Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant. Dritter Band
Jules Verne

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Fünfzehntes Capitel.
Die großen Mittel Paganel's.

Am folgenden Morgen, am 17. Februar, erweckte die aufgehende Sonne mit ihren ersten Strahlen die Schläfer des Maunganamu. Schon lange waren die Maoris am Fuße des Bergkegels in lebhafter Bewegung; sie dachten nicht daran, sich von der Beobachtungslinie zu entfernen. Mit wildem Geschrei begrüßten sie die Erscheinung der Europäer, welche aus dem von ihnen entweihten Gelände hervorkamen.

Der Tag verlief ohne Störung von Seiten der Wilden. Nach dem Mißerfolg des ersten Fluchtversuches war natürlich Jeder begierig, Paganel's angedeutete Auskunftsmittel zu erfahren. Dieser wollte, den Aberglauben der Eingeborenen benutzend, eine leicht zu bewerkstelligende Eruption von Dämpfen in der Nähe des Oudoupa hervorrufen, um so die Maoris glauben zu machen, daß die Europäer dem Zorne der Gottheit verfallen seien, um sie zur Aufgabe dieser Belagerung zu veranlassen.

Um acht Uhr Abends verschwand der Gipfel des Maunganamu in düsterer Finsterniß. Der Himmel bot einen schwarzen Hintergrund für die auflodernden Flammen, welche Paganel eigenhändig nährte.

Die Maoris konnten ihre Gefangenen nicht mehr sehen. Der Augenblick zu handeln war gekommen.

Man mußte eiligst an das Werk gehen. Glenarvan, Paganel, Mac Nabbs, Robert, der Steward und die beiden Matrosen thaten es gleichzeitig.

Zur Oeffnung des künstlichen Kraters wurde ein etwa dreißig Schritte von dem Grabmal Kara-Tété's entfernter Platz gewählt. Es war in der That von hoher Bedeutung, daß dieses Oudoupa durch den Ausbruch verschont blieb, denn mit ihm wäre auch der über den Berg ausgesprochene Tabou aufgehoben gewesen.

Dort hatte Paganel einen mächtigen Felsblock bemerkt, um welchen sich die Dämpfe in dichten Massen verbreiteten. Durch ihn wurde eine natürliche, kleine Kratermündung des Kegels verdeckt, durch sein Gewicht allein leistete er dem Ausbruch der unterirdischen Flammen Widerstand. Wenn es gelang, ihn aus seinem Lager zu heben, mußten die Dämpfe und Lavamassen sogleich durch die frei gewordene Oeffnung hervorströmen.

Die im Innern des Oudoupa aus dem Erdboden gerissenen Pfähle dienten den Arbeitern als Hebebäume.

Unter ihren gemeinschaftlichen Anstrengungen begann das Felsstück zu schwanken. Auf dem Abhange des Berges gruben sie für dasselbe eine Art Rinne, um es in dieser hinabgleiten zu lassen. Je höher es gehoben wurde, desto heftiger wurden die Erschütterungen des Bodens.

Ein dumpfes Rollen der Flammen und zischende Töne wie aus einem Hochofen wurden unter der dünnen Erdkruste immer lauter und lauter. Die kühnen Arbeiter, wahre Cyklopen, welche die Feuer der Erde in Bewegung setzten, arbeiteten schweigend fort. Bald merkten sie, daß der Platz durch aufbrechende Erdspalten und Dampfstöße, die glühend heiß waren, gefährlich wurde. Noch eine furchtbare Anstrengung – und der Felsblock rollte den Abhang hinab und verschwand.

Sogleich gab die dünne Erdschicht nach. Eine schwarze Feuersäule stieg unter donnerartigem Getöse zum Himmel empor, während Ströme kochenden Wassers mit Lava vermischt sich in das Lager der Eingeborenen und in die tiefer liegenden Thäler ergossen.

Der ganze Bergkegel zitterte, man konnte glauben, daß er in einen grundlosen Schlund versinken werde.

Glenarvan und seine Gefährten hatten kaum Zeit, vor den gefährlichen Lavamassen zu fliehen; das Oudoupa bot ihnen rechtzeitig eine Zuflucht, nachdem sie bereits von einzelnen Tropfen Wassers, das eine Temperatur von vierundneunzig Grad hatte, erreicht worden waren. Dasselbe verbreitete zuerst einen leichten Bouillongeruch, der sich bald in einen stark schwefelartigen verwandelte.

Ganze Feuerströme durchfurchten die Abhänge des Maunganamu. Die nächsten Berge wurden durch die hervorbrechenden Flammen erleuchtet, während die tiefen Thäler in ihrem Widerscheine erglänzten.

