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Worin auf einer Karte des Antifer'schen Atlas ein Punkt mit Rothstift ganz genau eingezeichnet wird.
Während ihr Onkel sich in diesem »Zweimännertanz« abhetzte, waren Enogate und Juhel nach dem Stadthause und nach der Kirche gegangen. Im Stadthause hatte der Standesbeamte, der »Flitterwochenfabrikant«, ihnen auf der Tafel schon die Veröffentlichung ihres Aufgebots gezeigt und der Hilfsgeistliche in der Kathedrale ihnen eine Trauung mit Gesang und Orgelklang und mit allem kirchlichen Pompe versprochen.
Ob sie jetzt glücklich waren, dieser Vetter und diese Base, nachdem sie die Trauungserlaubniß eingeholt! Ob sie mit einer Ungeduld, die Juhel nur schlecht verhehlte und die Enogate nicht viel mehr verbarg, jenen 5. April erwarteten, den sie trotz des Zögerns ihres Onkels diesem abgenöthigt hatten! Natürlich beschäftigten sie sich mit allen Vorbereitungen, mit der Ausstattung der Braut, Schmuckgegenständen und Möbeln für die gute Stube im ersten Stock, die der gute Tregomain alle Tage mit weiteren Kleinigkeiten schmückte, die er in früheren Jahren an den Ufern der Rance gesammelt hatte – darunter eine kleine Statue der Jungfrau Maria, ehedem ein Schmuck der Cabine seiner »Charmante Amélie«, die er den Neuvermählten schenken wollte. Er war ja überhaupt ihr Vertrauter, einer, wie sie ihn gar nicht besser hätten finden können, der Großsiegelbewahrer ihrer Hoffnungen, ihrer Pläne für die Zukunft. Doch zwanzigmal des Tages wiederholte der würdige Frachtschiffer:
»Ich gäbe viel darum, wenn die Hochzeit erst vorüber wäre und Standesbeamter und Pfaffe das ihrige schon gethan hätten.
– Doch warum das, mein guter Gildas? fragte das junge Mädchen etwas beunruhigt.
– Ja, der Freund Antifer ist gar nicht zu berechnen, sobald er sein Steckenpferd sattelt und auf den Millionen herumreitet!«
Das war auch Juhels Ansicht. Wenn man von einem Onkel, von einem vortrefflichen, zuweilen aber etwas aus dem Gleise kommenden Manne abhängt, kann man sich auf nichts verlassen, bevor nicht das feierliche »Ja« vor dem Standesbeamten ausgesprochen ist.
Handelt es sich nun gerade um Familiensachen von Seeleuten, so ist erst recht keine Zeit zu verlieren. Entweder muß so ein Seemann Hagestolz bleiben, wie unser Küstenfahrer und der Kapitän des Frachtschiffes, oder er muß sich verheiraten, sobald das erlaubt und möglich ist. Juhel wollte sich bekanntlich als zweiter Officier auf einem dem Hause Le Baillif gehörenden Dreimaster einschiffen. Nachher vergingen wohl Monate oder gar Jahre, die er auf fremden Meeren und tausende von Meilen entfernt von seiner jungen Gattin getrennt war, wenn der Himmel ihren Herzensbund jetzt segnete. Enogate war als Tochter eines Seemannes freilich schon an den Gedanken gewöhnt, daß ihr Gatte auf weiten Reisen lange Zeit von ihr fort sein würde, und dachte gar nicht daran, daß das anders sein könnte. Ein Grund mehr, keinen Tag zu verlieren, da sie ja in Zukunft so sehr viele Tage getrennt sein würden.
Von dieser Zukunft plauderten der junge Kapitän und seine Braut, als sie an diesem Morgen von ihren Wegen zurückkehrten. Sie erstaunten da nicht wenig, aus dem Hause in der Rue des Hautes-Salles zwei Fremde kommen zu sehen, die sich offenbar wüthend davon entfernten. Juhel vermuthete aus deren Besuche bei Meister Antifer, daß hier etwas außergewöhnliches vorgegangen sein werde.
