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Kinderhirtin.

Durch die Türspalte fiel ein winziger Lichtstreif. Er zitterte golden über den Fußboden des bereits verdunkelten Zimmers, huschte über die roten Pantöffelchen der sanft schnarchenden Ruth, lief eilig bis zu dem Bett an der gegenüberliegenden Wand und hängte sich an krause Stirnlöckchen. Dort hob sich ein brauner Kopf vom Kissen. Jemand spitzte die Ohren. Es war aber auch zu aufregend, was da durch die nicht völlig geschlossene Tür zu der jungen Horcherin drang. Handelte es sich doch um ihre eigene Zukunft, über welche die Eltern im Nebenzimmer berieten.

»Am liebsten würde ich die Anni zu meinem Freund Wille ins Bankgeschäft geben«, hörte sie den Vater sagen. »Er ist Vorsteher einer Depositenkasse der Deutschen Bank und beschäftigt unter seinen Beamten auch mehrere junge Mädchen. Dort würde sie was lernen, vor allem pünktlich ihre Pflicht zu tun und ihre eigene Person dem Ernst der Arbeit unterzuordnen.«

»Nein, bloß nicht – aus dem Bankgeschäft laufe ich davon!« wollte die mit Herzklopfen lauschende Anni dazwischen rufen. Aber rechtzeitig legte sie noch die Hand auf den vorschnellen Mund. Aus war's dann sicher, die Tür wurde geschlossen und die Beratung der Eltern war gewiß zu Ende. Dann erfuhr sie nichts mehr.

Da hörte sie schon Muttchens Stimme sich ihrer annehmen. »Warum willst du unsere Anni, welcher der Lebensweg durch ein nettes Talent vorgezeichnet ist, nicht ihren Neigungen folgen lassen, Paul? Ich glaube nicht, daß sie zur Bankbeamtin, die ganz besonders zuverlässig sein muß, paßt.«

Ja, Muttchen war doch die beste!

»Sowenig oder soviel wie zu jeder anderen ernsten Tätigkeit. Das ist's ja eben. Alles ist spielerisch und oberflächlich bei Anni. Es ist ihr alles stets zu leicht geworden. In der Schule war sie ohne jede Anstrengung immer eine der Besten. Aber gehst du der Sache mal auf den Grund, so sitzt nichts fest. Zu einem Ohr hinein, zum anderen hinaus. Die reelle Gründlichkeit, der Ernst des Pflichtbewußtseins fehlt ihr noch völlig.«

So, Anni, da hast du dein Fett – so ergeht es dem Horcher an der Wand.

Heiß war es dem jungen Mädchen bei der schonungslosen Kritik des Vaters in die Augen geschossen. War sie denn wirklich solch ein oberflächliches Ding?

Da war wieder Mutters liebe Stimme. »Mein Himmel, mit sechzehn Jahren waren wir wohl alle noch nicht vom Lebensernst durchdrungen, Paul. Gott sei Dank, daß es so ist. Du kannst doch unserem Mädel keinen Vorwurf daraus machen, daß es einen offenen Kopf hat und alles spielend lernt. Wenn Anni erst für den eigenen Beruf arbeitet, wird sie schon gründlicher werden«, begütigte die Mutter.

»Das Bankfach wäre die beste Schule für sie zur Gründlichkeit und Zuverlässigkeit. Da könnte sie ohne Vorbereitung sogleich als Banklehrling eintreten; und nebenbei verdient sie sich noch ein hübsches Taschengeld. Die Ausbildung zur Kunstgewerblerin ist ziemlich kostspielig, wenigstens für einen Beamten, wie ich es bin. Die Zeiten sind so schwer, daß man daran denken muß, seine Kinder so schnell wie möglich selbständig zu machen«, schloß der Landgerichtsrat mit Nachdruck.

»Gewiß, da hast du ganz recht, Paul. Nur glaube ich, daß Anni durch Ausbildung ihres Zeichentalentes bessere Aussichten für ihre Zukunft hat. Das Kunstgewerbe hat im letzten Jahrzehnt einen starken Aufschwung genommen. Und wenn man mit Lust und Liebe bei seiner Arbeit ist, so ist das doch mehr wert als Zwangsarbeit. Die Ruth kannst du mal später in einen kaufmännischen Beruf stecken. Die ist praktisch und tüchtig.«

»Ruth wird sich überall als tüchtig erweisen und ihren Platz ausfüllen, trotzdem sie lange nicht so begabt ist wie unsere Große. Ist sie dir nicht heute schon mit ihren dreizehn Jahren im Haushalt eine bessere Hilfe als Anni? Kümmert sie sich trotz der Schularbeiten nicht viel mehr um die Kleinen, als die große Schwester? Es behagt mir gar nicht, daß Anni das Sommerhalbjahr feiert und dem lieben Gott die Zeit fortstiehlt. Gleich nach dem Schulabgang wieder in eine feste, geregelte Tätigkeit, daß die Mädel keine Zeit haben, an dummes Zeug, an Putz und Vergnügen zu denken, das ist mein Prinzip.«

»Anni war ziemlich bleichsüchtig, als sie Ostern von der Schule abging. Zu Oktober beginnt der kunstgewerbliche Jahreskursus. Da war es doch das beste, daß sie ein halbes Jahr lang pausierte und sich inzwischen in der Wirtschaft betätigte.« Mutters sanfte Art verstand es stets, den leicht erregbaren Vater zu besänftigen.

»Na ja, wenn sie nur was in der Wirtschaft anfassen würde«, brummte er. »Aber da ist bald Tennis, bald Schwimmen und bald eine Wanderfahrt mit den Freundinnen. Und die Pflicht kommt dabei zu kurz.« Der Landgerichtsrat Weber war selbst ein so pflichteifriger Beamter, daß er auch von seinen Kindern straffe Pflichterfüllung verlangte.

»Du lieber Pedant«, scherzte die Mutter. Ohne es zu sehen, wußte Anni, daß sie dem Vater jetzt liebevoll über die sich lichtenden Haare strich. »Anni wird ihren Weg schon gehen und ihr Pfund nicht vergraben. Sie ist ja unsere Tochter. Nun haben wir als Eltern die Pflicht, sie auf den richtigen Platz zu stellen. Ich verspreche dir, das Mädel bis zu Beginn der Kunstgewerbeschule tüchtig in der Wirtschaft heranzunehmen, Paul.« Damit verstummte das Gespräch.

Der schmale Lichtstreif, der aus dem Nebenzimmer drang, huschte über ein tränenfeuchtes Mädchengesicht. Ja, warum heulte denn die Anni bloß? Hatte sie doch allen Grund, sich zu freuen und zu frohlocken, daß Mutter ihre Sache so beredt durchgefochten hatte. Daß ihr Wunsch, zu Oktober die Kunstgewerbeschule besuchen zu dürfen, sich nun aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllen sollte. Und trotzdem Tränen? War Annis Gewissen wachgerüttelt worden, waren es Tränen der Einsicht, der Reue?

Eigentlich nicht. Die salzige Flut, die sich über das Kopfkissen ergoß, hatte seine Quelle in verletztem Stolz. In ihrem nun bald siebzehnjährigen Leben hatte das junge Mädchen fast nur Angenehmes erfahren. Jeder war Anni freundlich entgegengekommen, denn ihre liebenswürdige Art nahm für sie ein. Die Lehrer und Lehrerinnen mochten das nette, begabte Mädel gern, bei den Freundinnen war sie tonangebend. Auch daheim die Mutter verzog ihre hübsche Älteste, die allgemein beliebt war. Sogar die kleineren Geschwister, die sie öfters tyrannisierte, hingen mit Liebe an ihr. Nur der Vater hatte ab und zu etwas an ihr auszusetzen.

Vater hat eben kein Verständnis für meine Art. Vater ist zu pedantisch als Jurist, dachte das unreife Mädel, in die Kissen hineinschluchzend. Aber ich will es ihm schon beweisen, daß ich ebenso gewissenhaft bin wie Ruth – mit solcher Göre von dreizehn Jahren werde ich es doch noch aufnehmen können. Und Geld will ich verdienen, viel Geld, daß ich nicht um jede Bahnkarte zur Elektrischen, um jedes Theater- oder Konzertbillett erst zu betteln brauche. Man muß sich unabhängig machen.

Und während die weinende Anni sich den Kopf zerbrach, auf welche Weise eine derartige Unabhängigkeit am schnellsten zu erreichen sei, entführte sie ein lachender kleiner Traumgott in ein Land, wo es weder Elektrische noch Theaterbillette gab.

Am nächsten Morgen hatte Annis leichtes Temperament die nächtlichen Schmerzen bereits überwunden. Wenn die Sonne scheint, sieht alles ganz anders aus, und selbst das Düsterste erhellt sich. Und die liebe Sonne schien heute ganz besonders strahlend. Hurra – das würde ein feiner Tennisvormittag werden!

Ruth und Erwin waren bereits in der Schule, als Landgerichtsrats Älteste am Kaffeetisch erschien. Denn Frühaufstehen gehörte nicht gerade zu Annis Liebhabereien. Sie mußte doch ihre goldene Freiheit nach zehnjährigem Schulzwang genießen.

Mutter war schon über eine Stunde in der Wirtschaft tätig, Vater bereits im Amt. Das war Anni recht angenehm. Denn nach dem gestrigen kalten Wasserstrahl, den Vaters Worte über die unfreiwillige Lauscherin ergossen hatte, wäre es immerhin etwas peinlich gewesen, daß der Zeiger des Regulators bereits stark auf neun rückte.

Nesthäkchen, das noch nicht vierjährige Kurtchen, war damit beschäftigt, aus den Lederstühlen des Speisezimmers eine Hochbahn zweiter Klasse zu konstruieren. Es war empört, daß die große Schwester einen seiner Waggons als Sitzplatz für sich in Beschlag nahm.

»Nee – das deht niss. Denn trink defällist im Tehen Taffee. Meine Hochbahn darf niss taputt demacht werden, sonst ssimpft der Herr Szaffner.« Vergeblich versuchten die kleinen Fäuste, die große Schwester von dem ihr nicht zukommenden Sitz herunterzuschieben.

Nun wäre es sicher ein leichtes gewesen, das erregte Kerlchen zu beruhigen. Wäre Anni auf sein Spiel eingegangen, hätte sie beim »Herrn Szaffner« eine Fahrkarte gelöst, so wäre der Kleine selig gewesen, einen Fahrgast in seiner Hochbahn zu haben, und sie hätte in aller Gemütsruhe Kaffee trinken können. Statt dessen aber machte sie sich unsanft von den vergeblich schiebenden und stoßenden Händchen frei.

»Dummer Bengel, laß mich in Frieden. Ich möchte meinen Kaffee in Ruhe trinken. Spät genug ist es doch wohl dazu. Und kalt ist der Kaffee noch obendrein.«

Kurtchens Geheul lockte die Mutter herbei. Sie hörte Annis letzte Worte noch gerade.

»Wem mißt du denn die Schuld daran bei, Anni? Wenn du erst um neun Uhr zu erscheinen geruhst, trotzdem wir heute, wie du wohl weißt, Vaters Zimmer reinmachen, darfst du dich nicht wundern, wenn das Frühstück inzwischen kalt geworden ist.« Es klang ärgerlicher als sonst. Das war sicher der Erfolg der gestrigen elterlichen Unterredung.

Anni unterdrückte ein ungehöriges »bei uns wird ja immer reingemacht« und goß eilig den kalten Kaffee hinunter. Die gründliche Reinigung von Vaters Zimmer bedeutete von jeher einen aufregenden Tag für das ganze Haus. Denn der Herr Landgerichtsrat durfte nichts davon merken. Er teilte die Abneigung seiner Tochter gegen die Scheuerfluten. Wenn er mittags vom Gericht heimkam, mußte alles wieder in tadelloser Ordnung sein. Sein Heiligtum, den Schreibtisch, betrachtete Mutter als ihr Spezialarbeitsfeld. Keine fremde Hand durfte sich daran wagen. Wenn Akten verlegt waren oder wenn der Landgerichtsrat nach irgendeinem Blättchen suchen mußte, konnte er ungemütlich werden.

»Du kannst eine Mandel Kohlrabi holen, Anni. Nimm den Kleinen mit, daß er an die Luft kommt. Und Haferflockensuppe setze nachher auf und richte den Kohlrabi zu. Du hast es ja neulich schon unter meiner Aufsicht getan. Du mußt dich heute um die Küche kümmern. Minna brauche ich, daß wir bis Tisch mit Vaters Zimmer fertig werden.«

Die geschäftig davoneilende Mutter sah zum Glück die mißmutige Miene des jungen Mädchens nicht mehr. Was – Küchenschnudel sollte sie heute sein, wo Tennistag war und wo die Sonne so verlockend schien? Das konnte doch kein Mensch von ihr verlangen. Aber wohlweislich hielt Anni vorläufig noch mit ihren Wünschen zurück. Flink alles erledigen, dann konnte Mutter unmöglich etwas dagegen haben, daß sie nachher zum Tennis ging. Dumm, daß sie Kurtchen mitschleppen mußte. Da ging es nur halb so schnell, denn der Kleine mußte jedes Schaufenster eingehend betrachten. Aber ihn daheim lassen, das ging nicht an. Ihr kleiner Kavalier hatte bereits sein Schurzfell herabgerissen und angelte nun begehrlich nach dem am Haken hängenden Strohhut. Vergessen war sein Kummer von vorhin.

»Fein, daß de miss mitnimmst, Annissen. Und wenn de wieder artig bist, darfste nachher auch mit meine Hochbahn fahren«, versprach er bereitwillig. Sein großmütiges Versprechen machte wenig Eindruck auf Anni. Die achtete kaum auf die putzige Unterhaltung des kleinen Bruders. Die zog ihn, so schnell die Beinchen mittraben konnten, ins Gemüsegeschäft, vorüber an dem verlockenden Konfitürenschaufenster, an dem Kurtchen durchaus haltmachen wollte.

»Is sa ssreckliss, niss mal die ssönen Szotoladenzidarren tann man siss ansehen!« räsonierte der kleine Wicht.

Anni nahm wenig Rücksicht auf seinen Unmut. Sie handelte ihr Gemüse ein, vergaß in der Eile, daß sie der Frau einen großen Geldschein gegeben hatte, auf den sie noch Geld heraus bekam und hätte spornstreichs den Laden verlassen, wenn die Verkäuferin nicht so ehrlich gewesen wäre, hinter ihr her zu rufen:

»Pst, Fräuleinchen – Se scheinen ja Ihr Jeld ordentlich iebrig zu haben – wollen Se nichts mehr raus kriejen?«

Errötend machte Anni ihr Versehen gut. Na ja, das kam davon, wenn man sich so abhetzen mußte. Als ob die Mutter das von ihr verlangt hätte. Und plötzlich meldete sich ein lästiger Gedanke. »Das Bankgeschäft ist die beste Schule für sie zur Gründlichkeit und Zuverlässigkeit« – deutlich hörte Anni wieder Vaters Stimme. Na, das wäre ja famos, wenn sie in ein Bankgeschäft käme und dort mit anvertrauten Geldern so leichtfertig umginge wie soeben. Anni fühlte, daß der Vater recht hatte mit seinen Worten. Sie war wirklich nicht zuverlässig. »Ich bin eben keine Krämerseele, ich habe Künstlerblut in mir«, beschönigte sie ihren Fehler.

Kurtchens Hoffnung, auf dem Rückweg die »ssönen Szotoladenzidarren« eingehender bewundern zu können, erfüllten sich nicht. Die große Schwester zerrte ihn unbarmherzig weiter, aller Bitten und allen Bettelns ungeachtet. Kurtchen, ein kleiner Eigensinn, warf sich schreiend der Länge nach auf die Straße und war nicht zum Weitergehen zu bewegen.

»Abscheulicher Bengel!« Anni knuffte ihn aufmunternd. Sie schämte sich entsetzlich vor dem Kreise Neugieriger, der sich um sie sammelte.

»Pseulisser Bengel – so'n lieber Sunne!« weinte Kurtchen voll innigen Mitgefühls mit sich selbst.

Dies fand Anni nun weniger. Sie lud den »lieben Jungen« kurz entschlossen zu ihrem Kohlrabi auf den Arm und eilte mit ihm heim.

»Brüll' doch nicht so doll, Kurtchen, das Haus läuft ja zusammen – hör auf, ich schenke dir auch was.« Mit Recht fürchtete Anni, daß das Zetergeschrei, wenn es erst mal bis zu Mutters Ohr gelangt war, das beabsichtigte Tennisspiel in Gefahr bringen könnte.

»Was ssenste mir denn – Szotoladenzidarren?« Das Gebrüll machte für Sekunden sanfteren Tönen Platz, aber nur um mit erneuten Kräften wieder einzusetzen, da Anni ob solcher anspruchsvollen Wünsche energisch den Kopf schüttelte.

