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Kaum hatten sich die beiden Offiziere, der Wachtmeister und die Spahis entfernt, als Horeb längs der Brunneneinfassung hervorglitt und sich, nach allen Seiten spähend, umsah.
Und als nach oben und nach unten auf dem Wege das Geräusch der Schritte verhallt war, winkte der Targi seinen Genossen, ihm zu folgen.
Djemma, ihr Sohn und Ahmet traten hervor, und alle stiegen eine gewundene, von alten, verlassenen Hütten begrenzte Gasse hinauf, die in schräger Richtung nach dem Bordj zu verlief.
In dieser Gegend war die Oase völlig öde, und kein Widerhall des Lärmens aus den volkreicheren Teilen drang bis hier hinauf. Unter der dicken Decke der bei ruhiger Luft unbewegten Wolken herrschte tiefdunkle Nacht. Kaum trug ein schwacher Hauch vom Meere her das Murmeln der leichten Brandung über das Ufer.
Nach einer Viertelstunde hatte Horeb den zum Zusammentreffen bestimmten, neuen Platz erreicht, die niedrige Gaststube einer Art Café oder Schenke, die ein levantinischer Mercanti betrieb. Der Wirt war in die Sache eingeweiht, und auf seine Treue konnte man trauen, da ihm dafür eine beträchtliche, im Falle des Gelingens noch zu verdoppelnde Summe zugesichert war. Seine Mithilfe bei dem bevorstehenden Unternehmen hatte sich auch schon als nützlich erwiesen.
Unter den im Café versammelten Tuareg befand sich Harrig, einer der treuesten und unerschrockensten Parteigänger Hadjars. Einige Tage vorher war er bei einem Straßenauflaufe in Gabes verhaftet und im Bordj ins Gefängnis gesteckt worden. In der im gemeinschaftlichen Hofe verbrachten Zeit hatte er Gelegenheit gefunden, mit dem Stammeshäuptling in Verbindung zu treten.
War es nicht natürlich, daß die zwei Männer von gleicher Rasse sich zueinander hingezogen fühlten? Niemand ahnte überdies, daß Harrig zu der Gefolgschaft Hadjars gehörte. Ihm war es bei dem Kampfe im Douar gelungen, unbemerkt zu entweichen und Djemma auf ihrer Flucht zu begleiten. Als er dann, gemäß dem von Sohar und Ahmet entworfenen Plan, nach Gabes zurückgekehrt war, benutzte er die kurze Zeit seiner Haft, der Entführung Hadjars möglichst Vorschub zu leisten.
Jedenfalls war es dazu notwendig, daß er die Freiheit wiedererlangte, ehe der Kreuzer eintraf, der den Tuareghäuptling mitnehmen sollte, und gerade heute würde dieser, da sein Vorüberkommen am Kap Bon schon gemeldet war, noch in den Hafen von Gabes einlaufen. Harrig mußte den Bordj also noch zeitig genug verlassen, wenn er sich mit seinen Genossen ins Einvernehmen setzen wollte. Auch die Flucht mußte noch in der heutigen Nacht erfolgen, denn wenn es erst wieder Tag wurde, war es dafür zu spät. Schon mit Sonnenaufgang brachte man Hadjar jedenfalls an Bord des »Chanzy«, und dann war es unmöglich, ihn der Militärgewalt wieder zu entreißen.
Hier trat nun der Mercanti (Krämer, Händler) mit seiner Hilfe ein. Er kannte den Oberaufseher des Gefängnisses im Bordj. Die geringe, Harrig wegen jenes Straßenauflaufs zuerkannte Haftstrafe war jedenfalls verbüßt, der so ungeduldig erwartete Harrig aber noch nicht entlassen worden. Da kaum anzunehmen war, daß er sich durch einen Verstoß gegen die Gefängnisordnung eine Zusatzstrafe zugezogen hätte, mußte man jetzt zu erfahren suchen, wie es mit ihm stände, und vor allem kam es darauf an, daß sie Harrig die Pforten des Bordj noch vor der Nacht öffneten.
