Cyrus Smith beschloß deshalb, seine Beobachtung von der Höhe der Freien Umschau aus anzustellen und deren Lagedifferenz zu dem Niveau des Meeres später in Rechnung zu ziehen, was durch ein einfaches geometrisches Verfahren zu erreichen sein mußte.
Die Colonisten begaben sich demnach auf dem schon bekannten Wege nach dem Plateau hinauf und nahmen an dessen von Nordwesten nach Südosten verlaufenden Rande ihre Aufstellung.
Dieser Theil des Oberlandes überragte die Höhen des rechten Flußufers um nahezu fünfzig Fuß, jene Höhen, welche stufenweise bis nach dem Krallen-Cap am Südende der Insel abfielen. Der Ausblick, welcher den halben Horizont umfaßte, erschien demnach von diesem Cap bis zum Schlangenvorgebirge durch kein Hinderniß beschränkt. Im Süden war der Horizont in seinen unteren Theilen von dem Mondlichte so weit erhellt, um mit hinreichender Genauigkeit abvisirt werden zu können.
Das Südliche Kreuz stellte sich dem Beobachter zu dieser Zeit in verkehrter Lage, mit dem Sterne a, dem nächsten am Südpole, nach unten dar.
Dieses Sternbild liegt übrigens dem antarktischen Pole überhaupt nicht so nahe, wie der Polarstern dem arktischen; ja, der Stern á ist noch gegen siebenundzwanzig Grad von jenem entfernt. Cyrus Smith wußte das und hatte es bei seiner Messung in Rechnung zu ziehen. Er wartete zur Vereinfachung der Operation die Zeit ab, bis jener Stern unterhalb des Poles durch den Meridian ging.
Nachdem das geschehen, blieb nur noch der erhaltene Winkel zu berechnen, wobei also die Depression des Horizontes zu berücksichtigen und folglich die Höhe des Plateaus festzustellen war. Der Werth dieses Winkels mußte die Höhe des Sternes a und folglich die des Poles über dem Horizonte ergeben, damit aber auch die geographische Breite der Insel, weil diese Breite für jeden Punkt der Erdkugel der Höhe des Pols über dem Horizonte desselben entspricht.
Die nöthigen Berechnungen verschob man auf den nächsten Tag, und schon um zehn Uhr lagen Alle in tiefem Schlafe.