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Wie sie Abreken wurden

Das Tal des Karassu-Tschako. Bewaldete, sanft abfallende Bergesvorsprünge, die sich abwechselnd vorschieben und eine breite Talsohle frei lassen, in der sich der Fluß auf flachem, steinigem Bette hin und her windet. Er bildet Inseln und Halbinseln, auf denen kein Gras wächst, denn wenn der Karassu-Tschako nach den Regengüssen des Frühjahrs und Herbstes anschwillt, schwemmt er alles Erdreich bis auf die kahlen weißen Steine immer wieder mit sich fort.

In dem Tale längs der Krümmungen des Flusses führt ein Weg, auf dem zwei Reiter in kaukasischer Tracht nach ihrem tiefer in den Bergen gelegenen Aul Aul = Dorf. heimwärts ziehen. Roß und Reiter sind von einem langen Ritt in sommerlicher Glut ermattet. Der eine ist ein älterer Mann, der andere ein Jüngling von ungefähr 17 Jahren. Sie ähneln einander auffallend. Dieselbe breite intelligente Stirn, dieselben großen, schön geschnittenen Augen, dieselbe gebogene Nase und ein festes, etwas vorspringendes Kinn. Es sind Vater und Sohn. Auf dem wetterharten Gesicht des Vaters würde ein Fremder kaum etwas anderes finden als einen mürrischen Ausdruck; auf den kindlich weichen Zügen des Sohnes liegt Trauer und Niedergeschlagenheit.

Sie kommen aus der Stadt, und Hadshi, der Sohn, ist im Examen durchgefallen. Er hatte sich gut vorbereitet, hatte jahrelang gearbeitet, hatte die nötigen Kenntnisse erworben. Der Student, der ihn unterrichtet hatte, meinte, er müsse das Examen bestehen, und nun – – durchgefallen! Er hatte doch gute Antworten gegeben, und neben ihm, der Sohn des Generals, der kaum etwas zu antworten wußte, und der Sohn des armenischen Kaufmanns, der ein ganz falsches Russisch sprach, die beiden waren durchgekommen. »Warum? Wie ist so etwas möglich?«

»So ist es eben«, sagt sich Hadshi, »wir sind arm, und die andern sind reich und haben Verbindungen und Einfluß.« Und die Tränen flössen ihm über die Wangen.

Vorsichtig, damit der Vater es nicht bemerkt, wischt er sie sich mit dem Ärmel seiner Tscherkesska Tscherkesska = Waffenrock. ab. Der Vater spricht nicht, und Hadshi fängt an, über Verschiedenes nachzudenken. Sein ganzes bisheriges Leben zieht an ihm vorüber. Seine Kindheit im ärmlichen Aul, seine Spiele mit den Altersgenossen und vor allem, solange er sich dessen erinnern kann, sein Wunsch zu lernen. In Furcht vor dem Vater, in Gehorsam gegen seine beiden älteren Brüder wuchs er auf und hatte keine Gelegenheit, eine Schule zu besuchen. Es wurde ihm von Jugend an eingeprägt, die Alten zu achten, die Ehre hoch zu halten, tapfer und listig zu sein und keine Beleidigung und keine Wohltat zu vergessen. Er lernte reiten, ein Huhn oder ein Schnupftuch im Galopp aufheben, sich blitzschnell aus dem Sattel zur Erde werfen und wieder emporschwingen, ohne das Pferd im Laufe anzuhalten. Er lernte mit Gewehr und Dolch umzugehen, im Wald und auf den Bergen dem Wilde nachzustellen, auch des Nachts eine Spur zu verfolgen. Er wuchs heran, stark und schön an Leib und Seele, aber Gelegenheit zum Lernen hatte er nicht.