»Still – ruhig – schscht – also meinetwegen – na ja, du sollst sie ja haben, halte bloß schon den Schnabel.« Anni war in Verzweiflung. Kurtchens Stimme konnte Mauern erschüttern.

Die Verwandlung von schmerzlichster Verzweiflung zu seligstem Glücke, die das Kindergesicht im Nu durchmachte, war reizend anzusehen. Aber Anni hatte gar keinen Blick dafür. Die war froh, daß der Schreihals endlich Ruhe gab und daß sie sich daheim nun schnell der lästigen aufgetragenen Pflichten entledigen konnte.

Hut und Mantel flogen auf den ersten besten Stuhl, Kurtchens daneben auf die Erde. Zum Forträumen war noch nachher Zeit. Flink erst das Essen in Gang bringen. Anni war nicht ungewandt für ihre sechzehn Jahre. Wenn sie mit Ruhe und Überlegung zu Werke gegangen wäre, hätte sie gewiß alles zur Zufriedenheit der Mutter bereitet. Aber ihre Gedanken waren bereits auf dem Tennisplatz, und Ruhe hatte sie schon gar nicht dabei. Sie schleuderte die Kohlrabiköpfe beim Abputzen, als ob sie Tennisbälle wären – verflixt und zugeknöpft! – da hatte sie sich in den Finger geschnitten.

Siehst du, Anni, das kommt davon, wenn man sich zu einer Arbeit nicht die notwendige Zeit läßt!

Himmel, was nun? Es blutete stark und wollte sich trotz der Wasserleitung nicht stillen lassen.

»Kurtchen, ach, bringe mir doch flink mal ein Taschentuch heraus, aber ein sauberes«, rief sie in ihrer Not zum Zimmer hinein.

Kurtchen erschien neugierig, in der Hand einen schwärzlichen Taschentuchlappen, mit dem er bereits den Fußboden aufgewischt hatte.

»Was sreiste denn so – halt' doch'n Snabel!« Der Kleine gebrauchte dieselben Ausdrücke, die die Schwester ihm gegenüber anzuwenden pflegte. Aber er verstummte plötzlich, als er das fließende Blut sah. Nicht vor Schreck, sondern vor ungeheurer Bewunderung. »Musste nu terben?« erkundigte er sich brüderlich.

»Dummes Zeug! Das Taschentuch – flink! Den Scheuerlappen kann ich doch nicht zum Verbinden nehmen, da kann man ja Blutvergiftung kriegen. Laß dir von Muttchen ein reines Taschentuch geben.«

Kurtchen eilte in des Vaters für seine Begriffe heute besonders herrliches Zimmer, aus dem man ihn leider schon einige Male an die Luft gesetzt hatte.

»Muttissen, die Anni blutet so doll, und ein danz absseulisser Sreihals is se«, entledigte er sich höchst gewissenhaft seines Auftrages.

»Was – Anni blutet – wieso denn?« Die Mutter hielt erschreckt im Abseifen des Hermeskopfes inne.

Kurtchens Gedanken gingen bereits andere Wege.

»Hasierste den, wie Vater immer von dem tleinen Fisör hasiert wird?« Eifrig brachte er ein kariertes Fenstertuch zum Vorlegen herbei. Denn das war sein Amt, dem Barbier jeden Morgen das Handtuch zu bringen.

Die Mutter, sonst das dankbarste Publikum für die drolligen Aussprüche ihres Nesthäkchens, belächelte seinen neuesten Witz heute nicht einmal. Die war bereits draußen in der Küche, Minna natürlich voll Neugier hinterdrein.

Nachdem die Mutter Annis blutenden Finger kunstgerecht verbunden, machte sie sich selbst daran, das Gemüse fertig zu putzen, denn das verwundete Fräulein Tochter konnte nicht mehr Hand anlegen. Minna mußte sich der inzwischen angebrannten Haferflockensuppe annehmen und neue aufsetzen.

»Gar keine Hilfe habe ich von dir. Statt mich zu unterstützen, machst du nur noch mehr Arbeit«, beklagte sich die Mutter.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn ich mich schneide.« Anni setzte eine Märtyrermiene auf. »Was soll ich jetzt tun?« fragte sie trotzdem bereitwillig, im Hinblick auf das Tennisspiel.

»Kümmere dich um Kurtchen, er ist allein in Vaters Zimmer.«

Aber Anni fand es notwendiger, erst ihre weißen Tennisschuhe zu reinigen und die Bälle zusammenzusuchen. In dem leeren Zimmer konnte dem Kleinen ja nichts zustoßen.

Kurtchen war Alleinherrscher in Vaters Studierzimmer. Hurra! Er benutzte die Zeit seiner Freiheit denn auch recht verständig. Zuerst goß er die Schüssel mit Seifwasser über den wehrlosen Hermes aus.

»So, nu biste ssön debaust. Bauste dern?« Kurtchen selbst schrie nämlich jedesmal wie am Spieß, wenn die Brause beim Baden aufgemacht wurde. Der Hermes blieb stumm. Er äußerte sich nicht, ob ihm die Dusche angenehm war. Um so beredter ging das Plappermäulchen des Kleinen.

»Nu muß iss diss fisieren, niss ssreien, iss ssiep dar niss doll.« Er begann die weißen Marmorlocken in Ermangelung einer Haarbürste mit dem rußigen Ofenbesen zu bearbeiten.

»So – nu biste fein. Szöne swarze Hocken haste setzt.« Bewundernd blickte der kleine Haarkünstler sein Werk an. Aber nicht lange blieb Kurtchen untätig. Sein Unternehmungsgeist wies ihm bereits neue Bahnen.

Die Bohnermasse, die auf dem Parkettfußboden stand, gab eine herrliche Haarpomade. Der Hermeskopf war bereits tadellos frisiert, also begann Kurtchen voll Eifer seine eigenen blonden Locken mit Bohnerwachs zu bearbeiten. Er hielt in dieser emsigen Tätigkeit nur inne, weil die große Stehleiter, die dicht am offenen Fenster zum Polieren der Scheiben stand, doch gar zu sehr lockte. Ob man von dort ganz oben, wo man beinahe so hoch war wie die Zimmerdecke, wohl den grauen Papagei, der gegenüber an einem Fenster wohnte, sehen konnte? Ungeschickt begannen die kleinen Beinchen die Sprossen zu erklimmen.

Inzwischen kehrte die Mutter aus der Küche in das Zimmer ihres Mannes zurück.

Himmel – was war denn hier inzwischen vorgegangen? Der Parkettfußboden, Minnas Stolz, auf den kein Tröpfchen Wasser kommen durfte, schwamm. Hermes hatte schwarze Locken bekommen. Und die Büchse mit dem jetzt so teuren Bohnerwachs stand halbgeleert. Hatte denn Anni auf Kurtchen, der doch hier sicher sein Unwesen getrieben, nicht acht gegeben?

»Muttissen, der draue Papadei is niss zu Hause, der is dewiss pazieren dedangen«, erklang es da plötzlich aus höheren Regionen herab.

Das Herz der Mutter setzte vor Schreck aus, als sie ihren Kleinen da oben am offenen Fenster herumturnen sah. Du Grundgütiger – eine unvorsichtige Bewegung – –

Mit staunenswerter Geistesgegenwart unterdrückte sie jedoch einen Ausruf des Entsetzens. Nur das Kind nicht erschrecken – ganz vorsichtig mußte sie es herabzuholen suchen.

»Ich werde mal selbst nachsehen, ob der Papagei zu Hause ist, Kurtchen.« Die Stimme der Mutter klang merkwürdig gepreßt. »Bleib ganz still da oben, rühre dich gar nicht, ich komme zu dir.« Mit zitternden Knien stieg sie die Leiter zu dem freudestrahlend sie erwartenden Kleinen hinauf.

So – jetzt hatte sie ihn gepackt – fest, ganz fest, an seinem linken Bein.

»Au, Muttissen, du neifst mir, niss so doll neifen!« Die Mutter umklammerte der Sicherheit halber auch noch das rechte Bein des kleinen Hochtouristen. »Is der draue Papadei zu Haus?« Keine Ahnung kam dem Kinde von der Gefahr, in der es schwebte.

Der Abstieg war nicht so einfach. Manche Gletschertour hatte Frau Landgerichtsrat Weber mit ihrem Gatten unternommen, niemals hatte ihr Herz dabei angstvoll gepocht wie heute. Wie kam sie nur mit dem lebhaften, wilden Jungen erst wieder glücklich herunter?

Da erschien ein rettender Engel mit Holzpantinen, hochgekrempelten Ärmeln und breitem, gutmütigem Gesicht – Minna.

»Nanu, will die jnädige Frau und Kurtchen in Kompanie meine Fenster fertig putzen?« verwunderte sie sich mit Recht über den merkwürdigen Höhenausflug.

»Minna, nehmen Sie mir Kurtchen mal ganz vorsichtig ab – so, ganz vorsichtig!« Minnas derbe Arme faßten fest zu – Kurtchen stand wieder auf der sicheren Erde.

»Junge – du klebst ja wie ne Briefmarke! Und riechen tut er wie 'ne Terpentintonne. Herreje, der Junge hat ja das janze Bohnerzeug in seine hübschen Locken jekleistert«, wandte sich Minna aufgebracht an Frau Landgerichtsrat.

Aber die hatte kein Verständnis dafür. Trotzdem Kurtchen wie eine Briefmarke klebte und wie eine Terpentintonne roch, drückte sie ihr Nesthäkchen zärtlich schützend an sich.

»Muttichen, kann ich noch was helfen?« Anni steckte den braunen Kopf zur Tür herein. Die Tennisschuhe waren fertig gereinigt.

Vorwurfsvoll begegnete der Blick der Mutter der Ahnungslosen.

»Kurtchen wäre bei einem Haar aus dem Fenster gestürzt, ganz abgesehen davon, was er sonst hier noch für Unheil angerichtet hat. Das ist deine Hilfe! Kein Verlaß ist auf dich. Der Ernst des Pflichtbewußtseins geht dir ab, Vater hat ganz recht.«

Die stets lustigen Mädchenaugen füllten sich mit Tränen.

»Was kann ich denn dafür, wenn Kurt so unartig ist«, stieß Anni unsicher hervor, denn sie fühlte sehr wohl, daß die Vorwürfe der Mutter berechtigt waren.

»Turtssen atig – Turtssen niss unatig.« Laut plärrend legte der Kleine Protest ein.

»Kann ich noch irgend was helfen?« Nur um ihr Gewissen zu entlasten, wiederholte Anni ihre Frage. Denn eigentlich war es die höchste Zeit, sich zum Tennis bereit zu machen.

»Ich hatte gedacht, daß du mir die Küche und das Kind heute abnehmen würdest. Aber die Suppe hast du anbrennen lassen und –«

»Mit Willen habe ich mich doch nicht in den Finger geschnitten, und wie soll ich denn mit dem verbundenen Finger in der Küche hantieren«, verteidigte sich das junge Mädchen. »Und überhaupt – es ist heute Tennistag. Wenn ich nichts helfen kann, darf ich doch gehen? Ja, Muttichen?«

»Das hatte ich mir doch gleich gedacht, daß dir wieder was anderes im Kopf herumspukt. Beim Tennisspiel stört der Verband wohl nicht, nur bei der Arbeit. Aber lauf nur, lauf – hier bist du ja doch zu nichts nütze.« Seufzend stellte Frau Weber den jetzt wieder in schlohweißem Marmorlockenschmuck prangenden Hermes beiseite.

Aber Anni stand noch immer wie angewurzelt, obgleich die Zeit drängte. Eigentlich hatte sie gar nicht gehofft, so leichten Kaufes davon zu kommen. Aber sie hatte trotz ihres leichtlebigen Temperamentes eine unbehagliche Empfindung dabei, daß sie dem Vergnügen nachgehen wollte, während die Mutter sich daheim abquälte.

»Beim Tennisspiel stört mich der Verband gar nicht, es ist ja die linke Hand und – und – ich könnte ja vielleicht Kurtchen mitnehmen, daß er bei dem schönen Wetter in der Luft ist. Er kann unser Balljunge sein.« So, das erleichterte das Gewissen doch etwas.

»Au sa – fermos – Turtssen is Ballsunne!« Selig hing sich der Kleine an den Arm der großen Schwester.

»Ich kann dir das Kind unmöglich anvertrauen, Anni«, wandte die Mutter zögernd ein, denn sie hätte ihren Kleinen bei dem warmen Sonnenschein ganz gern ins Freie geschickt.

»Turtssen Ballsunne – bitte, bitte, Muttissen.« Eine erneute Auflage des Geheuls drohte.

»Ich bin doch schon oft mit ihm spazierengegangen, du vertraust ihn ja sogar der Ruth schon an.«

»Ruth ist zuverlässiger als du, trotzdem sie erst dreizehn Jahre alt ist.«

Dieser Vergleich war peinlich, besonders vor Minna.

»In dem eingezäunten Tennisplatz kann ihm nichts passieren, und Eva ist ja auch dabei.« Um der guten Sache willen spielte Anni nicht die Gekränkte.

Eva gab den Ausschlag. Die verständige, überlegte Freundin würde sicherlich auf den Kleinen achtgeben, selbst wenn Anni über das Spiel ihre Pflicht vergaß.

»Also meinetwegen!« Die Mutter war innerlich froh, die unruhige Gesellschaft loszuwerden. Mit der Arbeit wollten Minna und sie schon fertig werden, wenn sie nur Ruhe dazu hatten.

Stürmische Dankesbezeigungen, sowohl von dem Kleinen wie von der Großen erfolgten auf Mutters Einwilligung. Es ging einem doch merkwürdig mit der Anni. Richtig böse konnte man ihr nie sein, ihre Liebenswürdigkeit entwaffnete einen gleich wieder.

Die Reinigung von Kurtchens schön pomadisierten Locken nahm noch erhebliche Zeit in Anspruch. Es war Anni, die an und für sich nicht allzu viel Geduld besaß, wohl nicht zu verdenken, daß sie nicht gerade glimpflich dabei verfuhr.

»Au – verflitzt und zudednöppt – du ssiepst mir so doll!« Hätte die Anstellung als Balljunge nicht gewinkt, es wäre sicherlich wieder zu einem Zetermordgeschrei gekommen.

So aber trafen Geschwister Weber in höchst friedlichem Einvernehmen mit halbstündiger Verspätung auf dem Tennisplatz ein. Freudestrahlend wurden sie dort in Empfang genommen. Annis Freundinnen waren begeistert von dem putzigen Knirps und stellten ihn sofort als Balljungen an. Daß der neue Balljunge lieber selbst mit den hübschen roten und weißen Bällen spielen wollte, anstatt sie den jungen Damen zu reichen, gab nur Stoff zum Lachen.

»Ich glaubte schon, du kämst gar nicht mehr, Anni«, meinte Eva.

»Hatte noch zu tun – wir machen heute Vaters Zimmer rein.« Anni war in diesem Augenblick vollständig davon überzeugt, daß sie zu Hause unentbehrlich gewesen. Eva und die beiden andern besuchten das Gymnasium und genossen augenblicklich ihre Pfingstferien.

Das Tennisspiel war heute ganz besonders herrlich. Die Luft so blau und sonnengolden und die jungen Menschen voll sprühender Lebensfreude in der Ausübung des gesunden Sportes. Was machte es, daß der Tennisplatz zwischen hohen Mietshäusern und rußgeschwärzten Schornsteinen mit seinem spärlichen Grasfleckchen eigentlich einen recht wenig frühlingsmäßigen Anblick bot? Der lebendige Frühling blühte ja dort und lachte aus grauen, blauen und braunen Mädchenaugen. Was schadete es, daß der kleine Balljunge einen roten Ball an das Näschen bekam, daß sich ein ebenso rotes Blutbächlein über den weißen Kittel ergoß und jammervolles Gewinsel: »Terbt Turtssen setzt?« zur Folge hatte. Das rote Bächlein ward mit nassen Tüchern bald gestillt, und Kurtchens düstere Todesgedanken zerflatterten vor einem Bonbon, den eines der Mädel zum Glück in der Tasche hatte. Was kümmerte es einen beim lustigen Tummeln, daß daheim die Mutter sich beeilen mußte, um rechtzeitig mit der Arbeit fertig zu werden? Jetzt war keine Zeit daran zu denken.