Der Mercanti beschloß deshalb, sich zu dem Aufseher zu begeben, der in seinen Mußestunden gern in seinem Café verweilte. So verließ er am Abend das Haus und schlug den Weg nach dem Fort ein. Die Aufsuchung des Aufsehers erwies sich jedoch als unnötig, sie hätte auch, wenn die Flucht gelungen war, verdächtig erscheinen können. Als sich der Mercanti dem Haupttore näherte, kam ihm auf dem Wege ein Mann entgegen.
Das war Harrig, der den Levantiner sofort erkannte. Als dann beide dem vom Bordj hinunterführenden Pfade folgten, brauchten sie nicht zu fürchten, gesehen oder gehört zu werden, sowenig wie daß ihnen jemand nachspürte. Harrig war ja kein Gefangener gewesen, der jetzt entwich, sondern einer, den man nach verbüßter Haft freigelassen hatte.
»Nun ... und Hadjar?« fragte der Mercanti gespannt.
»Er ist von allem unterrichtet«, antwortete Harrig.
»Auch für diese Nacht vorbereitet?«
»Ohne Sorge ... es ist alles vorgesehen. Doch wo ist Sohar ... wo Ahmet und Horeb?«
»Die wirst du bald antreffen.«
Zehn Minuten später traf Harrig die Genossen in der niedrigen Gaststube des Kaffeehauses, vor dem aus Vorsicht noch einer stand, die Straße zu überwachen.
Kaum eine Stunde später erschienen, von Horeb geführt, die alte Targi und ihr Sohn ebenfalls im Café, wo sie Harrig von der Lage der Dinge benachrichtigte.
In den wenigen Tagen seiner Haft hatte Harrig wiederholt mit Hadjar gesprochen. Es erschien ja so natürlich, daß sich zwei in demselben Gefängnisse eingeschlossene Tuareg einander zu nähern suchten. Außerdem sollte der Tuareghäuptling in der nächsten Zeit nach Tunis abgeführt werden, während Harrig bald freigelassen wurde.
»Und wie steht's mit meinem Bruder?« lautete die erste Frage Sohars, als Djemma mit ihren Begleitern bei dem Mercanti eingetreten war.
»Mit meinem Sohne?« setzte die alte Frau ängstlich hinzu.
»Hadjar ist benachrichtigt«, erklärte Harrig. »Gerade als ich den Bordj verließ, hörten wir den Signalschuß vom ›Chanzy‹. Hadjar weiß, daß er morgen früh auf das Schiff gebracht werden soll, doch noch heute nacht wird er versuchen zu entfliehen.«
»Wenn er damit zwölf Stunden zögerte, wäre es freilich zu spät«, sagte Ahmet.
»Und wenn es ihm nicht gelänge?« murmelte Djemma mit dumpfer Stimme.
»Es wird aber gelingen«, versicherte Harrig eifrig; »mit unserer Hilfe ...«
»Ja ... sage mir nur, wie?« fragte Sohar.
Harrig gab darauf folgende Erklärungen:
Die Zelle, worin sich Hadjar in der Nacht befand, bildete eine Ecke des Forts in dem Teile der Umwallung, die nach dem Meere zu lag und deren Fuß von diesem umspült wurde. An die Zelle schloß sich ein kleiner Hofraum an, den zu betreten dem Gefangenen freistand, den aber so hohe Mauern umschlossen, daß an deren Übersteigung nicht zu denken war.
An einer Ecke dieses Hofes befand sich jedoch eine Öffnung zum Abfluß des Regenwassers, die an der Außenseite des Walles mündete und hier etwa zehn Fuß über der Meeresfläche lag, doch mit einem eisernen Gitter abgeschlossen war.
Hadjar hatte sich überzeugt, daß das Gitter in schlechtem Zustande war und der Rost seine von der feuchten, salzhaltigen Luft oxydierten Stangen tief angenagt hatte, so daß es ihm nicht schwerfallen konnte, sie in der Nacht vollends herauszubrechen und sich nach der Mündung hindurchzuwinden.
Damit war die Flucht Hadjars freilich immer noch nicht vollendet. Sollte er sich dann ins Meer stürzen und würde es ihm möglich sein, um die Bastion herumschwimmend die nächste Uferstelle zu erreichen? War er in dem Alter und dem Kräftezustande, sich mitten in die nach dem Meere hinauslaufenden Strömungen des Golfes zu wagen?
