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8. Kapitel. Wie es Professors Zwillingen weiter in der Waldschule erging

Nach Beendigung des Zeichenunterrichts war Arbeitsstunde. Die Aufgaben wurden draußen in der Waldschule angefertigt. Häusliche Arbeiten gab es nicht. Die nette junge Lehrerin, Fräulein Ludwig, beaufsichtigte die Arbeitsstunde, daß nicht geschwatzt, daß kein Unfug getrieben wurde oder daß gar einer von dem anderen abschrieb.

Professors Zwillinge nahmen ihre Aufgabenbücher vor.

»Erst Rechnen, Suse.« Sie waren daran gewöhnt, ihre Arbeiten gemeinsam zu machen. Wobei der begabte Herbert der etwas verträumten Schwester eine große Hilfe war. »Also ein Ganzes geteilt durch zwei, das macht?« flüsterte er.

»Das macht – das macht?« Suse hatte längst vergessen, wie die Aufgabe lautete.

»Paß auf, Suse, träume nicht. Ein Ganzes durch zwei macht einhalb. Hast du's hingeschrieben, ja? Schön, dann kommt die zweite Aufgabe: einhalb geteilt durch zwei?«

»Macht ein Ganzes.«

»Quatsch! Du schläfst ja mit offenen Augen. Wenn ein Ganzes geteilt durch zwei einhalb ist, kann doch ein Halbes geteilt durch zwei nicht wieder ein Ganzes sein. Ein Ganzes ist ein Halbes mal zwei, verstanden?« ereiferte sich der Bruder.

»Nee«, sagte Suse, denn ihr wurde von all den Ganzen und Halben ganz drieselig im Kopf.

Die Lehrerin klopfte auf den Tisch. »Was ist denn das da hinten für eine Privatunterhaltung? Ich muß wohl einen der Zwillinge hier nach vorn setzen, wie? In Kompanie wird nicht gearbeitet.«

Da fuhren die braunen Kinderköpfe erschreckt auseinander. Jedes beschäftigte sich mit seinem eigenen Heft. Herbert, indem er weniger sorgsam als schnell die Rechenaufgaben löste und niederschrieb. Suse, indem sie ihr Löschblatt mit Püppchen, Hühnern und Mistkäfern bemalte.

»Bist du fertig, Suse?« flüsterte Herbert hinter seinem Taschentuch, mit dem er sich gerade die Nase putzte.

Suse schüttelte den Kopf und machte ein verzweifeltes Gesicht. Sie hatte sich bisher immer auf den Bruder verlassen. Das konnte hier ja nett werden.

»Warte, ich helfe dir«, erklang es trostreich hinter dem Schnupftuch. In der Tat fühlte Herbert als Suses Zwilling durchaus die Verantwortung für die Richtigkeit ihrer Schulaufgaben. Auf sein Löschblatt schrieb er die Lösungen nieder und schob es der Schwester unauffällig zu.

Ganz unauffällig. Aber zwei Augen, welche die Zwillinge beobachteten, hatten es doch bemerkt. Ein spitzer Zeigefinger bohrte sich plötzlich in die Luft. »Fräulein – Fräulein Ludwig!«

»Ja, Alma, was willst du denn?«

»Die neuen Zwillinge mogeln – ich hab's deutlich gesehen.«

»Olle Petze!« erklang es laut im Brustton der Überzeugung von Herberts Lippen durch die Klasse.

»Pfui, Alma, wie häßlich, die Angeberin zu spielen! Wolltet ihr mich in der Tat täuschen?« wandte sich Fräulein Ludwig in ihrer freundlichen Art an die beiden kleinen Sünder.

Herbert schüttelte lebhaft den Kopf. Nein, das war ihm nicht im Traume eingefallen, das nette Fräulein Ludwig zu hintergehen. Nur der Suse wollte er gern helfen. Er hatte es sich, wie das ja manchmal der Fall ist, gar nicht klargemacht, daß er damit eine Täuschung an dem Lehrer beging.