Freilich, als die Freundinnen später, ihren kleinen Kavalier in der Mitte, heimwärts schlenderten, eilten Annis Gedanken voraus und trübten ihr ein wenig die helle Stimmung. Aber hatte Mutti es nicht erlaubt, hatte sie nicht sogar gesagt: »Hier bist du ja doch zu nichts nütze?«

»Weißt du, Evchen, ich möchte mich so schrecklich gerne bis Oktober, wo ich auf die Kunstgewerbeschule komme, nützlich beschäftigen. Bloß so zu Hause ein bißchen zu helfen, das füllt mich nicht aus. Und ich möchte auch gern Geld verdienen, daß ich nicht um jeden Pfennig erst bitten muß. Die Zeiten sind doch schwer.« Anni machte zu ihren großartigen Worten ein Gesicht, als ob sie die ganze Familie ernähren müßte.

Der Freundin imponierte sie ungeheuer. Was war die Anni doch für ein tüchtiges Mädel. »Womit willst du denn Geld verdienen, Anni? Nachhilfestunden geben wie ich? Ich glaube, wenn man nicht Latein- und Mathematikunterricht erteilen kann, ist es noch weniger einträglich.«

»Nee, von der Schule habe ich genug, ich bin froh, daß ich mit all dem Weisheitskram nichts mehr zu tun habe. Am liebsten würde ich sozial arbeiten, um der leidenden Menschheit zu helfen, aber das ist wohl meistens ehrenamtlich. Und wenn ich meine kostbare Zeit opfere, will ich auch dafür wenigstens ein Taschengeld haben.«

Eva pflichtete ihr bei. »Vielleicht kannst du als Vorleserin eine Stelle bei irgendeiner alten, reichen Dame annehmen, die keine guten Augen mehr hat«, schlug sie überlegend vor.

»Hm – bißchen mopsig. Und dann, Evchen, alte Leute schlafen leicht ein beim Vorlesen, dazu ist doch meine Zeit wirklich zu edel.«

Das gute Evchen zerbrach sich den Kopf, wie Annis edle Zeit wohl am angemessensten zu verwerten sei. »Sieh doch mal die Zeitungsannoncen nach, Anni, da steht immer was drin«, riet sie schließlich beim Abschied.

Vaters Zimmer war fix und fertig. Die Suppe stand bereits auf dem von Ruth gedeckten Tisch. Durch die Überlegung, wie sie ihre kostbare Zeit anwenden sollte, hatte Anni nicht mehr die Zeit gehabt, ihr tägliches Amt, das Tischdecken, zu erfüllen.

Mutter sah ein wenig müde aus, auch dem Vater fiel es auf. Aber sie wollte es natürlich nicht wahr haben.

»Na, hat dir unsere Große wenigstens tüchtig geholfen?« fragte er, seiner hübschen Ältesten zunickend.

Annis vom Tennisspiel erhitztes Gesicht wurde noch röter. »Ich hatte mich in den Finger geschnitten, da konnte ich nicht helfen«, stotterte sie.

»Turtssen is Ballsunne auf 'n Tennisplatz dewesen und hat ein Bombom dessenkt detriegt«, verkündete der Kleine stolz.

»Zum Tennisspiel warst du, Anni?« Vater zog die Augenbrauen in die Höhe. Er sagte nichts weiter, aber sein Schweigen war beredt genug.

Ruth stellte die Teller zusammen, um Minna heute ihre Pflichten zu erleichtern, während Anni darüber grübelte, daß sie sich unbedingt einen andern Wirkungskreis suchen müßte, da ihre Tätigkeit zu Hause nicht anerkannt wurde. – »Morgen schreiben wir Klassenarbeit im Rechnen, wir müssen noch dazu üben, Mutti.« Der neunjährige Erwin war kein großer Rechenkünstler.

»Schön, mein Junge, nach dem Kaffee.« –

»Da habe ich ja Turnstunde, nee, ich muß gleich üben.«

Die Mutter seufzte unhörbar. Sie war wirklich recht abgespannt von dem anstrengenden Vormittag und brauchte notwendig ihre Nachmittagsruhe.

Anni kämpfte mit sich. Sie pflegte sich nach Tisch auch gern mit einem Buch in ihr Zimmer zurückzuziehen. Aber es galt, etwas gutzumachen. Sie gab sich einen Ruck.

»Ich werde mit dir zur Rechenarbeit üben, Erwin«, sagte sie mit opferbereiter Miene.

Vater sah zufrieden aus, Mutter nickte ihr liebevoll zu. Sie wußte es ja, was für ein guter Kern in der Anni steckte.

Erwin aber rief undankbar: »Nee, ach nee! Du bist immer so ungeduldig, und wenn ich was nicht kann, knuffste mich gleich, und dann soll ich nicht mal schreien.«

»Na, denn nicht, dann arbeite gefälligst allein.« Obwohl Anni im Grunde genommen gar nicht unzufrieden über die abschlägige Antwort war, tat sie höchst beleidigt.

»Nee, Mutti oder Ruth sollen mit mir arbeiten«, beharrte Erwin.

»Ich muß meinen Aufsatz ins reine schreiben, aber das kann ich schließlich auch noch nach dem Kaffee machen«, erklärte sich Ruth bereit.

Alles schien zur Zufriedenheit gelöst, nur der Vater war unzufrieden.

»Du hast den ganzen Vormittag in der Klasse gesessen, es ist unbedingt notwendig für dich, Ruth, daß du nach dem Kaffee ein bißchen an die Luft kommst«, erhob der Landgerichtsrat Einspruch. »Anni hat absolut nichts zu tun, sie kann sehr gut mit Erwin arbeiten.«

»Ich hab's ihm ja angeboten, wenn der dumme Bengel nicht will – aufdrängen werd ich mich doch nicht.« Anni machte Miene, sich mit der Zeitung zurückzuziehen. Sie wollte sogleich nach einem Wirkungskreis im Annoncenteil Ausschau halten, wenn ihre Tätigkeit so wenig daheim anerkannt wurde.

»Erwin wird artig sein, und du wirst dir Mühe geben, nicht ungeduldig zu werden, Anni«, fiel der Schiedsspruch des Landgerichtsrats. Da gab es kein Wenn und Aber mehr.

Das Rechenbuch in der einen Hand, die Zeitung in der andern, saß Anni gähnend neben dem Arbeitspult des kleinen Bruders. Denn Tennisspiel macht müde.

»Nicht doch so schnell – so rasch brauchen wir in der Schule nicht zu rechnen.« Erwin kam nicht mit, in solcher Geschwindigkeit diktierte Anni, um nur möglichst bald erlöst zu sein.

Schön, wenn er langsam rechnete, konnte sie ja inzwischen ein bißchen in die Zeitung gucken.

»Gesuchte weibliche Personen« – ob darunter was für sie war?

Perfekte Stenotypistin – selbständige erste Wäschezuschneiderin – Klavierlehrerin – Agentin für Seifenbranche – ehrliche Aufwartung – Laufmädel – Stütze bei kinderlosem Ehepaar – halt, war das am Ende was?

»Na – und?« Erwin hatte schon dreimal erwartungsvoll die Feder gezückt.

»Bei kinderlosem Ehepaar«, wiederholte Anni fragend vor sich hin.

»Quatsch – kommt gar nicht in meinen Aufgaben vor – du paßt ja nicht auf«, beschwerte sich der Junge mit Recht.

»Paß du nur auf, wollen mal sehen, wieviel Fehler du nachher haben wirst.« Anni versteckte ihre Verlegenheit hinter einem barschen Ton. Eine Weile ging nun alles ganz flott. Mit dem kinderlosen Ehepaar, das war doch wohl nichts weiter als Dienstbote. Aber hier – was bedeutete denn das?

»Kinderhirtin« stand fettgedruckt über einem kurzen Artikel in einer anderen Beilage.

Kinderhirtin? Anni konnte sich nicht recht was darunter vorstellen. Hatte sie da eine Herde Kinder auf die Weide zu treiben? Sicher ein sozialer Beruf, so ähnlich wie Kinderhortlerin. Das wäre was.

»Neuer Beruf für unsere höheren Töchter« stand darunter. »Gebildete junge Mädchen aus guter Familie, die Lust zu diesem neuen Beruf haben, können sich in der Zentrale des Hausfrauenvereins zwischen zehn und zwölf Uhr melden.« Weiter gab die Zeitungsnotiz keinen Aufschluß. Aber Anni war fest entschlossen, sich zu melden und bis Oktober »Kinderhirtin« zu werden.

»Nee, das geht aber nicht; wenn du immer deine olle Zeitung liest, brauchste überhaupt hier nicht zu sitzen.« Nachdem Erwin in der eingetretenen Pause sein Löschblatt mit Männerchen und allerlei Fabelgetier bemalt hatte, wünschte er nun in der Rechenarbeit fortzufahren. Ungestüm riß er Anni die Zeitung aus der Hand. Ritsch – ratsch – der Riß ging mitten durch die »Kinderhirtin«.

Gleichzeitig zeigte Erwins Wange den Abdruck von Annis Hand.

»So – jetzt kannst du sehen, wer mit dir arbeitet, undankbarer Lümmel!«

»Undantarer Hümmel!« Kurtchen, der bisher artig aus Bauklötzen einen Tennisplatz gebaut hatte, fand die Gelegenheit zu verlockend, um sich nicht auch daran zu beteiligen.

Aber als Erwin jetzt mit Fäusten gegen die große Schwester zu Felde zog, ging er treulos zur Gegenpartei über und mit seinen kleinen geballten Fäusten ebenfalls auf sie los.

Ein Tumult erhob sich. Stühle flogen um, Ohrfeigen knallten durch die Nachmittagsstille – Wut- und Schmerzgeheul. Ruth, die im Nebenzimmer ihren Aufsatz einschrieb, kam eiligst hereingestürzt.

»Seid doch still, Mutti schläft doch – hör' auf zu weinen, Erwin, ich bin bald mit meinem Aufsatz fertig, dann arbeite ich noch mit dir. Kurtchen, schrei doch bloß nicht so, die arme Mutti war so müde.« Mit wenigen Worten verstand es Ruth, den Aufruhr zu beschwichtigen.

Anni aber empfand die Einmischung der um drei Jahre jüngeren Schwester als einen Eingriff in ihre Erziehungsrechte.

»Kümmere dich gefälligst um deinen Aufsatz und nicht um Sachen, die dich nichts angehen. Mit den ungezogenen Gören werde ich schon ganz allein fertig werden.«

»Das scheint mir aber doch ganz und gar nicht der Fall zu sein, Anni«, klang es im ernsten Ton von der Tür. Dort stand der Vater, den das Lärmen von seinen Akten aufgescheucht hatte. »Nicht mal zum Kindermädel taugst du.«

»Aber zur Kinderhirtin! Ich werde euch schon den Beweis liefern, daß ich etwas zu leisten vermag!«

»Kinderhirtin – was ist das wieder für ein Unfug?« Dem Vater war das Wort ebenfalls unbekannt.

»Kinderhirtin, das ist – das ist das, was ich jetzt werden will.« Nach dieser klaren Auseinandersetzung verließ Anni gekränkt den Schauplatz. Hinter ihr erklang es von den kleinen Brüdern spottend im Duett: »Kinderhirtin – Tinnerhirtin!«

Oh, sie wollte ihnen allen schon beweisen, wie tüchtig sie im Grunde war. Der Prophet gilt nun einmal nichts in seinem Vaterlande. Morgen vormittag meldete sie sich als Kinderhirtin.

Das war nicht ganz so einfach, wie Anni es sich vorgestellt hatte. Der nächste Tag stand unter dem Zeichen der Plättwäsche. Anni sollte zum erstenmal dabei helfen.

»Gern, Mutti, aber zwischen zehn und zwölf Uhr habe ich einen Weg.« Anni wurde rot, sie mochte vorläufig noch nicht mehr sagen.

»Wohl wieder eine Verabredung mit Eva? Die mußt du absagen, Kind. Du sollst heute endlich mal richtig Leibwäsche plätten lernen.« Die Mutter hatte sich fest vorgenommen, Anni jetzt straffer zu nehmen, daß sie nicht in dem freien Halbjahr verbummelte.

»Nein – es ist keine Verabredung. Es handelt sich um – Mutti es ist – es ist – ein beruflicher Weg.« Da war es heraus.

Die Mutter lachte herzlich. »Was hast denn du für Berufswege, von denen ich nichts weiß, Mädel? Vorläufig baronisierst du doch noch bis Oktober.«

»Damit hat es jetzt hoffentlich ein Ende. Die Tätigkeit hier zu Hause füllt mich nicht aus, Mutti. Gestern erst hast du gesagt, ich sei zu nichts nütze. Ich will dir und Vater zeigen, daß ich etwas zu leisten vermag.« Anni sprudelte es lebhaft heraus, die gekränkte Eitelkeit kam wieder zum Ausdruck.

»Dich füllt die Tätigkeit hier zu Hause nicht aus, Kind? Ich glaube, die Sache ist umgekehrt: Du füllst sie nicht aus und befriedigst daher weder mich, noch bist du selbst befriedigt.« Die Mutter war ernst geworden.

»Meine Arbeit wird niemals anerkannt«, kam es von zuckenden Mädchenlippen.

»Wenn du mir die Kinderhöschen versengst wie augenblicklich, gewiß nicht. Auf Zuverlässigkeit kommt es im kleinen wie im großen an.« Frau Weber zog Kurtchens gelbbraun getöntes Höschen unter dem sengenden Eisen, das Anni, an anderes denkend, darauf hatte stehen lassen, hervor.

»Ich möchte mir auch Geld verdienen, daß ich mir nicht jedes bißchen vom Vater geben lassen muß. Die Zeiten sind doch schwer.« Anni zog die Stirn kraus, was ihrem von Natur lustigen Gesicht einen drollig besorgten Ausdruck gab.

»Geld willst du verdienen? Ja, womit denn? Du kannst ja nichts, mein Kind.«

»Ich werde sozial arbeiten.« Großartig klang das. »Da, lies, Mutti.« Das zerrissene Zeitungsblatt war inzwischen wieder geklebt worden.

Die Mutter las die mit Rotstift angestrichene Notiz. »Hm – ich weiß nicht, was von einer Kinderhirtin verlangt wird, und ob du das zu erfüllen vermagst. Immerhin – versuche es, trotzdem ich der Ansicht bin, daß es hier zu Hause für dich mehr als genug zu tun gibt. Wenn dein Pflichtbewußtsein in einem fremden Wirkungskreise erstarkt, wenn du dadurch zuverlässiger wirst, will ich gern die Mehrarbeit auf mich nehmen.« Die kluge Frau wußte, daß Anni sich durch jedes Abraten nur noch mehr darauf versteifen wurde. Mochte sie es mal unter Fremden versuchen, vorausgesetzt – daß sie genommen wurde.

So ließ Anni Kinderhöschen und Plätteisen im Stich und zog gegen elf Uhr zur Hausfrauenzentrale. Die Kostümfrage hatte viel Kopfzerbrechen gemacht. Nicht zu elegant, sonst dachte man am Ende, sie hätte nur Sinn für Putz und Staat. Und auch wiederum nicht zu einfach, damit man es ihr gleich ansah, daß sie aus guter Familie war. Ein helles Waschkleid mit Spitzenkragen, in dem sie besonders gut aussah, hatte schließlich die Ehre, Anni auf dem wichtigen Wege zu begleiten, und natürlich auch der weiße Hut mit den süßen Moosröschen, der ihr so gut stand. Wirklich, die Dame, die den Vorsitz in der Hausfrauenzentrale führte, blickte angenehm überrascht auf das liebreizende Mädel, das wie der verkörperte Frühling plötzlich in dem nüchternen Amtszimmer auftauchte.

Anni brachte in bescheiden liebenswürdigem Ton ihr Anliegen vor.

Die Dame notierte sich Name, Wohnung und Alter. Dann schlug sie ein Register nach. »Drei Adressen liegen bisher vor, wo Sie sich als Kinderhirtin melden können, zwei davon ganz in Ihrer Nähe.«

Anni trug die Adressen in ihr Notizbüchlein ein. »Hoffentlich finden Sie darunter das Ihnen Zusagende«, meinte die Dame, sie freundlich verabschiedend.

Anni war so klug wie zuvor. Waren diese Adressen die Namen von Damen, die an der Spitze von derartigen sozialen Bestrebungen standen?

»Verzeihung«, – schüchtern war Anni niemals, – »worin besteht eigentlich die Tätigkeit einer Kinderhirtin?«

»In der Hauptsache wohl darin, daß sie die Kinder ins Freie führt, mit ihnen spielt und sie gut beaufsichtigt.« Also ganz so, wie Anni sich das vorgestellt hatte. Lilli Friedrich, mit der sie in einer Klasse gewesen, hatte genau dasselbe Amt vom Kinderhort aus. Die fuhr jeden Morgen mit zwei Dutzend Gören nach dem Grunewald hinaus, allerdings nur um des guten Zweckes willen. Bezahlung bekam sie dafür nicht.

»Handelt es sich um – um eine bezahlte Tätigkeit?« Die Frage war etwas peinlich für eine höhere Tochter aus guter Familie.

