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Lessing.

Eine Novelle.

———————

Es war spät am Abend, ein heftiger Sturm schüttelte an den Fenstern und Thüren des alten herrschaftlichen Schlosses; die Dienerschaft hatte sich, da ihr Tagesgeschäft fast vollendet war, in einen entfernten Theil des weitläufigen Baues zurückgezogen, und saß hier um die Flamme des Ofens in behagliche Gruppen vertheilt.

Nur einer fehlte in diesem Kreise, und zwar die Hauptperson; dieses war der alte Kammerdiener Christian, ein treuer Anhänger des Hauses, der vor wenigen Tagen seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Er war, da der Postbote, welcher zweimal wöchentlich in's nahegelegene Dörfchen hinab mußte, krank geworden, selbst hingeritten, um seiner jungen Herrschaft, den beiden Comtessen, sich auf's angelegentlichste dienstbar zu bezeigen. Nun konnte es seyn, da er schon frühe ausgeritten und noch nicht heimgekehrt war, daß dem alten Mann in der Finsterniß ein Fährniß zugestoßen, oder daß das ungewöhnlich starke Wetter, welches seit zwei Stunden ununterbrochen wüthete, ihn im Dorfe zurückgehalten habe. Die alte Gertrud, die frühere Wärterin des jüngsten Fräulein, meinte jedoch kopfschüttelnd, daß den Christian der Tod selbst nicht abhalten könne, zur bestimmten Zeit einzutreffen, wenn er im Dienst seiner Herrschaft einen Gang angetreten, denn so etwas Genaues und Eifriges im Geschäfte gäbe es durchaus nicht mehr, und der Christian sey eben auch noch ein Stück aus der alten guten Zeit, wo Alles frömmer und besser gewesen. Sie seufzte bei diesen Worten tief und richtete ihre Augen gen Himmel.

Ein junger Bursche im Kreise, der die seinigen auf das hübsche Kammermädchen, die kleine Babet, heftete, sagte: »Ich danke dem Himmel wirklich recht herzlich, daß wir nun endlich auf diesem alten Schlosse erlöst werden; morgen geht's nach Berlin, und das ist doch eine Stadt, wo ein Christenmensch sich anständig amüsiren kann.«

»Sprich: wo ein Christenmensch mit Leib und Seel' zu Grunde gehen kann, mein Sohn!« setzte Gertrud hinzu.

»Ihr habt recht, Muhme,« nahm jetzt der dicke Stallaufseher Andres das Wort, indem er das rothe freundliche Gesicht mit dem braunen schlicht gekämmten Haar näher zum Feuer rückte; »mir ist auch bei der bevorstehenden Rückkehr in die Stadt bang zu Sinn. Die guten Früchte, die hier die Einsamkeit, Lehre, Ermahnung und Predigt getragen, können in der Babelsverwirrung wohl wieder verloren gehen. Mir ist es hier auf dem Lande recht wohl geworden; die Woche über gab es das regelmäßige Geschäft, nicht zu viel und nicht zu wenig, gerade wie es ein Christenmensch braucht, und war das Werk vollbracht, so kam der schöne Sonntag, die herzerhebende, liebe, feiertägliche Stille; früh Morgens machte man sich auf den Weg in's Dorf zur Kirche, Bursche und Mädchen geputzt und in ihrem Gott vergnügt. Der Steg den Hügel hinab, zwischen den Kornfeldern, später im Schatten der alten Kirchhoflinden, wimmelte von bunten Schaaren, die alle das Heil suchten, und von denen keiner ungetröstet wieder heimgieng. Besonders wurde es mir so gut in Eurer Gesellschaft, Gertrud, jene fromme Versammlungen zu besuchen, wo mich denn immer Predigt und Ermahnung auf das Herzlichste erquickten.«

»Lieber Andres,« nahm Gertrud das Wort, »Du hast in Deinem rohen Geschäfte ein sanftes, friedfertiges Herz bewahrt, Gott erhalte Dir dieses in der bösen, bösen Zeit.«

»Was war ich,« fuhr Andres fort, »ehe ich Euch und jene frommen Leute, die die gottlose Menge verspottet, kennen lernte. Mein Vater war Schulmeister-Gehülfe, und hätte mich gerne in gleichem Amte gesehen; allein es gab keinen thörichtern, ausgelassenern Burschen als mich im Dorfe; zu keinem Geschäfte wollt' ich mich brauchen lassen, und etwas Gutes zu lernen, hatte ich durchaus nicht die Absicht; nur wo es bösartige Streiche galt, war ich mit Leib und Seele dabei. Auf diesem Wege wäre ich nun gewiß verloren gewesen, wenn nicht damals, wie Ihr wißt, die langwierige und schwere Krankheit mich befallen hätte, in Folge des bösen Falles, den ich that. Da gab es denn einsame Stunden in Menge, in denen sich mir mein Gott und mein Heiland näherten, mich zur Buße und zur Bekenntniß erweckend. Dieser heilsamen Zeit habe ich's zu danken, daß ich ein ordentlicher, arbeitsliebender Mensch geworden bin.« –

»Ja!« rief der junge Bursche, »ich besinne mich, daß damals die Leute sagten, als es ruchbar wurde, Du seyest auch in die Gesellschaft der frommen Zopfträger des Herrn gegangen: Du wärest fromm geworden, seitdem Du auf den Kopf gefallen.«

Andres antwortete hierauf nicht, doch Babet, das Kammermädchen, lachte schnippisch und ausgelassen. Ihr war der fromme Discurs, der anzurücken drohte, äußerst zuwider, und sie nahm schnell die eintretende Pause wahr und rief:

»Ich, für meene Person, thu jar su jerne nach Berlin surückgehn; man thut jo hier alles verlernen, selbst meene reene jute Aussprache, weil man keenen ehnzigen Menschen von Reputation sieht, aber in Berlin unter den schönen grinen Beemen, wo die Trommel gerehrt wird, und die velen Soldaten und Offizöhre gehn, da ist meen Leben.«

Andres erwiderte: »Ja, Jungfer Babet, da wird es wieder Briefchen zu bestellen geben, und Sie kann nach den Grenadieren schielen, die Sie so sehr liebt.«

»Er apparter Mensch!« rief das hübsche Mädchen; »was die Breefe betreffen thut, so wees ich jar nicht, was er meenen kann, aber die Grenaddire, ja da hat er recht. Es giebt doch auf der Jotteswelt nichts pläsanteres, als so een Grenaddir mit einem recht langen Zopf. O Jott, Jott, was thut nun meen geliebter Grenaddir machen! ah, mon ami, wann werden wir uns wiedersehn? Der jarstige Krieg!«

»Ja,« nahm Andres das Wort, »der Krieg macht die Männer rar; beißt Ihr Grenadier in's Gras, Jungfer, so muß Sie einen von uns wählen.«

»Jeses!« rief Babet, »wie Er mir erschreckt.« –

»Es ist nicht anders,« fuhr der phlegmatische Sprecher fort, »ich weiß eine entsetzliche Geschichte von einem todten Grenadier, die sich die Jungfer wohl zu Herzen nehmen könnte.« –

»Erzähle sie,« rief Gertrud; »ist sie fromm und gottselig, so höre auch ich dergleichen an, wenn es draußen stürmt und man vertraulich am Feuer beisammen sitzt.«

»Als mein Großvater noch auf dem Dorf lebte,« hub Andres an, »so trug sich folgende Begebenheit daselbst zu, die unter dem gemeinen Volk jetzt noch wohl bekannt ist, und die man die

Geschichte vom todten Grenadier

zu nennen pflegt. Es war zu der Zeit der gottseligen Regierung des Vaters unsres gnädigen Herrn, als, ich weiß nicht welcher große Krieg ausgebrochen war, der viele junge Mannschaft außer Landes brachte. Unter diesen befand sich auch ein junger Grenadier, der sein Mädchen, das er herzlich liebte, daheim zurücklassen mußte. Es geschah, daß bei Gelegenheit einer großen Schlacht der junge Soldat mit vielen andern getödtet und im fernen Ungarlande beerdigt wurde. Das Mädchen, das sich sein Ausbleiben nicht deuten konnte, brach in Thränen und bittere Klagen aus, wollte sich auf keine Weise zufrieden geben, und rief unaufhörlich ihren Liebsten bei Namen.

Nun wißt ihr aber, daß ein Todter in seinem Grabe nicht schlafen kann, wenn ein Lebender ihn immerfort und mit Thränen anruft; die Thränen durchnässen ihm das Leichenhemd, und er muß heraus, er mag wollen oder nicht. So war es auch hier; der kalte Mann, der keine Begier mehr nach Kuß und Umarmung hatte, muß fort und zu dem Mädchen, das ihn ruft. Er schwingt sich auf ein wunderbares Pferd, das ihn aus dem fernen Ungarlande im Nu vor die Hausthüre seines Liebchens bringt.

Da ist es Mitternacht, und er muß lange warten, dabei ist's kalt, und der arme todte Mann hat keinen Hauch in der Brust, um in die Hände zu hauchen und sich zu erwärmen. Im Kämmerlein wacht das Liebchen, und schnürt eben liebekrank und seufzend ihr Mieder los; da hört sie's so leise hantiren: mit einem halben Blick durch die schwarzen Scheiben lugt sie hinaus, da sieht ganz nahe ein dunkles Auge sie an, und ein weißer Mantel flattert hoch auf. In ihrem Gottes frohen Schreck macht sie schnell auf, und bedenkt nicht, daß ihr loses Mieder die schönen weißen Brüste frei zur Schau läßt; aber der da draußen schielt nicht mehr nach eines Mädchens Busen, ihm ist nur darum zu thun, daß er bald wieder in Ungarn in seinem Grabe liege. Er muß ihr jetzt von Liebe sprechen und von Hochzeit, und möchte ihr so gerne gestehen, daß er längst schon todt und begraben sey.

Endlich schwingt er sich mit ihr auf's Pferd, und wie sie so reiten, tritt am Himmel der Mond hervor, und leuchtet ihnen. Es mag ein schauerlicher Ritt gewesen seyn, der Großvater hat sie so durch's Dorf kommen sehen; vor keiner Schenke hielt er an, denn weder ihm noch seinem Thier gelüstete nach irgend einer Erquickung; auch wurde die Reise immer wilder, je tiefer es in die Nacht ging. Es störte das Rößlein in seinem Lauf nicht Heckenzaun noch Fluß, ja zuletzt setzte es keinen Huf mehr auf und zog schaurig durch die Luft hin, dem blassen Monde nach, der sich vor den grauen flatternden Morgenscheinen zu retten suchte.

In der Frühe geht alles zur Ruhe, was in der Nacht geschwärmt hat: Kobold, Elf, Gespenst und Nix, denn die schönen Christengebete, die dann aus so vielen tausend dankbaren Herzen frisch mit dem Dufte der Blumen zusammen gen Himmel steigen, säubern die Erde, wie die Hand des Meßners den heiligen Altar von Spinnweb und Staub. So wußte auch der nächtliche Ritter, daß er nicht lange mehr Bestand haben würde, und spornte sein Thierlein, daß es entsetzliche Sprünge machte hoch in den dämmernden Himmel hinein, daß die Morgenwolken erschracken und furchtsam zurückflatterten. Das arme Mädchen hing an ihm, die Arme um seinen Leib geschlagen, und obgleich ihr ahnete, wohin es ginge, so hätte sie doch nicht mögen von ihm lassen, so heftig sind die Wünsche einer Braut.