»Nun, ich glaube euch«, sagte Fräulein Ludwig gütig. »Ich habe trotzdem Vertrauen zu euch. Darum setze ich euch nicht auseinander. Ich bin davon überzeugt, daß ihr mein Vertrauen nicht mißbrauchen werdet. Wenn ihr etwas nicht versteht, dürft ihr mich fragen. Ich erkläre es euch gern. Ja, wollen wir es so halten?«

Da nickten sie beide erleichtert. Suse zerknüllte das ihr von Herbert zugesteckte Löschblatt und machte sich selbst an die Lösung. Und da sie jetzt nicht träumte und sich auch nicht auf andere verließ, kam sie merkwürdigerweise ganz gut selbst damit zustande. Kein Wort flüsterten Professors Zwillinge mehr miteinander. Kein erhaschender Blick streifte das Heft des andern. Sie setzten ihre Ehre darein, das Vertrauen, das Fräulein Ludwig ihnen schenkte, nicht zunichte zu machen.

Alma aber fand, daß die neuen Zwillinge vorgezogen wurden. Die hatten doch mindestens einen Tadel verdient.

Selbst bei den französischen Sätzen, die viel Kopfzerbrechen machten, widerstand Suse der Versuchung, sich mit dem Bruder in Verbindung zu setzen. Lieber schielte sie ein bißchen auf das Heft des vor ihr sitzenden Paulchen. Die Lehrerin hatte ihnen die in der Stunde gelernten französischen Sätze an die Tafel geschrieben. Die Kinder mußten sie ins Deutsche übersetzen und dann wieder zurück ins Französische. Das war gar nicht so einfach. Paulchen machte eine ganze Menge Fehler dabei. Und Suse schrieb sie getreulich ab. Das dumme Mädel meinte, das sei keine Täuschung. Denn sie hätte ja nur versprochen, nicht mit dem Bruder gemeinsam zu arbeiten.

Zur Naturkundenarbeit brauchte Suse keine fremde Hilfe. Es war merkwürdig, wie sie jede Einzelheit der Sumpfdotterblume behalten hatte. Ihr Interesse und ihre Liebe für Blumen ließ sie dieselben wie lebende Wesen betrachten. Der lange Stengel erschien ihr als Beine, die gelben Blütenblätter als Goldhaar und das Innere der Blume als Eingeweide. Es machte ihr gar keine Mühe, die Blume zu beschreiben. Jetzt war es der andere Zwilling, der am Federhalter kaute und nicht wußte, was er schreiben sollte. Blumen interessierten Herbert nun mal nicht. Für ihn gab es nur lebendes Getier.

Das Mittagessen nach getaner Arbeit mundete herrlich. Blasse Kinder erhielten dazu einen großen Becher Milch. Rotkohl mit Rührkartoffeln und Würstchen war gerade das Leibgericht von Professors Zwillingen. Noch besser hätte es ihnen freilich geschmeckt, wenn nicht gerade die Alma ihnen gegenüber gesessen hätte. Vor jedem Platz lagen zwei herrliche Äpfel zum Nachtisch. Blitzschnell hatte Alma einen von den ihrigen, der etwas kleiner war, gegen Suses größeren vertauscht.

»Du, was machst du da? Jetzt mogelst du wohl? Gleich tauschst du den Apfel wieder um«, verlangte Herbert, der getreue Wächter seiner Schwester, energisch.

Alma hielt krampfhaft beide Hände über ihre Äpfel gedeckt.

»Laß doch«, begütigte Suse. »Der Apfel ist ja ebenso schön.«

Aber Herbert war nicht für edles Verzichten. »Bloß weil ich nicht solche Petze sein will wie du«, sagte er schließlich.

Der Direktor betrat den Eßsaal. »Kinder, die Sonne scheint jetzt herrlich warm draußen. Ihr habt heute Liegestunde«, verkündete er.