Noch nicht ganz vierzig Jahre alt, war der Tuareghäuptling ein hochgewachsener Mann von weißer, nur durch die heiße Sonne Afrikas gebräunter Haut, dabei hager, aber kräftig, ein Meister in allen Körperübungen, voraussichtlich von felsenfester Gesundheit dank der nüchternen Lebensweise der eingeborenen Rasse, die sich durch ihre aus Mehl, Feigen, Datteln und Milchspeisen bestehende Nahrung Kraft und Ausdauer sichert.
Nicht ohne Grund hatte Hadjar einen weitreichenden Einfluß auf die jetzt nach den Schotts von Niedertunis verdrängten, nomadisierenden Tuareg des Touat und der Sahara gewonnen. Seine Kühnheit hielt seinem scharfen Verstande das Gleichgewicht ... Eigenschaften, die er von seiner Mutter geerbt hatte, wie die Tuareg im allgemeinen ihren Müttern nacharten. Bei diesem Volke ist die Frau gleichwertig dem Manne, ja, sie steht sogar nicht selten über ihm.
So gilt der Sohn eines Sklaven und einer vornehmen Frau selbst als freier und vornehmer Mann, während das Gegenteil nicht vorkommt. Alle Energie Djemmas fand sich in ihrem Sohne wieder, der sich während ihres zwanzigjährigen Witwenstandes niemals von der Mutter getrennt hatte. Dieser verdankte Hadjar sein Ansehen als eine Art Apostel, wobei ihm sein schönes Gesicht mit schwarzem Barte, seine feuersprühenden Augen und sein entschlossenes Auftreten wesentlich zu Hilfe kamen. Auf seinen Ruf wären ihm alle Stämme durch die endlosen Einöden des Djerid gefolgt, wenn er sie hätte gegen die Fremden zum heiligen Kriege führen wollen.
Obwohl er also ein Mann in der Blüte der kräftigsten Jahre war, hätte er seinen Fluchtversuch ohne Unterstützung von außen her doch nicht durchführen können. Dazu genügte es ja nicht, nach Durchbrechung des Gitters nach der Mündung der Abflußöffnung hinaus zu gelangen. Hadjar kannte den Golf; er wußte, daß dieser trotz der schwachen Gezeitenunterschiede, die überhaupt im Mittelländischen Meere herrschten, doch sehr heftige Strömungen hat, gegen die der beste Schwimmer nicht aufzukommen vermöchte und die ihn nach dem Meere hinaustragen würden, ohne daß er auf der einen oder anderen Seite des Forts am Ufer hätte Fuß fassen können. Ohne daß er vor der Abflußöffnung an der Ecke des Walles und der Bastion ein Boot vorfand, konnte er also zu seiner Befreiung nichts Entscheidendes unternehmen.
So lautete, was Harrig den Genossen mitzuteilen hatte.
Als er schwieg, ließ sich die Stimme des Mercanti vernehmen.
»Ich habe da unten ein Boot zu eurer Verfügung liegen«, sagte er.
»Und du wirst mich darin an Ort und Stelle bringen?« fragte Sohar.
»Sobald dazu die rechte Zeit da ist ...«
»Hast du deine Verpflichtungen erfüllt, so werden wir den unsrigen nachkommen«, erklärte Harrig, »und die dir versprochene Summe wird verdoppelt werden, wenn unser Vorhaben gelingt.«
»Das wird unzweifelhaft gelingen«, versicherte der Mercanti, der in seiner Eigenschaft als Levantiner die ganze Angelegenheit nur als ein Geschäft betrachtete, das ihm einen hübschen Profit abwerfen sollte.
Inzwischen war Sohar von seinem Sitze aufgestanden.
»Zu welcher Stunde erwartet uns Hadjar?« fragte er.
»Zwischen elf Uhr und Mitternacht«, antwortete Harrig.
»Das Boot muß am besten schon früher zur Stelle sein«, meinte Sohar, »und wenn es meinen Bruder aufgenommen hat, bringen wir ihn nach dem Marabut, wo schon Pferde bereitstehen ...«
»Dort«, bemerkte der Mercanti, »lauft ihr auch nicht Gefahr, gesehen zu werden; bis zum Morgen kommt gewiß kein Mensch dorthin an den Strand.«
»Was soll aber mit dem Boote werden?« sagte Horeb.