Alle Wilden hatten sich erhoben, sie heulten vor Schmerz, als die kochenden Lavamassen sie mitten in ihrem Lager überraschten. Diejenigen, welche der glühende Strom nicht erreicht hatte, flohen hinauf auf die nächstgelegenen Hügel. Dort erst wagten sie sich erschrocken umzublicken und diese entsetzliche Naturerscheinung zu betrachten, einen Vulkan, in welchen der Zorn ihres Gottes die Schänder des heiligen Berges hinabstürzte.

Zuweilen, wenn der Donner des Kraters schwächer wurde, hörte man sie heulend ihr: Tabou! Tabou! Tabou! ausrufen.

Die aufzischenden Dämpfe, glühenden Steine und Lavamassen waren so gewaltig, daß der Maunganamu nicht mehr wie ein kleiner Krater, sondern wie der Hekla in Island erschien. Auf den Bergabhängen sah man Legionen von Ratten ihre unhaltbaren Löcher verlassen und den feurigen Boden fliehen.

Während der ganzen Nacht, in der ein heftiger Sturm sich entfesselt hatte, arbeitete der Berg so furchtbar, daß Glenarvan keine Ruhe fand.

Versteckt hinter der letzten Pfahlreihe verfolgten die Gefangenen die Fortschritte des Ausbruches.

Endlich brach der Morgen an, aber noch immer wollte die Wuth des Vulkans sich nicht besänftigen.

Dichte, gelbe Dämpfe vermischten sich mit den Flammen. Die Lavaströme rannen in Schlangenwindungen den Berg hinab.

Glenarvan überblickte aus seinem Versteck mit zagendem Herzen jede einzelne Oeffnung der Palissadenreihe, sowie das Lager der Wilden.

Die Maoris waren aus dem Bereich des Vulkans entflohen. Einzelne Leichname lagen dort, verkohlt vom Feuer, am Fuße des Kegels. Weiterhin gegen den »Pah« zu hatte die Lava etwa zwanzig Hütten umfaßt, welche noch rauchten. In Gruppen betrachteten die Seeländer den feurigen Gipfel des Maunganamu mit religiösem Schauder.

Kai-Koumou kam in die Mitte seiner Krieger, Glenarvan erkannte ihn. Er ging bis an den Fuß des Kegels, wo die Lavamassen sich nicht hinabgestürzt hatten, aber er wagte nicht weiter vorzudringen.

Dort streckte er wie ein Geisterbeschwörer die Arme aus und machte einzelne Zeichen, deren Sinn den Gefangenen klar war. So wie es Paganel vorhergesehen hatte, sandte Kai-Koumou nach dem rächenden Berge hin sein kräftigstes »Tabou«.

Bald darauf zogen die Eingeborenen auf den gewundenen Pfaden, welche nach dem Pah zu führten, in Reihen ab.

»Sie brechen auf,« rief Glenarvan. »Sie verlassen ihren Posten. Gott sei Dank! Unser Angriffsplan ist gelungen. Meine theure Helena, meine braven Gefährten, nun sind wir todt und begraben. Aber diesen Abend oder in der Nacht werden wir wieder aufleben, unser Grab verlassen und diesen wilden Barbaren entfliehen.«

Man kann sich nur schwer die Freude vorstellen, welche in dem Oudoupa herrschte. Die Hoffnung war wieder in alle Herzen eingezogen. Diese muthigen Reisenden vergaßen die Vergangenheit und Zukunft, um nur an die Gegenwart zu denken. Und doch war der Versuch, eine europäische Niederlassung mitten in diesen unbekannten Gegenden zu finden, nicht leicht. Aber da Kai-Koumou verjagt war, hielt man sich für gerettet vor allen Wilden Neu-Seelands.

Der Major verbarg seinerseits nicht die tiefe Verachtung, welche ihm diese Maoris einflößten; es fehlte ihm nicht an treffenden Bezeichnungen, und Paganel wetteiferte darin mit ihm.

Ein ganzer Tag lag indeß bis zu ihrem vollständigen Abzuge noch vor ihnen, man benützte die Zeit, einen Fluchtplan zu entwerfen. Paganel hatte seine Karte von Neu-Seeland auf das Sorgfältigste aufbewahrt, und konnte auf ihr die sichersten Wege finden.

Nach reiflicher Erwägung beschlossen die Flüchtlinge, sich nach Osten, nach der Plenty-Bucht, zu wenden. Man zog zwar durch unbekannte Gegenden, aber wahrscheinlich waren diese verlassen. Die Reisenden, bereits daran gewöhnt, natürliche Schwierigkeiten zu überwinden und physische Hindernisse zu beseitigen, fürchteten allein die Begegnung mit den Maoris. Diese mußte um jeden Preis vermieden und die östliche Küste der Insel erreicht werden, wo die Missionäre einige Stationen gegründet hatten. Die Entfernung zwischen dem Taupo-See und der Plenty-Bucht konnte man auf hundert Meilen schätzen. Das waren zehn Marschtage, wenn man zehn Meilen täglich zurücklegte, was zwar nicht ohne Anstrengungen geschehen konnte; aber Keiner dieser muthigen Gesellschaft zählte seine Schritte. Waren die Missionen einmal erreicht, so konnten die Reisenden sich erholen und eine günstige Gelegenheit abwarten, um Auckland zu erreichen, denn diese Stadt war ihr Hauptziel.