Da geschah es, daß ein Student im benachbarten Aul den Sommer bei seinen Verwandten zubrachte; Hadshi wurde mit ihm bekannt und damit begann ein neues Leben für ihn. Als ob er es geahnt hätte, daß sich ihm durch den Verkehr mit dem Studenten eine neue Welt erschließen würde, hatte er auf alle Weise versucht, an ihn heranzukommen. Es zog ihn mächtig zu dem Jüngling hin, der schon so viel gelernt hatte, daß er nun die hohe Schule, die Universität, besuchen konnte. Auf jede Art versuchte er es, sich dem Studenten nützlich zu erweisen und dessen Zuneigung zu gewinnen; und es gelang ihm. Der Student fand Gefallen an dem treuherzigen Sohn der Berge, in dem er Streben nach Licht, Wahrheit und Kenntnissen sah: es bildete sich ein Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden aus, wo jeder dem andern nützlich sein konnte. Hadshi kannte die Umgegend genau und war mit Freuden bereit, den Studenten in die Wunderwelt seiner heimatlichen Berge einzuführen. Kein Steg war ihm zu steil und Schwindel erregend, kein Baumstamm zu schwankend oder zu glatt, auf dem er den tosenden und schäumenden Gebirgsbach zu überschreiten hatte; lächelnd bot er seine breite Hand dem Freunde bei gefährlichen Stellen. Der Student überwand mit Hadshis Hilfe Hindernisse, über die er allein nimmer hinweggekommen wäre; aber noch was anderes hatte Hadshi dem Studenten zu bieten; er kannte die Sagen und Überlieferungen seines Volkes, die Gebräuche, die seinen Vorvätern heilig gewesen waren. Viel konnte er von den Heiligtümern in der Nähe seines heimatlichen Dorfes erzählen. Von jenem alten Baum, in dessen Zweigen Geister hausen sollten, Geister, die demütigen Bitten um Genesung eines Lieben oder um glückliche Jagd gern gewährten, die aber Spötter und Neugierige mit Krankheit und anderem Unheil straften. Von den Höhlen konnte er sprechen, in denen Schlangen mit feurigen Augen hausten, die Haufen von Goldmünzen bewachten, an die keiner heran durfte aus Furcht vor der Strafe. Denn Wahnsinn oder Blindheit befiel den Neugierigen oder Habsüchtigen, der die heilige Höhle zu betreten wagte. Vor Jahren hatte ein Ingenieur aus Moskau spöttisch und ungläubig den Versuch gemacht, – er hatte seinen Verstand in der Höhle gelassen. Von den Festen und Zusammenkünften bei heiligen Stellen, von Opfern und Beschwörungen wußte Hadshi zu erzählen, wie er es von den Alten gehört hatte in den langen Winterabenden im einsamen Gebirgsdorfe, wenn das Feuer am Herde flackerte und die Männer herumsaßen, und wenn in ihren Gesprächen und Erzählungen sich das Seelenleben des Volkes den Zuhörern offenbarte. Nicht müde wurde der Student, ihm zuzuhören, er war ein Kind der Steppe und hatte die Jahre seiner Jugend auf der Schulbank in der Stadt zugebracht, aber die Größe und Wildheit der Berge hatten seine nach Schönheit dürstende Seele tief ergriffen, und die Reden seines jungen Freundes, diese Sagen und Gebräuche waren für ihn wundervoll und neu. Doch oft auf ihren Gängen war auch er der Gebende. Hadshi wußte von andern Völkern und andern Ländern wenig, und wunderbar verstand es der Student, aus längst vergangenen, alten Zeiten, von Kriegen, Volkszügen, Helden und Dichtern ihm zu erzählen. Von den Sternen konnte er sprechen, die in regelmäßigen Bahnen um die Sonne sich bewegen, von Bergen, die Feuer sprühen und aus denen von Zeit zu Zeit riesige Mengen glühender Flüssigkeit strömen, von den Wundern des Meeres, von den Fischen und Ungeheuern der Tiefe, von Eisbergen, die auf dem Meere schwimmen, von riesigen Dampfern, die die Ozeane durcheilen, von Maschinen und den Wunderkräften der Elektrizität, von den unendlich Kleinen erzählte er ihm, die im Wassertropfen eine ganze Welt darstellen und im Blute Krankheiten erzeugen, Dinge, von denen Hadshi nie etwas gehört, nie etwas geahnt hatte. Mit Verehrung blickte er zum Freunde empor, der so viel Wunderbares wußte, und die Sehnsucht, selber aus den Büchern alles dazu zu lernen, wurde immer stärker in ihm. Und als eines Tages der Student sich bereit erklärte, ihm Unterricht zu geben, da nahm er es mit Freuden an und wußte nicht wie danken. Jeden Morgen kam nun Hadshi zum Studenten, der ihm Bücher, Hefte, Federn und Bleistifte aus der Stadt besorgte, und lernte schreiben, lesen, rechnen, Hadshi begriff leicht, nicht nur, weil er ein begabter, aufgeweckter, lernbegieriger Junge war, sondern auch, weil er einen guten Lehrer hatte, der es verstand, ihm die Sache klar und begreiflich darzulegen, und vor allen Dingen, weil eine innige Liebe Lehrer und Schüler verband.