»Zieht es nur auf den Strand herauf, da werd' ich's schon wiederfinden«, antwortete der Mercanti.
Nun hatte man sich nur noch über eine Frage zu einigen.
»Wer von uns wird Hadjar abholen?« fragte Ahmet.
»Natürlich ich«, erklärte Sohar.
»Und ich werde dich begleiten«, sagte die alte Targi.
»Nein, Mutter, nein«, erwiderte Sohar. »Unser zwei sind wir genug, das Boot nach dem Bordj zu rudern. Träfe uns jemand, so könnte deine Anwesenheit Verdacht erregen. Du solltest nach dem Marabut gehen; Horeb und Ahmet mögen dich begleiten. Harrig und ich werden meinen Bruder im Boote dahin bringen.«
Djemma sah ein, daß Sohar recht hatte, darum sagte sie nur noch:
»Und wann sollen wir uns trennen?«
»Augenblicklich«, erklärte Sohar. »In einer halben Stunde werdet ihr bei dem Marabut sein und wir in derselben Zeit mit dem Boote am Fuße des Forts und an dem Winkel der Bastion, wo es keiner bemerken kann. Erschiene dann mein Bruder nicht zur verabredeten Stunde, so würde ich ... ja, ich würde es versuchen, bis zu ihm einzudringen.«
»Ja, und Allah sei mit dir, mein Sohn, denn wenn er diese Nacht nicht fliehen kann, so werden wir ihn niemals, niemals wiedersehen!«
Die entscheidende Stunde war herangekommen. Horeb und Ahmet gingen voraus auf der schmalen Straße, die zum Markte hinunterführte. Djemma folgte ihnen und trat allemal tiefer in den Schatten, wenn andere Personen ihren Weg kreuzten. Durch Zufall hätte sie ja mit dem Wachtmeister Nicol zusammentreffen können, und gerade jetzt kam es doch sehr darauf an, daß dieser sie nicht erkannte. Jenseits der Grenze der Oase war keine Gefahr mehr, und auf dem Wege längs der Dünen begegnete man gewiß keiner lebenden Seele.
Kurz nach den dreien verließen auch Sohar und Harrig das Kaffeehaus. Wo das Boot des Mercanti lag, war ihnen bekannt, und sie zogen es deshalb vor, daß dieser sie nicht begleitete; er hätte ja von einem verspätet Heimkehrenden bemerkt werden können.
Jetzt war es erst kurz nach neun Uhr. Sohar und sein Genosse begaben sich nach dem Fort zu und schlichen an dessen Umwallung an der nach Süden gerichteten Seite hin.
In dessen Innern sowie auch draußen erschien alles still; der geringste Lärm wäre ja hörbar gewesen bei der so ruhigen, von keinem Windhauche gestörten Atmosphäre. Dazu war es tiefdunkel, denn unbewegliche, schwere Wolken bedeckten den Himmel von einem Horizonte bis zum andern.
Nur als Sohar und Harrig ans Ufer kamen, fanden sie dieses noch einigermaßen belebt. Hier begegneten sie teils Fischern, die mit dem Ertrage ihres Fanges zurückkehrten, teils auch solchen, die sich erst nach ihren Booten begaben, um nach dem Golf hinauszufahren. Da und dort blitzten Lichtstrahlen im Schatten der Nacht auf und kreuzten einander in jeder Richtung. Einen halben Kilometer draußen verriet sich die Anwesenheit des Kreuzers ›Chanzy‹ durch dessen mächtige Lichter, die glänzende Bahnen auf die Meeresfläche warfen.
Die beiden Tuareg bemühten sich, den Fischern möglichst aus dem Wege zu gehen, und wandten sich einer am Außenhafen noch im Bau befindlichen Mole zu.
Am Fuße dieser Mole lag das Boot des Mercanti. Laut Verabredung hatte sich Harrig schon eine Stunde früher davon überzeugt, daß es sich an seinem Platze befand. Darin lagen auch Ruder unter den Querbänken, es war also alles zum Einsteigen bereit.
Eben als Harrig aber den kleinen Anker ausheben wollte, faßte ihn Sohar am Arme. Zwei Zollbeamte, die diesen Teil der Küste zu überwachen hatten, schienen sich ihnen zu nähern. Vielleicht kannten sie den Eigentümer des Bootes, und dann mußte es ihnen auffallen, Sohar und dessen Begleiter damit hantieren zu sehen.