Am Ende hat's nun eine gräßliche Erscheinung gegeben; er hat sich ihr gezeigt wie er war, nämlich nichts als Bein, dürres Todtenbein, und als die Arme vor Schrecken hat sterben wollen, hat er ihr zugerufen: dieses sey die Strafe für ihr Rufen und Schreien; es solle kein Mädchen ihren todten Liebhaber herbeiwünschen, sondern soll ihn im Grabe, worin er liegt, ruhig schlafen lassen. Dieß ist nun aber die Geschichte vom todten Grenadier.«

Der Kreis der Zuhörer, der während der Erzählung immer näher zusammen gerückt war, saß jetzt in stummem Schreck da, keiner wagte eine Bemerkung, und alle fuhren entsetzt und schreiend in die Höhe, als Schläge mit der Faust an's Fenster geschahen, und Christians Stimme rief:

»Die Stallthür aufgemacht, Andres! es ist ein Hundswetter!« –

Der Gerufene ging hinaus, und Babet, die sich am meisten entsetzt hatte, starrte athemlos auf die Thüre, die jetzt der eintretende Kammerdiener mit großem Geräusch aufriß, und noch in seinen schweren, vom Regen durchnäßten Mantel gehüllt in den Kreis und an's Feuer trat. Er bemerkte nichts von dem unglücklichen Eindruck, der sein Erscheinen begleitete, sondern fing auf seine Weise sogleich zu poltern und zu schelten an. – Es waren die vom Postboten gewöhnlich aus der Residenz mitgebrachten Bücher dießmal vergessen worden, und der Ritt in das ziemlich entfernte Dorf daher völlig fruchtlos gewesen.

»Der doppelte Satan hole den alten Jobs!« schrie Christian, sich immer noch im Mantel im Kreise herumdrehend, »und mit ihm den Herrn Secretarius, der die Lieferung zu besorgen hat; jetzt soll ich hinaufgehen mit leeren Händen, und oben sitzt die Bonne und die beiden lieben Fräulein, so begierig nach plaisanter Unterhaltung, als ich nach einer fetten Kalbskeule und einem Kruge Potsdamer. Ich sehe schon, wie die Alte ihre Nase um ein Drittel verlängert, da heißt es denn gleich: das Thier wird alt, besorgt nichts mehr recht, ist nicht mehr zu brauchen, muß es todtschießen lassen wie'n Hund, und was der vornehmen Begrüßungen sonst sind.«

Gertrud erhob sich, und schalt ihren alten Collegen wegen der harten Flüche und grausamen Redensarten; zugleich nahm sie ihm den Mantel ab, und trocknete ihm, so gut es gehen wollte, mit ihrem Busentuch die gepuderten und geleimten Seitenlocken wieder zurecht.

»Hört Kerle!« rief der Zürnende, »hat denn keiner von Euch so etwas, was wie'n Buch aussieht, was man den gnädigsten Comtessen für heute vorwerfen könnte: wenn der Hund hungrig ist, packt er am dürresten Knochen an. Ihr, Andres, seyd ja ein Stück von einem Gelehrten, schafft Ihr was herbei.«

Andres rieb sich hinter's Ohr: »Ich wüßte nicht Gevatter,« entgegnete er, »es müßte denn die königlich preußische Pferde-Ordnung seyn, die uns allen auf Befehl der Regierung neuerdings mitgetheilt worden.« –

Christian lachte aus vollem Halse: »Die Pferde-Ordnung! ein gescheuter Einfall! ja die Pferde-Ordnung, guter Junge, die wollen wir den Fräulein geben. Pack' Dich Bursche mit Deinem Witze, er ist wahrlich gröber noch als der meinige.«

Gertrud bemerkte, daß man »das stolze, triumphirende, gedemüthigte, zerschlagene und endlich mit seinem Gott wieder versöhnte Christenherz« hinauf senden könne.

»Auch nicht, Alte,« entgegnete Christian, »Du hast nun wieder diese Schwachheit am Leibe, bedenke, daß es junge Mädchen sind, daß die am liebsten für ihren Schnabel was haben wollen, d. h. amuröse Historien. Halt! was fällt mir da ein. Geht 'mal, Vetter Andres, in der Küchenecke, rechts, wo das alte Wasserfaß steht, befindet sich in dem verwitterten Schränkchen so 'ne Art von Bibliotheke; es sind zum Theil alte Tröster, die der Graf seliger wegwarf, als die große Sammlung in den obern Sälen eingerichtet werden sollte; gelt, da kann ich am Ende wohl noch was finden.«

Andres machte sich kopfschüttelnd auf den Weg, und Christian setzte sich seufzend zu einem kleinen Imbiß, den Gertrud in der Eile zusammengebracht hatte. Mitten im Essen hielt er inne, und gab Babet einen Wink, indem er aus einer einer vielen Taschen einen Brief hervorzog.

»Bei den amurösen Historien,« sagte er, »fällt mir ein, daß ich auch für Sie, Jungfer, was mitgebracht; der Wisch kommt sicherlich von Ihrem Grenadier und kostet mich sechs jute Groschen.«

Das erschreckte und erfreute Mädchen warf ihre Arbeit fort, sprang auf und haschte nach dem Brief.

»Halt!« rief der Alte, »soll ich Ihr noch Conduite lehren. Die sechs Groschen her, die sechs jute Groschen!«

Babet suchte eifrig in ihrer Tasche, bis sie das verlangte Geld beisammen hatte, dann drückte sie den Brief verstohlen an ihre Lippen und rief: »I, Jees, so ist mein Jean nicht todt, so bin ich doch ohne Ursach so kanibalisch wehmüthig geworden über des Andres dumme Geschichte.«

Sie öffnete das Siegel, und rückte näher an das Feuer; allein es fand sich, daß die Krähenfüße des Geliebten von so tückischer Natur waren, daß sie sich durchaus nicht sogleich enträthseln ließen; das arme Mädchen stotterte und wurde vor Ungeduld roth.

»Na, was schreibt der jute Junge?« fragte Christian, indem er sich bei der Frau Gertrud niedergelassen; »laß 'mal hören.«

Babet las: »Liebes Lengen! ich nenne Dir nicht Babet, weil das so französisch klingen thut, und ich wie alle ehrlichen Preußen die Franzosen janz mörderlich hasse. Wir haben vor einigen Tagen wieder ein recht blutiges Massaker gehabt, wo eben wie immer unsre Fahne gesiegt hat; beinahe wäre ich, wie vor einem Jahr, in die Hände eines Krabaten gefallen, doch gelang es mir noch, mich just durchzufuchteln. Was machst Du, Lene, und was der lange Vetter Christian, ist er noch immer Kammerkätzchen bei den gnädigen Comtessen?«

»Oho,« rief Christian, »was ist das für Tollheit!«

»Ich habe mich verlesen,« stotterte Babet, »es soll heißen: bist Du noch immer Kammerkätzchen bei den gnädigen Comtessen? Bleib mir nur treu, Mädel, und laß Dir nichts aufbinden vom frommen Pack; ich hab' gehört, in Berlin soll man jetzt janz teufelsmäßig fromm seyn. Hol's der Henker, ein junges hübsches Mädel, wie Du, hat noch kein Himmelreich nicht nöthig, der Kuß ihres Liebsten ist ihr Himmelreich!« –

Babet wurde roth, und Frau Gertrud schüttelte das Haupt.

»Wir Soldaten,« lautete der Brief weiter, »halten es mit dem König und sind alle Philosophen, das ist die beste Manier, sich durch die Welt, die eigentlich, unter uns gesagt, miserabel ist, durchzubeißen. Wie geht's den hübschen Comtessen, sind sie noch immer nicht an den Mann gekommen? aber so etwas will hoch hinaus.« –

»Halt,« rief Christian, »über die Herrschaft kein Wort, und übrigens laßt die Epistel jetzt zu Ende seyn; da flucht und poltert Jemand die Stiege hinan; wer mag's seyn?«

Das gerührte Kammerzöfchen faltete den Brief zusammen, und ihn in den Busen schiebend, seufzte sie, indem sie sich die Thränen abtrocknete: »Du juter Jott, wie hat nur eine dienstbare Person, wie ich, einen so treuen Amanten verdient!«

Man hörte jetzt eilige Tritte; die Thüre wurde aufgerissen, und ein junger Mensch von blühendem Aussehen, dessen Kleidung aber arg von Wind und Wetter zugerichtet war, stand vor der ehrenwerthen Versammlung.

»Das fehlte noch!« brummte Christian, »da kommt nun noch der, und will wie gewöhnlich vorlesen, und es ist eben nichts da.«

Er wandte sich hierauf zum Ankömmling und rief: »Ey, ey, Herr Ephraim, was kommt Euch an, wie der Leibhaftige in Sturm und Nacht herumzutosen? Ihr kommt doch nicht, um vorzulesen?«

Der Jüngling sah dem erschreckten Alten lachend in's Gesicht; er war dem Feuer nahgetreten und seine Gestalt hob sich vortheilhaft hervor aus der Gruppe, die ihn umgab. Ein kurzer grüner Rock mit blitzenden Metallknöpfen umspannte seine schlanke Taille; im Gürtel, den er über eine weiße gestickte seidene Weste ziemlich sorglos geschnallt, steckte eine alte Waffe, halb einem Dolch, halb einem Hirschfänger ähnlich; Strümpfe und Beinkleid waren bis oben zu durchnäßt und mit Erde befleckt, das Haar, vom Puder entblöst, hing frei an den vom Wetter gerötheten Wangen herab.