»Och nee – wir wollen lieber Bucker spielen. Wir haben schon so lange nicht Murmeln gespielt«, ließen sich hier und da unzufriedene Stimmen hören. Aber nur ganz gedämpft, denn vor dem Herrn Direktor hatten sie alle Respekt. Da wagte auch der Keckste keine offene Widerrede.

Man stürmte zu der Kleiderablage, wo die Decken für die Liegestunde in jedem Fach bereit lagen.

»Wenn es erst warm ist, essen wir hier draußen im Freien in der überdachten Eßhalle«, erzählte Lisa Licht den Neuen.

»Und Luftklassen haben wir auch im Sommer, da ist's fein! Seht ihr da drüben überall die offenen Hallen? Das sind unsere Sommerklassen«, fügte Margot Burg hinzu.

Herrlich warm schien die Aprilsonne in die nach Süden zu offene Liegehalle. Liegestühle waren dort aufgestellt. Jedes Kind nahm den mit seiner Nummer bezeichneten Stuhl ein.

Da lagen sie nun in ihre warmen Decken eingehüllt, einer neben dem andern. Ein schneller Blick überzeugte Suse, daß Alma ihren Stuhl am anderen Ende hatte. Hurra! Neben ihr lag Margot, an Herberts Seite das blasse Paulchen. Die meisten Kinder hatten Geschichtenbücher mitgebracht und lasen. Manche machten Flechtarbeiten. Und wieder andere hielten die Augen geschlossen und besahen sich inwendig.

Professors Zwillinge hatten vorläufig viel zu viel Neues zu sehen, um zu lesen oder zu schlafen. Suse blinzelte in das Sonnengold hinaus. Die Kiefern und Tannen waren ganz eingesponnen von Goldfäden, als ob sie Weihnachtsbäume seien. Frühlingswind machte die Baumkronen erschauern, trug herben, würzigen Duft aus dem Walde herüber. Weiß gebauschte Wolken zogen eilig ihre Bahn am Himmel. Ob Mutti die wohl auch sah? Ob sie weiter zu Vater nach Italien segelten? Da waren Suses Gedanken hängengeblieben. Wie einsam es der Mutti wohl heute ohne ihre Kinder sein mochte. So ganz allein in der neuen Wohnung bei der Mittagsmahlzeit. Die weichherzige Suse, die ziemlich dicht am Wasser gebaut hatte, begann zu schlucken. Und da tropfte es auch schon aus ihren braunen Augen, rann das Näschen entlang und wurde von dem Mund als salziges Naß aufgesogen.

Herbert, der bisher die umliegenden Kameraden, dann die Wache habenden Lehrer beobachtet hatte, der bereits in dem Holzgebälk über sich ein Vogelnest entdeckt hatte, schielte plötzlich erstaunt zur Schwester hinüber. »Du, Suse, heulst du etwa?«

»I wo!« Suse wandte den Kopf zur Seite. Nur um so schneller rannen die Tränen.

»Hat dir die Alma etwas getan? Aber dann –.« Herbert schüttelte verheißungsvoll seine Rechte.

»Nee, keine Spur. Bloß –«, sie stockte.

»Na, was ist denn los?« Herbert war gewohnt, allem auf den Grund zu gehen. Und die Suse konnte kein Geheimnis vor ihrem Zwilling haben.

»Bloß – Mutti ist so allein!« schluchzte es plötzlich aus dem Liegestuhl neben ihm.

Ganz komisch ward dem Herbert zumute. So ein bißchen eng in der Kehle, so ein bißchen beklommen auf der Brust. Und dabei so ein bißchen unbehaglich gegen das, was von ihm Besitz ergreifen, seine frohe Stimmung niederdrücken wollte.

Er kämpfte als Mann dagegen an. »Unsinn«, sagte er dann mit etwas belegter Stimme. »Bubi ist ja bei ihr.«

Ja, Bubi war ja bei ihr. Und auch die Lene. Die würden der Mutti schon Gesellschaft leisten. Suses Tränenschleier zerflatterte, sie sah wieder, wie golden die Frühlingssonne schien.

