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Es war schon spät, Annemie hatte bereits ihre sämtlichen Kinder zu Bett gebracht, und nun war es auch für sie die höchste Zeit, schlafenzugehen. Denn der Mond stand schon am Himmel. Aber das kleine Mädchen mochte davon nichts wissen. Erst wollte sie noch ganz schnell mit Irenchen beten, dann mußten Mariannchens Augen noch mit Salbe eingeschmiert werden, und schließlich hatte sie vergessen, ihrer Gerda den Gutenachtkuß zu geben.
»Annemie, wenn du jetzt nicht ganz brav bist und dich schnell ins Bett bringen läßt, gehen wir morgen nicht auf den Platz, wo die Kinder so schön Kreis spielen«, drohte das Fräulein. Das half. Denn Annemies sehnlichster Wunsch, mit dem sie Fräulein schon tagelang quälte, war, sich an den Spielen der lustig singenden Kinder beteiligen zu dürfen.
»Ich muß nur noch Mutti schnell Gutenacht sagen, Fräulein, dann bin ich gleich wieder da!«
Dies ließ sich hören. Aber an der Schwelle zum Wohnzimmer, das sie durchschreiten mußte, um ins Eßzimmer zu kommen, blieb die Kleine unschlüssig stehen.
Es war schon so dunkel darin, so schrecklich dunkel, das dumme kleine Mädchen fürchtete sich.
»Fräulein,« rief sie, zurücklaufend, »liebes, gutes einziges Fräulein, komme doch, bitte, mit mir mit.«
»Warum denn?« sagte diese. »Mußt du von hier bis ins Eßzimmer Reisegesellschaft haben?«
»Nein, aber –« die Kleine schämte sich jetzt doch ihrer dummen Furcht.
»Dann gehe nur so ins Bett«, sagte Fräulein, welche die schwache Seite der Kleinen kannte und löste ihr bereits die Haarbänder aus den Rattenschwänzchen.
»Nein, das geht doch nicht,« ereiferte sich Nesthäkchen, »wenn man seiner Mutti keinen Gutenachtkuß gegeben hat, kann man überhaupt nicht einschlafen – nicht wahr, Gerda?« Annemie trat an ihr Gitterbett. Aber Gerda hatte die Augen bereits fest geschlossen und antwortete nicht mehr.
»Bitte, liebes, allerbestes Fräulein, geh doch mit mir mit«, bat die kleine Schmeichelkatze aufs neue, kletterte auf den Stuhl, schlang die Arme um Fräuleins Hals und schmiegte ihr süßes Gesichtchen an Fräuleins Wange.
Da war es schwer, Klein-Annemarie etwas abzuschlagen.
»So sag' wenigstens, warum du nicht allein gehen willst«, verlangte Fräulein.
»Es ist so gräßlich dunkel im Wohnzimmer und – ich graule mich so toll!« gestand das Angsthäschen.
»Du graulst dich – ja, aber vor wem denn bloß?«
»Vor – vor – Klaus könnte am Ende wieder als Rotkäppchen-Wolf hinter einem Sessel sitzen und mir Angst machen.«
Fräulein öffnete die Tür zum Jungenzimmer.
»Klaus sitzt hier ganz artig bei seinem Abendbrot, siehst du, der denkt gar nicht daran, dir einen Schreck einzujagen. Du kannst ruhig gehen, Annemie, zeige, daß du ein großes, verständiges Mädel bist.«
Aber Annemie wollte nicht groß und verständig sein. Fräulein sollte lieber mitkommen.
»Denn am Ende – am Ende ist der schwarze Mann drin im Wohnzimmer!« flüsterte die Kleine scheu und verbarg das Gesicht hinter den Händchen.
»Aber Annemie« – jetzt wurde Fräulein wirklich böse – »wie kommst du denn auf solchen Unsinn! Es gibt keinen schwarzen Mann!«
»Nein, bloß einen braunen!« gab Nesthäkchen bereitwilligst zu.