»Jawohl, das machen Sie dann mit den Betreffenden persönlich aus.« Die Dame hatte sich bereits anderen zugewandt.

Schön – also erst mal nach der Altonaer Straße. Die Adresse war ihrer ebenfalls im Hansaviertel gelegenen Wohnung am nächsten.

Merkner, zwei Treppen links – vergeblich suchte Anni nach dem Schild, das den angegebenen Namen trug. Nachdem sie bis zu den Bodenräumen hinaufgeklettert, zog sie Erkundigungen beim Hausmeister ein. Frau Merkner wohnte im Gartenhaus, zwei Treppen. Annis Gefühle wurden durch das Gartenhaus ein wenig herabgestimmt. Auf ihr Klingeln öffnete eine breithüftige Frau mit Küchenschürze.

»Ist Frau Merkner zu sprechen?«

»Nee – is einholen jejangen.«

»Ach, das ist schade. Ich hätte sie so gern gesprochen.«

»Denn warten Se doch'n bisken. Lange bleiben tut se nich. Kommen Se man rein.« Ein stockdunkler Korridor nahm die Eintretende auf.

»Setzen Se sich doch'n bisken.« Das war leichter gesagt als getan. Denn eine Sitzgelegenheit war in der Finsternis nicht zu unterscheiden.

Da öffnete sich zum Glück eine Tür, ein Lichtstreif erhellte die Dunkelheit. Gleichzeitig stürzten zwei Kinder durch die geöffnete Tür: »Mutti – Mutti – Dickerchen nimmt mir alle Bausteine weg«, – »na, wenn die Olle mich nicht mit ihrer Puppe spielen läßt«, – plötzlich verstummten sie jäh. Trotz der Dunkelheit hatten sie erkannt, daß es eine Fremde war.

»Wie heißt ihr denn?« eröffnete Anni das Gespräch mit den neugierig in der Tür stehenbleibenden Kindern.

»Dickerchen – und das ist die Olle.« Der Junge, obwohl der kleinere, antwortete für die Schwester mit.

Die Unterhaltung stockte wieder. Die Kinder benutzten die Verlegenheitspause, sich gegenseitig in den Korridor hinauszustoßen. Aus dem Zimmer kam das Weinen eines wohl noch ziemlich jungen Kindes. Dazu erfüllte ein durchdringender Kohlgeruch den Raum. Es war recht ungemütlich.

Unwillkürlich dachte Anni vergleichend an die helle, freundliche Stube daheim, in der die Mutter jetzt am Plättbrett stand. Aber wer A gesagt hat, muß auch B sagen.

Minuten vergingen; sie schienen Anni Stunden. Endlich erklang ein doppeltes Klingelzeichen, das den doppelten Jubelruf: »Mutti – Mutti!« auslöste.

»Jnädige Frau, da ist wer, der nach Ihn' jefragt hat«, teilte die öffnende Frau der mit Taschen und Päckchen beladenen Heimkehrenden mit.

»Aber warum haben Sie ihn denn nicht ins Wohnzimmer geführt, Frau Hirsekorn? Bitte, wollen Sie nicht nähertreten?« Frau Merkner öffnete die Tür zu einem Zimmer, während Frau Hirsekorn hinter Anni herbrummte: »Kann ich denn wissen, ob det nich 'ne Hochstaplerin is, die was verschwinden läßt? Je feiner se aussehen, je mehr mausen se.«

»Verzeihen Sie, meine Aufwartefrau ist etwas ungeschickt. Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung. Nur meine kleine Gesellschaft muß ich erst beruhigen.« Die Stimmen von Olle und Dickerchen mischten sich harmonisch mit dem weinerlichen Gemecker des Jüngsten.

Endlich war Ruhe in der Kinderstube und die etwas erschöpfte Dame zu Annis Verfügung.

»In welcher Angelegenheit kommen Sie zu mir?«

»Die Hausfrauenzentrale hat mich hergewiesen. Ich sollte hier Näheres über meine Tätigkeit als Kinderhirtin erfahren.«

»Ach, als Kinderhirtin melden Sie sich.« Ein prüfender Blick überflog Annis anmutige Erscheinung. »Ja, liebes Fräulein, ich weiß wirklich nicht, ob Sie für diesen Posten geeignet sind. Ich habe, offen gestanden, an ein einfacheres junges Mädchen gedacht.«

Hätte sie doch bloß nicht den Moosrosenhut aufgesetzt.

»Die Zeitungsnotiz verlangte doch ausdrücklich gebildete junge Mädchen aus guter Familie«, wandte Anni ein.

»Ja, daran ist mir auch sehr viel gelegen. Gerade jüngere Kinder nehmen so leicht die Ausdrucksweise und Manieren der Personen, mit denen sie tagtäglich zusammen sind, an. Um wieviel Uhr könnten Sie denn mit den Kindern ins Freie fahren?«

»Ich stehe zu jeder Zeit zur Verfügung.« Wenn sie einen Beruf hatte, mußten natürlich eventuelle Pflichten zu Hause dagegen zurücktreten.

»Von neun bis eins wäre es mir am liebsten. Ginge es auch nachmittags?«

»Natürlich – ich richte es ein.« Ade, ihr freien Nachmittage mit Evchen und den andern Freundinnen!

»Also dann vielleicht noch von vier bis halb sieben. Wie sind Ihre Bedingungen?«

Anni saß ratlos da. Sie hatte keine Ahnung, wieviel sie verlangen sollte.

»Gnädige Frau, ich weiß ja noch gar nicht, worin meine Pflichten bestehen«, sagte sie schließlich mit der ihr eigenen Unbefangenheit.

»Nun, die sind nicht allzu schwer. Mit den Kindern spazierengehen, auf sie aufpassen, daß ihnen nichts zustößt und sie beschäftigen. Und im übrigen recht lieb und nett mit ihnen sein – das wäre alles.«

»Das will ich gewiß«, versprach Anni bereitwillig, mußte aber unangenehmerweise daran denken, ob sie das auch mit den Geschwistern zu Hause stets war.

»Ich denke, wir setzen fürs erste zwanzig Mark für den Monat fest, da haben Sie ein nettes Taschengeld. Ist Ihnen das recht?«

Na ob es Anni recht war! Wie ein kleiner Krösus kam sie sich vor. »Wo treffe ich die Kinder, und wohin soll ich mit ihnen fahren – in den Grunewald?«

»Nein, das ist zu umständlich. Sie holen die Kinder von mir ab und fahren dann in den Tiergarten. Also gut, wir probieren es mal. Auf Wiedersehen morgen früh.«

Glückstrahlend kam Anni nach Hause, wo die Mutter sich trotz der Mittagshitze noch immer mit dem großen Korb Plättwäsche mühte.

»Muttichen, hier stelle ich dir eine frisch gebackene Kinderhirtin vor – ich bin mit einem fürstlichen Gehalt engagiert – zwanzig Mark im Monat.« Anni schielte in den Spiegel, wie die Besitzerin eines solchen Vermögens wohl ausschaute.

»Wie lange dauert denn deine Tätigkeit, Kind?«

»Von neun bis ein Uhr vormittags, und nachmittags von vier bis halb sieben.«

»Täglich?« Es war etwas in Mutters Ton, was Annis Freude herabstimmte.

»Freilich.«

»Dann bist du für uns und für den Haushalt ganz verloren, Anni. Kurtchen muß vormittags zu Hause sitzen, während du fremde Kinder spazieren führst. Ich habe zum mindesten gedacht, daß dir der Nachmittag zur Verfügung bleibt.

»Ja, wenn man ein Amt übernimmt und noch dazu ein soziales, müssen persönliche Wünsche vor den allgemeinen Interessen zurücktreten.« Es gab noch einen unangenehmen Moment zu überwinden. Wie würde sich der Vater zu dem selbständigen Schritt seiner Ältesten stellen?

Besser, als Anni es gedacht. Als das junge Mädchen ihm, nicht ganz so sicher wie sonst, die Eröffnung machte, betrachtete er es mit einem merkwürdigen Lächeln.

»Also einen anderen Wirkungskreis ersehnst du bis Oktober – immerhin anerkennenswert, daß du überhaupt das Bummelleben satt hast. Mir soll es recht sein, wenn dein Pflichtbewußtsein dadurch geweckt wird. Aber ich fürchte, es wird nicht von langer Dauer sein. Dein Eifer, mit dem du alles Neue zu ergreifen pflegst, wird nachlassen, und ob du für eine ganze Herde Kinder, die du auf die Weide treiben sollst, zuverlässig genug bist, wage ich auch anzuzweifeln. Du brauchst kein so bestürztes Gesicht zu machen, Anni. Gib uns den Beweis, daß ich mich mit meiner Voraussage geirrt habe – es soll mich freuen.«

Oh, das wollte Anni ganz sicher. Jetzt galt es zu zeigen, daß man sie zu Hause nicht richtig anerkannte.

»Mutter wird es schwer werden, ohne deine Hilfe fertig zu werden«, neckte der Vater.

»Wenigstens zum Spazierengehen für Kurtchen wird mir Anni fehlen. Minna kann ich vormittag nicht entbehren, und ich bin auch nicht immer abkömmlich. Wenn ich es nicht durchsetzen kann, muß ich mir jemand für das Kind zum Spazierengehen nehmen. Aber das kostet wieder eine ganze Menge.« Die Mutter war unzufrieden, daß sie ihre Einwilligung gegeben hatte.

»Wo es sich um das Wohl von so vielen Kindern handelt, die vielleicht daheim noch in ungesunden Räumen hausen, muß das einzelne Individuum sich beschränken.« Diese Weisheit stammte aus dem letzten Buch, das Anni gerade las und haftete noch frisch in ihrem Gedächtnis.

Der Vater lachte herzlich über seine sozialdenkende Tochter, was Anni wieder nicht recht war. Da sah man es ja, sie galt nichts zu Hause.

Am nächsten Morgen gab es einen schweren Kampf.

Anni hatte sich nach ihrem Schulabgang daran gewöhnt, frühestens um halb neun aufzustehen. Wenn Ruth, mit der sie in einem Zimmer schlief, sich leise erhob, um sie nicht zu stören, dehnte sich Anni noch wohlig in ihren Kissen. Wie gut, daß sie kein Schulmädel mehr war. Heute aber hieß es früh aus den Federn. Nicht etwa, daß sie noch im Haushalt etwas zu tun gedachte. Aber das Ankleiden und vor allem die Frisur nahm heute fast eine halbe Stunde in Anspruch. Nicht mal zum Frühstückschneiden behielt sie Zeit übrig. Wäre Mutter, die ja für alles da sein muß, nicht hilfreich eingesprungen, dann hätte sie ohne Frühstücksbrote fortgehen müssen.

Das »einzelne Individuum«, Kurtchen, langte sofort nach seinem Hut, als er sah, daß die Schwester den ihren aufsetzte.

»Turtssen tommt mit«, erklärte er mit Selbstverständlichkeit.

»Ein anderes Mal, heute geht es wirklich nicht, Kurt.«

Anni flog, denn schon war es in fünf Minuten neun.

»Nie soll Turtssen mittommen, immer soll er zu Hause bleiben«, begehrte der Kleine auf und hängte sich weinend an den Arm der Schwester. Daß er vorher Musbrot gegessen hatte, war ja nun wirklich nicht sehr angenehm, denn seine Pfötchen hinterließen ihre bräunlichen Spuren auf Annis weißer Bluse.

»Du greulicher Junge – die reine Bluse hast du mir verdorben! Ach, und nun habe ich nicht mal mehr Zeit mich umzuziehen.«

»Turtssen tein dreulisser Sunne!« jammerte der Kleine, während die Mutter mahnte: »Eine halbe Stunde früher aufstehen, dann ist die ganze Eile nicht nötig.«

Für Ermahnungen war Anni nun augenblicklich erst recht nicht zugänglich. Kurtchens Jammergeheul, daß er nun doch zu Hause bleiben mußte, und Mutters vertröstende Worte, zu denen sie sich trotz ihrer vielen Arbeit Zeit nahm, folgten Anni bis auf die Treppe hinaus. Himmel, wie schwer war es doch, seinen Pflichten nachzugehen, wenn man zu Hause so wenig Verständnis dafür begegnete.

Es war bereits zehn Minuten nach neun, als Anni mit erhitztem Gesicht die Klingel an der Merknerschen Wohnung zog. Eigentlich hatte sie erwartet, ihre Kinderherde schon unten im Hof versammelt zu sehen. Diesmal öffnete Frau Merkner ihr selbst.

»Gut, daß Sie da sind, Fräulein Weber«, – Annis Feingefühl hörte einen leisen Vorwurf aus den Worten der Dame heraus. »Meine kleine Gesellschaft wird schon ungeduldig.« Das kleinste Kind meckerte bereits wieder.

»Wo sind denn die Kinder?« Die Hirtin sah sich vergeblich nach ihrer Herde um.

»Im Kinderzimmer. Sie sind schon seit neun Uhr fix und fertig. Sie können gleich losfahren.«

»Fahren bis in den Tiergarten – der ist doch hier gleich«, verwunderte sich Anni.

»Bübchen muß im Sportwagen gefahren werden, es ist erst fünf Monate alt. Sein Fläschchen und frische Windelhöschen hat es bei sich.«

»Was – so kleine Kinder sind auch dabei?« Das fiel doch schon mehr in das Gebiet der Säuglingspflege. Anni hatte geglaubt, nur mit größeren Kindern zu tun zu haben.

Frau Merkner hielt es für geraten, Annis Einwurf zu überhören. Sie öffnete die Tür zum Kinderzimmer. »So, Kinder, da ist das Fräulein. Nun könnt ihr gehen.« Olle und Dickerchen, die sich um einen Kreisel balgten, hielten in ihrer Beschäftigung inne, während Annis Erscheinen auf das schreiende Kleinste nicht den geringsten Eindruck machte. Es schrie seine Naht weiter.

»Wo sind denn die andern Kinder?« versuchte sich die junge Kinderhirtin in dem Lärm verständlich zu machen.

»Noch mehr? Mir genügen die drei schon«, scherzte die Dame. »So, Bübchen nehmen Sie auf den Arm, der Sportwagen ist unten beim Hausmeister.« Das schreiende Bübchen wurde Anni in die Arme gedrückt.

Die hätte das Kind bei einem Haar fallen lassen, so erstarrt war sie.

»Ja, aber – ich dachte – ich glaubte – das Amt einer Kinderhirtin, dachte ich, wäre eine soziale Tätigkeit, die vielen Kindern zugute käme.« Es war nicht leicht, sich bei Bübchens ohrenbetäubenden Unmutsäußerungen verständlich zu machen.

Frau Merkner verstand denn auch nur die Hälfte. »Ich kann Ihnen unmöglich mehr Kinder zum Spazierengehen verschaffen, als ich habe«, sagte sie ebenso ungnädig wie ihr Sprößling. »Versorgen Sie mir die drei nur gut, da haben Sie genug zu tun. Und nun ist es aber wirklich die höchste Zeit. Ich gebe das Geld nicht aus, damit die Kinder hier im Zimmer hocken.«

Anni schoß es heiß in die Augen – Tränen bitterster Enttäuschung. Und dann kam ein jäher Entschluß über sie – blitzschnell, ohne zu überlegen. Mit einem Ruck setzte sie das meckernde Bübchen in sein Bett zurück und stieß mit tränenbelegter Stimme heraus: »Ich bin doch wohl hier nicht am rechten Platz, gnädige Frau. Ich habe mich um das Amt einer Kinderhirtin beworben, aber mich nicht als Kindermädel vermietet.« So, da hatte sie es herausgesprudelt, ihren geknickten Stolz, ihre verletzte Eitelkeit.

»Ich habe Ihnen gestern genau Bescheid gesagt, was ich von Ihnen verlange, Sie waren damit einverstanden. Was Sie sich sonst noch denken, ist nicht meine Sache. Aber ich halte Sie natürlich nicht. Sie kamen mir gleich zu putzsüchtig und zu oberflächlich vor. Nur schade um die Mühe, die Sie mir unnötigerweise gemacht haben.« Es war der Dame auch nicht zu verdenken, daß sie ihre Kleinen, die sich weinend dagegen sträubten, ärgerlich wieder auszukleiden begann. Anni aber lief, heute schon zum zweitenmal mit Konzertbegleitung, die Treppen spornstreichs hinab, als ob es einem Kerker zu entrinnen gelte. So – Gott sei's getrommelt und gepfiffen! – der Gefahr war sie glücklich entgangen.