»Freilich komme ich, um vorzulesen,« rief er Christian auf dessen Frage zu – »geschwind, Alter, wo hast Du die Bücher?«

Diese Frage stürzte den Sorgenvollen wiederum in die Nacht der Verzweiflung. »Bücher?« schrie er, und stampfte auf den Boden, »das ist ja grade das Kreuzdonnerwetter, daß keine da sind! Sieh' da, Andres, goldner Junge, was hast Du denn da? Laß seh'n, das ist ja ein Buch wie'n Kirchturm!«

Er nahm dem Stallaufseher einen dicken bestäubten Lederband ab, und öffnete kopfschüttelnd die Klammern des Deckels. »Schöne Bilder!« rief er, auf die Holzschnitte zeigend, die die vergelbten Blätter zierten, »aber der Teufel lese, was da drinn steht.«

Der Jüngling bog sich über die Schulter des Alten, und kaum hatte er einen Blick in's Buch gethan, als er ausrief: »Trefflich! ganz wie bestellt! dieß Buch will ich vorlesen.«

Christian lachte; »wenn der alte Tröster,« rief er, »nur nicht so nach dem Küchenschrank röche, so merkt man's ihm aber an der Nase an, daß er nur mit Salz, Butter und Häring umgegangen und in schlechter Gesellschaft alt und grau geworden. Ein Theil seiner ehrwürdigen Person ist ihm schon abhanden gekommen, denn der Koch hat die Blätter zu der Unterlage der Morgenpastetchen für die Bonne gebraucht.« –

»Schadet alles nichts,« rief der Jüngling, »nur rasch hinauf damit zu den Damen!«

Er wollte fort, doch Christian vertrat ihm den Weg. »Hol der Henker die Schule, wo Er Conduite gelernt hat, Monsieur Ephraim! Platzt man so zu einer durchlauchtigen Herrschaft hinein? Da kommt Er mir in's Amt! Ich, Christian, erster Kammerdiener hier im hochgräflichen Hause, sage: keinen Fußbreit weiter, oder sans permission die Thüre gewiesen, und wäret Ihr zehnmal der Sohn unsers Herrn Pastors! Conduite sag' ich, – erst angemeldet.«

»Aber in diesen Kleidern?« murrte Gertrud, »der Junker zittert ja noch vor Kälte! Ehe Du so zanktest, Christian, hättest Du wohl daran denken sollen, dem lieben Herrn Ephraim Einiges von Deinem Sonntags-Staate anzubieten.«

»Die Narren werden mich toll machen!« rief der Jüngling, heftig mit dem Fuße stampfend.

Christian führte ihn, fast wider Willen, bei Seite. Ein Paar hochrothe Strümpfe und ein Festbeinkleid waren bald angelegt. Babet übernahm es, das verwirrte Haar zu ordnen, und bald stand er wunderlich geputzt da, mit dem mächtigen Folianten unterm Arm. Christian, ohne auf die Ungeduld seines jungen Gefährten im mindesten zu achten, ergriff den silbernen Doppelleuchter aus dem Vorgemach, und, leise die Treppe hinaufsteigend, zog er an der Klingelschnur. Es öffneten sich die hohen altertümliche Säle, und sie schritten durch eine Reihe unbewohnter Gemächer, bis sie an die Thüre des Cabinets kamen, wohin sich die einsamen Frauen zurückgezogen hatten, und aus dem man Töne einer Harfe vernahm. Der Kammerdiener ging hinein, und trat sogleich wieder hervor, indem er mit strenger Haltung und ernster Stimme rief: »Ihre gräfliche Gnaden sind zu Hause!« –

Als des Eintretenden Fuß den feinen Teppich berührte, wandten sich die drei Bewohnerinnen des alterthümlichen Gemaches zugleich nach ihm um. Ein junges Mädchen, blühend wie der lächelnde Frühling, ruhte, auf ein Paar Polster gelehnt, auf dem Boden vor dem Kamine; die Flammen spiegelten sich im Atlas ihres Kleides, und färbten die schweren weißen Falten mit durchsichtigem Purpur. Seitwärts, mehr im Schatten, saß die zweite junge Dame, an einer damals üblichen liegenden Harfe, über deren Seite sich schwermüthig langsam die weißen Arme der Spielerin bewegten.

Den laut bellenden Mops im Arm, in der Fensternische halb schlafend, die breite Blondenhaube mit den kolossalen Bandschleifen verziert, tief auf die Brust gesenkt, saß die gelehrte Madame Malbouquet, die Bonne und Gesellschafterin der jungen Comtessen. Sie fuhr beim Kläffen ihres Lieblings auf, und starrte den Eintretenden an, ohne ihn zu erkennen; auch die beiden Mädchen schienen erschreckt und befangen, bis Polly, die jüngere, ausrief:

»Herr Lessing spielt Redoute! Köstlich, ma bonne, der Spaß ist nicht übel! Da giebt's doch etwas zu lachen; ach wir sterben hier aus Langerweile! Denken Sie sich, Herr Lessing, Clarissa ist krank, die Bonne hat Migraine und die arme Polly will verzweifeln.«

Der Jüngling brachte jetzt seine Entschuldigungen vor. Er beschrieb die Gefahren seines kleinen Jagdunternehmens, das Irregehen und die unbedeutenden Abenteuer, die ihm aufgestoßen, endlich seinen Eintritt in die untere Halle und den Schreck des alten Christian so lebhaft, mit so drolliger Uebertreibung, daß seine drei Zuhörerinnen lachten, und sich die düstre langweilige Stimmung alsbald verlor. Die Bonne ließ ihren Polsterstuhl näher zum Feuer rücken, Leopoldine behauptete ihre anmuthige Lage auf dem Boden, und die ältere Gräfin fragte neugierig nach den mitgebrachten Büchern.

»Ach, mein allergnädigstes Fräulein!« rief der befangene Jüngling, und seine Wangen glühten, »jetzt komme ich erst an die wahrhaft tragische Begebenheit des heutigen Abends; ach, ich wünschte, mir stände die Zauberkraft Merlins zu Gebote, der einen dürren Stamm in einen blühenden Baum verwandelte, schnell würde ich diesen schwerfälligen Freund hier in die zierlichste Ausgabe unseres göttlichen Poeten umschaffen. Ach, schönste Gräfin, holdseligste Beschützerin der Musen! wir werden heute keine Zaire, keine Merope, keinen Mahomet bewundern.«

»Sie scherzen,« rief Clarissa, »wir sollten ja heute den Tancred beginnen, ich habe mich den ganzen Tag über auf diese Stunde gefreut.«

»Was wollen Sie mit dem schwarzen Ungeheuer dort?« fragte Leopoldine.

Die Bonne nahm eine Prise nach der andern, unruhig und mißtrauisch umherblickend; jetzt, da das Buch geöffnet wurde, rief sie laut: » A ciel! der verdammt odeur kommt her vom Dings da, fi donc, fort, nicht das!«

»Fort, fort,« rief Polly, und rümpfte das Näschen.

Clarissa wandte sich verstimmt weg. Lessing mußte sich in einen entfernten Winkel flüchten; von hier aus verkündete er nun mit blitzenden Augen die Vorzüge seines köstlichen Fundes.

»Es ist der Theuerdank,« rief er, »das trefflichste alte Gedicht, das wir haben, eine herrliche romantische Sage, in der die zauberischen Farben ächter Poesie auf das lebendigste durcheinander spielen. Ich nenne es Sage, es ist wohl mehr – Geschichte ist es, ein klarer Spiegel des Lebens.«

»Also ein deutscher Autor?« fragte Leopoldine gedehnt.

»Freilich,« entgegnete Lessing mit Stolz, »ein deutscher Autor.«

»So darf er nicht gelesen werden!« rief die Schöne, bestimmt und wichtig; »es wäre gegen allen guten Geschmack, ein deutsches Buch zu lesen.«

»Aber wir haben nichts Anderes,« bemerkte der Jüngling mit einiger Empfindlichkeit. »Durch die Krankheit des Postboten ist dießmal die Büchersendung versäumt worden.« –

»Gut, so lesen wir die kleinen chansons aus dem diesjährigen miroir des dames.« –

»Diese Albernheiten!« rief Lessing, »dieser süßliche Unsinn, diese pretenziösen Fadaisen! ich bringe sie nicht über die Lippen!«

»Eine französische Albernheit,« entgegnete Polly gereizt, »ist immer geistreicher, als eine ganze deutsche Bibliothek von Poeten und Philosophen zusammen genommen.«

Der Jüngling schlug die Hände zusammen: »Alle Götter!« rief er, »welch' ein Urtheil, und das spricht ein deutsches Mädchen aus!«

Clarissa mischte sich in den Streit, und sagte lächelnd: »Fangen wir nun nicht wieder den alten wohlbekannten Kampf an. Erklären Sie uns, Herr Ephraim, was es mit Ihrem deutschen Buche für eine Bewandtniß hat. Also eine Art von Ritterroman?«

Der junge Dichter schüttelte das Haupt; er hatte sein Buch zugeschlagen, und sah mit einem halb mißmuthigen, halb befangenen Blicke vor sich hin.

»So geben Sie mir denn den miroir,« rief er nach einer Pause mit dumpfer Stimme.

Polly lachte, sie sprang zu einem nahen Tischchen, und einen kleinen Handspiegel ergreifend, ihn dicht dem Jüngling vorhaltend, rief sie: »Hier ist er, nicht wahr, das Titelkupfer ist ein hübsches Bildchen?«

Sie machte eine komische Verbeugung, klatschte lachend in die Hände, und ließ sich dann wieder auf den Teppich niederfallen. Clarissa wiederholte ihre vorige Frage.

»Wie soll ich's erklären?« entgegnete Lessing, »das Gedicht enthält keinen neuen Gegenstand. Welches Volk hätte nicht von den Thaten seiner großen Helden ähnliche Gesänge, und dennoch möchte ich dieses deutsche Epos mit keinem andern auch nur von ferne vergleichen. Es ist darin der Brautzug Maximilians besungen, wie er, der schöne, kühne ritterliche Held, um die burgundische Fürstentochter wirbt.«

» Ciel!« rief Polly, »wie mag sich nur so ein alter Deutscher anstellen, wenn er verliebt ist.«

»Ist Corneille,« fuhr der Jüngling fort; »eine stolze Zeder, Racine eine schlanke glatte Palme, Voltaire ein üppiger Blüthenbaum, so ist dieser deutsche Poet ein kräftiges Gewächs des Waldes, hineinragend in den Frühlingshimmel mit seiner Blätter melodischen Zungen, umspielt von bunten Vögeln, duftend von balsamischen Harzen.«

Er las jetzt, und mit dem Gedichte vertraut, trug seine klangreiche Stimme die Verse rein und in schönem Ebenmaß vor; sein Auge glänzte, die Wange röthete sich; er brach ab, um zu erklären, dann las er wieder, und je länger er las, desto farbenreicher und üppiger erschloß sich die Blume der Poesie.

Man erblickte die Gestalten einer herrlichen Zeit lebenvoll und kräftig, im Schmucke kostbarer Gewänder, dahinwandeln, die Sprache tönte von ihren Lippen wie Klänge aus einer andern Welt, die ein sterbliches Ohr berühren, um es zu erheben und zu entzücken. Die würdige Liebe eines schönen und stolzen Prinzen bildet den Vorgrund, man sieht ein edles Herz im Kampfe mit Verrath, Tücke, Bosheit aller Art, die vergeblich ihre dunkeln Künste anwenden, es zu berücken; siegreich geht es hervor, und Glück und Liebe einigen sich, es zu krönen. Der Großen Edelmuth, der Diener Treue und der Fürsten Pracht und Herrlichkeit bilden farbenreiche Kränze, das kostbare Gemälde einzufassen. –

Clarissa hatte anfangs ohne Aufmerksamkeit hingehört, jetzt beugte sie sich näher zum Buch. Polly vergaß die Flammen des Kamins zu schüren, das Köpfchen aufgestützt, blickte sie neugierig und lebhaft gespannt vom Boden auf und dem Leser in die Augen, der, das Buch auf seinen Knieen, bald in den gelben bestäubten Blättern las, bald in dichterischer Begeisterung poetisch die Geschichte ergänzte und erklärte. Endlich hatte er mehrere Abschnitte geendet, und sank jetzt, das Buch schließend, in seinen Stuhl zurück. Die Uhr schlug elf, eine tiefe Stille herrschte, die nur von hohen athmenden Tönen der Bonne, die gleich beim Beginn der deutschen Lectüre, die sie nicht verstand, eingeschlafen war, unterbrochen wurde.