Jedenfalls war es besser, keinerlei Verdacht zu erregen und ihr Unternehmen so unbeachtet wie möglich auszuführen. Die Zollbeamten hätten ja Sohar und Harrig wahrscheinlich gefragt, was sie mit einem Boote beginnen wollten, das ihnen nicht gehörte, und da sie keine Fischertracht trugen, hätten sich die beiden Tuareg doch unmöglich für Fischer ausgeben können.
Sie schlichen also wieder nach dem Strande zurück und verbargen sich am Fuße der Mole, ohne daß sie bemerkt worden wären.
Hier mußten sie eine reichliche halbe Stunde ausharren ... in peinigender Ungeduld, die Ausführung ihres Vorhabens durch den Zwischenfall um so viel hinausgeschoben zu sehen. Ihre Sorge, daß die beiden Zollbeamten vielleicht die ganze Nacht im Dienst blieben, bewahrheitete sich zum Glück nicht: Die beiden Männer gingen nach der anderen Seite weiter.
Jetzt wagte sich Sohar auf das sandige Uferland hinaus, und als die Zollbeamten in der Finsternis völlig verschwunden waren, rief er seinen Genossen, der sofort zu ihm kam.
Das Boot wurde über den Strand geschleppt, dann stieg Sohar zuerst hinein, und Harrig folgte ihm, nachdem er den kleinen Anker im Vorderteile niedergelegt hatte.
Sofort wurden die Riemen eingelegt, und unter lautlosen Ruderschlägen glitt das Fahrzeug über den Molenkopf hinaus und dann an der vom Wasser des Golfes bespülten Außenmauer des Forts hin. Nach einer Viertelstunde hatten Sohar und Harrig die Ecke der Bastion erreicht und hielten unter der Mündung des Ablaufes still, durch den Hadjar zu entweichen suchen sollte.
Der Tuareghäuptling befand sich allein in der Zelle ... worin er heute die letzte Nacht zubringen sollten. Vor einer Stunde hatte ihn der Aufseher verlassen, der mit mächtigen Riegeln die Tür des kleinen Hofes abschloß, an dem die Zelle des Gefangenen lag. Hadjar, der sonst in allen Verhältnissen Herr über sich war, erwartete mit der außerordentlichen Ungeduld des fatalistischen Arabers den Zeitpunkt zum Handeln. Den Kanonenschuß vom ›Chanzy‹ hatte er gehört, und es war ihm nicht unbekannt, daß dieser von dem Kreuzer herrührte, der ihn am nächsten Morgen wegführten sollte ... wegführen, ohne daß ihm die Hoffnung winkte, das Gebiet der Sebchas und Schotts, das Land Djerid je wiederzusehen! Neben seiner echt muselmännischen Ergebung in das ihm bestimmte Schicksal hegte er aber doch noch die Hoffnung, sein Vorhaben gelingen zu sehen. Wenn er nur durch den engen Abzugskanal schlüpfen konnte, befand er sich ja in Sicherheit, vorausgesetzt, daß seine Genossen sich hatten ein Boot verschaffen können und ihn rechtzeitig am Fuße der Außenmauer erwarteten.
Langsam verstrich ihm eine Stunde. Von Zeit zu Zeit trat Hadjar aus seiner Zelle und beugte sich an der Öffnung nieder, um zu lauschen. Das Rauschen eines an der Wallmauer hingleitenden Bootes wäre gewiß bis zu ihm vernehmbar gewesen. Er hörte jedoch noch nichts und ging zurück, verhielt sich meist unbeweglich still und trat nur manchmal an die Ausgangstür des Hofes, um zu horchen, ob draußen ein Wächter umhergehe.
Hadjar befürchtete noch immer, daß man ihn schon im Laufe der Nacht an Bord schaffen könnte. In der Umgebung des Bordj herrschte jedoch die tiefste Stille, nur zuweilen unterbrochen durch die Schritte eines Wachtpostens auf der Plattform der Bastion.