Da ließ sich eine leise Stimme neben Herbert vernehmen: »Meine Mutter ist auch immer allein. Sie hat gar keinen Bubi weiter zu Hause.« Das war Paul.

»Unser Bubi ist ja ein Hund«, lachte jetzt Suse los, die Weinen und Lachen in einem Sack hatte.

Herr Fürst, der die Aufsicht führte, trat zu den Sprechenden.

»Aber wer unterhält sich denn hier so laut? Ihr wißt doch, daß keine Unterhaltung während der Liegestunde sein soll. Aha, die beiden Neuen. Die kennen gewiß noch nicht die Vorschriften unserer Waldschule. Aber du, Paul, solltest doch wissen, daß nicht gesprochen werden darf.«

Pauls blasses Gesicht wurde rot bis zu den blonden Haarwurzeln. Es kam nicht oft vor, daß er einen Verweis erhielt.

Wieder herrschte Ruhe in der Halle. Zitronenfalter, die ersten im Jahr, umgaukelten die Kinderköpfchen. Sie hielten sie wohl für Blumen. Eine Fliege surrte. Eine Spinne webte im Gebälk kunstvolles Netzwerk. Ein Huhn, das sich verlaufen, lief zwischen den Stühlen ängstlich wie in einem Irrgarten umher.

Da plötzlich ein Surren, lauter als wenn Hunderttausende von Fliegen plötzlich losbrummten. Mit einem Satz sprang Herbert von seinem Liegestuhl. Raus war er. Suse, als sein Zwilling, hinterdrein.

»Ein Luftschiff – ach nee, ein Flieger – ein Doppeldecker! Au famos!« schrie er.

Die andern Kinder folgten natürlich im Nu seinem Beispiel. Nur die beiden Lehrer nebst einigen Schlafmützen und das verlaufene Huhn blieben in der Halle zurück.

»Kinder, was soll denn das heißen, was fällt euch denn ein, auf und davon zu gehen?« rief einer der Lehrer energisch hinter ihnen her. »Luftschiffe und Flieger seht ihr doch täglich hier draußen. Deshalb darf die Ordnung nicht umgestürzt werden.«

Die jungen Ausreißer kehrten zu ihren verlassenen Lagern zurück. Professors Zwillinge dachten gar nicht daran. Suse blieb draußen, weil Herbert blieb.

»Das ist mir dadrin viel zu mopsig«, meinte er freimütig.

»Danach geht es nicht, mein Sohn. Die Liegestunde nach Tisch ist Vorschrift. Davon werdet ihr kerngesund und kugelrund.« Eigentlich konnte der Lehrer beim besten Willen nichts Schwächliches an den rosigen Kindern wahrnehmen.

»Wir spielen lieber hier draußen«, erklärte Herbert und begann mit seinem Absatz die Striche zu dem beliebten Himmelhopsspiel zu ziehen.

»Wißt ihr denn nicht, daß Schüler die Vorschrift der Schule befolgen müssen?« fragte der Lehrer ernst.

»Jetzt ist doch gar keine Schule mehr. Es ist doch schon nach Tisch. Jetzt ist Freistunde«, verkündete Herbert.

»Vorschriftsmäßige Liegestunde ist jetzt. Die Waldschule hat auch ihr Nachmittagsprogramm. Ihr könnt noch genug herumtoben. Wenn ihr Waldschulkinder bleiben wollt, müßt ihr euch den Anordnungen der Schule fügen.« Das klang so ernst, daß Herbert es doch vorzog, statt in den Himmel, lieber wieder in seinen Liegestuhl zu hopsen. Suse getreulich hinterher. Waldschulkinder wollten sie doch alle beide gern bleiben.

Lange dauerte die Ruhe nicht. Diesmal war es zur Abwechselung der andere Zwilling, der sie schreiend unterbrach: »Eine Spinne – eine Spinne!« Suse hatte vor Spinnen beinahe noch mehr Abscheu als vor Mistkäfern.