Das wurde ihm zur Gewißheit, als er und Enogate den Lärmen von oben her und das improvisierte Lied vernahmen, dessen Refrain bis zum Ende der Stadtmauer hinaustönte.
Der »gute Onkel« schien rein besessen zu sein, so als ob sein ewiges Grübeln über die unbekannte Länge ihm schließlich einen Hirndefect zugezogen hätte. Wenn nicht an Größenwahn, mußte er jetzt mindestens an Reichthumswahn laborieren.
»Was in aller Welt hat er denn, Tante? wendete sich Juhel fragend an Nanon.
– Ja, Euer Onkel scheint an der Tanzmanie zu leiden, liebe Kinder.
– Er kann aber doch das ganze Haus unmöglich so erschüttern ...
– Nein, dazu hilft Tregomain getreulich mit.
– Was? Tregomain tanzt ebenfalls?
– Wahrscheinlich aus Nachgiebigkeit gegen unsern Onkel,« meinte Enogate.
Alle drei stiegen jetzt die Treppe hinauf; sie mußten aber, als sie Meister Antifer so toll umherspringen sahen, wirklich glauben, daß er übergeschnappt wäre, vorzüglich da er aus Leibeskräften immer gröhlend wiederholte:
Ich habe meinen Me...
Mo me!
Ich habe meinen ri...
Ro ri...
Und puterroth, dampfend, von einem Schlaganfalle bedroht, fiel der gute Tregomain ein:
Ja, er hat seinen ri...
Er hat seinen Meridian!
Da ging Juhel plötzlich ein Licht auf: die beiden Fremden, die eben das Haus verlassen hatten ... sollte einer davon der endlich eingetroffene Abgesandte Kamylk-Paschas gewesen sein?
Der junge Mann war ganz blaß geworden; er hielt den Meister Antifer mitten in einem tollen Sprunge auf.
»Lieber Onkel, rief er, Sie haben ihn? ...
– Ich hab' ihn, mein Junge!
– Er hat ihn«, murmelte Gildas Tregomain.
Dieser sank dabei erschöpft auf einen Stuhl nieder, der, nicht imstande, einen solchen Stoß auszuhalten, unter ihm zusammenbrach.
Bald nachher, als ihr Onkel wieder etwas zu Athem gekommen war, hörten Juhel und Enogate von dem, was sich seit gestern zugetragen hatte, die Ankunft Ben Omar's mit seinem ersten Schreiber, deren Versuche sich den Brief Kamylk-Paschas zu erschwindeln, den Text des Testaments, die genaue Längenbestimmung für die Lage des Eilands mit den vergrabenen Schätzen ... Meister Antifer brauchte sich nur zu bücken, um diese aufzuheben!
»Doch, lieber Onkel, jetzt, wo jene das Nest wissen, werden sie sich beeilen, es schon vor uns auszunehmen!
– Stopp, stopp, Herr Neffe! rief Meister Antifer, die Achseln zuckend. Hältst Du mich denn für so einfältig, daß ich ihnen den Schlüssel zum Geldschrank ausgeliefert hätte?«
Gildas Tregomain bestätigte durch ein Schütteln mit dem Kopfe, daß das nicht geschehen sei.
»... zu einem Geldschrank, der seine hundert Millionen enthält!«
Das Wort »Millionen« schwoll in Pierre-Servan-Malos Munde so auf, daß es diesen bald verrenkt hätte.
Doch wenn der Mann erwartet hatte, daß seine Erklärung mit Jubelrufen aufgenommen werden würde, irrte er ganz gewaltig. Wahrhaftig, ein Goldregen, der Danaës Eifersucht erregt hätte, ein Schwall von Diamanten und Edelsteinen ergoß sich über das bescheidne Haus in der Rue des Hautes-Salles, und keiner streckte die Hand aus, den Segen aufzufangen, keiner deckte das Dach ab, um ihn bis zum letzten Tropfen einströmen zu lassen?