Clarissa nahm ein Monatröslein von ihrer Brust, und es zwischen die Blätter als Zeichen legend, sagte sie: »Ich mache es Ihnen zur Pflicht, uns noch Mehreres aus diesem Buche vorzulesen.« –

»Ich bitte auch darum,« nahm Leopoldine das Wort, »aber nur Sie, Sie müssen lesen, ein Anderer würde ein solches Wunder nicht bewirken, Auch die französischen Verse unseres göttlichen Poeten möchte ich aus keinem andern Munde, als aus dem Ihrigen, hören; selbst der Graf Felix, so viel er sich einbildet auf seine Declamation, liest mir lange nicht so nach dem Ohr, wie Sie.«

»Du erinnerst daran,« hub Clarissa nach einer kleinen Pause an, »daß wir keine Vorschläge mehr machen dürfen. Unsere Leseabende schließen mit dem heutigen.« –

»Und weshalb?« fragte jene, »sollte denn der Oheim seine Erlaubniß verweigern, daß Herr Lessing uns auch in der Stadt besuche?«

Clarissa fixirte ihre Schwester mit einem ernsten Blicke.

Der junge Dichter bemerkte dieß nicht, er war in finstere Gedanken versunken, und rief jetzt seufzend: »Ja wohl ist es der letzte Abend! die drei herrlichen Wochen, vielleicht die schönsten in meinem Leben, sind jetzt beendet; was kann jetzt kommen, was sich nur irgend würdig an eine solche Zeit schließen mag.«

Er schwieg, die Wangen waren erblaßt, die zarten Lippen schmerzhaft verzogen, die Hände auf dem Buche gefaltet. Die bestürzten Mädchen fragten ihn, was ihm sey.

»Schönes und gütiges Fräulein,« rief er, zu Clarissen gewendet, »wie soll ich es in Worte fassen, was mein Inneres so schmerzhaft bewegt. Wenn mein Geschick mir wahrhaft wohlgewollt, so hätte es mich nie in dieses Haus geführt; ich werde jetzt, gleich dem Elenden, der einen Blick in die lachende Frühlingsflur thun durfte, und dann auf immer wieder in seinen Kerker eingeschlossen ward, stets an diese schönen Stunden denken, deren letzte ich heute hier zubringe.« –

Die beiden Mädchen schwiegen, und er fuhr begeisterter fort: »Was ich Entzückendes geträumt, Süßes und Herrliches empfunden, der Raum dieses Gemaches schließt es ein; die volle üppige Schale der Freiheit, die reife Frucht der Poesie, die duftende Blüthe edler Sitte, meine Seele hat hier sie zuerst kennen gelernt. Dort unten im niedern Dorfe bei den Eltern, die gut und ehrlich, aber nur kümmerlich, den Sinn an Freiheit und Schönheit laben dürfen, hat mein Geist vergebens das gesucht, was hier in Eurer Gegenwart, in voller Genüge, mir entgegentrat. Was war ich, ehe ich die Schwelle dieses Gemaches betrat, und was bin ich jetzt, da ich scheidend das Wohlwollen und die Erinnerung an edle schöne Geister mitnehme? Aber, Ihr Holden, ist es wohl recht, einen armen Jüngling, der mit nichts vergelten kann, durch so viel Güte zu demüthigen? Wahrlich, die Nacht, in die Ihr ihn jetzt verstoßt, wird desto schrecklicher seyn!«

Leopoldine wurde von diesen Worten auf das Tiefste gerührt; sie bereute ihren früheren Muthwillen, und reichte jetzt vom Boden her dem Jüngling die Hand, indem sie mit weicher Stimme sagte: »Wer sagt denn, daß Sie uns auf immer verlassen sollen? Der Oheim zwar erlaubt es nicht, daß Sie in der Stadt uns besuchen; allein ich werde es so einzurichten wissen, daß weder er noch die Bonne Kenntniß davon erhält, wenn Sie uns sprechen wollen. Glauben Sie mir nur, ich beherrsche das ganze Haus, mir ist nichts unmöglich.«

Clarissa hörte diese Rede mit sichtlichem Unwillen an.

»Nein,« rief sie jetzt, »es muß geschieden seyn, und sagen die Dichter nicht selbst, daß Trennung überall nothwendig sey, gleich den Schatten im Gemälde, die dazu da sind, um das Licht desto schöner leuchten zu machen? So wollen wir auch diese Abschiedsstunde ansehen. Die Musestunden hier im wüsten Schlosse, das uns, wenn wir daran zurückdenken, mährchenhaft und wunderbar vorkommen wird, können ohnedieß in den geräuschvollen Zirkeln der Stadt nie erscheinen; wir wollen dankbar seyn, daß sie uns überhaupt geworden sind. Herr Lessing hat vollkommen recht, wenn er diese Zeit für abgeschlossen ansieht; in ihren Folgen wird sie uns nun mannigfache Früchte bringen. Uns drei, wo wir auch später seyn mögen, wird ein festes Band immerdar verknüpfen: es ist das Band der schönen Dichtkunst, deren innigsten Zauber wir in diesen kostbaren Stunden genoßen. Dieß sey uns genug.«

Sie sprach diese Worte weich, aber bestimmt; ihr großes klares Auge weilte auf dem Jüngling, dem sie wie eine lichte Erscheinung vorkam. Er legte das Buch zu ihren Füßen nieder, und selbst auf den Teppich knieend, rief er: »O deutsche Poesie! so klar, so licht, so rein und so erhaben!« –

Clarissa lächelte: »Gut!« rief sie, »ich will seyn, wozu Sie mich machen, und mit dieser Rose, dem Boden des herrlichen Gedichts entwachsen, kröne ich Sie als meinen Dichter! Bei dem Angedenken dieser Stunde, Ephraim, zeigen Sie sich meiner Krone würdig!«

Eine Pause trat ein, Lessing hatte die Blume an seine Lippen gedrückt.

»Halt!« rief Leopoldine, die mit einem schalkhaften Blick die Gruppe betrachtete, »Ihr schließt mich von der ganzen Verhandlung aus, und zur Strafe werde ich, wie jene erzürnte Fee, die man nicht zum Kindtaufschmauß bat, jetzt der Rose den Stachel zufügen.« Sie brachte einen dornigten Zweig und legte ihn der Blume bei. »So,« rief sie muthwillig, »nun ist das Geschenk für einen Dichter fertig!«

Die Bonne erwachte jetzt, sie war der Meinung, die Vorlesung sey eben beendigt worden, und rief daher mit ihrer näselnden Stimme: »Bravo, bravo!« Die beiden Schwestern ließen sie in ihrem Irrthum, und Lessing näherte sich ihr, um Abschied zu nehmen. Sie entließ ihn gütig. Als er forteilte und unten angelangt, noch einen Blick auf die Fenster richtete, glaubte er Clarissens schlanke Gestalt zu sehen, die ihm durch die Dunkelheit nachblickte. Christian leuchtete ihm mit einer Laterne über den einsamen Hofplatz.

———————

Vom Schlosse heimkehrend, hatte der Jüngling die ganze Nacht fast am Schreibpulte zugebracht. Nach einem kurzen unruhigen Schlummer auf dem Stuhl war er auch jetzt wieder beschäftigt; die letzte Scene hatte ihn erschüttert und seinen Dichtergeist so lebhaft erregt, daß ihm spielend die tiefsten Gedanken, die blühendsten, bedeutungsvollsten Bilder zukamen. Er legte jetzt die Feder nieder, und mit klarem Auge sah er in die Morgenröthe hinaus, wie sie eben mit ihrem Purpur die niedrigen Kirschbäume am Fenster übergoß.

»So ist es denn endlich entschieden!« rief er bei sich, »du bist ein Poet, sie hat es gesagt, und sie kann sich nicht irren, und ein Poet bist du in ihrem Dienste! Ungestümes, unerfahrenes Herz, was wünschest du mehr? Sind jetzt nicht die goldnen Träume verwirklicht, die du dir in dunkeln kümmerlichen Stunden träumtest?«

Er blickte mit einem Gefühl von Andacht und Entzückung hinüber auf den Hügel, von wo aus der Ferne die grauen alterthümlichen Mauern des Schlosses sich zeigten.

»Ach!« rief er aus, wie unrecht haben die Philosophen, die die Welt arm nennen; ihre mißmuthigen Träume wissen nichts von den Schätzen, den Stunden, wie die jetzige dem Menschen bietet.«

Er wollte eben wieder an die Ausarbeitung seines Gedichts geh'n, als er mit heftigem Aerger den Tritt eines Menschen hörte, der ihn zu stören kam. Es war seine alte Mutter, die jetzt leise in die Stube trat, und mit kummervollem Auge den Sohn lange schweigend betrachtete. Der Blick ihres Vorwurfs that sich bald in Worten kund.

»Ephraim,« rief sie, »was habe ich sehen müssen, Du bist gestern wieder auf dem Schloß gewesen, hast die neuen Kleider, vom Vater vor Kurzem mit nicht geringen Kosten angeschafft, arg zugerichtet; vor einem Viertelstündchen schickte sie mir der alte Christian, und bittet sich dagegen die seinigen zurück.«

»Liebe Mutter,« entgegnete Ephraim verstimmt, »ein Paar Strümpfe sind kein Wunderwerk der Welt, es lassen sich bald neue anschaffen.«

»Du denkst,« rief sie, »auch in diesem Stück viel zu leichtsinnig. Sind es auch nur kleine Ausgaben, so sind es doch immer welche, und wer hätte wohl mehr Ursache zu sparen, als Du, mein Sohn. Der Hausstand wächst, des Vaters Einkommen wächst aber nicht, und Du hast noch nichts ins Haus gebracht, wohl aber viel hinaus.«

Lessing warf die Feder weg; er war bis in sein innerstes Wesen hinein verstimmt und beleidigt; ohne zu antworten, lehnte er an dem Fenster.

»Was seh' ich,« hub die Mutter wieder an, indem sie sich im Gemach umschaute, »das Bette ist unberührt, mein Sohn, was hast Du denn die ganze Nacht hindurch gethan?«

»Geschrieben,« entgegnete er, und zeigte auf die Papiere des Tisches.