»Auch keinen braunen, du Dummchen; woher hast du denn nur diesen Unfug?«
»Frida hat es doch gesagt – neulich, als du abends im Theater warst, Fräulein, und ich gar nicht einschlafen wollte, sondern immerzu im Bett mit Gerda umhertobte, da drohte sie mir: ›Der schwarze Mann kommt!‹ Er wäre schon im Wohnzimmer, sagte sie.«
»Das ist sehr unrecht von Frida, dir sowas vorzureden, aber von meiner kleinen Annemie ist es ebenso unrecht, solch dummes Zeug zu glauben. Du weißt doch, daß der liebe Gott überall bei dir ist und dich beschützt.«
»Ja, aber vielleicht hat er an dem Abend schon geschlafen.«
»Der liebe Gott schläft nie, der beschirmt die Menschen auch in der Nacht, Herzchen.«
»Kommt denn der Sandmann gar nicht zum lieben Gott?«
»Nein, Kind.« Fräulein mußte lächeln.
»Na, da möchte ich auch lieber Gott sein und niemals abends in das olle Bett gehen müssen!« sagte Nesthäkchen mit einem tiefen Seufzer.
Aber sie hatte es doch durchgesetzt, daß Fräulein ein Licht anzündete, um dem dummen, kleinen Mädchen zu beweisen, daß es im Wohnzimmer nichts, aber auch rein gar nichts gab, wovor man sich fürchten konnte. Und nachdem Annemie nun endlich ihren Gutenachtkuß von Mutti erhalten hatte, und in ihrem Bettchen lag, da war sie doch eigentlich schrecklich froh, daß sie nicht der liebe Gott war und die ganze Nacht auf die vielen, vielen Menschen aufpassen mußte. Denn die Augen fielen ihr fast zu, so müde war sie.
Am nächsten Tage ging Fräulein mit der Kleinen auf den Spielplatz, wo die Kinder Kreis zu spielen pflegten, wie sie es versprochen. Nachdem sie sich noch überzeugt hatte, daß keins von den singenden Kleinen irgendwie verdächtig hustete, bekam Annemie endlich die Erlaubnis, teilzunehmen.
»Frag' du, ob sie mich mitspielen lassen wollen, Fräulein«, bat sie schüchtern.
»Nein, Kind, du hast ja selbst einen Mund, wenn du Lust hast, mitzuspielen, mußt du auch allein darum bitten.«
»Ich schoniere mich so«, flüsterte Annemie und senkte den Blondkopf fast bis zur Erde.
»Du brauchst dich nicht zu genieren,« verbesserte Fräulein, »geh nur, Herzchen.«
Aber dazu konnte sich Annemie nicht entschließen. Sie stand mit ihrer Gerda dicht neben dem herumhopsenden Kreis, und alle beide machten sie sehnsüchtige Augen. Man sang gerade »Es ging ein Bauer ins Holz«. Ach, wie gern wären die zwei auch das »Kürbisweib« gewesen, oder wenigstens Knecht oder Peitsche.
Doch, als jetzt gespielt wurde »Wollt ihr wissen, wie der Bauer«, da fand Annemie das so wunderschön, daß sie ihre Schüchternheit überwand.
»Du, darf ich vielleicht mitspielen?« fragte sie, rot werdend ein Kind, das ihr zunächst stand.
Das aber sang, statt zu antworten, mit plärrender Stimme: »Sehet so – so fährt der Bauer, sehet so – so fährt der Bauer, sehet so – so – fährt der Bauer seine Garben vom Feld.« Und dann fuhren sie alle als Erntewagen im Kreise umher, und fuhren die sehnsüchtig danebenstehende Annemarie sogar über.
»Au!« schrie diese, rieb sich ihr getretenes Füßchen und fing an zu weinen. Aber sie weinte nicht vor Schmerz, sondern weil man sie nicht mitspielen ließ.
Da wurde ein größeres Mädchen auf das weinende kleine Ding aufmerksam.
»Komm, weine nicht, Kleine,« sagte sie tröstend, »spiele lieber mit uns«, und sie nahm Annemie an die Hand.
Die strahlte, trotzdem ihr noch immer die Tränen über die Bäckchen kullerten, sofort vor Glückseligkeit. Mit der rechten Hand faßte sie das nette Mädchen an, mit der linken Puppe Gerda, die ihre Hand wiederum einem kleinen Jungen reichte, der ebenso dick wie lang war.