Nachdem diese verschiedenen Punkte erörtert waren, fuhr man fort, die Eingeborenen bis zum Abend zu überwachen. Es blieb auch nicht ein Einziger mehr am Fuße des Berges, und als die Dunkelheit über die Thäler des Taupo hereinbrach, zeigte kein Feuer die Gegenwart der Maoris am Fuße des Bergkegels mehr an. Der Weg war frei.

Um neun Uhr, als es bereits vollständig Nacht war, gab Glenarvan das Zeichen zum Aufbruch. Seine Gefährten und er, auf Kosten Kara-Tété's bewaffnet und ausgerüstet, begannen nun vorsichtig die Abhänge des Maunganamu hinabzusteigen. John Mangles und Wilson befanden sich an der Spitze, sie suchten Gehör und Gesicht zu verdoppeln. Bei dem geringsten Geräusch machten sie Halt und bemühten sich die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Ein Jeder schmiegte sich gleichsam dicht an den Abhang des Berges an, um seine Gestalt möglichst verschwinden zu lassen.

Zweihundert Fuß unterhalb des Gipfels erreichte John Mangles und sein Matrose die gefährliche Felsenkante, welche von den Eingeborenen so hartnäckig vertheidigt worden war. Wenn die Maoris unglücklicherweise nur einen scheinbaren Rückzug angetreten hatten, um die Gefangenen listig hervorzulocken, oder wenn sie sich durch die vulkanische Eruption nicht hatten täuschen lassen, so mußte hier ihre Gegenwart entdeckt werden. Glenarvan konnte trotz seines ganzen Vertrauens, trotz der Scherze Paganel's nicht umhin, zu erbeben. Das Heil der Seinigen stand während dieser zehn Minuten, in denen man den Kamm des Berges zu überschreiten hatte, auf dem Spiele. Er hörte das Herz Lady Helena's, die sich krampfhaft an seinen Arm klammerte, pochen.

Uebrigens dachte er ebenso wenig wie John an einen Rückzug. Der junge Kapitän kletterte, gefolgt von Allen, unter dem Schutze der finstern Nacht auf die steil ansteigende Kante, indem er anhielt, sobald nur ein Steinchen bis hinab auf das Plateau rollte. Wenn die Wilden noch im Hinterhalte lagen, mußte dieses ungewöhnliche Geräusch auf beiden Seiten einen furchtbaren Kampf veranlassen.

Indeß bei der gebückten Haltung und schleichenden Bewegung kamen die Flüchtlinge auf dem Abhange nicht schnell vorwärts. Als John Mangles den niedrigsten Punkt erreicht hatte, trennten ihn kaum fünfundzwanzig Fuß von dem Plateau, auf dem am Abend vorher die Wilden lagerten.

Die von da ab schroff aufsteigende Spitze war ganz oben eine Viertelmeile weit mit Buschwerk bedeckt. Dieser untere Theil wurde jedoch ohne Unfall zurückgelegt, die Reisenden stiegen schweigend bergan. Die Baumgruppe war unsichtbar, aber man kannte ihr Vorhandensein, und vorausgesetzt, daß ein Hinterhalt nicht vorbereitet war, hielt Glenarvan den Ort für sicher. Er wußte allerdings, daß er von diesem Augenblick an durch den Tabou nicht mehr geschützt war. Nach der Beschaffenheit des Terrains waren nicht nur die Flintenschüsse der Eingeborenen, sondern auch ein Handgemenge zu fürchten.

Während zehn Minuten kam die kleine Gesellschaft durch fast unmerkliche Bewegungen dem obersten Plateau nahe. John bemerkte nicht nur das dunkle Gebüsch, sondern mußte davon höchstens nur noch zweihundert Schritte entfernt sein.

Plötzlich hielt er an, ja er wich fast zurück. Er glaubte in dem Schatten ein Geräusch mit seinem Ohr aufgefangen zu haben. Sein Zögern hemmte den Marsch seiner Gefährten.

Er blieb unbeweglich – lange genug, um die Nachfolgenden zu beunruhigen. Man wartete. In welcher Angst, wer möchte das ausdrücken! Würde man gezwungen sein, den Rückzug nach dem Gipfel des Maunganamu anzutreten?

Als aber John bemerkte, daß das Geräusch sich nicht wiederholte, richtete er seine Schritte gerade auf die Spitze zu.

Bald trat das Gebüsch aus dem Schatten hervor. Mit wenigen Schritten war es erreicht, und die Flüchtlinge verkrochen sich unter dem dichten Laubwerk der Bäume.

 


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