Sie atmete tief auf. »Kindermädel – na, das könnte mir passen! Das kann ich zu Hause bei Kurtchen bequemer haben. Und der braucht wenigstens kein Fläschchen und keine Windelhöschen mehr.« Die Dame wollte sie für ihre persönlichen Zwecke ausnützen, das war ja klar. Aber das mußte man der Hausfrauenzentrale melden oder auch dem sozialen Verband, dem sie angehörte. Gleich bei der nächsten Adresse wollte es Anni der betreffenden Dame erzählen, welche Zumutungen man an sie, einer höheren Tochter aus guter Familie, gestellt hatte.

Auch der zweite Weg war vergeblich.

»Die Stelle sei bereits besetzt«, teilte ihr das Mädchen mit. Sie wurde gar nicht vorgelassen. Stelle – Anni nahm etwas Anstoß an dem Wort. Aber das war gewiß nur eine Ungeschicklichkeit des Mädchens, das sich im Ausdruck geirrt hatte. Anni hätte nicht das leichtlebige, hoffnungsfreudige junge Ding sein müssen, das in allem Neuen etwas Gutes sieht, wenn sie sich durch ihre beiden Mißerfolge hätte ins Bockshorn jagen lassen sollen. »Aller guten Dinge sind drei«, sagte sie und versuchte ihr Heil noch einmal.

Der Weg zu der letzten Adresse schien bei der Wärme ziemlich weit. »Hauptmann Kühne« zeigte das Messingschild. Die Dame öffnete in höchsteigener Person. Sie trug eine große, tadellos saubere Ärmelschürze.

Anni nannte ihren Namen und brachte ihr Gesuch vor.

»Bitte, treten Sie näher, – Sie schickt mir ein guter Engel. Ich will nur die Küchenuniform abstreifen, gleich bin ich zu Ihrer Verfügung.« Die junge Frau hatte eine reizende unbefangene und liebenswürdige Art.

Anni fühlte es: Hier würde ihr sicher das Glück lächeln. Wie die Bewohnerin, so erschien auch das Zimmer, in dem Anni sich neugierig umsah, nett, geschmackvoll, anheimelnd. Da war Frau Hauptmann Kühne auch schon wieder zurück. Jetzt ohne Ärmelschürze, ganz Dame.

»Ich habe das neue Amt der Kinderhirtinnen freudigst begrüßt und wie ich sicherlich viele Mütter, die ihre Kleinen nicht x-beliebigen anvertrauen mögen. Unsere Kinder sind doch unser größter Schatz. Ihre Kostbarkeiten verwahren die Damen oft sorgsam, aber ihre Kinder überlassen sie der Erstenbesten oder vielmehr Schlechtesten. Da ist die Idee, welche die Hausfrauenzentrale mit der Kinderhirtin aus gebildetem Hause ins Leben gerufen hat, freudigst zu begrüßen.«

»Gnädige Frau, handelt es sich um eine soziale Tätigkeit?« erkundigte sich Anni, die nicht wieder enttäuscht werden wollte.

»Sozial? Nun, wie man's auffaßt. Soziale Hilfe ist es ja auch wohl, wenn einer dem andern beisteht, der gerade seiner bedarf. Und das ist bei mir der Fall. Mein Mädchen ist erkrankt, sie mußte in ein Krankenhaus. Dadurch ruht die ganze Last des Haushalts auf mir allein. Denn eine fremde Aushilfe mag ich nicht ins Haus nehmen, die schleppt einem das Bißchen, was man jetzt hat, auch noch fort. Aber mein kleiner Erich kommt dabei zu kurz. Wenn ich ihn auch zu meinen wirtschaftlichen Einkäufen mitnehme, das ist doch nicht das Richtige für ein Kind. Gestern hat die gute Großmama sich seiner erbarmt, aber der Kleine ist zu lebhaft und zu anstrengend für sie. Sie glauben es gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, liebes Fräulein Weber, daß Sie sich meines Kleinen annehmen wollen. Sie werden sicher bald gut Freund mit ihm sein. Sie haben so etwas Liebes, Heiteres im Blick, das fühlt ein Kind auch gleich heraus.« Die Dame ergriff in ungezwungener Herzlichkeit beide Hände des jungen Mädchens und drückte sie dankbar.

Aber Annis Blick war gar nicht so heiter. Das war doch ein ähnlicher Posten, wie ihn Frau Merkner ihr zugedacht hatte. Diesmal vielleicht um eine Stufe höher, als Kinderfräulein.

»Gnädige Frau, ich habe mir die Tätigkeit einer Kinderhirtin anders vorgestellt. Ich glaubte nicht, daß ein Privathaushalt dabei in Betracht käme. Ich dachte, es handelte sich um eine größere Schar erholungsbedürftiger Kinder, an denen man ein gutes Werk tun könnte.«

»Ach, Sie tun auch an meinem kleinen Erich ein gutes Werk, Fräulein Weber. An jeder Mutter tut es die Kinderhirtin, der sie ihr Liebstes getreulich beaufsichtigt. Die jungen Mädchen der gebildeten Stände sollen die Mütter, die nicht immer abkömmlich sind, bei den Kindern vertreten. Kindermädchen und die sogenannten ›Fräulein‹ haben meistens für alles andere Interesse, nur nicht für die ihnen anvertrauten Pflegebefohlenen. Ich habe es so oft im Tiergarten beobachtet. Zu einem jungen Mädchen aus gutem Hause hat man Vertrauen, das ist sicherlich zuverlässig. Und Sie ganz besonders, Fräulein Weber, haben es mir mit ihrem lieben Gesichtel angetan, also – ich denke, Sie schlagen ein. Wir werden uns sicherlich miteinander verstehen.« Wieder reichte ihr die junge Frau ermunternd die Hand hin.

Schon wollte Anni, von der reizenden Art bezaubert, einschlagen, da zuckte ihre Hand plötzlich zurück. Ein unbequemer Gedanke war es, der die Veranlassung dazu gab. Und Kurtchen? Wer nahm sich Kurtchens an? Was war Kurtchen schlechter als Erich? Brauchte der kleine Bruder nicht genau so frische Luft und Sonnenschein? War die Mutter nicht gerade so in Verlegenheit um eine geeignete Begleitung zum Spazierengehen? Durfte sie Fremden beispringen, wenn man zu Hause ihrer genau so bedurfte?

Aber zu Hause war ja noch Minna, und Frau Hauptmann war ganz allein. Also war sie hier notwendiger. Und dann – wie würde sie sich schämen müssen, daß aus ihrer stolzen Vornahme nichts geworden war, daß der neue Wirkungskreis ihr ebenfalls nicht zugesagt hatte. Gewiß würde man sie zu Hause auslachen – nein, das durfte nicht sein.

»Sie überlegen noch, Fräulein Weber, ich habe die Hauptsache zu erörtern vergessen, nicht wahr?« Die junge Frau faßte Annis Zögern falsch auf. »Die geschäftliche Seite. Ihre Hilfe ist mir eigentlich unbezahlbar. Aber ich denke, wir setzen fünfundzwanzig Mark für den Monat fest. Hoffentlich entspricht das Ihren Wünschen. Sie brauchen sich nur vormittags meines Jungchens anzunehmen, nachmittags bin ich ja meiner Hausfrauenpflichten ledig und kann selbst mit ihm ausgehen. Von halb zehn bis halb zwei wäre es mir am liebsten.«

Nur die Vormittage – und fünfundzwanzig Mark dafür – da konnte sie sich nachmittags ja sogar noch Kurtchen widmen – Anni willigte freudig ein. Sie hatte es bereits verwunden, daß sie sich eigentlich etwas ganz anderes unter dem Amt einer Kinderhirtin vorgestellt hatte.

Leises Kratzen ward an der Tür hörbar, als ob ein Hund herein wollte.

»Das ist der Erich, dem dauert's schon wieder zu lange. Komm nur rein, mein Jungchen, mach' einen feinen Diener. So – siehst du, das ist eine neue Tante, die so lieb ist und mit dir spazierengehen will.«

Erich, ein netter kleiner Kerl von etwa fünf Jahren, mit den hellblauen Augen seiner Mutter, kam neugierig näher.

»Wollen wir zusammen in den Tiergarten gehen und dort spielen, Erich?« fragte Anni, die ihre gesellschaftliche Stellung durch die Benennung »Tante« wieder erhöht fühlte, freundlich.

»Nee«, meinte der Kleine weniger höflich, als aufrichtig. »Lieber mit Muttchen oder mit Omama.«

»Aber Erich, wie undankbar von dir. Muttchen muß Mittagbrot kochen, sonst müssen wir hungern. Und die Omama kann bei der Hitze den weiten Weg nicht gehen, da wird sie müde. Wenn die gute Tante dich nicht mitnimmt, mußt du zu Hause bleiben.«

»Zu Hause ist es auch ganz schön«, erklärte der Kleine mit Gemütsruhe. »Da bau ich einen Turm und –.«

»Aber ich erzähle dir doch eine schöne Geschichte von Schneewittchen«, warf Anni ihren Köder aus.

»Von Dornröschen auch?« Der Kleine biß wirklich an.

»Ja, auch von Aschenbrödel, jeden Tag eine andere«, versprach Anni mit einer Bereitwilligkeit, die Kurtchen in höchstes Entzücken versetzt hätte. Ließ sie sich doch nur ganz selten mal dazu herbei, dem kleinen Bruder eine Geschichte zu erzählen.

»Na, schön«, entschied der junge Herr ziemlich herablassend. »Dann will ich mal mit dir spazierengehen, Tante.«

»Tante Anni heiße ich.«

»Du weißt ja noch gar nicht, ob die Tante Anni heute schon Zeit und Lust hat, mit dir auszugehen, Erich. Wie ist's, Fräulein Weber, dürfen wir Sie gleich mit Beschlag legen? Das wäre reizend.«

»Jawohl, ich bin heute schon frei. Wohin pflegen Sie mit dem Kleinen zu gehen, gnädige Frau?«

»In den Tiergarten auf den Sandspielplatz, ich glaube, Erich findet schon hin und kann Sie führen. Wir packen seine Spielschürze, Sandschaufel und Formen ein. Da ist er am allerbesten beschäftigt. Sie können sich sogar ein Buch oder eine Handarbeit mitnehmen, Fräulein Weber. Nur im Auge behalten müssen Sie ihn, denn er ist ziemlich wild. Aber ich habe das größte Vertrauen zu Ihrer Zuverlässigkeit.«

Anni wurde rot bis an die braunen Stirnhaare. »Ich habe selbst einen kleinen Bruder und bin daher gewöhnt, auf Kinder aufzupassen«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Ei, so bringen Sie das Brüderchen doch mit, Fräulein Weber. Dann hat Erich gleich einen kleinen Spielgefährten.«

Wirklich – zu reizend war Frau Hauptmann. Was würde das für die Mutter für eine Erleichterung bedeuten, wenn Kurtchen jeden Morgen bei schönem Wetter mit ihr in den Tiergarten ging. Aber sie konnte doch unmöglich das Gehalt von der Dame beanspruchen, wenn sie ihren eigenen Bruder gleichzeitig beaufsichtigte. Und ihr Kinderhirtinamt würde dadurch sicher in den Augen der Eltern an Vollwertigkeit einbüßen. Es war ja schließlich auch genug, wenn Kurtchen nachmittags spazierenging.

Mit Sandformen und Schaufel, mit Schürze und Frühstück ausgerüstet, zog Anni, ihren kleinen Begleiter an der Seite, schließlich los. »Bloß vorsichtig, liebstes Fräulein Weber, lassen Sie ihn bei den Straßenübergängen nicht von der Hand«, rief die Mutter noch sorglich hinter ihnen her. Oh, Anni wollte schon aufpassen. Was hatte sie doch für ein Glück, daß sie zu so reizenden, vornehmen Menschen gekommen war.

Ihr junger Kavalier schien weniger lebhaft als Kurtchen, dafür aber beharrlicher. Die ersten fünf Minuten trabte er schweigend neben ihr her. Anni fühlte sich nicht verpflichtet, ihn zu unterhalten. Es war ziemlich heiß, und all das Ereignisreiche, was der Morgen schon mit sich gebracht hatte, mußte sie erst in Ruhe verarbeiten.

»Na?« sagte der Kleine schließlich, als ob er bis jetzt auf irgend etwas gewartet hätte.

»Was willst du denn, Erich?«

»Bist du schon sehr alt, Fräulein Tante Weber?«

»Wieso denn bloß, Erich?« Anni wußte nicht, ob sie mehr über die komische Anrede oder über die Frage lachen sollte.

»Na, meine Omama sagt immer, alte Leute vergessen alles«, erklärte der Kleine mit ernster Würde.

»Ja, was habe ich denn bloß vergessen, Erich?« Anni konnte vor Lachen kaum sprechen.

»Na, weißt du's wirklich nicht mehr? Haach – mußt du schon alt sein, Fräulein Tante Weber. Noch viel älter als die Omama. Die besinnt sich doch dann immer noch.«

»Also hilf mir ein bißchen. Aber du wolltest doch Tante Anni sagen, nicht?«

»Nee – Muttchen sagt auch Weber. Kannste dich denn gar nicht besinnen? So weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Eberholz?«

»Ach, nun weiß ich. Du meinst die Geschichte von Schneewittchen. Die erzähle ich dir später. Jetzt sind wir ja bald da.« Anni hatte bei der drückenden Temperatur ganz und gar keine Lust dazu, eine Geschichte zu erzählen.

Aber Erich ließ sich nicht so leicht vertrösten wie Kurtchen.

»Nee, es ist noch ganz weit, du kannst ruhig anfangen, Fräulein Tante Weber. Also: Es war mal mittendrin im kalten Winter –«, half er ihr auf die Sprünge, wohl in der Annahme, daß sie sich bei ihrem altersschwachen Gedächtnis nicht recht auf den Anfang besinnen könne.

Es nützte nichts, Anni mußte fortfahren. Den kleinen Bruder hätte sie sicherlich ungeduldig abgeschüttelt, aber hier hatte sie doch schließlich eine bezahlte Pflicht. Also: »Es war mitten im Winter, die Schneeflocken flogen vom Himmel herab –.« Anni seufzte tief auf und machte eine Kunstpause. Wenn sie doch bloß ein wenig von der Wintertemperatur jetzt verspürt hätte!

»Weiter« –, drängte der kleine Zuhörer.

»Da saß eine Königin am Fenster und nähte. Und wie sie so nähte, stach sie sich in den Finger, daß er blutete.«

»Falsch«, korrigierte der Kleine.

»Doch, Erich, so ist es ganz richtig.«

»Nee,« beharrte Erich, »es heißt: ›daß das rote Blut heraustropfte‹. Darauf kann sich ja sogar die Omama besinnen.«

»Also schön: daß das rote Blut heraustropfte. Da dachte sie: ach, hätte ich doch –.«

»Nee, nee – sie hat noch gar nicht gedacht. Erst kommt: ›und weil das rote Blut zu dem weißen Schnee so schön aussah, da dachte sie –‹.«

»Also: da dachte sie: ach hätte ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz.«

»Ist ja gar nicht richtig! ›Wie das Eberholz hier an mein Fenster‹, heißt es«, wurde Anni schon wieder unterbrochen.

Viel Geduld war nun gerade nicht ihre Sache. »Dann erzähle du mir's doch, wenn du alles besser weißt«, sagte sie leicht gereizt.

»Nee, du hast mir's versprochen, Fräulein Tante Weber, aber Muttchen erzählt viel schöner.«

»Na, dann laß dir nur von Muttchen die Geschichte erzählen.« Tadel konnte Anni nun mal nicht vertragen, selbst aus Kindermund nicht.

»Ja, denn gehe ich lieber wieder bei mein Muttchen.« Erich machte Miene, sich von Annis Hand loszureißen und spornstreichs zurückzulaufen.

Aber Anni hielt fest.

»Au – drück' doch nicht so, du tust mir ja weh, Fräulein Tante Weber.« Der Junge zog rückwärts, Anni vorwärts. Ein kleiner Kampf entspann sich. Hätte sie jetzt Kurtchen an der Hand gehabt, so hätte Anni sicherlich ihrem Unmut freien Lauf gelassen. Hier besann sie sich. Sie war bezahlte Kinderhirtin und wollte doch nicht gleich am ersten Tag Schiffbruch leiden.

»Komm, Erich, sei artig, ich erzähle dir die schöne Geschichte weiter.« Das junge Mädchen wunderte sich geradezu über ihre Sanftmut. Ja, Anni, sobald man den Fuß aus dem Elternhaus ins Leben hinaussetzt, heißt es, Selbstbeherrschung üben.

Erich sah ein, daß ihm sein Sträuben nichts nützte, die neue Tante war stärker als er. »Na, denn erzähle weiter, aber richtig«, gab er schließlich gnädig seine Einwilligung.