Sie warf einen Blick dahin. »Verse!« rief sie, »wieder Verse, und das nennst Du arbeiten? Damit bringst Du die kostbaren Stunden hin, die der Mensch nothwendig hat, um sich zum täglichen ordentlichen Tagesgeschäfte zu stärken? Ephraim, laß mich diese frühe Morgenstunde, in der Niemand uns stören wird, dazu anwenden, Dir mein Mutterherz auszuschütten. Ich bin alt, mein Kind, der Vater ist kränklich, wir beide sind nahe der Grube; wenn uns der Herr heute oder morgen abruft, so bleibst Du allein noch der Ernährer Deiner Geschwister; auf Dir wird die Last des Hausstandes, auf Dir der Erwerb ruhen. Hast Du auch dieses bedacht? Wie soll es dann werden?«

»Liebe Mutter,« entgegnete der Jüngling, »wenn ich das nicht schon früher bedacht hätte, in diesem Moment wären die Betrachtungen nur störend und nutzlos.«

»Ich verstehe,« sagte die Alte, »die Besorgnisse und Vorwürfe kommen Dir ungelegen; dennoch muß endlich einmal die Stunde schlagen, von der aus eine heilsame Aenderung und Umgestaltung vor sich geht. Besser, Du erfährst aus meinem Munde mit Liebe und Schonung, was Dir der Vater in seiner harten Weise mit Strenge sagen würde. Du weißt, mein Sohn, daß Deine Studienjahre in Leipzig nicht so von Dir angewandt worden, wie wir es wünschten, Du selbst hast es uns gestanden; Dein herzlicher Wunsch war, nach Berlin zu gehen, dort, so versprachst Du, sollte alles anders und besser seyn. Gelehrte und angesehene Freunde, reiche Gönner, feiner gesellschaftlicher Umgang, und ich weiß nicht was sonst noch, war dort im Ueberfluß. Der Vater gab endlich Deinem Begehren nach, und ich sah mit schwerem Herzen Dich in diese verderbte Stadt einziehen. Wie sehr haben sich meine Besorgnisse und bösen Ahnungen bestätigt. Anstatt daß nun Dein Fleiß in den Studien größer, Dein Wandel besser, Deine Sitten reiner geworden, sind schon in der kurzen Zeit, daß Du dort bist, unzählige Berichte eingelaufen, die über Dich auf das heftigste Klage führen.«

»Wer schreibt diese Berichte?« rief der Sohn erbittert, »kurzsichtige, armselige Menschen, denen der Vater Vertrauen schenkt, die in dumpfen thörichten Irrthümern grau geworden, und die sich keinen Begriff von Bildung und Welt machen können; vor allen jener gleisnerische tückische Heuchler, der bleiche Christlieb, der mir zu schaden sucht, wo er nur kann; von ihm kommt alles Unheil, jede Verläumdung her.«

»Er mag seine Fehler haben,« sagte die Matrone besänftigend, »dennoch will er uns wohl, und wir dürfen seine Gunst nicht verscherzen, weil es zu hoffen steht, daß er und seine Schwester, die reiche alte Wittwe Dorothea, uns dereinst einen hübschen Erbschafts-Antheil auswerfen werden. Und kannst Du denn jene Anschuldigungen leugnen, mein Sohn? Ist es denn nicht wahr, daß Du mehr in der Fecht-, Tanz- und Reitschule zu finden bist, als in der Arbeitsstube? Suchst Du nicht die gottloseste Klasse von Leuten, das Comödiantenpack, Gott verzeih' mir die Sünde, zu Deinem Umgang auf? Ja, was das Böseste ist, nennst Du nicht den elenden, verlorenen Menschen, den Freigeist Mylius, Deinen Freund? Ephraim, Ephraim! wenn dieses wahr ist, hat denn der Bruder Christlieb nicht recht, Dich verloren zu geben?«

»Nein, er hat nicht recht, Mutter!« rief der Jüngling, und eine dunkle Zornröthe färbte seine Wangen. Er wollte weiter sprechen, doch die frühere Wehmuth bemächtigte sich wieder seines Herzens. Nach einer Pause setzte er mit milderer Stimme hinzu: »Wozu mich entschuldigen, und wer würde mich verstehen?«

Die Mutter trat zu ihm und faßte seine Hand. »Wie lieb ist es mir,« sagte sie, »daß Du Dein Unrecht einsiehst; jetzt fasse ich neue Hoffnung. Nun wirst du mir auch die Bitte nicht abschlagen, welche der eigentliche Grund meines Kommens ist.«

Lessing küßte die ihm so theure Hand, er fühlte nur zu wohl, daß der Sturm seiner Gefühle hier schweigen mußte. Die Alte blickte ihm freundlich in die Augen, und setzte beruhigter ihre Rede fort:

»Der Vater will, daß Du Morgen nach Berlin zurückkehrest, damit Du den angesehenen vornehmen Gönner nicht verfehlen mögest, der, wie Du weißt, die Absicht hat, seinem Sohne Dich als Begleiter und Hofmeister auf der Reise mitzugeben. Da sich bei dieser Gelegenheit auch Aussichten auf eine zukünftige bleibende Anstellung zeigen, so darf diese Angelegenheit um so weniger leicht genommen werden. So vortheilhaft aber jener fremde Mann von Dir zu denken geneigt ist, so würde er doch unfehlbar seine Meinung ändern, wenn er gewahr würde, wie Du lebtest, mit welchen Leuten Du umgingest. Es ist darum durchaus nöthig, daß Du von dem Tage an, wo Du Dich ihm zeigst, Deinen früheren Freunden und Bekannten den Abschied gibst. An Gründen, mit ihnen zu brechen, wird's Dir, wenn Du nur ernstlich willst, gewiß nicht fehlen, und Du hast dann durch eine schnelle entscheidende Wendung das Ziel erreicht, wohin Du, wenn diese Veranlassung sich nicht gezeigt, vielleicht lange mühsam und fruchtlos gestrebt hättest. Des Gesindels bist Du ledig, und beginnst ein neues, ge ordnetes, glückliches Leben! Versprich mir, mein Sohn, diesem meinem Rathe Folge zu leisten.«

»Ich verspreche,« entgegnete der Jüngling, »so lange jener fremde Mann in der Stadt verweilt, mich ihm ganz zu widmen, und keinen meiner früheren Bekannten aufzusuchen.«

»Auch dieses ist mir, als erster entscheidender Schritt, genügend,« sagte die Mutter, und schloß ihren Sohn mit herzlicher Umarmung an ihre Brust. »Ich weiß, wie schwer es ist, das Alte abzustreifen und das Neue anzunehmen; ich will nicht unbillig seyn. Bin ich doch fest überzeugt, daß Du, einmal eine andere Straße einschlagend, selbst nicht mehr zu der alten zurückkehren wirst. Hast Du erst edle treffliche Menschen kennen gelernt, fühlst Du, daß Du mit Achtung und Freundlichkeit in ihre Mitte aufgenommen wirst, so wird von selbst jeder Wunsch, die alten unwürdigen Freundschaften aufzusuchen, wegfallen. Zudem tadle ich's nicht, daß Du den Vornehmen Dich anzuschließen suchst; nur möchte ich auch hierüber Dir meine Ansichten mittheilen. Du bist jung, Dich reizt das Glänzende, womit sich jener bevorrechtete Stand umgibt. Man findet vielleicht seine Zwecke dabei, Dich anzulocken, Dir scheinbar einen Platz, der Dir nicht zukommt, einzuräumen. Doch je deutlicher dieß der Fall ist, desto mehr mußt Du auf Deiner Hut seyn. Ich kenne die Welt, mein Sohn; ich habe auch jene Leute beobachtet, in deren Nähe Du lebst. Sie gleichen der Katze, die mit scharfer Kralle denjenigen fern zu halten weiß, den sie selbst durch Glätte und Freundlichkeit an sich gelockt. Am wenigsten traue ihnen im Punkte der innigern Gefühle, der Freundschaft, der Liebe; sind sie auch unter einander wahrhaft und treu, so tritt doch sogleich Falschheit und Verrath, auch bei den Bessern, ein, wenn es einen Bund gilt mit dem aus niederem Stande. Bieten sie Dir daher Freundschaft an, so gib ihnen thätigen aber kalten Diensteifer dagegen. Schmeicheln sie Dir mit Liebe, so bleibe fest in den Schranken jenes Pflichtgefühls, das, immerdar besonnen und frei, jeden erfahrenen Mann so wohl kleidet. Achtung jedoch darfst Du fordern, und Achtung werden sie Dir auch nie versagen. Hast Du auf diese Weise Deine Stellung gesichert, so ist mir auch nicht bang, daß Dir die Verderbtheit der großen Welt Schaden bringt, denn die gefährlichsten Thorheiten und Untugenden für uns sind die, welche, indem sie geliebten Gegenständen anhaften, uns selbst liebenswerth erscheinen. Und so, mein geliebter Sohn, bin ich Dir dankbar, daß Du mich hast völlig aussprechen lassen. Ich bin jetzt um vieles getrösteter und beruhigter. Du kennst und verstehst meine Ansicht, mein Wort ist Dir immerdar heilig gewesen, und so habe ich denn, wie sich nun auch Dein Leben und Wirken ferner gestalten möge, in der Hauptsache sichere Bürgschaft für Dein Wohl.«

Sie schloß ihn noch einmal zärtlich in ihre Arme, und entfernte sich dann, um ihren Tagesgeschäften nachzugehen. Der Sohn blieb einsam zurück; er sah ihr lange nach, und lauschte ihren Tritten, wie sie sich auf der Stiege und im Vorsaal verloren. Es wurde ihm in der engen Stube zu beklommen; auch er eilte hinunter in den Garten, und begab sich auf ein Lieblingsplätzchen, um in der Einsamkeit und in frischer herbstlicher Morgenluft seinen finstern treibenden Gefühlen nachzuhängen. Er fühlte bitter den Streit zweier gleich starken Neigungen in sich: die eine lebhaft angefacht durch die Scene im Schlosse, durch Clarissens Lob, trieb ihn, ein schönes glänzendes Ziel schnell und freudig zu erstreben; die andere, durch den Zwang der Verhältnisse und die mütterlichen Ermahnungen nicht minder scharf seinem Geiste vorgehalten, forderte die Bekämpfung und Ertödtung alles dessen, was nicht dem nächsten pflichtgemäßen Zweck diente.

Als er so grübelte, fiel ihm der Schluß der mütterlichen Rede auf, er sann auch diesen Betrachtungen nach, indem er sie seiner Lage anzupassen suchte; allein es wollte aus allen diesen Gefühlen und Ansichten kein klares Bild erstehen. Unmuthig sprang er auf und folgte dem Diener, der eben in den Garten trat, und ihn zum Vater hinbeschied.

Der alte Lessing stand in seiner Studierstube, im sonntäglichen Staate, geputzt und wartend da. Es war heute ein Fest in der Familie; die reiche Wittwe, Frau Dorothea, feierte ihren Geburtstag, und jene fromme Secte, zu der sie gehörte, hatte in ihrem Hause vor der Predigt eine kleine Versammlung festgesetzt. Zugleich beabsichtigte man an diesem Tage die Aufnahme eines neuen Mitglieds, welches aus einer dieser feindlich gegenüberstehenden Secte überzutreten wünschte.