»Hat sie dich schon aufgefressen?« erkundigte sich Herbert ärgerlich, denn er schämte sich wieder mal seiner ängstlichen Schwester.

Suse traten die Tränen in die Augen, teils vor Schreck, teils, weil Herbert heute gar nicht so lieb zu ihr war wie sonst.

Aber da tat es ihm schon wieder leid. »Sie kommt ja nicht runter, Suse, sie spinnt ja da oben ihr Netz. Sieh nur, wie wunderschön solch ein feines Spinngewebe ist.« Er betrachtete das geschäftige Tier, das pfeilschnell an dem hauchfeinen Faden entlangglitt, voll Interesse. Während sein Zwilling beim besten Willen nichts Schönes daran finden konnte. Zum Glück war die Liegestunde bald um und Suse aus ihren Ängsten erlöst. Jetzt war Freistunde. Jetzt konnte man machen, was man wollte.

Eines hing denn auch sogleich an den zwischen zwei Kiefern angebrachten Schaukelringen. Die Wippe flog auf und nieder. Ein Trupp begab sich mit Schaufeln zum Buddelplatz. Der Fußball durchsauste die Luft. Eine Schar Kinder arbeitete in dem abgeteilten Garten, in dem große Gemüsebeete angelegt waren. Wieder andere zogen mit Papierdrachen aufs freie Feld, um dieselben bei dem prächtigen Frühlingswind steigen zu lassen. Die meisten aber zogen Murmeln aus Hosen- und Kleidertaschen, gruben Löcher in die Erde und begannen das beliebte »Buckerspiel«.

»Suse, da wird Murmeln gespielt. Au fein, wir spielen mit.« Herbert war, die Schwester hinter sich herziehend, sofort darunter.

»Habt ihr denn auch Bucker mitgebracht?« fragte der Größte. Es war Gerhard Burg, Margots Bruder.

»Bucker – was ist das?« entfuhr es Suse.

»Ist die dämlich – die weiß nicht mal, was Bucker sind«, flüsterten die Kinder untereinander.

»Natürlich weiß meine Suse das. Sie hat's bloß wieder vergessen«, rief Herbert rot werdend. »Zu Hause haben wir eine große Zigarrenkiste voll Bucker.«

»Ach so, die großen Murmeln heißen Bucker«, erinnerte sich nun auch Suse. »Ja, zu Hause haben wir doll viel davon.«

»Zu Hause – das kann jeder sagen. Wer keine Bucker hat, darf nicht mitspielen«, verkündete Gerhard mit erhobener Stimme.

Herbert begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Er hatte doch meistens alles Notwendige und Nützliche, also auch Murmeln, bei sich. Aber nicht mehr als zwei Bucker förderte er zutage.

»Mehr haben wir heute nicht da. Aber morgen bringen wir doll viel Bucker und Stahler mit«, versprach er.

»Schön«, erklärte sich Gerhard für die Spielgesellschaft einverstanden. Die Besitzer von solchen Kostbarkeiten, von doll viel Buckern und Stahlern durfte man nicht ausschließen.

Das Spiel begann. Die Zwillinge beteiligten sich daran, jeder mit einer Buckermurmel. Herberts Bucker traf in das »Topfloch«. Eine herrliche, große Murmel gewann er. Unglücklicherweise gehörte sie Alma, die sofort weinend Einspruch erhob. Aber die Stimmenmehrheit gab ihr nicht recht. Ihre Feindschaft wuchs.

Suse war keine gute Spielerin. Schon nach der ersten Runde war sie »bamm«, wie es in der Spielsprache heißt. Das bedeutete, daß sie weder Bucker, Stahler, noch Tonmurmeln mehr einzusetzen hatte. Folglich konnte sie nicht mehr mitspielen.

Vor Herberts Platz häuften sich Bucker und Stahler. Als guter Bruder gab er der Schwester von seinem Reichtum ab. Wieder protestierte Alma.