Als die Ferien um waren, und der Student zurück mußte auf seine Universität, da ließ er Hadshi Bücher und gab ihm auf, was er lernen sollte, erklärte ihm auch, wie es anzufangen, und versprach, ihm zu schreiben. Mit Erlaubnis des Vaters gab Hadshi es auf, den Brüdern in der Wirtschaft zu helfen, und lernte. Das tat er fleißig den ganzen Winter hindurch, und als im nächsten Sommer der Student wiederkam, war er ganz erstaunt über die Fortschritte, die Hadshi gemacht hatte. Hadshi hatte immer ein Buch in der Hand, bald war es ein Leitfaden der Geschichte, bald ein geographisches Lehrbuch oder eine russische Grammatik, und er war glücklich, den Wunsch seiner Jugend, lernen zu können, sich erfüllen zu sehen. Auch den zweiten Sommer über beschäftigte sich der Student mit Hadshi, und als der Herbst kam, da sprach er mit Hadshis Vater und riet ihm, den Sohn zur Stadt in die Schule zu schicken. Der Alte willigte ein. Die ganze Familie war stolz darauf, daß Hadshi lernen sollte; Mutter und Schwester arbeiteten fleißig Kleider und Wäsche, während die Brüder und der Vater sich darauf freuten, einen Verwandten zu haben, der sich heraufdienen würde und sie dann vor der Bedrückung der Beamten würde schützen können. Denn Hadshi sollte nicht nur die Schule durchmachen, er sollte nachher auch das Freiwilligenexamen bestehen und Offizier werden. Dazu sollte gespart werden, dazu wollten alle mit vereinigten Kräften beitragen – und jetzt war alles zunichte geworden.

Zum Schlusse des Sommers hatte der Student Hadshi geprüft und hatte gesagt, er könne ruhig zum Examen gehen, er habe die nötigen Kenntnisse, und dann – war das Schreckliche geschehen, Hadshi hatte in der Schule mit den andern zusammen auf den Bänken gesessen, hatte geantwortet, leicht und gut die schriftlichen Arbeiten bewältigt, und frohe Zuversicht erfüllte sein jugendliches Gemüt. Da am Nachmittage des letzten Examentages war der Direktor mit einem Blatt Papier in der Hand hereingekommen und hatte die Namen derjenigen verlesen, die das Examen bestanden hatten. Mit Staunen hörte Hadshi den Namen des Sohnes des Generals und den Namen des Sohnes des armenischen Kaufmanns und war sicher, daß, wenn die beiden das Examen bestanden hätten, es auch bei ihm der Fall sei, doch sein Name wurde nicht genannt. Er konnte es zuerst gar nicht glauben und begreifen, daß er durchgefallen sei. Die Enttäuschung und Entrüstung war zu groß. Er schämte sich, es dem in der Stadt wartenden Vater mitzuteilen, und wußte nicht, wie er es den Brüdern und Schwestern im Aul sagen sollte.