Ja, so war es. Ein eisiges Stillschweigen folgte der mit Millionen gespickten Phrase, die der Sprecher so triumphierend declamiert hatte.
»Was zum Teufel! rief er, mit starrem Blicke Schwester, Neffe, Nichte und Freund nach einander musternd, was seht Ihr denn aus, als ob einer Euern Segeln den Wind abgefangen hätte?«
Trotzdem wollten die Gesichter der andern sich nicht wieder erheitern.
»Wie, fuhr Meister Antifer fort, ich verkündige Euch, daß ich nun reich bin wie ein Crösus, daß ich aus dem Eldorado heimsegle mit einer Goldfracht zum versinken, daß der reichste Nabob gegen mich ein Betteljunge ist, und Ihr fliegt mir nicht an den Hals, um mich zu beglückwünschen? ...«
Keine Antwort. Nur niedergeschlagene Augen und bekümmerte Gesichter.
»Nun, Nanon? ...
– Ach ja, lieber Bruder, antwortete die Schwester, das sichert ein erträgliches Auskommen.
– Ein hübsches Auskommen! Jeden Tag in einem Jahre dreimalhunderttausend Francs verzehren zu können, wenn man's sonst will! Und Du, Enogate, meinst Du auch, daß das ein erträgliches Auskommen ist?
– Mein Gott, lieber Onkel, man braucht ja gar nicht so reich zu sein ...
– Ja, ja, das weiß ich ... ich kenne den Refrain: »Reichthum macht nicht glücklich!« ... Ist das wohl auch Deine Ansicht, Herr Kapitän der langen Fahrt? fragte der Onkel direct seinen Neffen.
– Meine Ansicht, erklärte Juhel, ist die, daß der Aegypter Ihnen noch obendrein den Titel »Pascha« hätte vermachen sollen; denn so viel Geld ohne einen Titel ...
– Ha, ha ... da hast Du Dein Fett ... Antifer Pascha! platzte der Frachtschiffer heraus.
– Sag' einmal, rief Meister Antifer in einem Tone, als ob er seine Matrosen zum Segelreefen commandierte, sag' einmal, Ex-Kapitän der ›Charmante Amélie‹, willst Du Dir etwa anmaßen, mich zu höhnen?
– Nein, mein würdiger Freund, versicherte Gildas Tregomain, da sei Gott vor! Wenn Du einmal so entzückt bist, hundertfacher Millionär zu sein, so bring' ich gern meine hundert Millionen Segenswünsche dazu!«
Es erschien in der That kaum erklärlich, daß die Familie die Jubelbotschaft ihres Hauptes mit so sauersüßer Miene aufnahm. Dieser dachte ja vielleicht gar nicht mehr an die stolzen Verbindungen für seine Nichte und seinen Neffen, und konnte wohl ganz darauf verzichtet haben, die Eheschließung zwischen Juhel und Enogate zu hintertreiben oder doch zu verzögern, obwohl er seinen Meridian vor dem 6. April bekommen hatte. Diese Befürchtung aber war es wirklich, die Enogate und Juhel, Nanon und Gildas Tregomain im jetzigen Augenblicke bekümmerte.
Letzterer wollte seinen Freund zu einer Erklärung veranlassen. Gewiß schien es besser, sich darüber klar zu sein, woran man wäre. Dann ließ sich wenigstens über die Sache verhandeln und man konnte den schrecklichen Onkel einen andern Cours aufnöthigen, statt ihn im bisherigen Kielwasser gerade weiter steuern zu lassen.
»Doch, alter Freund, begann er nun, den Rücken wie eine alte Schmeichelkatze krümmend, nehmen wir einmal an, Du hättest jene Millionen ...