Die Mitternacht näherte sich schon, und mit Harrig war doch verabredet, daß er eine halbe Stunde vorher nach Beseitigung des morschen Gitters durch den Kanal gekrochen sein sollte. War das Boot dann zur Stelle, so wollte er sich sofort darauf hinunterfallen lassen. War es noch nicht gekommen, so gedachte er bis zum ersten Tagesgrauen zu warten, und dann? ... Ja, versuchte er dann etwa, schwimmend zu entfliehen, selbst auf die Gefahr hin, von den Strömungen im Golf der Kleinen Syrte nach dem Meere hinausgetrieben zu werden? ... Jedenfalls bot sich ihm das als einziger Ausweg, dem ihm drohenden Todesurteil zu entgehen.
Hadjar überzeugte sich noch einmal, daß sich niemand dem Hofe näherte, dann raffte er seine Kleider eng um den Leib zusammen und schlüpfte kriechend in den Kanal. Dieser hatte etwa die Länge von dreißig Fuß und war gerade weit genug für eine nicht zu starke Person. Hadjar streifte hart an den Wänden hin, wobei einige Falten seines Haik zerrissen; unverdrossen weiterkriechend, erreichte er aber, wenn auch unter großer Anstrengung, doch schließlich das Gitter.
Dieses war, wie bereits erwähnt, in ganz schlechtem Zustande. Kaum hielten sich dessen Stangen noch in den Steinen, die unter seinen Händen noch weiter nachgaben. Fünf bis sechs Stöße genügten, sie vollends aus dem Verbande zu lösen, und als Hadjar sie dann zur Seite geschoben hatte, war der Weg für ihn frei.
Der Tuareghäuptling hatte sich bis zur äußeren Mündung nur noch zwei Meter vorwärts zu winden, doch das war das schwierigste Stück der Arbeit, da sich der Kanal jenseits des Gitters noch verengerte. Doch auch diese Schwierigkeit wurde überwunden, und er hatte am Ausgange sogar nicht nötig, nur einen Augenblick zu warten.
Als er kaum an den Ausgang gelangt war, schlugen ihm schon die Worte: »Hadjar, wir sind hier!« ans Ohr.
Der Targi machte eine letzte Anstrengung, und damit kam sein Oberkörper, in der Höhe von zehn Fuß über dem Meere, aus der Mündung hervor.
Harrig und Sohar reckten sich ihm entgegen, doch gerade als sie ihn vollends herausziehen wollten, ließ sich ein Geräusch vernehmen. Schon fürchteten sie, daß es aus dem kleinen Hofe käme und daß ein Aufseher nach dem Gefangenen geschickt worden wäre, der vielleicht sofort abgeführt werden sollte. War dann der Gefangene verschwunden, so wurde im Bordj natürlich sogleich Alarm geschlagen.
Zum Glück war es hiermit nichts: Eine Schildwache, die nahe der Brustwehr des Donjons auf und ab ging, hatte das Geräusch verursacht. Möglicherweise war der Mann durch das Herankommen des Bootes aufmerksam gemacht worden. Von der dem Posten angewiesenen Stelle aus konnte dieser das Fahrzeug aber gar nicht bemerken, und bei dessen Kleinheit wäre es in der Finsternis überhaupt kaum sichtbar gewesen.
Immerhin galt es jetzt, mit möglichster Vorsicht zu Werke zu gehen. Nach einigen Augenblicken packten Sohar und Harrig Hadjar bei den Schultern, zogen ihn vollends hervor, und endlich stand er unten zwischen ihnen.
Mit einem kräftigen Stoße wurde das Boot ein großes Stück hinausgetrieben. Es erschien ja nicht ratsam, längs der Mauern des Bordj und auch nicht nahe am Strande hinzufahren, sondern weiter draußen auf dem Golf bis zur Höhe des Marabut zu bleiben. Auch dabei wurde es noch nötig, mehreren Barken aus dem Wege zu gehen, Fahrzeugen, die entweder aus dem Hafen kamen oder dahin zurückkehrten, da die stille Nacht den Fischern so günstig war. Bei dem – gehörig entfernten – Vorüberkommen am »Chanzy« erhob sich Hadjar, kreuzte die Arme und warf einen Blick voll tödlichen Hasses nach dem Kreuzer hin. Dann setzte er sich, ohne ein Wort zu äußern, am Hinterteile des Bootes wieder nieder.