Der Vater hatte versucht, ihn zu trösten, hatte gemeint, im nächsten Jahre würde er vielleicht wieder vorgehen und das Examen bestehen. Aber Hadshi war entmutigt. Als sie im Dorfe anlangten, kam ihnen der Student entgegen und wollte es gar nicht glauben, daß Hadshi das Examen nicht bestanden. Er versprach, sich in der Stadt danach zu erkundigen, wie solches möglich gewesen. Denn er mußte jetzt zurück in die Stadt. Hadshi aber schämte sich, sich im Dorfe zu zeigen, er war mit stolzen Hoffnungen und voll Siegeszuversicht in die Stadt gezogen, und nun die Schande, durchgefallen zu sein. Und die Dorfgenossen wußten ja nicht, daß er das Examen eigentlich bestanden, und er nur deswegen durchgefallen sei, weil sein Vater arm und ohne Verbindung war. Hadshi hielt sich sehr zurück. Die Gesellschaft seiner Altersgenossen vermied er und verkehrte eigentlich gerne nur mit dem alten Pferdehirten des Auls, der meistens draußen auf der Weide war, kaum russisch verstand, und der viel aus alten Zeiten erzählen konnte. Gerne hörte Hadshi ihm zu, wenn der Hirte ihm von den Kämpfen erzählte, die Bewohner der Berge gegen die eindringenden Russen bestanden. Die Vergangenheit seines Volkes lebte dann vor den Augen Hadshis wieder auf, und der in der Seele des Hirten lodernde Haß gegen die Unterdrücker teilte sich Hadshis weichem Gemüte mit. Auch vom letzten großen Kampfe der östlichen Bergvölker unter Schamil erfuhr er viel. Er hoffte mit dem großen Imam, und er litt und fiel mit ihm. Verwegene kriegerische Taten, kühne Reiterstückchen, nächtliche Überfälle und Kriegslisten erfüllten ihn mit Begeisterung, doch hatte er keine Gelegenheit, all diesen sich ansammelnden Gefühlen, all dieser sich anhäufenden Energie Ausdruck zu geben. Unter dem Einfluß des Hirten, der ein fanatischer Mohammedaner war, wandte sich auch Hadshi mehr dem Glauben seiner Väter zu. Westliche Zivilisation, europäische Bildung, die ihm nur in dem ihm unsympathischen, russischen Gewände entgegengetreten war, wurde ihm verhaßt, und eines Tages zerriß er, ergrimmt durch die beim Examen erfahrene Ungerechtigkeit, seine Bücher und Schulhefte und schrieb dem Studenten, er wolle ein freier und stolzer Sohn der Berge bleiben und sich nicht mehr dem aussetzen, daß man ihn ungerechter Weise im Examen durchfallen lasse.

*

Er schloß sich seinen Brüdern an und arbeitete mit ihnen zusammen in Feld, Wald und Wiese. Er war eifrig dabei, denn er wußte, was für Opfer seine Familie seinetwegen getragen, und es lag ihm daran, so viel es in seinen Kräften war, Ersatz zu leisten. Eines Morgens schickte ihn der Vater, Holz aus dem Walde zu holen, die Mutter gab ihm sein Mittagessen mit, er nahm zwei Äxte für den Fall, daß die eine stumpf oder unbrauchbar würde, und fuhr auf seinem kleinen, zweirädrigen Wagen, der kaukasischen »Arba«, dem Walde zu. An einer Stelle, wo der Weg schmal sich längs dem Abgrunde hinzieht, begegnete ihm ein Reiter; Hadshi bog etwas vom Wege ab, um ihn vorbei zu lassen, doch der Reiter hielt an, und auf die beiden Äxte blickend, die im Wagen hinter Hadshi lagen, fragte er: »Fährst du in den Wald, um dort zu arbeiten?«

»Jawohl!« antwortete Hadshi etwas erstaunt über die Frage.

»Willst du, daß ich mitkomme«, fragte ihn der Fremde, »und dir helfe?«

Hadshi besah sich den Mann näher. Er war klein, untersetzt und hatte glänzendes, schwarzes Haar, Augen, die wie Kohlen brannten, sein ganzes Wesen atmete wilde Energie, seine Kleidung verriet den Osseten. Er gefiel Hadshi.

»Wohin reitest du denn eigentlich?« fragte er ihn.

»Wohin Allah mich führt, ich weiß es nicht«, kam es trotzig und doch traurig von seinen Lippen.