Anni sollte auf dem Wege bis zum Tiergarten noch öfters Gelegenheit haben, Sanftmut und Selbstbeherrschung zu üben. Alle paar Minuten erklang in die Schneewittchengeschichte hinein das tadelnde »schon wieder falsch – Muttchen weiß das viel schöner«. Nie wieder wollte sie ihm eine Geschichte versprechen, das nahm sie sich fest vor. In Zukunft würde sie vorsichtiger sein.

Alles hat mal ein Ende, auch der Weg bis zum Tiergarten, wenn er einem auch noch so endlos erscheint. Erich hatte sie ganz richtig zu dem Sandplatz, auf dem er zu spielen pflegte, geführt, denn ein Kinderfräulein auf der Bank, auf der Anni, freundlich grüßend, Platz suchte, empfing ihn mit den Worten: »Na, Erich, bist du auch wieder da?« Die Schürze wurde umgebunden, das Frühstück hervorgeholt und Schneewittchen in Vergessenheit begraben, noch ehe sie in den gläsernen Sarg gelegt wurde. Endlich zog Erwin mit seinem Handwerkszeug zu dem großen Sandberg, auf dem es wie in einem Ameisenhaufen von Kindern wimmelte.

Anni war erlöst.

Sie blickte zu dem frischgrünen Buchendach, das ihr Schatten spendete, empor und blinzelte wohlig in das grünlichgoldene Sonnengeflimmer. Der Holunder duftete süß und schwer, ein Pirol und eine Amsel wetteiferten als frühlingsfreudige Musikanten. Ach, hier war es gut sein. Anni dehnte in süßem Nichtstun ihre erhitzten jungen Glieder. Wenn ihr kleiner Zögling den ganzen Vormittag über artig bei seiner Tunnelarbeit blieb, war ihr Amt kein allzu anstrengendes. Die fünfundzwanzig Mark waren nicht schwer verdient. Denn es war doch entschieden angenehmer, hier im Tiergarten der Ruhe zu pflegen als daheim sich in der Wirtschaft ohne Entgelt abzurackern, am Ende gar den Küchenschnudel spielen zu müssen. Nein, Anni war mit ihrem Los und ihrem neuen Beruf äußerst zufrieden. Man muß es eben verstehen, sich das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.

Eine Stimme riß sie aus ihren selbstzufriedenen Gedanken. Sie gehörte dem Fräulein, das Erich vorhin begrüßt hatte.

»Frau Hauptmann hat sich jetzt wohl ein Kinderfräulein gemietet? Sonst kam sie doch immer selbst mit dem Kleinen auf den Spielplatz. Sie ist ja so ängstlich mit ihm, daß ihm bloß nichts passiert. Viel los ist da wohl auch nicht bei Hauptmanns? Sie sieht mir nicht danach aus, als ob ihnen die Gänse und Hühner ins Haus fliegen.« So ging das hintereinander, ohne Komma und ohne Punkt.

Anni biß sich auf die Lippen. Sie gab keine Antwort. Kinderfräulein – und gemietet – und dann noch über die »Herrschaft« herziehen – ja, was dachte denn diese Person von ihr? Sah sie es ihr denn nicht an, daß sie es nicht mit ihresgleichen zu tun hatte? Anni warf den Kopf hochmütig zurück und starrte wieder in das leise Blättergesäusel hinauf.

»Sind Sie taub oder stumm? Oder gar alles beides?« Das redselige Fräulein ließ sich nicht so rasch abspeisen, vertraulich stieß es die verträumte Nachbarin mit dem Ellbogen an. »Wir Kolleginnen müssen doch zusammenhalten, sonst ist es ja zum Auswachsen, den ganzen Vormittag hier bei den Gören zu sitzen. Denn die Handarbeit nimmt man doch bloß auf Befehl der Gnädigen mit. Aber so dumm, daran zu arbeiten!« Sie wies auf zerlöcherte Kinderstrümpfchen, die aus der Tasche herausschauten.

»Ich bin nicht Ihre Kollegin«, gab Anni, empfindlich in ihrem Stolz gekränkt, ihrer sonstigen Liebenswürdigkeit entgegen, abweisend zur Antwort.

»Nicht, na was sind Sie denn?« Und plötzlich in einen respektvolleren Ton fallend: »Ach, Sie sind am Ende eine Verwandte von Hauptmanns?«

»Nein«, gab Anni ablehnend zurück.

»Na also, dann haben Sie sich doch nicht so. Ein Kinderfräulein ist nicht mehr als das andere, ob sie nun erster oder zweiter Klasse ausgebildet ist.«

»Ich sagte es Ihnen ja bereits, daß ich kein Kinderfräulein bin.« Mit erhobener Stimme antwortete es Anni. Denn die neben ihnen auf der Bank Sitzenden verfolgten bereits mit neugierigem Interesse das Gespräch der beiden.

»Na, dann möchte ich aber wirklich wissen, was Sie eigentlich sind?« Das Fräulein war nun auch gereizt und in ihrer Berufsehre gekränkt. »Am Ende gar die Fürstin von Itzenplitz?« Sie hatte die Lacher auf ihrer Seite.

Ausgelacht werden – nein, das ertrug Anni nicht. »Ich bin Kinder hirtin!« rief sie im Vollgefühl ihrer neuen Würde.

»Was, Kinderhirtin?« Das Fräulein machte kein geistreiches Gesicht. Dann aber lachte sie höhnisch auf: »Mir scheint, Sie gehören selbst zu einer Herde.« Wieder lachte die ganze Bank, und die Amsel oben im grünen Gezweig lachte mit.

»Kinderhirtin – was ist sie – was ist denn das für ein kurioses Ding?« Die junge Frau, die ihr Baby in den Schlaf summte, das kleine, kaum fünfzehnjährige Kindermädel und der alte Herr, der mit ihnen auf der Bank saß, alle fragten sie es belustigt.

Anni erhob sich mit aller Würde, die ihr zu Gebote stand. In dieser Gesellschaft blieb sie nicht. Aber aufklären mußte sie dieselben doch unbedingt noch über ihren Beruf.

»Es ist bedauerlich, daß Ihnen das Amt einer Kinderhirtin unbekannt ist« – bis zu diesem Morgen war Anni selbst mit den Funktionen derselben nicht vertraut. »Eine Kinderhirtin ist Stellvertreterin der Mutter!« Sprach's und verließ mit Hoheit die Bank, auf der ihr Stolz einen empfindlichen Stoß erlitten hatte.

»Na, dann sorgen Sie nur dafür, daß Ihr Lämmchen nicht vom Wolf zerrissen wird, Fräulein Kinderhirtin«, klang es boshaft unter Beifallsgelächter hinter ihr her.

In das Lachen mischte sich Kinderweinen. Anni hatte während der theoretischen Auseinandersetzung über das Amt einer Kinderhirtin die praktischen Pflichten derselben außer acht gelassen und sich nicht um ihren Pflegling gekümmert. Jetzt sah sie plötzlich Erich schreiend vor einem größeren Jungen seinen halbfertigen Tunnel verteidigen. Der fremde Junge versuchte ihn fortzudrängen. Erich half sich, indem er mit Sand warf und dabei: »Mama – Mama – a – a« schrie.

Im Augenblick war Anni an seiner Seite. »Aber Erich, schämst du dich denn gar nicht, so zu brüllen?«

»Fräulein Tante Weber, – der olle Junge läßt mich nicht spielen – u – u – uuh – ich will nach Hause bei mein Muttchen.«

»Nein, Erich, du bleibst hier und spielst artig weiter«, sagte Anni mit Aufbietung all ihrer Energie. »Und wehe dir, wenn du das Kind noch mal störst«, wandte sie sich an den Größeren.

»Der Kleene hat ja angefangen, er hat mir ja mit Sand jeschmissen«, beklagte sich der andere.

»Ja, und passen Se man jefälligst auf Ihren auf, meine erzieh ich mich alleine, da laß ich mich von keinen Menschen nich reinreden«, begehrte eine strickende Frau von einer in der Nähe stehenden Bank auf.

Anni hielt es für geraten, sich nicht weiter mit der Frau einzulassen. Sie suchte nach einem Plätzchen auf einer Bank, wo angenehmere Menschen saßen. Aber der Spielplatz hatte sich inzwischen bevölkert. Die Bänke waren alle voll. Einige saßen bereits auf dem niedrigen Eisengitter, das die Rasenflächen einfriedete. Auch der Platz, den sie bis vor kurzem innegehabt, war inzwischen besetzt worden. Sich auf das Eisengitter setzen – nein, wie würde das Kinderfräulein drüben frohlocken, wenn sie die »Kinderhirtin« so erniedrigt sah. Aber da wurde ja ein Platz frei, zwar nicht auf dem Spielplatz selbst, sondern auf der ersten Bank im Seitengang, von wo aus man den Platz bequem übersehen konnte.

Glück mußte man haben! Anni fand es nicht für nötig, Erich mitzuteilen, wo sie neuerdings ihr Zelt aufgeschlagen hatte, sie behielt ihn ja im Auge. Hier störte sie kein Mensch. Hier hatte sie vollkommene Ruhe, über ihre doppelte Niederlage auf dem Spielplatz nachzudenken. Ja, jede Würde bringt Bürde.

Aber nach und nach hörte letztere auf, Anni zu drücken. Nachdem sie sich einige Male vergewissert hatte, daß Erich jetzt artig und unbehelligt seine Schachtarbeit ausführte, vergaß sie natürlich, weshalb sie eigentlich hier saß. Sie begutachtete die Kleidung der Vorübergehenden, beobachtete ein Buchfinkpärchen, das ab und zu flog, wohl weil es Junge im Nest zu versorgen galt, und dachte nicht an den Jungen, den sie selbst zu versorgen hatte. Schließlich freundete sie sich mit einem allerliebsten Kleinchen im Sportwagen, das ihr in endlosem Spiel seinen Teddybär in den Schoß warf, an und dadurch auch mit der Mutter. Sie kamen ins Plaudern, und Annis frische, nette Art gefiel der Dame augenscheinlich. Das war Balsam auf die Wunden, die der Vormittag ihr geschlagen. Natürlich, gebildete Menschen wußten sie schon richtig einzuschätzen.

Vom Spielplatz kam Kinderlachen, Jauchzen, auch manchmal Weinen und Schelten, und mischte sich mit dem Vogelgezwitscher. Plötzlich wurde Anni, die das Kleinchen gerade durch »Mum – mum – mum – kuckuck –« in helles Entzücken versetzte, aufmerksam. Trotzdem sie Erichs Weinen erst einmal gehört hatte, haftete es ihr mit seinen quakenden, langgezogenen Tönen im Ohr. Das mußte Erich sein. Ein rascher Blick zu dem kribbelnden Ameisenhaufen – Erich war nicht mehr darunter. Anni brach mitten im »Mum – mum« ab, grüßte die Dame hastig und eilte zum Spielplatz.

Um's Himmels willen – was mochte dem Jungen nur zugestoßen sein?

Da stand er mitten in der Sonne, aus Leibeskräften plärrend und mit den erdigen Fingern im nassen Gesicht herumwischend.

»Aber Erich, was ist denn passiert?« Erleichtert sah Anni, daß ihr Pflegling noch heil und unversehrt vor ihr stand.

»Du bist weg, Fräulein Tante Weber – u – u – uh – du bist weg!« heulte der Kleine jämmerlich.

»Aber Jungchen, ich bin doch hier –«

»Nee, du bist weg, ich habe dich überall gesucht – u – u – uh –.« Der ganze Spielplatz wurde aufmerksam. Es war der jungen Kinderhirtin unsagbar peinlich.

Plötzlich veränderte sich das unglückliche Gesicht des kleinen Schreihalses. Er starrte aus verweinten Augen auf eine näherkommende alte Dame. Wie Sonnenregen ging es verklärend über das tränenfeuchte Gesicht, und mit dem Jubelruf: »Omama – die Omama!« war er plötzlich von Annis Seite.

Von zärtlichen Großmutterarmen wurde er aufgefangen. Liebevoll ward das heiße, nasse Gesichtchen von einem weißen Tuch getrocknet.

»Aber warum weinst du denn so, mein Herzblatt?« erkundigte sich die Großmama besorgt.

»Fräulein Tante Weber ist weg –.« Wieder brach sich der ganze Jammer bei Erich Bahn.

»Wer ist weg?« fragte die alte Dame verdutzt. Und einen suchenden Blick in die Runde über die Bänke schweifen lassend, erkundigte sie sich weiter: »Wo sitzt denn Muttchen?«

»Zu Hause.«

»Was – du bist allein hier?«

»Nee, mit Fräulein Tante Weber.«

»Mit wem?«

»Mit mir, gnädige Frau.« Die langsam sich nähernde Anni hielt es jetzt doch für angezeigt, aus der Verborgenheit aufzutauchen. »Ich habe Frau Hauptmann, weil sie augenblicklich so sehr in Verlegenheit ist, als Kinderhirtin das Amt des Spazierengehens mit Erich abgenommen«, setzte sie erklärend hinzu, um sich gleich die richtige gesellschaftliche Stellung zu geben.

»Wie reizend von Ihnen, liebes Fräulein – Weber war ja wohl der Name? Aber warum weinst du denn da, Liebling? Fräulein Weber ist doch hier.«

»Nee, Fräulein Tante Weber war weg – ich habe sie auf allen Bänken gesucht«, beklagte sich der Kleine.

»Dann hast du eben auf der Bank, wo ich saß, nicht gut nachgesehen«, lachte Anni. Aber das Lachen kam nicht richtig von Herzen; es war darin ein leises, leises Schuldbewußtsein, als ob sie doch ihren Pflichten nicht so ganz nachgekommen wäre. Pech – daß die Großmutter gerade in dem kritischen Augenblick auf der Bildfläche erscheinen mußte.

»Nu kannst du nach Hause gehen, Fräulein Tante Weber. Omama ist ja nu hier«, ordnete der kleine Bursche an.

»Aber Erich!« mahnte die Großmama. »Fräulein Weber ist so gut und liefert dich zu Hause bei Muttchen wieder ab. Mir ist der weite Weg heute bei der Hitze zu anstrengend.«

»Ich will aber lieber mit dir gehen, Omama«, beharrte der Junge weinerlich. Das war keine besondere Anerkennung für Anni. Und daß das Kinderfräulein mit ihren Pflegebefohlenen gerade in diesem Augenblick vorübergehen mußte und sie mit spöttischem Blick musterte, erhöhte Annis Stimmung nicht. »Mit dir ist es viel schöner, Omama. Du kannst Schneewittchen viel besser erzählen als Fräulein Tante Weber. Die kann sich gar nicht besinnen, die ist sicher noch viel älter als du.«

Die Großmama lachte von Herzen, und Anni stimmte mit ein. Als die alte Dame jetzt neben ihr Platz nahm, um sich ein wenig auszuruhen, und sich freundlich nach Annis häuslichen Verhältnissen und ihren beruflichen Absichten erkundigte, hob sich Annis Laune wieder. Die Großmama hatte dieselbe liebenswürdige Art wie ihre Tochter – von dem Jungchen war es ja schließlich nicht zu verlangen, daß es sich gleich den ersten Tag an sie gewöhnte.

Auch die alte Dame bekam den denkbar günstigsten Eindruck von dem jungen Mädchen. Da hatte ihre Tochter einen guten Griff getan.

Natürlich gab es noch einen kleinen Kampf nachher, ehe Erich sich entschloß, mit Anni, anstatt mit der Großmama mitzugehen. Aber schließlich befanden sich die beiden doch wieder auf dem Heimweg, der heiß und schattenlos war. Eine Bahn kam nicht, so trabten die beiden zu Fuß ziemlich einsilbig nebeneinander her.

Plötzlich gab Erich irgendein tückischer Kobold die Worte ein: »Du wolltest mir doch von Schneewittchen weitererzählen, Fräulein Tante Weber.«

»Ich wollte gar nicht!« Nein, wirklich, Anni hatte ganz und gar nicht die Absicht, bei dieser tropischen Hitze Geschichten zu erzählen. Der Weg war auch ohnedies anstrengend genug. Denn Erich war müde und ließ sich ziehen.

Aber sie hatte nicht mit der Hartnäckigkeit ihres kleinen Begleiters gerechnet.

»Vom Jägersmann kommt jetzt«, drängte er.

»Morgen, mein Junge, mittags ist es zu heiß zum Erzählen.«

»Dann gehe ich nicht weiter, wenn du mir nicht erzählst.« Der Junge blieb bocksteif stehen und war nicht vorwärts zu kriegen.

Anni, die auf der Straße kein Aufsehen erregen wollte, mußte sich wohl oder übel dazu verstehen, Schneewittchen fortzusetzen. Eher setzte Erich den Heimweg nicht fort.