– Annehmen, Frachtschiffer? ... Warum nur annehmen?
– Schön, also zugegeben, Du hättest sie schon ... und als braver Mann, der an ein bescheidnes Leben gewöhnt ist, was würdest Du nun damit anfangen?
– Was mir beliebt, antwortete Meister Antifer sehr trocken.
– Nun, Du wirst doch nicht etwa ganz Saint Malo kaufen wollen, denk' ich ...
– Ganz Saint Malo, ganz Saint Servan und ganz Dinard noch dazu, wenn mir das paßt, vielleicht auch noch den lächerlichen Bach, die Rance, die freilich kein Wasser hat, außer wenn ihr die Fluth etwas davon abläßt!«
Er wußte recht gut, daß er mit einer Herabsetzung der Rance einen Mann empfindlich traf, der diesen schönen Fluß zwanzig Jahre seines Lebens immer hinauf- und hinabgefahren war.
»Meinetwegen! erwiderte Gildas Tregomain mit zusammengezogenen Lippen. Du wirst deshalb aber nicht einen Bissen mehr essen und keinen Schluck mehr trinken, wenn Du Dir nicht auch einen Extramagen dafür kaufst ...
– Ich werde kaufen, was mir beliebt, Du Süßwasserpflüger, und wenn man mir entgegentritt, wenn ich Widerspruch sogar noch bei den Meinigen finde ...«
Diese Worte waren an die beiden Verlobten gerichtet.
»... so verzehre ich sie allein, meine hundert Millionen, so zerstreue ich sie in alle Winde, lasse sie in Rauch aufgehen, zermalme sie zu Staub, und Juhel und Enogate werden nichts von den fünfzig Millionen haben, die ich ihnen einst zu vermachen gedachte ...
– Das heißt also so viel wie hundert für zwei, alter Freund ...
– Wie so denn?
– Nun, weil die beiden sich ja heiraten werden ...«
Damit war die brennende Frage berührt.
»Oho, Frachtfuhrmann, steig' einmal die Wanten bis zur Mars hinauf, um zu sehen, ob Du mich da findest!«
Das war so seine Art, Gildas Tregomain – natürlich bildlich – spazieren zu schicken, seine Masse bis zum Top eines beliebigen Mastes hinaufzuhissen, was freilich ohne Benützung eines Ankerspills nicht möglich gewesen wäre.
Weder Nanon noch Juhel oder Enogate wagten eine Einmischung in dieses Zwiegespräch. An der Blässe des jungen Kapitäns erkannte man, daß dieser einen Ausbruch seines Zornes nur mit Mühe zurückhielt. Der Frachtschiffer war jedoch nicht der Mann dazu, ihn auf offenem Meere allein umherkreuzen zu lassen, er näherte sich also seinem Freunde ...
»Du hast aber das Versprechen gegeben ... begann er vorsichtig.
– Welches Versprechen?
– Ihrer Verheiratung zuzustimmen ...
– Gewiß ... wenn die Länge nicht eintraf, nun, ist die Länge aber eingetroffen ...
– So ist das ein Grund mehr, ihr Glück zu sichern ...
– Natürlich, Frachtschiffer, ganz einverstanden ... deshalb wird Enogate einen Prinzen heiraten ...
– Wenn sich einer für sie findet ...
– Und Juhel eine Prinzessin.
– Es ist keine mehr zu haben! erwiderte Gildas Tregomain, der schon am Ende seiner Weisheit war.
– Wenn man fünfzig Millionen Mitgift mitbekommt, giebt's schon immer noch eine!
– Na, dann such' einmal danach ...
– Ich werde suchen ... werde eine finden ... sogar eine aus dem Gothoner Almanach!«
Er wollte Gothaer Almanach sagen, der unzugängliche Starrkopf, der sich nun einmal in den Gedanken verirrt hatte, das Blut der Antifer's mit königlichem Blute zu mischen.