»Das gilt nicht, wer einmal ›bamm‹ ist, der darf nicht wieder mitspielen«.

»Aber wir sind doch Zwillinge, da gehört uns doch alles zusammen«, versuchte Herbert ihr vergeblich klarzumachen.

»Ist ganz wurscht. Die Neue darf nicht mehr mitspielen, sonst spiele ich nicht mit«, erklärte sie.

»Na, denn nicht, du Zankdeibel!« meinte Herbert gleichmütig.

Suse aber war empfindlich. »Ich will erst gar nicht mitspielen«, rief sie mit weinerlicher Stimme und lief spornstreichs davon. Wenn sie aber gedacht hatte, daß ihr Zwilling ihr folgen würde, so war das eine falsche Annahme. Herbert überlegte allerdings einen Augenblick, ob es seine Ehre oder auch seine Bruderliebe verlange, ebenfalls aufzuhören. Aber da er im Gewinn war, sah er den Grund nicht recht ein und ließ Suse laufen. Sie würde schon wiederkommen.

Suse war bis zu dem eingezäunten Garten gerannt, dort blieb sie stehen und sah betrübt zu, wie die Kinder auf den Beeten arbeiteten. Einige jäteten Unkraut aus. Andere lockerten das Erdreich. Hier wurden Erbsen gesät, dort Tomatenpflänzchen gesetzt. Ein großer Junge beschnitt die Rosenstöcke. Da war ja auch Paulchen. Er arbeitete am Gitter des Gartens, dicht neben Suse.

»Warum spielst du denn nicht Murmeln?« eröffnete Suse das Gespräch mit dem, was ihr am meisten am Herzen lag. Paul zuckte die Achsel. Sein blasses Gesicht wurde rot.

»Ich habe kein Geld, um mir Murmeln zu kaufen«, sagte er verlegen.

»Aber die sind doch so schrecklich billig. Für fünf Pfennige bekommst du schon welche.« Das zwar nicht im Reichtum, aber doch immerhin in auskömmlichen Verhältnissen aufgewachsene Kind konnte es sich gar nicht vorstellen, daß man nicht über so wenig Geld verfügen konnte.

»Für fünf Pfennige kann man sich schon zwei Schrippen kaufen«, sagte Paul statt jeder anderen Antwort.

Betreten schwieg Suse. Zum erstenmal kam ihr zum Bewußtsein, daß es Kinder gab, die es weniger gut hatten als sie. Sie wußte wohl, daß arme Leute, Bettler an die Türe kamen, denen man Brot oder fünf Pfennige reichte. Aber daß ein Schulkamerad nicht die paar Pfennige hatte, um sich Murmeln zu kaufen, nein, das war zu traurig. Mitleidig blickte Suse auf den armen Paul.

Der aber schien ganz vergnügt. Er machte mit einem Holz eine tiefe Rinne in dem noch immer feuchten Erdreich längs des Gartengitters und streute Bohnen hinein.

»Was machst du da?« erkundigte sich Suse.

»Ich säe Bohnen. Hier haben sie schöne Sonne. Die werden fein wachsen. Und Mutter wird sich freuen, wenn ich ihr erst grüne Bohnen zum Mittagbrot mitbringe.«

»Pflanze nur gleich das Hammelfleisch daneben«, scherzte Suse.

»Hammelfleisch?« Paul machte ein Gesicht, als ob sie Hummer und Kaviar gesagt hätte. »Fleisch essen wir keins. Nur am Sonntag. Aber jetzt habe ich ja das feine Essen hier draußen. Bloß –.« Er schwieg. Was brauchte er dem fremden Mädel zu sagen, daß es ihm leid tat, seiner Mutter nichts davon abgeben zu können.

Suse dachte angestrengt nach. Grüne Bohnen mit Hammelfleisch, das war durchaus kein beliebtes Essen bei Professors Zwillingen. Ja, es bedurfte immer erst dabei eines Machtwortes, daß überhaupt aufgegessen wurde. Und Paul erschien dieses stets mit Naserümpfen begrüßte Gericht als unerschwinglicher Luxus.