»Konsequent muß man einem Kinde gegenüber sein«, hatte sie sich öfters abfällig geäußert, wenn die Mutter zu Hause Kurtchen zu viel nachgab. Dadurch verzieht man die Kinder bloß, hatte das Küken, das klüger sein wollte als die Henne, oft genug gedacht. Und hier, bei dem fremden Kinde, gab sie nun selbst nach – eigentlich recht beschämend.

Das an und für sich so poetische Märchen von Schneewittchen wurde von Anni merkwürdig verzapft. Gleichgültig und gelangweilt, ohne jede Frische erzählte sie. Der kleine Besserwisser ließ es ruhig über sich ergehen, er war wohl auch schlaff von der Wärme. Es genügte ihm, daß erzählt wurde. Nur einmal erhob er Einspruch, als Anni berichtete, der Jäger brachte der Königin Schneewittchens Lunge und Leber zum Wahrzeichen.

»Nee, zum Mittagbrot brachte er es ihr, bitte sehr. Und sie aß sie mit Rührkartoffeln und Kopfsalat.«

Anni mußte trotz ihrer Müdigkeit lachen; dieser Speisezettel aus Schneewittchen war ihr unbekannt. In leidlichem Einvernehmen gelangten die zwei schließlich heim.

Frau Hauptmann erquickte sie sogleich mit Himbeerwasser. »War Erich auch artig, liebes Fräulein Weber?« erkundigte sie sich.

Anni bejahte. Erstens mochte sie überhaupt nicht den Ankläger spielen, und dann fürchtete sie, auch sich selbst dadurch eine Blöße zu geben.

»Bloß zweimal habe ich geweint«, ergänzte Erich als wahrheitsliebender Mann.

»Aber warum denn, mein Junge?«

»Einmal hat mich ein großer Junge gepufft, und einmal war Fräulein Tante Weber weg, und einmal wollte die Omama mich nicht nach Hause bringen.«

»Das sind sogar schon dreimal, Erich. Na, morgen wirst du artiger sein, nicht wahr?« Frau Hauptmann strich ihrem Kleinen liebevoll die feuchten Blondhaare aus der erhitzten Stirn.

»Ja, morgen bin ich artig. Da gehe ich wieder mit dir in den Tiergarten, ja, Muttchen?« Flehentlich hingen die Kinderaugen an der Mutter.

»Nein, Erich, wenn du der Tante Anni heute nicht zu unartig warst und sie morgen wieder so gut sein will, dich abzuholen, gehst du mit ihr.«

»Ach, liebes Fräulein Tante Weber, sei doch bloß nicht so gut. Ich kann noch viel ungezogener sein«, stellte der Kleine in angenehme Aussicht.

Frau Hauptmann und Anni lachten über das Versprechen. Dann nahm die Kinderhirtin mit »also auf Wiedersehen morgen!« Abschied.

Noch auf der Treppe hörte sie Erichs hoffnungsfreudige Stimme: »Na, vielleicht stirbt sie bis morgen!«

Trotzdem Anni recht erhitzt war, kam sie mit tüchtigem Hunger heim. Der Tisch war noch nicht gedeckt. Sie sah es mit Mißfallen.

»Minna kann doch nie pünktlich sein«, tadelte sie.

»Minna hat mehr zu tun gehabt, die ist vormittags nicht spazieren gegangen«, verteidigte die Mutter die Getadelte. »Du kommst mir wie gerufen, Anni. Flink, decke den Tisch; Minna hat noch Eierkuchen zu backen. Wenn Vater nach Hause kommt, will er gleich essen.«

»Ich auch.« Annis sonstige Liebenswürdigkeit war durch den weiten Weg in der Mittagssonne beeinträchtigt. »Und überhaupt, ich bin so erhitzt und müde, ich muß mich erst erholen.« Sie ließ sich in den Schaukelstuhl sinken.

Stillschweigend legte die Mutter selbst das Tischtuch auf. Sie hatte so viel am Vormittag im Haushalt schaffen müssen, daß es ihr darauf auch nicht mehr ankam. Ruth, die im Nebenzimmer Schularbeiten machte und die Worte der Mutter gehört hatte, sprang hinzu und half. Natürlich, die machte sich wieder lieb Kind.

»Na, Kinderhirtin, wieviel junge Lämmer hast du heute gehütet?« erkundigte sich der Vater bei Tisch.

»Eins bloß«, kam es ein wenig kleinlaut heraus.

Unbändiges Gelächter folgte. Erwin und Kurtchen, obwohl sie gar nicht verstanden, um was es sich handelte, quiekten vor Vergnügen um die Wette.

»Ihr braucht gar nicht zu lachen«, – dabei mußte Anni selbst mitlachen–, »der Beruf einer Kinderhirtin ist eine sehr segensreiche soziale Einrichtung. Wenn sie auch anders ist, als ich es mir vorgestellt habe.« Sie mußte doch ihren neuen Beruf verteidigen.

»Worin besteht denn diese segensreiche soziale Einrichtung?« Der Vater war in bester Laune.

»Daß wir den Müttern, denen es nicht möglich ist, ihre Kinder selbst ins Freie zu führen, und die sie nicht der Unzuverlässigkeit ungebildeter Dienstboten anvertrauen wollen, ihr Amt abnehmen. Wir sind stellvertretende Mütter.« Anni reckte sich würdevoll.

Sie konnte nicht fortfahren, denn eine erneute Lachsalve folgte. »Weißt du was, stellvertretende Mutter, ich würde mehr Vertrauen zu der Zuverlässigkeit eines ungebildeten Dienstboten haben, als zu der einer höheren Tochter, wie du es bist«, brachte der Landgerichtsrat, immer noch lachend, hervor. Das war ein empfindlicher Dämpfer auf Annis große Worte.

»Bitte sehr, Frau Hauptmann Kühne ist glücklich, daß sie mich hat«, versuchte das Fräulein Tochter sich wieder herauszustreichen.

»Ich könnte auch recht gut eine Kinderhirtin gebrauchen«, meinte die Mutter mit einem traurigen Blick auf ihr ziemlich blasses Nesthäkchen.

Anni wurde rot. Mutters Worte, die keinen direkten Vorwurf enthielten, trafen.

Aber man pflegt ja leider, wenn man das Gefühl eines Unrechtes hat, dasselbe meist zu beschönigen. Anni machte davon keine rühmliche Ausnahme.

»Frau Hauptmann braucht mich viel notwendiger als du, Muttchen. Die hat niemand zur Hilfe; ihr Mädchen ist krank geworden. Wir haben doch die Minna. Und Kinderhirtin sein, heißt sozial denken. Ich muß da einspringen, wo ich am meisten gebraucht werde.«

»Ei, Anni, sozial denken ist ja recht schön, und ich habe meine Kinder stets dazu erzogen«, unterbrach der Vater ihren Gedankengang. »Aber erst kommen die Pflichten der Mutter und der Familie gegenüber. Wenn du zu Hause gebraucht wirst, kannst du deine Zeit nicht Fremden opfern –.«

»Ich bekomme doch aber auch fünfundzwanzig Mark im Monat dafür«, spielte Anni, in die Enge getrieben, ihren letzten Trumpf aus.

»Aha – das ist deine soziale Auffassung von der Sache.« Vater machte ein belustigtes Gesicht.

»Ja, damit können wir freilich nicht konkurrieren«, stimmte die Mutter in Vaters Heiterkeit ein. »So wertvoll mir deine Hilfe auch ist, Anni.«

»Ich bin ja nachmittags immer frei, um mit Kurtchen fortzugehen«, versprach Anni bereitwillig. Sie war glücklich, daß die Mutter wieder scherzte.

»Schön, Anni, das ist mir sehr lieb. Dann kannst du heute nachmittag Kinderhirtin bei Kurtchen sein. Fahrt nach dem Grunewald hinaus. Erwin darf auch mit. Ruth hat ja Klavierstunde. Dann können wir heute endlich den langgeplanten Besuch bei deinem neuen Kollegen machen, Paul«, wandte sich Frau Landgerichtsrat Weber an ihren Mann.

Anni machte ein langes Gesicht. »Gerade heute – heute hat doch Trudchen Neudorf Geburtstag. Sie erwartet mich bestimmt.«

»Na ja, das sehe ich ja ein, wenn eine Freundin Geburtstag hat, müssen wir unserer Kinderhirtin Urlaub geben. Wer sollte sonst wohl dem Geburtstagskuchen den Garaus machen.« Mutter verstand es doch am besten, sich in die Seele ihres Kindes hineinzuversetzen.

»Ich fürchte nur, heute wird dies sein und morgen jenes.« Der Vater hob die Sitzung auf und versprach den beiden glückstrahlenden Sprößlingen, selbst mit ihnen in den Grunewald hinauszufahren.

Am nächsten Morgen gab es das gleiche Theater wie am Tage zuvor. Kurtchen hängte sich an Annis Arm und wollte durchaus mit. »Nie darf iß mittommen!« heulte bitterlich der Kleine.

Bei Hauptmanns ebenfalls Kindertränen, wenn auch aus entgegengesetzter Ursache. Erich wollte durchaus nicht mit »Fräulein Tante Weber« spazierengehen. Er schien offenbar sehr enttäuscht, daß sie nicht inzwischen gestorben war. Das Erzählen einer Geschichte lockte nicht mehr. »Die kann ja gar nicht richtig erzählen«, sagte der gestrenge kleine Kritiker wegwerfend. Erst als das junge Mädchen ihm in Aussicht stellte, auf dem Sandspielplatz einen kleinen Garten mit Moosbänken und einem Borkenhäuschen für ihn anzulegen, bequemte er sich zur Begleitung. Natürlich verlangte er unterwegs wieder seine Geschichte, und natürlich kam die neue Tante seinen Wünschen nicht zur Zufriedenheit nach.

Anni hatte gehofft, daß ihr Zögling beim Spielen mit anderen Kindern den versprochenen Garten vergessen würde, aber da kannte sie Erich schlecht. Kaum war die Frühstücksmilch getrunken und der Latz abgebunden, so begann der Junge Anni von der Bank, auf der sie glücklich Platz gefunden, fortzuziehen: »Komm, Fräulein Tante Weber, jetzt bauen wir den Garten.«

»Später, Erich, erst will ich mich mal ein bißchen von dem Weg ausruhen.« Zeit gewonnen, alles gewonnen.

»Nee, du bist ausgeruht genug. Und was man verspricht, das muß man halten, sagt mein Papa.« Erich verzog den Mund weinerlich als Ouvertüre zu dem in Aussicht stehenden Konzert.

»Du kannst ja inzwischen schon immer einen hohen Berg schippen, Erich. Dann legen wir nachher den Garten rings um den Berg an«, versuchte ihm das junge Mädchen vorzustellen. Denn neben ihr lag ein dickes Buch, die Buddenbrooks. Eva hatte es ihr geliehen. Wie schön mußte es sich hier unter den grünen Zweigen lesen lassen.

»Nee – gleich«, beharrte Erich. »Und so'n ollen Berg will ich gar nicht in meinem Garten haben.« Der Kleine hatte unbedingt Schönheitssinn.

Es half nichts. Anni mußte sich von den »Buddenbrooks« trennen. Sie ließ das Buch in Gesellschaft ihres Hutes auf dem Platz zurück, um letzteren zu belegen. »Vielleicht sind Sie so freundlich, ein wenig auf meine Sachen achtzugeben«, bat sie ein junges, neben ihr sitzendes Kindermädel.

Dann ließ sie sich mit Märtyrermiene von Erich zum Sandplatz, auf dem es wieder wie auf einem Ameisenhaufen durcheinanderkribbelte, ziehen.

Die Gartenanlage gelang nicht besonders. Das lag weniger an Annis Geschicklichkeit als an der fehlenden Lust. Die Wege waren krumm, das Rindenbänklein wackelig. Die Zweiglein, die als Bäume hineingepflanzt wurden, wollten nicht Wurzel schlagen. Sie lagen auf der Seite, ebenso schlapp und mißmutig wie die junge Gärtnerin, die sie gepflanzt. Aber als Anni nicht einmal einen Springbrunnen machen konnte, wie Erich ihn durchaus verlangte, verlor er selber die Lust.

»Na, laß man, du bist zu dumm dazu, Fräulein Tante Weber«, meinte er halb mitleidig, halb verächtlich.

»Aber Erich, so sagt man doch nicht«, verwies ihn Anni, eingedenk ihrer Rolle als stellvertretende Mutter, erzieherisch.

»Na, wie denn? Zu dämlich?« Treuherzig fragend sahen die Kinderaugen sie an.

»So was Häßliches sagt man überhaupt nicht«, kürzte die junge Kinderhirtin weitere Auseinandersetzungen ab, um möglichst schnell wieder zu den »Buddenbrooks« zurückzukommen.

Ja – wo waren die? Der Hut mit dem schottischen Bande lag noch auf dem Platz – die »Buddenbrooks« waren verschwunden. Keiner wußte, wo sie hingekommen. Das kleine Kindermädel, das sie bewachen sollte, lehnte jede Verantwortung ab und heulte, sie habe das Buch nicht gestohlen. Auch die übrigen auf der Bank konnten nichts über den Verbleib aussagen. Ein paar große Jungen sollten sich einige Male beim Spielen hinter der Bank versteckt haben, und »sone Schlingel verkloppen oft ihre alten Schulbücher, warum nicht auch Bücher von anderen Leuten«, ließ sich ein nicht gerade sehr Vertrauen erweckender Nachbar vernehmen. Na, mochte dem sein, wie ihm wolle – die »Buddenbrooks« kamen trotz aller Erörterungen nicht wieder zum Vorschein. Soviel auch Anni jeden auf dem Spielplatz Lesenden aufs Korn nahm, trotzdem sie einen jeden mit einem Buch Vorübergehenden für den Dieb hielt, futsch waren sie, die »Buddenbrooks«! O Gott! Solch ein Buch war jetzt teuer. Und ersetzen mußte sie's. Es blieb trotzdem für Eva unersetzlich, denn ein Onkel, der im Auslande lebte, hatte es ihr bei seinem letzten Berliner Aufenthalt mit einer eigenhändigen Widmung geschenkt. Nein, wie schrecklich unangenehm! Wäre sie doch bloß Muttchen gefolgt, die ihr abgeraten hatte, ein geliehenes Buch mit in den Tiergarten zu nehmen, weil es Flecke bekommen konnte. Nun mußte sie für ihren Leichtsinn büßen.

Anni hatte große Mühe, die Tränen, die sich heiß in die Augen drängten, zurückzuhalten. Die goldenen Sonnenfunken, die durch das Gezweig sprühten, taten ihr weh. Und der Sang der Vögel, dem sie sonst so gern lauschte, verdroß sie. Erich hatte heute eine recht wortkarge Kinderhirtin. Er faßte denn auch sein Urteil über sie der ihren vergötterten Enkel wie fast alltäglich besuchenden Großmama gegenüber dahin zusammen: »Tante Fräulein Weber ist doof!« Dieser Ausdruck war seine neuste Errungenschaft.

Die Tage vergingen. Anni gewöhnte sich an ihren Verlust und Erich sich an seine Kinderhirtin. Sie hatte die peinliche Mitteilung Freundin Eva gegenüber überwunden, Erich seine Abneigung gegen Fräulein Tante Weber. Beide waren jetzt gut Freund miteinander. Einmal hatte die junge Kinderhirtin den Versuch gemacht, auch Kurtchen ihrer »Herde« einzureihen. Aber es blieb bei dem ersten und einzigen Versuch. Wie losgelassene Böcklein sprangen die zwei mit lautem Getobe umher und waren nicht zu bändigen. Sie zankten und prügelten sich, rissen sich gegenseitig die Spielsachen fort und versetzten die junge Hirtin den ganzen Vormittag in Aufregung und Bewegung. Nein, so leid es Anni tat, daß der kleine Bruder blaß aussah, während Erich von Tag zu Tag sonnengebräunter wurde, so gern sie der Mutter die Sorge abgenommen hätte, sie konnte sich ihre soziale Tätigkeit unmöglich derart erschweren. Kurtchen kam trotz Bettelns, Schreiens und Trampelns künftig nie wieder mit.

Fast zwei Wochen war Anni nun schon Kinderhirtin, und Frau Hauptmann war recht zufrieden mit ihr. Anni selbst betrachtete ja eigentlich ihr Amt bereits heimlich als eine Last. Sie tat jedesmal zu Hause so, als ob sie der sozialen Pflicht ein Opfer brächte, wenn sie mit Erich in den Tiergarten pilgerte. Dabei strengte sie sich wirklich dort nicht allzusehr an. Eine Handarbeit war verpönt, weil die Kinderfräulein häkelten und flickten. Dafür sollte man sie doch keinesfalls ansehen.