Um ein Gespräch nicht weiter fortzusetzen, das kein gutes Ende zu nehmen drohte, und entschlossen, in der Frage der Heirat keinen Zoll breit nachzugeben, ließ er den andern – und mehr als deutlich – merken, daß er in seinem Zimmer allein zu bleiben wünsche, indem er hinzufügte, daß er vor dem Mittagessen für niemand zu Hause sei.
Gildas Tregomain hielt es für gerathen, ihm nicht zu widersprechen, und so begaben sich alle nach dem Erdgeschoß hinunter.
Die ganze kleine Gesellschaft war in heller Verzweiflung, und schmerzliche Thränen rieselten über die hübschen Wangen Enogates herab. Das brachte unsern Gildas Tregomain aus dem Häuschen.
»Ich seh's nicht gern, wenn eins weint, sagte er, nein, nicht einmal, wenn man Kummer hat, Kleine!
– Aber bester Freund, erwiderte sie, nun ist ja alles verloren! Unser Onkel giebt doch nicht nach! ... Der große Reichthum hat ihm den Kopf verdreht ...
– Ja, leider, stimmte auch Nanon ein, und wenn mein Bruder sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat ...«
Juhel sprach nicht. Er ging im Vorsaal auf und ab, kreuzte einmal die Arme und schlug sie dann wieder auseinander, ballte die Hände und öffnete sie wieder. Plötzlich aber rief er:
»Uebrigens ist er nicht unser Herr und Meister! ... Ich brauche seine Erlaubniß zu meiner Verheiratung nicht! ... Ich bin volljährig ...
– Doch Enogate leider nicht, fiel der Frachtschiffer ein, und kraft seines Rechtes als Vormund könnte er Einspruch erheben ...
– Ja freilich ... und wir hängen ja alle von ihm ab! setzte Nanon, den Kopf senkend, hinzu.
– Deshalb geht mein Rath dahin, äußerte Gildas Tregomain, ihm lieber nicht schroff entgegenzutreten ... Vielleicht geht diese Schrulle ja vorüber, vorzüglich wenn man sich ihr zu fügen scheint ...
– Sie haben Recht, Herr Tregomain, sagte Enogate; wir erzielen – das hoffe ich wenigstens – gewiß mehr durch Güte als durch Gewalt.
– Und schließlich, bemerkte der Frachtschiffer, hat er seine Millionen ja noch gar nicht in der Tasche!
– Nein, stimmte auch Juhel zu, und trotz seiner berühmten Länge und Breite könnte es noch einen Haken haben, die Hand darauf zu legen. Auf jeden Fall erfordert die Sache viel Zeit ...
– Viel Zeit! murmelte das junge Mädchen.
– Ach ja, meine liebste Enogate, und das giebt Verzögerungen! ... O, der verwünschte Onkel!
– Und die verwünschten Kerle, die von dem verwünschten Pascha gekommen sind! platzte Nanon heraus. Ich hätte sie doch gleich mit dem Besen ...
– Sie hätten sich doch an ihn herangedrängt, fiel Juhel ein, und jener Ben Omar, der mit Erledigung der Angelegenheit betraut ist, würde ihm keinen Aufschub zugestanden haben.
– So wird mein Onkel also fortreisen? fragte Enogate.
– Höchst wahrscheinlich, antwortete Gildas Tregomain, weil er jenes Eiland selbst aufsuchen muß.
– Dann begleit' ich ihn, erklärte Juhel.
– Du, mein Herz? ... rief das junge Mädchen.
– Das ist unumgänglich ... Ich will mit da sein, um ihn zu hindern, eine Dummheit zu begehen ... ihn zurückzulootsen ... wenn er sich draußen zu lange aufhält.
– Recht so, mein Junge! sagte der Frachtschiffer.