Das damalige Berlin stellte in dieser Hinsicht ein merkwürdiges Gemälde dar. Je mehr die Großen, der König an ihrer Spitze, was Religionsmeinungen betraf, sich dem Scepticismus und Indifferentismus hingaben, desto mehr suchten, wie es schien, die niedrigern Klassen durch die ängstlichste und gewissenhafteste Aufrechthaltung der strengsten Lehrsätze und Meinungen das Gleichgewicht wieder herzustellen. Es entstand gleichsam ein Wettstreit, wer es dem andern an Frömmigkeit zuvorthun könne, und hier, wie überall, war es der Menge am Ende nur um Aeußerlichkeiten zu thun, und diese wurden nun, im Haß der Parteien, zu wahren Abnormitäten ausgebildet.

Die Folge war nun jene Menge verschiedener Secten. Zwei von diesen standen sich durchaus entgegen; die eine, vom Pöbel spottweise die frommen Zopfträger des Herrn genannt, befliß sich eines strengen gewissenhaften Wandels, entfernte jede, auch noch so schuldlose äußere Ausschmückung, und behielt vom weltlichen Putz nur das einzige, den Zopf bei, den sie gravitätisch zur Schau trugen, und der ihnen jenen Spottnamen verschaffte. Die andere verwarf in ihren Grundsätzen den Ernst und die Beschaulichkeit; sie ging von der Ansicht aus, daß der wahre Christ, im Vertrauen auf den ihm zugesicherten göttlichen Beistand, die Gefahren und Bedrängnisse, welche dem kurzsichtigen befangenen Menschen so drohend erschienen, getrost verlachen könne. In jedem sie betreffenden Mißgeschick sahen sie daher eine willkommene Gelegenheit, Muth und Freudigkeit an den Tag zu legen. Man sah sie nie traurig, immer fröhlich, ja sogar ausgelassen; sie vermieden nicht nur nicht die weltlichen Vergnügungen, sondern sie suchten sie auf, und je weniger manche diesen scheinbaren Leichtsinn im Charakter trugen, desto mehr suchten sie sich ihn anzulügen. Das Beispiel, daß Leute von der ernsten kummervollen Secte zu der lustigen übergingen, war schon öfters da gewesen. Seltener war der umgekehrte Fall, und deßhalb beschloß man auch jetzt den Neuaufzunehmenden besonders zu ehren.

Lessings Vater, obgleich im ganzen diesem Wesen abhold, fand es doch aus Rücksichten für nothwendig, den Versammlungen bei seinen Verwandten, so lange eine billige Mäßigung in ihnen obwaltete, beizuwohnen; er bewog Sohn und Frau ebenfalls zum Mitgehen, und so langte die Familie im Hause der Wittwe an, als der Kreis der schwarzgekleideten frommen Leute schon beisammen war, und bereits den dünnen Kaffee schlürfte.

Die Festgeberin, eine beleibte frische Matrone, begrüßte ihren Verwandten besonders herzlich, und wies dem Ehepaar den Ehrenplatz zwischen sich und ihrem Bruder Christlieb an. Ein blauer Weihrauchdampf erfüllte das niedrige Zimmer; auf diesen Wolken sah man die starrdasitzenden schwarzen Gestalten mit ihren unbeweglichen blassen Gesichtern hervorragen. Christian, der jetzt mit der Frau Gertrud hereintrat, machte die Versammlung vollzählig; beide nahmen, aus schuldiger Achtung für den Herrn Pastor, die untersten Sitze ein. Nachdem ein paar Lieder gesungen worden, erhob sich Christlieb, um den Ankömmling, welcher noch im Nebenzimmer harrte, einzuführen.

»Ich muß nur bemerken,« rief der vorsichtige Mann, »daß, so trefflich auch die Gesinnungen unseres neuen Bruders seyn mögen, ihm dennoch vom alten Sauerteig, von den seltsamen Ansichten jener mehr als thörichten Leute, einiges anklebt, welches einer üblen Deutung fähig wäre, wenn man nicht vorläufig davon in Kenntniß gesetzt wird.«

Er ging, und führte bald darauf einen langen dürren Mann herein, der, in einer ärmlichen engen Kleidung steckend, eine Menge kleiner unbeholfener Verbeugungen machte, indem er auf das freundlichste dreinsah. Die hervorstehende Kniee und dünnen Beine, so wie die langgespaltenen Finger bezeichneten ihn genügend als Leinweber.

»Macht keine Umstände, Maths,« rief der ihm zunächst Sitzende, ein Schulmeister, »nehmt Platz, und erzählt uns etwas aus Eurem Leben. Da Ihr jetzt zu uns gehört, so wollen wir uns auch näher mit Euch und Euren Schicksalen bekannt machen. Wie ist's Euch denn bis jetzt ergangen?«

»Herrlich, trefflich, überaus glücklich!« entgegnete der Ankömmling, und die Runzeln seines Antlitzes verzogen sich zu noch größerer Freundlichkeit. »Ich habe in Lust und Freude gelebt, Wohlleben alle Tage.«

»Hm,« rief der Schulmeister, »da habt Ihr genossen, was bei uns selten ist. Der Arbeiter im Weinberge des Herrn hat wohl von Mühe, Nothleiden und Anstrengung zu erzählen, nicht aber von Lust und Wohlleben; auch seht Ihr mir nicht sehr nach Wohlleben aus, Freund Maths!« –

»Ich habe,« fuhr der Leinweber mit Lächeln fort, »sehr frühe meine lieben Eltern verloren, sie hinterließen mich und noch sechs Geschwister in der größten Armuth. Mein Elend rührte einen Verwandten, er nahm mich in sein Haus, und erzog mich mit Güte und Freundlichkeit. Zwei Jahre befand ich mich bei diesem frommen gottesfürchtigen Manne, als auch er starb, und ich wiederum verlassen und hülflos nachblieb, denn die Erben jenes Mannes waren hartherzig und schlecht genug, mir noch das Wenige zu rauben, was ich von meinem guten Pflegevater erhalten. Sie stießen mich auf die Straße; es rührte sie nicht einmal, daß eine heftige Krankheit mich befiel, und ich dem Tode nahe war.«

»Unglück über Unglück!« rief der Schulmeister. »Aber Freund, warum lächelt Ihr denn dabei so spaßhaft?«

»Ist denn nicht alles zu unserm Besten?« sagte der Erzähler, und rieb sich fröhlich die Hände. »Doch gebt nur Achtung, der Himmel machte mir noch mehr solcher Freuden. Ich besaß nichts, war verlassen von aller Welt, sterbend, es konnte mir nicht besser gehn! Da geschah es, daß bei den damaligen großen Kriegsläuften eine Noth an Soldaten eintrat, und man, wo man nur immer konnte, die Leute aufgriff, und sie dazu machte. Wie ich nun so verlassen an der Straße dalag, trat ein großer freundlicher Mann zu mir, der herzliches Mitleid mit meiner Blöße und Armuth hatte. Gütig wie er war, hieß er mich aufstehen und ihm in seine Wohnung folgen. Hier gab er mir Obdach und Kleidung, und ich durfte bei den Seinigen leben; zugleich schaffte er Heilmittel herbei, die die Krankheit vertrieben und mich gesund machten. Als er mich so weit sah, trat nun seine wahre Absicht mit mir hervor: nicht Menschenfreundlichkeit und Güte war es gewesen; er wollte mich unter die Soldaten stecken, was ihm auch gelang. Hier hatte ich nun eine herzliche Freude nach der andern; kein Tag verging, wo ich nicht Schläge vom Corporal oder meinen Kameraden erhielt. Ich mußte Hitze und Kälte mehr als die andern erleiden; man stieß mich vom Lager, wenn ich schlafen wollte, und wenn ich gerne gewacht hätte bei einem lustigen Gelage, so verwieß man mich zur Ruhe. Dieses Leben nun, wie es nicht anders seyn konnte, bekam mir, was meine unsterbliche Seele betraf, ganz vortrefflich; mein Körper jedoch schlug gleichsam immer mehr in sich, und schwand mir gewissermaßen unter den Händen weg. Ich beschloß, meine Freuden und Genüsse ein wenig abzukürzen, nämlich: als es zu einem Gefecht kam, stellte ich mich, von einer Kugel getroffen, todt, und entrann später beim Getümmel und eintretender Nacht, ohne bemerkt zu werden. Es gelang nur, ein Jahr hierauf in einem Städtchen, an der Grenze, ein ordentliches Gewerbe anzufangen, welches bald so viel abwarf, daß ich mir einen eigenen Webstuhl kaufen konnte. Jetzt lebte ich still und arbeitsam, erwarb mir einiges Gut, und erhielt zuletzt die Tochter meines Lehrers und Meisters zum Weibe. Dieses scheinbare Glück, und das damit verknüpfte ruhige Leben, machte mich aber betrübt und nachdenklich; es kamen mir allerlei traurige Bilder, und wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn mir der Himmel nicht wieder eine recht große Freude bereitet hätte: mein Häuschen brannte bis auf den letzten Balken ab. Das erworbene mir geschenkte Gut war nun wieder fort, ich wieder arm und verlassen. Noch mehr, um es kurz zu fassen, ich erlebte nun noch die Freude, daß mein geliebtes Weib starb, daß der sich annähernde Krieg mich hinaustrieb, und endlich allerlei Fälle, die der gewöhnliche blinde Mensch Unglücksfälle nennt, meine Schritte hieher lenkten, wo ich denn die früheren Genossen fand, welche eben so glücklich gewesen waren, wie ich, alles zu verlieren, was der Mensch Theures und Liebes nur besitzen kann.« –

Er hatte diesen Bericht lächelnd begonnen, und, immer heiterer und fröhlicher werdend, schloß er seine Worte mit einem herzlichen Gelächter, in das, so seltsam es war, ein Theil der Anwesenden mit einstimmte. Man sah lauter fröhliche Gesichter, als wenn die spaßhafteste Geschichte von der Welt erzählt worden.