Eine halbe Stunde später streifte das Fahrzeug knirschend den Sand des seichten Grundes dicht am Ufer; sofort wurde es vollends aufs Trockene gezogen, und der Tuareghäuptling wandte sich mit seinen beiden Begleitern dem Marabut zu, den sie erreichten, ohne jemand zu begegnen.
Djemma war ihrem Sohne einige Schritte entgegengegangen und preßte ihn in die Arme.
»Komm, komm!« Das waren die einzigen Worte, die sie hervorstieß.
Damit ging sie auch schon um die Ecke des Marabut, wo Ahmet und Horeb warteten.
Drei Pferde standen hier gesattelt, bereit, unter den Sporen der Reiter davonzufliegen.
Hadjar bestieg das eine, Harrig und Horeb folgten seinem Beispiele.
»Komm!« hatte Djemma gesagt, als sie ihren Sohn wiedersah, und jetzt rief sie auch nur das eine Wort:
»Gehe!«, und dabei wies sie mit der Hand nach den finsteren Gebieten des Djerid.
Einen Augenblick nachher waren Hadjar, Horeb und Harrig schon im Dunkel der Nacht verschwunden.
Bis zum Morgen blieb die alte Targi mit Sohar noch im Marabut. Sie hatte verlangt, daß Sohar noch einmal nach Gabes zurückkehrte. Er sollte dort auskundschaften, ob die Flucht schon bekanntgeworden sei und die Nachricht davon sich in der Oase verbreitet habe; ebenso ob die Behörden dem Flüchtling schon Häscher nachgeschickt hätten und in welcher Richtung man im Djerid nach ihm suchen würde. Endlich sollte er zu erforschen suchen, ob gegen den Tuareghäuptling und seine Parteigänger noch einmal ein regelrechter Feldzug eröffnet werden sollte wie der letzte, der mit dessen Gefangennahme endigte.
Alles das verlangte Djemma zu wissen, ehe sie den Weg nach dem Lande der Schotts wieder einschlug. Sohar hatte aber nichts in Erfahrung bringen können, als er in der Umgebung von Gabes umherschweifte. Er wagte sich dabei sogar bis in die Nähe des Bordj und begab sich darauf nach dem Hause des Mercanti, der nun erst erfuhr, daß das Unternehmen gelungen sei und daß Hadjar, endlich frei, jetzt durch die Einöde der Wüste jagte.
Übrigens hatte der Mercanti noch nichts davon bemerkt, daß sich schon eine Nachricht von der Flucht verbreitete, und er wäre doch gewiß einer der ersten gewesen, davon zu hören.
Schon mußte jetzt das Morgenrot bald den Horizont im Osten des Golfes erhellen. Sohar wollte sich nicht zu lange aufhalten. Die bejahrte Frau sollte den Marabut jedenfalls verlassen haben, ehe es voller Tag wurde, denn sie war vielen bekannt, und anstelle des Sohnes würde sie jetzt jedenfalls verhaftet worden sein.
Sohar kam also zu ihr zurück, als es noch ziemlich finster war, und, von ihm geleitet, schlug sie den Weg an den Dünen hin ein.
Am Morgen lief eins der Boote des Kreuzers im Hafen ein, um sich den Gefangenen ausliefern zu lassen.
Als der Aufseher die von Hadjar bewohnte Zelle geöffnet hatte, konnte er nur das Verschwinden des Tuareghäuptlings melden. Wie die Entweichung ausgeführt worden war, ließ sich ohne Schwierigkeit nachweisen, als man auch den Abflußkanal untersucht und dessen Gitter ausgebrochen gefunden hatte. Hatte nun Hadjar versucht, schwimmend zu entfliehen, und war dann nicht anzunehmen, daß er von den Strömungen des Golfs nach der offenen See hinaus verschlagen worden wäre? Oder sollte ihn ein von seinen Anhängern beschafftes Boot vielleicht irgendwo ans Ufer befördert haben?
Das konnte vorläufig niemand entscheiden.
Nachforschungen in der Nachbarschaft der Oase erwiesen sich als erfolglos, nirgends war eine Spur des Flüchtlings zu entdecken. Weder die Ebenen des Djerid noch die Gewässer der Kleinen Syrte gaben ihn – lebend oder tot wieder zurück.