– Wer weiß, wohin und wozu er sich auf der Suche nach jenem Schatze verführen läßt und welche Gefahren ihm drohen können!«
Enogate wurde ganz traurig, sie sah die Sache aber doch ein. Der gesunde Menschenverstand war es, der Juhel diesen Entschluß eingab, und vielleicht wurde die Dauer der Abwesenheit dadurch wesentlich abgekürzt.
Der junge Kapitän tröstete sie nach Kräften. Er werde ihr häufig schreiben, ihr über den Stand der Sache berichten ... Nanon werde sie ja nicht verlassen, so wenig wie Herr Tregomain, der sie täglich sehen, ihr Muth zusprechen würde ...
»Rechne auf mich, meine Kleine, sagte der Frachtschiffer ganz bewegt. Will mich schon bemühen, Dich aufzuheitern! ... Du kennst doch die Fahrten und Abenteuer der ›Charmante Amélie‹ noch nicht?«
Nein, Enogate kannte sie nicht, denn er hatte sie aus Furcht vor Meister Antifer noch nicht zu erzählen gewagt.
»Nun gut, das sollst Du hören. O, das ist sehr interessant ... da vergeht Dir die Zeit wie nichts. Eines schönen Tages sehen wir dann unsern Freund mit seinen Millionen unter dem Arm heimkehren ... oder auch mit leerem Säckel ... und unser wackrer Juhel ... der macht nur noch einen Sprung von zu Hause nach der Kathedrale von Saint Malo ... und ich werd' ihn wahrlich nicht zurückhalten. Willst Du, so laß ich mir während seiner Abwesenheit meinen Hochzeitsstaat anfertigen und den ziehe ich dann gleich jeden Morgen an ...
– Stopp, stopp! ... Frachtschiffer?«
Die wohlbekannte Stimme flößte der ganzen Gesellschaft einen heiligen Schreck ein.
»Hier! Was ist mit mir? fragte Gildas Tregomain.
– Was mag er von Ihnen wollen? fragte Nanon.
– Das ist nicht seine Stimme, wenn er unwirsch ist, bemerkte Enogate.
– Nein, bekräftigte auch Juhel, dieses Mal verräth sie mehr Ungeduld als Jähzorn.
– Wirst Du wohl kommen, Tregomain?
– Ich komme schon!« rief Gildas Tregomain hinauf.
Sogleich seufzte die Treppe unter der Wucht seiner Schritte.
Gleich darauf schob ihn Meister Antifer durch die Thür seines Zimmers, die er sorgfältig wieder verschloß. Dann schleppte er ihn nach dem Tische mit dem Atlas, von dem die planisphärische Erdkarte aufgeschlagen war, und drückte ihm den Zirkel in die Hand.
»Hier, nimm ihn!
– Den Zirkel?
– Ja, antwortete Meister Antifer mit scharfer Stimme. – Ich möchte die Lage eines Eilandes – des Millioneneilandes – auf der Karte suchen ...
– Nun, und es findet sich wohl nicht? rief Gildas Tregomain in einem Tone, der weniger Erstaunen als Befriedigung ausdrückte.
– Wer sagt Dir das? versetzte Meister Antifer. Und warum sollte jenes Eiland nicht da sein, Du unseliger Frachtfuhrmann?
– Nun, so ist es also da? ...
– Ob es da ist, das versteht sich, daß es da ist. Ich bin nur so aufgeregt ... mir zittert die Hand ... der Zirkel brennt mir in den Fingern ... Ich kann damit nicht auf der Karte hantieren ...
– Und nun willst Du, daß ich es thue, alter Freund? ...
– Wenn Du es im Stande bist ...
– Oho, weshalb denn nicht! erwiderte Gildas Tregomain.
– Verdammt, so ein abgedankter Frachtfuhrmann von der Rance! ... Doch versuche nur Dein Heil ... werden ja sehen ... halte den Zirkel ordentlich und folge mit dessen Spitze dem fünfundfünfzigsten Meridian ... da das Eiland unter vierundfünfzig Grad siebenundfünfzig Minuten liegt ...«
Die Ziffern der Länge fingen an, den Kopf des vortrefflichen Mannes zu verwirren.