»Ja, ja!« rief der Leinweber immer noch lachend, »geschieht denn nicht alles zu unserm Besten?«

Der alte Christian, dem dieses Thun und Treiben Thorheit schien, sah mit ernstem nachdenklichem Blick den wunderlichen Mann an, und Christlieb sagte jetzt mit Nachdruck:

»Thut dieses Wesen von Euch, Freund Maths, es will sich überall nicht und hier am wenigsten schicken. Freilich geschehen alle Dinge zu unserm Besten, und selbst Leiden und Widerwärtigkeiten sollen wir in dieser Ueberzeugung freudig hinnehmen, allein Euer Lachen und Lustigthun ist eben so unnatürlich als unangemessen. Lernt in unsrer Gesellschaft, was dem denkenden Christen geziemt, und thut, wie gesagt, jenes Wesen auf immer von Euch.«

»Der Himmel weiß,« entgegnete der Gescholtene kleinlaut, »wie wenig es mir auch damit Ernst ist. Jene Lache, die ich aufschlage, gehört eigentlich gar nicht mir, sie ist geborgt, wie man sich falsche Zähne und falsches Haar borgt, ebenso auch alle jene Redensarten und das Freudigthun, was mir nun leider schon zur Gewohnheit geworden. Gerade wenn ich am elendesten gestimmt und fast gebrochenen Herzens bin, meldet sich jenes hohle Gepolter in mir, und ich muß ihm folgen; dabei regt es sich in Arm und Bein wie zu Sprung und Tanz. Wer mich dann so sieht, hält mich für einen leichtsinnigen gedankenlosen Mann. Die Worte Freude, Glück, kommen mir in den Mund, wie andern das Ach und Weh; die ganze Maschine meines denkenden Menschen ist gleichsam verrückt, so daß keine Erscheinung mehr passen will, und, indem die Räder falsch gestellt laufen, tönen, wenn die ernsteste Melodie sich hören läßt, immer einzelne Takte des Trompeterstückchen hinein. Wenn ich nur das alte unverfälschte Lachen meiner Kindheit wie derfinden könnte; allein es ist so verbaut und entstellt durch das falsche Gerüste, daß ich stets vergeblich darnach suche.«

»Euch soll geholfen werden,« rief der Schulmeister. »Seyd getrost!«

»Wenn es nur noch möglich wäre,« entgegnete der Leineweber; »ich habe eine rechte Sehnsucht nach Ernst, Tiefsinn und Nachdenken; allein ich fürchte, daß die Fäden des Einschlags meines Charakters so verwirrt sind, daß nimmermehr ein ordentliches Stück Zeug wird zu Stande kommen.«

Man suchte den Armen zu trösten, und Christlieb sagte: »Euer erlebtes Unglück und unsere Gemeinschaft mit Euch, werden Euch schon zur Vernunft bringen.«

Die Gesellschaft besprach sich jetzt über einige wichtige abzuschließende Verhandlungen. Es wurden Almosen-Beiträge bestimmt, neue Hülfsbedürftige, die sich gemeldet hatten, mit Namen und Wohnort bemerkt, und ihre mehr oder minder gegründeten Ansprüche auf Unterstützung ausgemacht. Dann folgte wiederum ein geistliches Lied, in das auch Maths einstimmen durfte; zuletzt erhob sich der Kreis, indem einige sich in eine zweite Versammlung verfügten, andere dem Prediger in die Kirche folgten. Der alte Lessing beklagte sich gegen seine Verwandte, daß man die einfältigen Reden jenes Thoren geduldet habe. Die Wittwe jedoch nahm sich ernstlich des Unglücklichen an, und die Mutter Lessings sagte:

»Ist nicht am Ende in jeder Thorheit Weisheit verborgen? Wäre jener Krankhafte ein vorsätzlicher Heuchler, so verdiente er unsern Abscheu, unsere tiefste Verachtung, und seine Reden wären lästerlich; so aber erscheint er als eines jener kindlichen unmündigen Gemüther, die in unbewußter Thorheit sich dem Verkehrtesten mit einer Andacht und Ueberzeugung hingeben, die den Zorn entwaffnet und ihnen unser Mitleid sichert.«

Als die Gesellschaft die Stube verließ, trat Christlieb zu dem jungen Lessing, und sagte: »Nicht wahr, Herr Poet, diese Scene wird Eurer weltbekannten Satire wieder Stoff geben? Freilich sind die steifen lächerlichen Schwarzröcke, die nicht tanzen, fechten und reiten können, recht wie zu Zerrbildern geschaffen! Auf Wiedersehen, Herr Poet, in Berlin!« –

Er ging zur Thüre hinaus, ehe der Jüngling ihm antworten konnte. Als Christian sich auch jetzt erhob, um mit Gertruden den Uebrigen zu folgen, machte sich der Leinweber an ihn, und rief mit seiner demüthigen Freundlichkeit: »Es ist mir, Ehrwürdigster, als hätte ich Euch bei irgend einem meiner lustigen Abenteuer schon erblickt.« –

»Ihr irrt Euch,« entgegnete der Gefragte kurz, »ich kenne Euch nicht.«

»O,« sagte Maths lachend, »Ihr seyd gewiß noch nicht so recht glücklich gewesen wie ich, denn im Glücke, wollte sagen im Unglücke, erhält der Mensch ein scharfes Gedächtniß.«

»Zum Teufel!« schrie Christian, »seyd still, Kerl, was ist das für ein wahnsinniges Gejauchze! Ihr seyd mir eine widerwärtige Person.«

Er schob sich eilig hinaus, und der arme Leinweber blieb mit einem trüben nachdenklichen Gesichte zurück.

———————

Unser Dichter war bereits, vierzehn Tage in Berlin, ohne daß er, dem gegebenen Worte treu, seine alten Freunde und Bekanntschaften aufgesucht; die ihm von den Studien übrig bleibende Zeit brachte er damit hin, sich jenem vornehmen und angesehenen Gönner näher zu verbinden, durch Aufmerksamkeit und kleine Dienstleistungen aller Art, welche jenem, in der Stadt und Gegend, noch Fremden, sehr zu statten kamen.

Auf einem dieser Gänge begegnete er seinem frühern vertrauten Freunde Mylius, der ihn verwundert anblickte, und nicht glauben wollte, daß er es selbst sey.

»Ist's möglich« rief der lebendige junge Mann, »Sie hier, verehrter Ephraim? Eher hätte ich doch den Untergang dieser frommen Stadt prophezeit, als Sie in diesen Straßen wandeln zu sehen, ohne daß Ihr zärtlichster Freund nur eine Sylbe davon weiß.«

Lessing freute sich, den fröhlichen Kameraden, der stets guter Dinge war, in seine Einsamkeit wieder hinein lächeln zu sehen; er konnte es ihm nicht abschlagen, ihn bis zur entfernten Wohnung hinzubegleiten, und Mylius erzählte unterdessen auf seine Weise, was sich in Berlin zugetragen.

»Unter anderem,« sagte er, »bin ich wieder einmal durch's Examen gefallen, und zwar durch ein philosophisches; ich betrachte diese Anstalten gleich einem Siebe, je öfter man durchfällt, desto geläuterter und besser wird man; für keinen Preis möchte ich zu den Hülsen gehören, die oben bleiben.«

Lessing war verwundert. »Wie,« rief er, »Du, der Du nichts thust, als philosophische Systeme aushecken? der Du mit nichts zufrieden bist, alle große Geister über die Achsel ansiehst – Dich hat man so behandeln dürfen?«

»Freilich,« war die Antwort, »weil ich eben mit nichts zufrieden bin, ist man's auch nicht mit mir. Doch laß das; jetzt, da Du wieder hier bist, soll es nach alter Weise lustig hergehen. Vor allem muß ich Dir vom Theater erzählen: Es geht ganz nach Wunsche, Theuerster; die Madame Golzig und ihre Histrionen sind ganz entbrannt in Dein Stück, sie bringen es zur Aufführung. Hörst Du, Deine Miß Sara Sampson! Und die kleine Sabine wird die Miß machen. Ich versäume von den Abenden bei der Golzig keinen einzigen, und gib acht, eher fließt die Spree zurück, als daß unser neuer guter Geschmack sich nicht Bahn bräche!«

»Was mein Drama betrifft,« sagte Lessing, »so sind mir andere und bessere Gedanken gekommen; ich werde es von der Golzig zurückfordern. Auch bin ich Willens, mich mit dieser Frau und ihrer Gesellschaft nicht mehr abzugeben.«

Mylius überhörte diese ganze Rede. Beide kamen jetzt an einem Hause vorbei, wo eine schöne Frau wohnte, die sich zufällig eben am Fenster zeigte.

» A propos!« rief der junge Philosoph, »wissen Sie auch, daß Gellert in Berlin ist? Wir müssen ihn aufsuchen, er muß uns kennen lernen; es wird ihn freuen, Leute zu sehen, die ihre künftige Berühmtheit schon fertig verbrieft in der Tasche haben. Doch, was seh' ich, da ist ja der Garten der Golzig, es klingt Musik darin; richtig, am Samstag zieht sie immer herüber. Kommen Sie hinein!«

Lessing, der schon wider Vorsatz und Willen dem Freunde bis vor's Thor gefolgt war, erklärte sich bestimmt gegen den Eintritt, er schützte die eintretende Dämmerung vor, um sich schleunig nach Hause begeben zu dürfen; allein sein lebensfroher Gesellschafter wollte von keiner Einrede etwas hören. Als der Dichter nicht gutwillig ihm folgte, nahm er ihn unterm Arm, und schob ihn mit Gewalt in die offenstehende Pforte.

Gleich in den ersten Gängen traten zwei Freunde, die sich auch mit den Schauspielern abgaben, zu ihnen, und bezeugten lebhafte Freude, Lessingen wieder zu sehen. Sie gingen mit einander weiter, und kamen an einen beschatteten Platz, wo es in der Dunkelheit, die sich hier verbreitet hatte, schien, als schwebte eine weiße Gestalt mit eiligem Fluge um die rauschenden Baumgipfel herum. Als sie näher traten, sahen sie, daß es ein Mädchen war, die sich auf einer Strickschaukel schwingen ließ. Der Knabe, der die Schaukel in Bewegung setzte, ließ jetzt die Arme erschöpft ruhen, indem er sich weigerte, weiter einen Dienst zu verrichten, der seine Kräfte zu überbieten schien.

Mylius sprang hinzu, er erkannte die Schauspielerin Sabine, welche in nachläßiger Stellung in den engen Sessel hinein gefügt, den Kopf auf den Arm gestützt, auf- und niederflog; sie ließ es geschehen, daß ihr kleiner Page einen rüstigern Stellvertreter fand, und indem dieser den schon etwas erlahmten Schwung der Schaukel neu belebte, nahm er Gelegenheit, den neuangekommenen Freund, der in der Nähe stand, vorzustellen. Die auf- und niederfliegende Schöne knüpfte nun ein eiliges und verwirrtes Gespräch an, das öfters stockte, wenn der Sprecherin durch den Schwung die Luft ausging. Der Knabe hatte auf ihr Geheiß ein paar bunte Lampen gebracht, die er in's Gras auf den Boden stellte, so daß die dunkeln Gebüsche und die fliegende Gestalt dadurch auf das seltsamste beleuchtet wurden.

»Ich kenne nichts Schöneres,« rief das Mädchen, »als so in der Nacht durch die träumerischen Lüfte in die schlafenden Baumgipfel zu fliegen!«

»Ja wohl,« entgegnete Mylius, »besonders wenn man ein paar hübsche Füßchen nebst deren Anhang zu zeigen hat.«

»Ich denke nicht mehr an die Füße, wenn ich die Erde und ihre Albernheiten hinter mir habe!« rief das Mädchen aus den Lüften herab; »wissen aber möchte ich doch, wofür mich die schlafenden Vögel halten, wenn ich so auffahrend in ihre Nester gucke.«

»Ohne Zweifel,« antwortete Mylius, »für ihresgleichen, und zwar für einen lockern Vogel.« Sabine streifte ihm im Niederfahren mit dem Fuß den Hut vom Kopfe.

Es war unterdessen ganz finster geworden, eine drückende, in dieser späten Jahreszeit ungewöhnliche Schwüle, verkündete ein Wetter, das im Westen langsam aufzog. Aus dem erleuchteten Gartenhause ertönte Musik und Gelächter.