So ging es ausgelassen im Kreise umher, während sie sangen: »Wenn wir fahren auf der See, wo die Fischchen schwimmen ...«
Annemarie war Goldfisch, und Gerda war Tintenfisch. Aber als der Tintenfisch jetzt den anderen Fischlein folgen und die Vorihrgehende hinten am Kleid anfassen sollte, da zeigte es sich, daß Gerda noch zu dumm dazu war. Annemie nahm sie auf den Arm und sagte entschuldigend: »Die Kleine ist noch nicht mal ein Jahr alt, es ist nämlich mein Nesthäkchen!«
Und als man darauf die traurige Geschichte von »Mariechen saß auf einem Stein« spielte, hatte die dumme Gerda Angst, daß sie mit Mariechen zusammen totgeschossen wurde. Sie war froh, daß ihre kleine Mama sie bei dem gefährlichen Spiel »Katze und Maus«, was dann vorgenommen wurde, zu Fräulein in Sicherheit brachte.
Freilich, als sie sah, wie vergnügt die Kinder später »Lange, lange Leinewand« und »Vogelverkauf« spielten, wie sie »Ziehe durch, ziehe durch – durch die goldene Brücke« sangen, da wäre Puppe Gerda für ihr Leben gern mit durch die goldene Brücke gezogen. Aber ihr Puppenmütterchen schien sie ganz vergessen zu haben. Das war jetzt nicht mehr schüchtern, sondern jubelte und juchzte mit am seligsten von allen.
Aber mit einemmal erschien Annemie wieder bei Fräulein und Gerda an der Bank. Sie machte ein ängstliches Gesicht und wollte nicht mehr mitspielen.
»Hast du dich mit jemand gezankt?« erkundigte sich Fräulein, der die Sache nicht ganz geheuer vorkam.
»Ach wo,« beteuerte Annemie, »mir ist bloß so heiß«. Sie zog ihr kleines Taschentuch vor und fächelte sich Kühlung zu.
Da schallte es jauchzend von dem Kinderchor herüber: »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?« – »Nicht für 'n roten Heller!« Nun wußte Fräulein gleich, was die Glocke geschlagen hatte.
»Ei, Annemie,« sagte sie bedeutungsvoll, »du fürchtest dich doch nicht etwa noch immer vorm schwarzen Mann, daß du nicht mitspielen magst?«
Die Kleine schwieg verlegen. Puppe Gerda aber dachte höchst respektlos: »Meine kleine Mama ist noch zehnmal dämlicher als ich!«
»Du weißt doch jetzt, daß es gar keinen schwarzen Mann gibt, Annemie?« fragte Fräulein wieder.
»Na – warum spielen denn die dummen Jören es denn, wenn es keinen gibt?« stieß das kleine Mädchen unbehaglich heraus.
»Es ist eben nur ein Spiel, Herzchen, eine goldene Brücke gibt es ja auch nicht, und Leinewand, die Beine hat und von allein wegläuft, noch viel weniger. Spiele nur ruhig mit, dann wirst du sehen, wie hübsch das Spiel ist, und daß mein kleines Dummchen davor nicht bange zu sein braucht.«
Annemie zögerte noch ein wenig. Als der Jubel der Kinder aber noch immer mehr stieg, da stellte sie sich wieder ein. Doch als Schutz nahm sie sich jedenfalls Puppe Gerda mit.
Bald klang die Stimme von Doktor Brauns Nesthäkchen am allerkecksten aus dem Kinderchor: »Nicht für 'n roten Heller!« Nein, Annemie fürchtete sich jetzt »nicht für 'n roten Heller« mehr vor dem schwarzen Mann – und Gerda schon lange nicht.
So fein war es noch nie im Tiergarten gewesen wie heute. Aber alles hat mal ein Ende, und schließlich auch ein Vormittag. Ein Kind nach dem anderen nahm Abschied, und auch Annemie gab jedem die Hand und versprach, morgen wiederzukommen.
»Nicht wahr, Fräulein, wir gehen doch morgen wieder her?« bat sie auf dem Heimweg.
»Freilich, wenn du heute brav bist«, versprach Fräulein.
Da gab sich Annemie Mühe, ganz musterhaft artig zu sein, denn sie wollte zu gern wieder mit den Kindern spielen.