»Wenn du mit mir kommen willst, so ist es mir schon recht«, sagte Hadshi, rückte etwas zur Seite und machte dem Fremden Platz auf dem Wagen. Der Fremde sprang vom Pferde, band es hinten an den Wagen und setzte sich zu Hadshi. Schweigend fuhren sie nebeneinander, beide in Gedanken versunken, beide mit Schmerz und Erbitterung in ihrer Seele. Doch der Ossete schien keine Lust zum Reden zu haben, und Hadshi wollte dem Fremden nicht mit Fragen zur Last fallen. Im Walde angelangt, arbeiteten sie fleißig zusammen, und Hadshi teilte sein einfaches Mahl mit dem Fremden. Nach dem Essen fällten sie wieder Bäume, bis der Abend hereinbrach; auf dem Rückwege fing der Fremde an, erzählte aus seinem Leben, und wunderbar wurde Hadshi ums Herz, als er ihm zuhörte, denn es war eine Geschichte voll Leid und ungerecht erlittener Unbill, die er zu hören bekam.

Glücklich und friedlich war Ali gewesen; ohne reich zu sein, hatte er doch sein tägliches Brot; er lebte nach dem Tode seiner Eltern mit seinem verheirateten Bruder Sauerbeck zusammen. Die junge Frau sah ihrem ersten Wochenbette entgegen, da hatte das Unglück eingesetzt. Sein Bruder kam eines Abends nach Hause in sein Dorf und bemerkte, wie im Dunkeln die Hofpforte eines Hauses geöffnet wurde, in der ein verabschiedeter russischer Offizier wohnte. Ein Pferd wurde herausgeführt; da es nicht gesattelt war, nahm der Bruder an, daß es gestohlen würde, hielt den Dieb an und rief dabei laut um Hilfe. Der Offizier kam mit seinen Leuten heraus, auch die Nachbarn eilten auf die Straße und umringten die sich gegenseitig festhaltenden Männer, von denen jeder erklärte, den Dieb gefangen zu haben. Nun war aber der eigentliche Dieb ein Kosak, der früher als Strashnik Strashnik = Landgendarm. gedient. Damit war das Schicksal Sauerbecks besiegelt, denn es wurde mehr dem Kosaken geglaubt als ihm. Er wurde zur Verzweiflung seiner Frau und zur Entrüstung seines Bruders gebunden und ins Gefängnis geworfen, auch vor Gericht wurde seinen Unschuldsbeteuerungen nicht geglaubt und das Zeugnis des Kosaken angenommen. Er wurde zu mehreren Jahren Bergwerksarbeit in Sibirien verurteilt und mußte seine Strafe antreten. Als seine junge Frau solches erfuhr, wurde sie vor Schreck und Gemütsbewegung krank; sie brachte ein totes Kindlein zur Welt und starb selber einige Tage darauf.

Ali brütete Rache. Er lauerte dem Kosaken auf, ein wohlgezielter Dolchstoß traf den falschen Zeugen und forderte ihn vor den gerechten Richter. Ali aber floh, er nahm Waffen und Pferd und verließ das Haus, das ihm bis jetzt Heimat gewesen war. Es war seine Ehrenpflicht gewesen, den Schurken zu strafen, der seinen Bruder ins Unglück gebracht und dadurch den Tod seiner Schwägerin verschuldet. Von den Menschen hatte er keine Gerechtigkeit erlangt, da hatte er sie sich selber genommen. Nun war er ein Abreke, ein Flüchtling, ein Geächteter, vogelfrei und ein gehetztes Wild. Vor ihm lag die weite Welt, vor allem die wilden, unzugänglichen heimatlichen Berge und die undurchdringlichen Wälder an ihrem Fuße. Er wußte nicht, wohin gehen, er wußte nicht, was der nächste Tag ihm bringen würde, sein Leben war ja sowieso verwirkt, aber teuer wollte er es verkaufen, wenn es einst zum letzten Kampf käme. Den Armen wollte er helfen und Rache nehmen an den Unterdrückern, soviel es ihm möglich sein würde. Da war er denn hinausgeritten und freute sich nun des Zusammentreffens mit Hadshi.

*

Alles, was der alte Hirt in seinen Gesprächen gesät, regte sich jetzt in Hadshi, die Empörung über das erlittene Unrecht und der Haß gegen die bestehende Ordnung, und mächtig zog es ihn zu Ali, doch wagte er es nicht, seinem Wunsch, in die Berge zu gehen, ihm gegenüber Ausdruck zu geben, sondern er erzählte ihm nur von seiner Enttäuschung und seinem Hasse gegen die Lehrer, die ihn hatten durchfallen lassen. Ali sann einige Zeit nach, dann sagte er: »Schade, daß ich keinen Freund habe, der mit mir die Gefahren teilen würde.«

»Ich bin der Mann«, sagte Hadshi mit plötzlichem Impuls, »ich will dein Freund sein, ich bin dies Leben zu Haus überdrüssig, ich will mit dir kommen.«

»Willst du das?« fragte ihn Ali und blickte ihn durchbohrend mit seinen schwarzen Augen an.