»Siebenundfünfzig Grad und vierundfünfzig Minuten? ... wiederholte er, die Augen aufreißend.
– Nein, Schwachkopf! rief Meister Antifer. Gerade umgekehrt! Nun vorwärts ... Stoß' ab!«
Gildas Tregomain setzte die Zirkelspitze auf der Westseite der Karte ein.
»Nein doch, heulte sein Freund. Nicht westlich ... östlich vom Meridian von Paris! ... Hörst Du, Unglückseliger? ... Oestlich ... östlich!«
Durch dieses Poltern und Wettern war Gildas Tregomain so eingeschüchtert worden, daß er seine Aufgabe unmöglich zur Zufriedenheit lösen konnte. Vor seinen Augen schwebte es wie ein Schatten, von der Stirn perlte ihm der Schweiß und in seinen Händen zitterte der Zirkel, wie der kleine Hammer einer elektrischen Klingel.
»Nun, so stich doch auf den fünfundfünfzigsten Grad ein! trieb Meister Antifer ihn an. Oben an der Karte fängst Du an und gleitest dann herunter, bis Du den vierundzwanzigsten Breitengrad triffst.
– Den vierundzwanzigsten Breitengrad? stammelte Gildas Tregomain.
– Ja wohl! Er wird mich noch rasend machen, der Elende! Jawohl! ... Und der Punkt, wo die beiden Linien sich schneiden, der bezeichnet die Lage des Eilandes ...
– Die Lage ...
– Nun also, fährst Du hinunter? ...
– So schnell ich kann!
– O, der Spitzbube! Nun fährt er wieder hinauf!«
In der That wußte der Frachtschiffe gar nicht mehr, wo er war, und schien noch weniger als sein Freund zur Lösung dieses Problems geeignet zu sein. Beide befanden sich eben in aufgeregtem Zustande, und ihre Nerven zitterten wie die Saiten einer Baßgeige zu Ende einer Ouvertüre.
Meister Antifer fürchtete bald den Verstand zu verlieren. Da griff er denn zu dem einzigen Mittel, das ihm noch zu Gebote stand.
»Juhel!« rief er mit einer Stimme, die hinausdröhnte, als käme sie aus einem Sprachrohre.
Der junge Kapitän erschien fast augenblicklich.
»Was wünschen Sie, lieber Onkel?
– Juhel ... wo liegt Kamylk-Paschas Insel?
– Auf dem Punkt, wo sich die Länge und Breite kreuzen, die ...
– Schon gut ... jetzt suche mir sie!« ...
– Es klang fast, als müßte Meister Antifer gleich dazu setzen:
»Und bring' sie mir her!«
Juhel verlangte keine weitere Anleitung. Die Unruhe seines Onkels ließ ihn erkennen, was hier vorging. Er ergriff den Zirkel mit sichrer Hand, stellte dessen Spitze auf den Anfang des fünfundfünfzigsten Meridians am Nordende der Karte ein und begann der Linie nach abwärts zu folgen.
»Sage an, wo der Meridian hindurchgeht! befahl Meister Antifer.
– Gern, lieber Onkel,« antwortete Juhel.
Darauf wiederholte er Folgendes:
»Das Franz-Josephsland im Eismeere.
– Gut.
– Das Barentzmeer!
– Gut.
– Novaja Semlja!
– Nachher?
– Das nördliche asiatische Rußland.
– Welche Stadt durchschneidet er da?
– Zuerst Jekaterinenburg.
– Darauf?
– Den Aralsee.
– Immer weiter!
– Chiwa und Turkestan.
– Sind wir zur Stelle?
– Beinahe! Herat in Persien.
– Sind wir bald da?
