Julius Verne
Von der Erde zum Mond
Julius Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Capitel.

Gutachten des Observatoriums zu Cambridge.

Inzwischen verlor Barbicane inmitten der Huldigungen, die ihm zu Theil wurden, keinen Augenblick. Vor allem ließ er die Bureaux des Gun-Clubs zu einer Berathung sich versammeln. Man beschloß, über die astronomische Seite des Unternehmens die Astronomen zu befragen; sodann auf Grund eines Gutachtens derselben sich über die technischen Mittel zu bereden, um nichts zu versäumen was den Erfolg des großen Versuchs sichern könne.

Es wurde daher ein klar und genau abgefaßtes Schreiben mit speciellen Fragen redigirt, und an das Observatorium zu Cambridge in Massachussets gerichtet. Dieser Sitz der ersten Universität in den Vereinigten Staaten ist durch sein astronomisches Bureau sehr berühmt. Da finden sich die verdienstvollsten Gelehrten und das weitreichende Teleskop, mit dessen Hilfe Bond das Nebelgestirn Andromeda durchdrang und Clarke den Trabanten des Sirius entdeckte. Das Vertrauen des Gun-Clubs zu diesem Institut war also in jeder Hinsicht gerechtfertigt.

Zwei Tage nachher traf die so ungeduldig erwartete Antwort beim Präsidenten Barbicane ein. Folgendes ihr Wortlaut:

Der Director des Observatoriums zu Cambridge an den Präsidenten des Gun-Clubs zu Baltimore.

Cambridge, 7. Oktober.

Bei Empfang Ihres geehrten, unterm 6. d. im Namen der Mitglieder des Gun-Clubs zu Baltimore an das Observatorium zu Cambridge gerichteten Schreibens hat sich unser Bureau unverzüglich versammelt und für angemessen erachtet, folgendermaßen zu antworten:

Die ihm vorgelegten Fragen sind:

  1. Ist's möglich, ein Wurfgeschoß auf den Mond zu schleudern?
  2. Welches ist genau berechnet die Entfernung der Erde von ihrem Trabanten?
  3. Binnen welcher Zeit hätte das Geschoß bei einer hinreichenden Anfangsgeschwindigkeit diese Distanz zu durchfliegen; folglich in welchem Zeitpunkt wird man es abschleudern müssen, damit es in einem bestimmten Moment auf dem Mond eintreffe?
  4. In welchem Zeitpunkt wird der Mond genau in der Stellung sich befinden, welche am günstigsten ist, daß er von demselben getroffen werde?
  5. Nach welchem Punkt am Himmel wird das Geschütz zu richten sein, womit das Projectil abgeschossen werden soll?
  6. An welcher Stelle wird sich der Mond am Himmel befinden, wann das Geschoß abfliegen wird?

Die Antwort auf die erste Frage ist:

Ja, es ist möglich, ein Projectil auf den Mond zu schleudern, wenn es gelingt, demselben eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde zu geben. Richtiger Berechnung nach reicht diese Geschwindigkeit hin. Je weiter man sich von der Erde entfernt, nimmt die Schwerkraft ab im umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfernung, also z. B. für eine dreimal größere Entfernung bedarf's einer neunmal geringeren Bewegkraft. Folglich wird die Schwere des Geschosses reißend abnehmen und endlich völlig aufhören im Moment, wo die Anziehungskraft der Erde von der des Mondes aufgewogen wird, d. h. bei siebenundvierzig Zweiundfünfzigtheilen der Entfernungslinie. In diesem Moment wird das Projectil keine Schwerkraft mehr haben, und sowie es noch weiter fliegt, wirkt die Anziehungskraft des Mondes auf dasselbe ein, und es fällt auf den Mond. Theoretisch ist hiermit die Möglichkeit des Experiments bewiesen; ob es gelingt, hängt allein von der Kraft der angewendeten Maschine ab.

Auf die zweite Frage lautet die Antwort:

Der Mond beschreibt bei seinem Umlauf um die Erde nicht einen Kreis, sondern eine Ellipse, worin unsere Erdkugel einen der Brennpunkte einnimmt; demnach befindet sich der Mond in einer bald näheren, bald weiteren Entfernung von der Erde, astronomisch ausgedrückt, bald in der Erdnähe, bald in der Erdferne. Nun ist der Unterschied zwischen seinem weitesten und nächsten Abstand ziemlich bedeutend, so daß man im besonderen Fall denselben nicht unberücksichtigt lassen darf. Die größte Entfernung des Mondes beträgt nämlich zweihundertsiebenundvierzigtausendfünfhundertzweiundfünfzig Meilen (= neunundneunzigtausendsechshundertvierzig Lieues zu vier Kilometer), die geringste nur zweihundertachtzehntausendsechshundertsiebenundfünfzig (= achtundachtzigtausend und zehn Lieues), so daß der Unterschied achtundzwanzigtausendachthundertundfünfundneunzig (= elftausendsechshundertunddreißig Lieues) beträgt, also mehr als den neunten Theil der Umlaufslinie. Der Abstand der Erdnähe muß nun den Berechnungen zu Grunde gelegt werden.