Als Fräulein am Nachmittag einen Geburtstagsbrief an ihre Mutter schrieb, ging Annemie in ihrer musterhaften Artigkeit lieber aus der Kinderstube, um Fräulein nur ja nicht zu stören. Bei Hanne in der Küche war es auch sehr hübsch. Sämtliche Puppen nahm die Kleine mit sich, daß nur keine bei Fräulein drin Lärm machte, vor allem der wilde Kurt.
»Freuen Sie sich, Hanne, daß wir Sie ein bißchen besuchen?« fragte Nesthäkchen und hielt ihren Einzug in der Küche mit Kind und Kegel.
»Na ob!« Hanne lachte über das ganze rote Gesicht und scheuerte weiter ihre Töpfe.
Aber als sie sich nach einem Weilchen wieder umschaute, weil Annemie sich geradezu beängstigend artig und ruhig verhielt, da lachte sie nicht mehr.
Herrjeh – wie sah ihre schöne saubere Küche aus!
Den ganzen Sandkasten hatte der kleine Besuch auf die Fliesen geschüttet und sämtliche Kinder hineingesetzt. Mit einem Löffel und einem kleinen Topf backten sie dort nach Herzenslust Kuchen.
»Wir sind nämlich hier im Tiergarten, Hanne, auf dem Sandspielplatz!« erklärte die Kleine schnell, als sie das entsetzte Gesicht der Köchin sah. Schimpfte sie auch nicht?
Nein, die gute Hanne hatte Nesthäkchen viel zu lieb, um böse zu sein. Sie fegte nur den verstreuten Sand zusammen und meinte: »Weißt du was, Annemiechen, spiele lieber was anderes.«
Damit war das kleine Mädchen auch einverstanden, denn es wollte ja heute musterhaft artig sein. Nun wurden Hanne zum Dank, daß sie nicht geschimpft hatte, in Gemeinschaft mit den Puppen all die schönen Spiele vorgeführt, die Annemie heute im Tiergarten gespielt hatte.
Leider stellten die Puppen sich recht dumm dabei an. Auch zankten sie sich miteinander. Kurt mochte Irenchen nicht anfassen, und Lolo wollte durchaus »Mariechen auf dem Stein« sein und sich ihr goldenes Haar kämmen, trotzdem sie doch schwarze Negerhaare hatte. Mariannchen stolperte über ihre eigenen Füße und schlug sich eine Beule an der Stirn. Da machte Annemie kurzen Prozeß und setzte die Puppen als Zuschauer auf den Küchenschrank. Nur Gerda durfte mit ihr Vorstellung geben.
»Hanne, haben Sie etwa Angst vorm schwarzen Mann?« fragte Nesthäkchen vorsorglich, ehe sie an das schönste Spiel ging.
»I bewahre«, schmunzelte Hanne.
»Na, wir auch nicht, nicht wahr, Gerdachen?«
»Und mit schallender Stimme, daß alle Töpfe wackelten, ertönte es: »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?« – »Nicht für 'n roten Heller!«
Es klingelte an der Hintertür.
Aber bei ihrem begeisterten Sang hatte die Kleine es überhört. Erst als Hanne öffnen ging, kam Nesthäkchen neugierig näher.
»Hu – der schwarze Mann!« Laut aufkreischend vor Schreck fuhr die Kleine zurück und verkroch sich in die entfernteste Ecke.
Ja, da stand er, der schwarze Mann, eine Leiter auf der Schulter und einen Besen in der Hand.
»Morgen wird gefegt!« rief er mit lauter Stimme. Aber als er die Furcht des dummen kleinen Mädchens sah, da lachte er, daß die weißen Zähne in dem schwarzen Gesicht blitzten.
»Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, Kleine?« fragte er gutmütig.
Und Annemie, die eben noch so keck »nicht für 'n roten Heller!« gesungen hatte, verbarg zitternd das Gesicht hinter der Schürze.
»Du Dummerchen, das ist doch bloß der Schornsteinfeger!« beruhigte die gute Hanne sie.
Da nahm Annemie endlich die Schürze vom Gesicht, doch sie schielte noch immer mißtrauisch zu dem schwarzen Mann hin.
Die Puppen aber saßen auf dem Küchenschrank und lachten ihre dumme kleine Mama tüchtig aus.