– Ja. Mascat am Südende von Arabien.
– Mascat!« rief Meister Antifer, der sich jetzt über die Karte beugte.
Der Kreuzungspunkt des fünfundfünfzigsten Meridians mit dem vierundzwanzigsten Parallelkreise lag in der That im Gebiete des Iman von Mascat, in dem Theile des Golfes von Oman vor dem Persischen Meerbusen, der Arabien von Persien trennt.
»Mascat! wiederholte Meister Antifer.
– Mascot? fragte Gildas Tregomain, der schlecht gehört hatte, noch einmal.
– Nicht Mascot ... Mascat, Frachtschiffer!« schrie ihn sein Freund an, dessen Schultern sich bis an die Ohrläppchen erhoben.
Bis jetzt besaß man natürlich nur eine annähernde Coordinate, da sich diese nur auf die Grade, noch nicht aber auf die Bogenminuten bezog.
»Es ist also in Mascat, Juhel?
– Ja, lieber Onkel ... bis auf hundert Kilometer genau.
– Kannst Du das nicht genauer feststellen?
– Gewiß, lieber Onkel.
– So thu' es, Juhel ... aber schnell! Siehst Du nicht, daß ich vor Ungeduld koche!«
Ein Dampfkessel, den man bis zu diesem Punkte erhitzt hätte, wäre allerdings in Gefahr gewesen, zu explodieren.
Juhel nahm den Zirkel wieder zur Hand und bestimmte unter Berücksichtigung der Minuten der Länge und der Breite die Lage mit solcher Genauigkeit, daß der Unterschied von der wirklichen Lage höchstens einige Kilometer betragen konnte.
»Nun, und nun? fragte Meister Antifer.
– Nun, lieber Onkel, der gesuchte Punkt liegt nicht auf dem Gebiete des Iman von Mascat selbst, sondern etwas weiter östlich im Golfe von Oman.
– Das wollt' ich meinen!
– Warum das? fragte bescheiden Gildas Tregomain.
– Weil es sich um eine Insel handelt, die doch nicht mitten im Lande liegen kann, Du Ex-Plattschiffer von der ›Charmante Amélie‹!«
Das schleuderte er mit einem unmöglich wiederzugebenden Tone heraus, und doch sehr ungerechter Weise, denn ein Frachtkahn ist niemals ein Plattschiff.
»Morgen, fügte Meister Antifer hinzu, beginnen wir unsre Vorbereitungen zur Abfahrt.
– Das ist recht, stimmte Juhel zu, der entschlossen war, seinem Onkel nicht entgegenzutreten.
– Wir werden nachsehen, ob sich in Saint Malo nicht ein Schiff vorfindet, das ehestens nach Port-Saïd abgeht.
– Damit kämen wir gewiß am besten an Ort und Stelle, denn am Ende sind wir keinen Tag sicher ...
– Nein, nein! Mein Eiland wird mir keiner stehlen!
– Es müßte denn ein ganz durchtriebener Schlaukopf sein! bemerkte Gildas Tregomain, dessen Worte mit einem neuen Achselzucken Meister Antifer's aufgenommen wurden.
– Du wirst mich begleiten, Juhel, sagte der letztere.
– Gewiß, lieber Onkel, antwortete der junge Kapitän, dessen Entschlusse diese Aufforderung ja entsprach.
– Und Du ebenfalls, Frachtschiffer ...
– Ich? ... rief Gildas Tregomain entsetzt.
– Ja ... Du!«
Diese beiden Worte kamen in so befehlerischem Tone hervor, daß sich der Kopf des würdigen Mannes als Zeichen der Zustimmung senken mußte.
Und vorher hatte er darauf gerechnet, während der Abwesenheit Pierre-Servan-Malos die arme Enogate damit zu unterhalten, daß er ihr von den Fahrten der »Charmante Amélie« auf dem zahmen Wasser der Rance erzählte!