Auf die dritte Frage:

Wenn das Geschoß die Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde, welche man ihm beim Abschießen gäbe, unverändert beibehielte, so bedürfte es nur etwa neun Stunden, um an dem Ort seiner Bestimmung anzulangen; da aber diese Geschwindigkeit in zunehmendem Verhältniß sich beständig vermindert, so wird es aller Berechnung nach dreihunderttausend Secunden brauchen, d. h. dreiundachtzig Stunden und zwanzig Minuten, um an den Punkt zu gelangen, wo die Anziehungskraft der Erde und des Mondes sich aufwiegen, und von diesem Punkt an bedarf es noch fünfzigtausend Secunden, oder dreizehn Stunden, dreiundfünfzig Minuten und zwanzig Secunden, um auf den Mond zu fallen. Man muß es also siebenundneunzig Stunden, dreizehn Minuten und zwanzig Secunden eher abschießen, als der Mond an dem Punkt, wohin man zielt, ankommen wird.

Auf die vierte Frage:

Nach dem Gesagten muß man zuerst die Zeit der Erdnähe des Mondes wählen, und zugleich den Moment, wo er sich im ZenithZenith nennt man den Punkt des Horizonts, welcher senkrecht über dem Kopf eines Beobachters ist. befinden wird, wodurch die Linie, welche das Geschoß zurückzulegen hat, um das Maaß eines Erdradius kürzer wird, nämlich um dreitausendneunhundertundneunzehn Meilen; so daß die zu durchlaufende Linie definitiv zweihundertvierzehntausendneunhundertsechsundsiebenzig Meilen (= sechsundachtzigtausendvierhundertundzehn Lieues) betragen wird. Aber wenn auch der Mond allmonatlich in seine Erdnähe kommt, so steht er in dem Moment nicht immer im Zenith: ein Zusammentreffen, welches nur in langen Zwischenräumen stattfindet. Solch ein Zusammentreffen der Erdnähe mit dem Zenithstand ist also abzuwarten. Glücklicherweise wird am vierten December folgenden Jahres sich bei dem Mond diese doppelte Bedingung ergeben: um Mitternacht wird er in seine Erdnähe treten, d. h. seinen kürzesten Abstand von der Erde, und zu gleicher Zeit wird er im Zenith stehen.

Auf die fünfte Frage:

Die vorausgehenden Bemerkungen zu Grunde gelegt, wird das Geschütz auf den Zenith des Ortes gerichtet werden müssen; dergestalt wird der Schuß perpendiculär auf die Fläche des Horizonts gehen, und das Geschoß wird um so schneller der Anziehungskraft der Erde entzogen. Aber damit der Mond in den Zenith eines Ortes zu stehen komme, darf dieser Ort nicht unter höherem Breitegrad liegen, als die Abweichung dieses Gestirns vom Aequator beträgt, mit anderen Worten, er muß zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite sich befinden. An jedem anderen Ort würde der Schuß nothwendig in schiefer Richtung geschehen, was dem Gelingen des Experiments hinderlich sein würde.

Auf die sechste Frage:

Im Augenblick, wo das Projectil in den Weltraum geschleudert wird, muß der Mond, der in seiner Bahn täglich dreizehn Grad, zehn Minuten und fünfunddreißig Secunden läuft, sich viermal so weit vom Zenithpunkt entfernt befinden, nämlich zweiundfünfzig Grad, zweiundvierzig Minuten und zwanzig Secunden, denn so lange wird er noch zu laufen haben. Aber da man auch die Abweichung in Anschlag bringen muß, welche die Bewegung der Erde um ihre Achse bei dem Geschoß hervorbringen wird, und da dasselbe erst nach einer Abweichung von sechzehn Halbdurchmesser der Erde auf dem Mond ankommen wird, welche auf der Mondscheibe gemessen ungefähr elf Grad ausmachen, so muß man diese elf Grad noch zu denen hinzurechnen, welche die erwähnte Zögerung des Mondes ausdrücken, nämlich rund vierundsechzig Grad. So wird also im Moment des Schusses die nach dem Mond gerichtete Sehlinie mit der verticalen des Ortes einen Winkel von vierundsechzig Grad bilden.«

So lauteten die Antworten, welche auf die dem Observatorium zu Cambridge von den Mitgliedern des Gun-Clubs gestellten Fragen ertheilt wurden. Resumiren wir:

  1. Das Geschütz muß in einem Land zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden.
  2. Es muß auf den Zenith des Ortes gerichtet werden.
  3. Dem Geschoß muß eine anfängliche Geschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde gegeben werden.
  4. Es muß am ersten December des folgenden Jahres um elf Uhr, weniger dreizehn Minuten und zwanzig Secunden, abgeschossen werden.
  5. Es wird vier Tage hernach, am vierten December, Punkt zwölf Uhr Nachts, in dem Moment, wo der Mond in den Zenith treten wird, dort anlangen.

Die Mitglieder des Gun-Clubs müssen also unverzüglich die für eine solche Unternehmung erforderlichen Arbeiten vornehmen, um zu dem bestimmten Zeitpunkt zum Operiren bereit zu sein; denn, lassen sie diesen vierten December vorübergehen, so werden sie erst achtzehn Jahre und elf Tage hernach den Mond wieder in demselben Verhältniß der Erdnähe und des Zeniths finden.

Das Bureau des Observatoriums zu Cambridge stellt sich ihnen für die Fragen theoretischer Astronomie zu Verfügung, und vereinigt seine Glückwünsche mit denen ganz Amerikas.

Für das Bureau:

J. M. Belfast,          
Director des Observatoriums zu
Cambridge.
           

 


 << zurück weiter >>