»Bei Allah, ich will es«, sagte Hadshi.

»Dann laß uns den Bund des Blutes schließen,« meinte Ali ernst.

Hadshi hielt das Pferd an, die Männer sprangen vom Wagen, und jeder streifte sich den linken Ärmel bis zum Ellbogen auf, darauf machte sich jeder mit seinem Dolche einen Einschnitt in den Unterarm und hielt ihn dem andern hin, daß er das herausquellende Blut tränke. »Allah helfe mir, Treue zu halten«, sagte dann jeder von ihnen entschlossen, fast wild. Sie legten sich gegenseitig einen leichten Verband an und schwangen sich wieder auf den Wagen. Hadshi zeigte dem neugewonnenen Bruder eine Scheune, in der Heu lag, und sagte ihm, er solle dort mit seinem Pferde übernachten. Er hinterließ ihm die Reste seiner Mahlzeit und versprach, gegen Abend sich im Walde einzufinden, dort, wo sie Bäume gefällt. Auf Alis Frage, ob er denn auch ein Pferd habe, meinte Hadshi, er würde sich schon eins verschaffen, dessen der Bruder sich nicht zu schämen hätte. Hadshi hatte einen verwegenen Plan. Er wollte das Reitpferd des Kreischefs rauben, ein wundervolles Tier, das ein kabardinischer Fürst dem Kreischef zum Geschenk dargebracht hatte. Er wollte damit nicht nur anfangen, Rache zu nehmen an dem wegen Erpressungen und Bestechungen allgemein verhaßten Kreischef, sondern er wollte auch durch einen besonders kühnen Streich seine Abrekenlaufbahn beginnen und sich einen Namen im Volke machen.

Der Kreischef hatte Empfangstag. In seinem Hofe standen viele Leute, Eingeborene in malerischer Tracht, hohen zottigen Lammfellmützen, unter denen schwarze Augen trotzig hervorblickten, die eng um die Taille liegende Tscherkesska meistens mit silbernen Patronenreihen auf der Brust. Der Kreischef saß in seiner Kanzlei und empfing in Gegenwart seines Schreibers und einiger Strashniks Klagen, Bittschriften und – Geschenke. Hadshi trat ruhig auf den Hof, ging zum Stall, öffnete ihn, als ob er ein Recht dazu hätte, und sattelte den Hengst. Er hatte Glück. Die Eingeborenen, die auf dem Hofe standen, wußten nicht, daß er ein Unberufener war; und der die Pferde des Kreischefs besorgende Strashnik kam zufällig nicht hinzu. Hadshi führt das Pferd heraus, schwang sich in den Sattel und sprengte zum Tore hinaus, einen Schuß abfeuernd. Der Kreischef blickte auf und sah gerade durchs Fenster, wie ein Fremder mit seinem schönen Hengst davonritt. Allgemeiner Aufruhr, Geschrei, Verfolgung, aber den Kabardinerhengst konnte man nicht einholen. Hadshi hatte das beste Pferd im Kreise; ohne von seiner Familie Abschied zu nehmen, ritt er in den Wald und traf Ali an der Stelle, wo sie am Tage vorher zusammen Holz gefällt hatten.

Und nun begann ein neues, abenteuerliches Leben für die beiden. Es war ihre feststehende Regel, die Sympathie und den Schutz der Armen zu erlangen und nur gegen Reiche oder Regierungsbeamte vorzugehen.