Das nächste Mal wollte sie sicher kein Gesicht dabei ziehen und an das arme Paulchen denken.

Wieder verging eine Zeit. Paul arbeitete. Suse guckte zu.

»Du,« begann Suse wieder, »du, Paul, ich möchte dir dabei helfen.«

»Das geht nicht. Das ist mein eigenes Beet. Das muß ich mir allein bestellen. Aber du brauchst dich bloß bei Fräulein Ludwig zu melden, wenn du im Kindergarten arbeiten willst. Dann bekommst du ein Pflegebeet. Für das mußt du sorgen. Das mußt du begießen, Unkraut ausjäten, überhaupt alles, was notwendig ist. Aber wenn du dreimal vergißt, es zu begießen, dann wird es dir weggenommen«, erzählte der Junge.

»Ich werde es nicht vergessen«, beteuerte Suse. Dabei fiel ihr ein, daß sie zu Hause recht oft etwas vergaß. Daß man sie deshalb sogar »Traumsuschen« nannte. Aber die Blumen hatte sie doch lieb. Die würde sie sicher nicht dursten lassen. »Schön, ich werde mich bei Fräulein Ludwig melden«, erklärte sie. »Aber ich will auch mein eigenes Beet haben wie du!«

»Erst mußt du eins von den Pflegebeeten übernehmen. Wenn du das gut in Ordnung hältst, bekommst du zur Belohnung ein eigenes Beet hier am Gitter. Da kannst du dann pflanzen, was du willst.«

»Sicher keine Bohnen. Bloß schöne bunte Blumen, vielleicht auch Erdbeeren und Himbeeren – – –.«

Die Vesperglocke, die zum Nachmittagskaffee rief, dröhnte in Suses Überlegungen hinein.

Die jungen Gärtner brachten Spaten und Rechen in den Geräteraum und wuschen sich die erdigen Hände. Auch die Murmelspieler, deren Hände nicht viel besser aussahen, traten zum Händewaschen an.

Bei der Vesper fand sich alles wieder zusammen. Auch Professors Zwillinge. Herbert hatte die Hosentaschen vollgestopft mit Murmeln. Ganz geschwollen sah er an beiden Seiten aus.

»Warum bist du denn fortgelaufen, Suse? Es war so fein!« empfing er sie.

»Bei mir war's noch viel feiner«, prahlte Suse. »Ich bekomme ein Pflegebeet. Ich habe mich eben bei Fräulein Ludwig gemeldet.«

»Ohne mich?« Herbert vergaß, sein Brötchen in den bereits geöffneten Mund zu stecken vor ungeheurem Staunen. »Ohne mich hast du dich gemeldet?« Er traute seinen Ohren nicht.

»Na, wenn du nicht mitkommst«, verteidigte sich Suse, trotzdem sie das peinliche Gefühl hatte, zum erstenmal eine selbständige Handlung ohne vorherige Besprechung mit ihrem zweiten Ich unternommen zu haben.

»Na denn – na denn, du treulose Tomate – –«, Herbert schnappte ein paarmal, »na denn Schuß für ewig!« O Gott, was wurde ihm das schwer, seiner Suse »Schuß« – Feindschaft für ewig – anzusagen. Aber seine Jungenehre verlangte das.

Suses Tränen flossen. Sie sah nicht, mit welchem schadenfrohen Gesicht Alma ihr gegenübersaß.

Am ersten Tage ihres Waldschuljahres gingen Professors Zwillinge nicht wie sonst miteinander heim. Herbert wanderte, lebhaft plaudernd, als kümmere er sich gar nicht um ihre Fehde, mit Gerhard und Margot. Er schielte aber doch dabei zu seinem Zwillingsschwesterchen, das einsilbig zwischen den Lichtschen Kindern heimzog.

Professors Zwillinge waren »schuß für ewig«.


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