Aber schmökern tat sie dort für ihr Leben gern. Im Anfang las sie die Klassiker, die ihr noch nicht bekannt waren, weniger aus Bildungsdrang, sondern um ihrer Umgebung zu imponieren. Später aber, als sie sah, daß Goethe, Schiller und Lessing wenig Eindruck auf die Umsitzenden machten, ging sie zu leichterer Lektüre über. Oft wußte sie gar nicht, wo der Vormittag beim Lesen geblieben war. Nein, allzu anstrengend war Annis Tätigkeit wirklich nicht.

Auch ihre Freundinnen bestellte sie sich öfters, wenn diese gerade eine Freistunde hatten, auf den Spielplatz. Dann kam es sogar vor, daß sie manchmal das Lämmlein, das sie hüten sollte, über den lustigen Schwatz ganz vergaß. Eva, die Zuverlässige, mußte sie erst wieder an den Kleinen erinnern.

Heute sah Anni, als sie von ihrem Buche aufblickte, zufällig eine ehemalige Schulkameradin den Platz überqueren. Auch die andere erkannte sie, und die Wiedersehensfreude war groß. Auf der Bank war leider kein Platz mehr frei. Anni gab den ihrigen auf und hängte sich in den Arm der ehemaligen Mitschülerin. Sie pendelten, in eifrigem Gespräch vertieft, hin und her. Was wurde da nicht alles vorgekramt, alte Schulgeschichten, lustige und ernste Episoden, was aus der und was aus jener geworden, und wie sich jede ihre Zukunft dachte. Schließlich unterbrach die Schulkameradin das interessante Gespräch mit eiligem: »Du, Anni, ich muß weiter – ich habe heute noch Klavierstunde. Komm, begleite mich noch bis zur nächsten Bank.« Anni war gern bereit. Mit keinem Gedanken dachte die Kinderhirtin des ihr anvertrauten Pfleglings. Und wenn sie selbst an ihn gedacht hätte, würde sie wohl auch kaum deshalb zurückgeblieben sein. Erich spielte ja artig, die nächste Bank war nicht weit, und wer weiß, wann sie die Schulkameradin mal wieder sah.

Aus der nächsten Bank wurde die übernächste und noch eine nächste. Schließlich trennte sich Anni von der Gefährtin, nachdem man fast zehnminutenlangen Abschied genommen. Langsam schlenderte sie zum Spielplatz zurück, unbekümmert und wohlgemut. Kein Gedanke, daß sie ihre Pflicht vernachlässigt hatte, störte ihre gute Laune.

Ihr Platz war natürlich inzwischen von jemand anderem eingenommen. Sie suchte sich einen neuen und ließ dann erst die Augen über den großen kribbelnden »Ameisenhaufen« wandern. Dort kribbelte es noch immer munter durcheinander, aber Erichs tütenblaues Schurzfell leuchtete nicht daraus hervor. Annis Sorglosigkeit fand darin durchaus keinen Grund zu irgendwelcher Beunruhigung. Gewiß spielte er mit anderen Kindern Versteck; hinter irgendeinem Baum würde er bald auftauchen. Sie begann zu lesen. Es war gerade eine recht spannende Stelle.

Plötzlich schreckte sie hoch. Ein Schatten fiel auf die Buchseite.

»Ei, guten Tag, Fräulein Weber, wo ist denn unser Erich?« Es war die Großmama, die ihr Enkelchen wieder im Tiergarten aufsuchte.

»Erich« – Anni kam aus einer anderen Welt in die Wirklichkeit zurück – »der muß doch hier spielen.« Es klang immer noch unbesorgt.

»Wo denn? Ich sehe ihn gar nicht. Ich bin schon einige Male über den Spielplatz hin und her gegangen, um ihn zu suchen. Gewiß hat er sich versteckt, der kleine Schelm.«

»Ja, sicher, das macht er gern. Erich – Erich – wo bist du?« Anni erhob ihre Stimme, trotzdem sie sich sonst stets darüber aushielt, wenn die Kinderfräulein laut nach ihren Zöglingen riefen. Aber plötzlich war ihr zum Bewußtsein gekommen, daß sie den Kleinen eigentlich doch schon eine ganze Weile nicht gesehen hatte, wie lange wußte sie gar nicht mehr. Etwas eigentümlich Beklemmendes legte sich ihr auf die Brust. Sie lachte es fort.

»Na, wir werden ihn gleich haben, den kleinen Mosjö. Sitzt er etwa hier hinter den Fliederbuketts? Oder steckt er am Ende dort drüben hinter der Steinnymphe? Halt – da leuchtet es ja blau neben der Rotdornhecke – ach nee, das ist ein Mädchenkleid!« Soviel Anni auch suchte und spähte, das tütenblaue Schurzfell wollte sich nicht zeigen.

Die Großmama bekam es jetzt mit der Angst zu tun.

»Aber ich begreife nicht, Fräulein Weber, das Kind muß doch da sein. Es hat doch hier vor Ihren Augen gespielt. Wann haben Sie es denn zuletzt gesehen?« Die alte Dame hatte bereits hochrote Backen vor Aufregung.

»Das – das ist – das ist noch gar nicht so lange her«, stotterte Anni und hatte das unangenehme Gefühl, daß sie nicht bei der Wahrheit blieb. »Er spielte mit andern Kindern ›Bäcker‹ und hatte sich dazu einen großen Backofen gebaut.« Anni sprach hastig und erregt, jeden Augenblick hoffte sie, Erich irgendwo zu erblicken. »Ich kann ja mal die anderen Kinder fragen« – o Gott, wie unangenehm, daß die Großmama gerade jetzt wieder kommen mußte?

Keins von den Kindern konnte Auskunft über Erich geben. Ihre Aussagen widersprachen sich sämtlich.

Die Großmama flog an allen Gliedern. »Aber wozu sind Sie denn hier, Fräulein Weber, doch einzig und allein dazu, um auf das Kind aufzupassen, zum Schmökern doch wirklich nicht!« Die sonst so liebenswürdige alte Dame wurde in ihrer großen Sorge scharf und vorwurfsvoll.

Ehe Anni noch ein Wort zu ihrer Entschuldigung herausbringen konnte, mischte sich eine Stimme von der Bank, vor der sie gerade standen, in das Gespräch. »Der Erich hat seine Kinderhirtin überall gesucht, und weil sie nirgends zu finden war, hat er laut geweint.« Es war das Kinderfräulein, mit der Anni am ersten Tage auf dem Spielplatz aneinander geraten war. Man sah es ihr an, welche Schadenfreude es ihr bereitete, der Kollegin, die sich so stolz überhoben hatte, eins auszuwischen, ganz besonders, wie sie das Wort »Kinderhirtin« betonte.

»Und wo ist der Kleine dann bloß hingegangen, liebes Fräulein?« Die Augen der Großmama hingen an den Lippen der Fremden. Die zuckte gleichmütig die Achseln.

»Keine Ahnung von 'ner Idee! Ja, wenn sich keiner um ihn kümmert –«

Anni schoß das Blut in das vor Schreck blaß gewordene Gesicht und das Wasser in die Augen.

»Fräulein Weber, hatten Sie den Spielplatz verlassen?« Bis auf den Grund ihrer Seele schienen die alten Augen zu dringen.

»Nur ganz kurze Zeit. Ich begleitete eine ehemalige Schulkameradin ein paar Schritte.« Anni fühlte das Herz bis in den Hals hinein pochen; sie konnte kaum sprechen, so laut pulsierte es.

»Himmlischer Vater, was kann unserm Kinde nicht alles inzwischen passiert sein. Die vielen Autos hier auf der Charlottenburger Chaussee, – Barmherziger, wenn er überfahren worden wäre! Und da denkt meine Tochter nun, sie habe eine zuverlässige, pflichttreue junge Dame bei ihrem Kinde! O Gott, wo mag unser Liebling sein?«

Das Jammern der verängstigten Großmutter tat Anni weher als ihre berechtigten Vorwürfe. Wie eine zentnerschwere Last drückte ihr die große Verantwortung, die sie auf sich geladen, das Herz ab. »Vielleicht ist er am Goldfischteich, er sieht die Fische so gern«, wagte sie ganz leise einzuwerfen.

»Am Goldfischteich?« Dieses Wort jagte der Großmama neues Entsetzen ein. »Da ist er sicher ins Wasser hineingefallen, das Gitter ist so niedrig, und er wagt sich immer so weit vor.« Die beiden Damen jagten den Weg, der zu dem unweit gelegenen Goldfischteich führte, entlang. Der Teich lag träumend in der Mittagshitze, von blühenden Sommerbüschen umsponnen. Goldfunken streute die Sonne über seinen Spiegel. Golden blitzte es hier, blitzte es da in dem stillen Wasser – das lustige Spiel seiner flink dahinschnellenden kleinen Bewohner. Kinderjauchzen begleitete das muntere Treiben der Fischchen, denn der Goldfischteich war ein beliebter Aufenthaltsort für die Kinderwelt.

Kein Erich darunter – soviel auch Anni hinter den lauschigen, grünen Nischen, die sich längs des Sees entlangzogen, forschte – sooft auch die Großmama hinter jeden kleinen, blonden Jungen, selbst wenn er ganz anders aussah, hinterherlief. Keine Spur von Erich. War er überhaupt hier gewesen? Die Goldfischchen blieben stumm, sie verrieten nichts.

Jedenfalls schien Großmamas Furcht, daß der Kleine in das Wasser gestürzt sei, unbegründet. Eine Dame, die mit ihren Kindern den ganzen Vormittag dort gesessen, hatte von keinem Unglücksfall gehört.

»Wir müssen die Polizei benachrichtigen«, meinte die alte Dame in plötzlichem Entschluß.

»Die Polizei?« Es wurde Anni schwarz vor den Augen. Sie sah sich bereits wegen grober Fahrlässigkeit im Gefängnis. »Am Ende ist er nach Haus gegangen, er kennt ja den Weg«, wagte sie mit gepreßter Stimme leise einzuwenden.

»Nein – wie können wir meiner Tochter vor die Augen treten, wenn unser kleiner Liebling verschwunden ist. Erst muß alles zu seiner Herbeischaffung eingeleitet sein.« Die Großmama schritt auf den nächsten Polizisten zu und machte ihm ihre Angaben, während Anni mit niedergeschlagenen Augen ihre Schuld mitanhören mußte.

»Na, da brauchen Se sich nich so aufzurejen, Madammchen. Hier im Tierjarten kommt so was öfters mal vor, daß eins von die kleine Jesellschaft heidi ist. Aber die haben sich noch allemal wieder anjefunden. Und wenn er bis heute abend nicht da sein sollte, denn melden Se's bei Ihrem Polizeirevier.«

Bis heute abend – das überlebte die Großmama nicht, so lange zu warten. Sie mußte sich auf Annis Arm stützen, denn die Beine versagten ihr den Dienst. Auch Anni schleppte sich vorwärts. Jeden Entgegenkommenden fragten sie, ob er nicht einem kleinen, blonden Jungen mit blauer Schürze begegnet sei. Vergebens. So kamen sie schließlich in die Straße, in der Hauptmanns wohnten.

»Zum Polizeirevier – erst muß die Polizei alarmiert werden.« Die Großmama schritt an dem Haus vorüber. Anni war der kleine Aufschub durchaus willkommen. Lieber zur Polizei, als Erichs Mutter ohne das ihr anvertraute Kind entgegentreten.

»Omama – Omama –, Fräulein Tante Weber –.« Wie eine Engelstimme klang es da plötzlich vom Himmel herab.

Vom Himmel? Ein Balkon war's im dritten Stockwerk, von dem der Ruf erging, und die Stimme war eine kräftige Jungenstimme. Aber den beiden unten schien sie aus überirdischen Sphären zu kommen.

»Erich – er lebt – mein Gott, ich danke dir!« Die Tränen, die bisher krampfhaft zurückgehaltenen, brachen sich jetzt bei Anni Bahn. Die Großmama bekam keinen Ton heraus. Entfärbt stützte sie sich mühsam auf Annis Arm. Die Entspannung nach der großen Aufregung hatte ihr Herz angegriffen.

Kölnisches Wasser und Baldriantropfen brachten die alte Dame oben bald wieder zu sich. Besser aber wirkten noch Erichs Liebkosungen, die Gewißheit, daß sie ihren kleinen Liebling leibhaftig unversehrt in den Armen hielt.

Die weinende Anni stand schuldbewußt beiseite.

»Erich ist allein nach Hause gekommen, weil er Sie auf dem Spielplatz nirgends finden konnte, Fräulein Weber.« Auch Frau Hauptmann sah erregt aus, trotzdem sie sich Mühe gab, ruhig zu sprechen. »Ich hatte geglaubt, einer Kinderhirtin unbedingtes Vertrauen entgegenbringen zu können. Es betrübt mich sehr, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe, Fräulein Weber, denn ich habe Sie gern gemocht. Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen nach den heutigen Erfahrungen mein Kind nicht mehr anvertrauen kann. Hier ist Ihr Gehalt für die beiden Wochen, in denen Sie mit Erich spazierengegangen sind.« Frau Hauptmann legte einige Geldscheine auf den Tisch.

Abgelohnt – entlassen! Anni biß sich auf die Lippe, daß sie blutete, um nicht laut loszuheulen. Dann aber riß sie sich zusammen. »Ach, liebe, gnädige Frau« – flehentlich griff sie nach der Hand der Dame –, »bitte, bitte, versuchen Sie es doch noch einmal mit mir. Ich habe so schwer um Erich heute gelitten, ich werde ganz sicher nicht wieder unzuverlässig sein.«

Es war nicht leicht, diesem liebreizenden, weinenden Mädchen seine inbrünstige Bitte abzuschlagen. Frau Hauptmann Kühne wurde schwankend. Ihr Blick glitt von der Flehenden zu ihrer immer noch bleich im Sessel lehnenden Mutter und weiter zu ihrem blühenden Kinde, das mit großen, neugierigen Augen die Vorgänge beobachtete. Nein, sie durfte ihren Kleinen nicht wieder einer derartigen Gefahr aussetzen, nicht ihre Mutter einer solchen Aufregung.

»So leid es mir tut, liebes Kind, es muß bei dem bleiben, was ich gesagt habe. Das Wohl meines Kindes geht mir über alles. Lassen Sie es sich gut gehen, und denken Sie daran, daß Pflichtbewußtsein die Grundbedingung für alles ist, was wir auch tun.« Sie reichte Anni die Hand, die das junge Mädchen stumm an die Lippen zog.

Dann nahm Anni von der Großmama und von Erich Abschied.

»Weine nicht, Fräulein Tante Weber.« Gutherzig trocknete ihr der Kleine mit seinem Tüchlein die Augen. »Ich nehme dich mal wieder mit in den Tiergarten, wenn du auch Schneewittchen und Aschenbrödel nicht richtig erzählen kannst.«

Die Tür schlug hinter Anni zu. Ihre vierzehntägige Laufbahn als Kinderhirtin war zu Ende. Wie das erste selbstverdiente Geld, auf das sie so stolz gewesen, ihr in der Hand brannte. O Gott – was würde man zu Hause nur zu ihrer schmachvollen Niederlage sagen!

Daheim bei der Mutter gab es eine tränenreiche Beichte.

»Ich brauche dir keinen Vorwurf mehr zu machen, Anni, du bist genug bestraft. Vielleicht ist dir die Lehre, die du heute erhalten hast, heilsam für dein ganzes Leben. Dann ist sie mit deinen Tränen nicht zu teuer erkauft«, sagte die Mutter. »Gib mir den Beweis, daß es dir mit deiner Reue ernst ist, dann soll die Angelegenheit für uns erledigt sein. Zeige dich im Haushalt und bei Kurtchen künftig zuverlässig.«

»Vertraust du mir – vertraust du mir Kurtchen denn noch an?«

Ja, eine Mutter vertraut ihrem Kinde. Annis geknicktes Selbstbewußtsein rankte sich daran wieder empor. Muttis Vertrauen, das ihr so wohl tat, wollte sie ganz gewiß nicht enttäuschen.

Diesmal blieb es Anni ernst mit ihrer Vornahme. Sie wurde in den Monaten, bis sie die Kunstgewerbeschule besuchte, Mutters rechte Hand im Haushalt. Zuverlässig und pünktlich tat sie ihre Pflicht. Über ihre mißglückte Laufbahn als Kinderhirtin fiel bei Landgerichtsrats kein Wort mehr. Nur Kurtchen, der jetzt, wo Anni täglich für ihn zum Spazierengehen Zeit hatte, ordentlich aufblühte, nannte sie zärtlich manchmal »Meine deliebte doldene Tinnerhirtin«. Er hatte das Wort nicht vergessen.

Nach Jahren, als Anni längst ihren Beruf ausübte und wegen ihrer Pünktlichkeit und Pflichttreue allgemeine Achtung genoß, meinte sie manchmal lächelnd: »Es war doch ganz gut, daß ich vierzehn Tage lang mal Kinderhirtin gewesen bin.«


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