Manchem Gutsbesitzer wurden in nächsten Monaten Pferde und Vieh gestohlen, mehr als einmal die Post überfallen und die Geldsendungen geraubt. Es wurde ein Preis auf ihren Kopf gesetzt, und Polizei und Militär fahndeten nach den Abreken, doch konnte man ihrer nicht habhaft werden. Sie hatten unzählige Freunde, bei denen sie Unterkunft fanden, und bei denen sie sicher sein konnten, nicht verraten zu werden; selten nur mußten sie eine Nacht im Walde zubringen. Dieses Leben dauerte einige Jahre. Hadshi hatte keine Gelegenheit gehabt, an den verhaßten Lehrern der Stadt Rache zu nehmen, und auch Ali hatte vergeblich auf eine Gelegenheit gewartet, sich an dem Richter, der seinen Bruder verurteilt hatte, zu rächen. Da geschah es eines Nachts, daß sie auszogen, um von einem reichen Gutsbesitzer in der Steppe Pferde wegzutreiben. Sie hatten sich an den Tabun Tabun = Pferdeherde. herangeschlichen. Es war eine dunkle Nacht; die Hirten saßen mit einem Dutzend Strashniks sorglos um das Lagerfeuer. Hadshi und Ali fingen an, die Pferde im Dunkeln immer weiter von ihnen fortzutreiben, und hatten zuletzt an sechzig Pferde in einem Haufen versammelt, mit dem sie aufbrechen wollten; da merkten die Strashniks daß etwas im Gange sei und schwangen sich auf ihre ganz in der Nähe weidenden Tiere, um nachzusehen, ob alle Pferde noch da seien. Als Hadshi und Ali hörten, daß die Strashniks im Dunkeln heranritten, setzten sie mit ihren langen Peitschen den Tabun Pferde in Galopp und jagten so rasch sie konnten nach Süden den Bergen zu.

Durch das Getrampel der dahinjagenden Pferde wurde den Strashniks die Richtung verraten, in der die Abreken mit dem geraubten Tabun davonjagten. Die Strashniks nahmen die Verfolgung auf und kamen den Abreken immer näher, die wegen der Pferde, die sie davontrieben, nicht so rasch fliehen konnten.

»Wir müssen die Pferde zurücklassen«, rief Ali Hadshi zu, als die Kugeln der Strashniks um sie herum zu pfeifen anfingen, »wir müssen sehen, daß wir selber uns in Sicherheit bringen.«

Sie ließen die Pferde zurück und jagten über das wellige Terrain der Steppe dahin, von den Strashniks auf wohlgenährten, ausgeruhten Pferden verfolgt. Ali mahnte den Freund zur Eile, blieb aber selber absichtlich zurück, um mit seinem Rücken den Freund zu decken. Da bäumte sich plötzlich Alis Pferd hoch auf und brach zusammen, es war von einer Kugel getroffen worden. Ali sprang ab und rief dem Freunde zu, sich in Sicherheit zu bringen, Hadshi aber kehrte um, um Ali auf sein eigenes Pferd zu nehmen. Da kamen auch schon die Strashniks näher, und einer von ihnen legte an. Seine Kugel traf Ali in die Brust. Noch einmal bat Ali Hadshi zu fliehen, doch der schüttelte energisch den Kopf und fing an, auf die Strashniks zu schießen und sie dabei in respektvoller Entfernung zu halten. Eine zweite Kugel, die Ali in die Schläfen traf, machte dem Kampf ein Ende. Hadshi warf sich über den sterbenden Freund und ließ in seinem Schmerze die Strashniks ihn umzingeln und gefangennehmen. Ali starb einige Minuten danach, Hadshi aber wurde von den Strashniks festgenommen, in seinem Schmerze um den Verlust des treuen Freundes vergaß er den Widerstand. In dumpfer Niedergeschlagenheit ließ er sich binden und wegführen, einer dunklen Zukunft entgegen, wo es nur Schmerz, Leiden und Erniedrigung für ihn gab.

Ein junges Leben sollte zwischen engen Gefängnismauern in entwürdigender Gesellschaft physisch und moralisch dahinsiechen, ohne Hoffnung auf irgend ein Glück, auf irgend eine Befriedigung in Arbeit und Pflichterfüllung. Ein junges Leben, das für sich und andere hätte Nutzen bringend zugebracht werden können, wenn das Streben nach Wissen, wenn all die edlen Regungen des Herzens gefördert und in richtige Bahnen geleitet worden wären, mußte elend und nutzlos vergehen.


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