»Sie können sich nur freuen, wenn sie Wein und Speisen vor sich sehen,« rief Sabine, »und,« setzte sie zu Lessing hinzu, »wo sind Sie denn indeß gewesen, Herr Ephraim?«

»Zu Hause, bei meinen Eltern,« antwortete der Jüngling.

»Ach! auch ich hatte ein Haus,« seufzte das Mädchen, »ein Haus, wo ich ein glückliches frohes Kind war. Es stand am Ufer eines Baches, der melancholisch seine Wellen unter überhängenden Birken dahinfluthen ließ. Ach laßt mich herab, ich will nicht mehr fliegen, die Erde ist doch schön! ich will nicht mehr fliegen.«

Die Schaukel wurde angehalten, und indeß Mylius sich der Seile bemächtigte, glitt das erhitzte Mädchen in Ephraims Arme. Ein dumpfer Donner rollte, und einzelne warme Tropfen fielen herab. Sabine hing sich an Lessings Arm, und sie gingen schweigend dem Hause zu. Als sie an den Tisch traten, der mit Speisen und Getränken, zugleich mit Büchern und Kupferstichen bedeckt war, und an dem die ganze Gruppe der Schauspieler Platz genommen hatte, wurde Lessing mit einem rauschenden Beifalle begrüßt.

Es fand sich, daß man so eben von dem neuen Drama und dessen Darstellung gesprochen, und jetzt war daher ein doppeltes Interesse mit der Erscheinung des Dichters verknüpft. Diesem wurde es schwer, der Fluth von Fragen und Lobsprüchen zugleich zu begegnen. Mit Mühe gelang es ihm endlich, so weit vorzudringen, daß er mit Ruhe der Madame Golzig seinen Entschluß mittheilen konnte, die Darstellung seines Gedichts für dießmal zu verhindern. Kaum waren jedoch die Worte heraus, als auch der lebhafteste Widerspruch von allen Seiten her laut wurde. Im Geschrei und Gezanke schaffte sich die Stimme der Principalin Raum.

»Wie?« rief sie entrüstet und beleidigt, »das Stück untersagen, das Manuscript uns wieder fortnehmen? und wofür hätten wir denn all' die Anstalten getroffen? Nein, verehrter Herr Lessing, so gerne wir Theater spielen, so ungerne sehen wir, daß man mit uns Theater spielt; das Stück bleibt in unsern Händen, und wird aufgeführt.«

Der Beifall der Uebrigen stimmte ihr bei diesen Worten bei, und nachdem sie aus einem ziemlich großen Punschglase einen Zug gethan, setzte sie begeisterter ihre Rede fort:

»Sie sollten sich schämen, Herr Lessing, mit Ihren Gaben, Ihren Talenten so kleinlaut und verzagt zu thun; habe ich Ihnen nicht schon tausendmal versichert, daß Sie zum Bühnendichter geboren sind? Es hat bis jetzt Niemand unter unsern Poeten, straf mich Gott, eine so excellente Pieçe zusammenbringen können, als Ihre hübsche Miß. Was helfen mir Verse, und Verse und immer Verse, die kann ich auch machen; aber so eine kunstreiche Verhandlung, mit allen dazu passenden Reden, Abgängen, Affecten und Charakteren auszugrübeln, ist nicht Jedermanns Sache. Doch ich habe, wenn's gut geht, auch mein Verdienst. Mit vielen Kosten sind ganz neue Kleider angeschafft und zwei neue Akteure gewonnen worden; kurz, dieses Stück soll mir die Kasse füllen, und meiner Bühne, die einigen Schaden erlebt hat, vollends auf die Beine helfen.«

Lessing zog sich vom Tisch zurück, er sah ein, daß bei der lebhaften erhitzten Frau für diesen Moment nichts zu erreichen sey. Unmuthig warf er sich auf einen Sessel, der von der Gesellschaft geschieden am Fenster stand; man beachtete ihn auch nicht weiter, und er durfte ungestört seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Zwei Theaterfreunde, die jetzt hereintraten, brachten sofort neues Leben an den Tisch. Der eine von ihnen, ein magerer Franzose, mit einer durchdringenden feinen Stimme, behauptete, was Urtheile über Bühne und Kunst betraf, den ersten Platz. Er fand entschiedenen Beifall und Glauben, einestheils weil er eben ein Franzose war, anderntheils, weil man vermutete, daß er hohen Standes sey, welcher Glaube auch die Aufnahme des Fremden in den vornehmen Kreisen der Hauptstadt zu bestätige schien. Wie das Gespräch jetzt auf die beiden neuen Schauspieler und ihre in Frage stehende Tüchtigkeit kam, rief er:

»Wozu sik streiten? ce n'est q'une seule règle que je donne, hat sie Anstand die Akteur, hat sie keinen? voilà tout! und um das zu probir, mak ik so: ik laß ihn mir bringen tout simplement, einen Stuhl, bringt sie den Stuhl mit grace, nit zu schnell, nit zu langsam, stoßt sie nirgends damit an, so ist der Akteur fertig, und diesebige kann dann nachher maken einen héros, einen Komiker, alles! oui, mes enfants, Anstand, Anstand ce'est tout in diese Welt. Ohne Anstand auf der Bühne findet ein anständik Publikum kein Vergnügen, ohn' Vergnügen kein Spektakel!« –

»Charmant,«, rief, die Menge, »deliziös! Der Anstand ist's! der Anstand soll leben!«

Einige stießen ihre Gläser an einander, und der magere Sprecher fuhr fort:

» Par exemple, mes amis, der große Lecain, seyn die erste Künstler gegenwärtig à Paris, hab' mit ihm oft dinirt und soupirt, und mich gestritten über das Kunst, und selbige hat mir nachher versikert, parole d'honneur, ik haben viel Talent zum Akteur, warum, weil ik hab grace, und jeder Franzos haben grace. Keben sie Ak, wie ik nimm, par exemple, dies Glas; sehen sie den Hand, die Finger, alles hat sein Ordnung. Die Deutschen aber, permettez, messieurs, seyn eigentlich eine unanständige Nation, und darum seyn sie nit nutz zum Spektakel.«

»Erlauben Sie, Herr Marquis,« rief hier einer der jungen Schauspieler, »es gibt doch auch Fälle in der Kunst, wo der Anstand höchst unanständig wäre.«

Ein allgemeines Gelächter erscholl. Einige von der Gesellschaft, welche versucht hatten, es dem Kunstkenner im Anfassen des Glases und in zierlicher Stellung der Hand gleich zu machen, setzten jetzt die Gläser hin, und wandten sich gegen den kühnen Redner. Der Franzose machte eine sehr ernsthafte Miene, und sagte: » Comment? c'est impossible!«

»Sehr möglich,« nahm der Sprecher wieder das Wort, »wenn der Anstand gegen Natur und Wahrheit streitet, so muß der Schauspieler ihn aufgeben, um den leztern zu folgen. Kann nicht zum Beispiel der Fall gedacht werden, daß der Dichter einen Charakter zeigen wolle, der aller Gesetze des sogenannten Anstandes spottet, der gleichsam im Unanständigen excellirt? Hat man Gift bekommen, oder leidet man an ganz ungewöhnlichen Passionen, so kann man unmöglich ganz anständig sich geberden.«

Der Franzose wußte nicht, was er hierauf erwiedern sollte; er begnügte sich, die Achseln zu zucken und eine spöttische Miene zu machen.

Mylius drängte sich jetzt an den Tisch und rief: »Meine Herrn, der Streit ist unnütz! Was ist am Ende anständig, was unanständig, hat Jemand schon den Unterschied herausgebracht? Ich zweifle; es sind leere Worte, ohne Begriffe, oder vielmehr die Begriffe sind von Anbeginn der Welt immerdar verwechselt worden. Viele z. B. würden es höchst unanständig finden, daß wir hier so vielen Punsch trinken, und so laut zanken; ja man könnte behaupten, wir seyen höchst unanständig geworden, indem wir uns über den Anstand streiten, und die beste Definition des Anstandes sey, wenn wir aufhörten, über ihn zu zanken.«

Ein noch stärkeres Gelächter erscholl, und Einige machten leise den Vorschlag, auf die Erhebung der Unanständigkeit die Gläser anzustoßen und zu leeren.

Der Redner fuhr fort: »Was die Franzosen betrifft, so muß man ihnen den Ruhm lassen, daß sie überall wissen mit Anstand unanständig zu seyn, indeß die guten Deutschen von jeher unanständig anständig gewesen sind. Doch um wieder auf die Bühne und die dramatische Kunst zurückzukommen, so scheint mir das vollendetste Kunstwerk das zu seyn, welches bei den Zuschauern die meiste Langeweile verursacht.«

Der Franzose nahm eine Prise, schlug die Dose heftig zu, und rief: » Ah ciel! was Neues.«

»Nichts natürlicher,« entgegnete Mylius, »das Lachen wie die Thräne sind nur niedere Funktionen des thierischen Menschen. Die Kunst, welche sich damit abgibt, bloß diese in Thätigkeit zu setzen, steht natürlich auch auf einer geringen Stufe; sie leistet nichts mehr, als was tausend geringfügige Anlässe des gemeinen Lebens leisten. Je inniger ein Dichter aber von seinem großen Berufe durchdrungen ist, desto mehr wird er diese grobsinnlichen Opfer für seine Muse verschmähen, er wird hoher und höher streben und nicht eher sich befriedigt fühlen, bis er jene Glanzhöhe seiner Kunst erreicht hat, deren Elemente in einer langweiligen Andacht, oder in einer andächtigen Langeweile bestehen. Die Eingeweihten verstehen mich! Allein diese leuchtende Region zu erstreben, ist nicht leicht. Ein Kunstwerk, das sich ihr nähern will, muß unter andern Tugenden besonders eine gewisse trübe Unverständlichkeit, eine mysteriöse Unbedeutenheit, eine vornehme Gelehrsamkeit sich aneignen. Es muß stets mit einem gewissen Etwas versehen seyn. das schwer zu beschreiben ist, welches jedoch immer daran erkannt wird, daß man sogleich bei seiner Annäherung die gründlichste Langeweile empfindet; eine Langeweile, die aber so edel und vornehm ist, daß ein nur irgend ästhetisch Gebildeter oder Kunstmensch um's Himmelswillen kein so langweiliges Stück für das belustigendste hingibt. Das ist, Freunde, die göttliche Ruhe, und wenn es uns gelingt, ein ganzes Publikum so göttlich zur Ruhe zu bringen, so hat unsere Kunst den Gipfel ihrer Bestimmung erreicht. Die Franzosen, wie in allen Dingen, können auch hier uns die besten Muster liefern.«

Der Kritiker, welcher zweifelhaft war, welche Deutung er der ganzen Rede geben sollte, fand sich durch den Schluß derselben ebenso befriedigt als geschmeichelt.

» Il n'y a pas de doute,« rief er, »meine Nation ist unique, was betrifft die Kunst. Alle diese Wunder thut bewirken der Anstand. Es gibt große Exempel hierin. Le célèbre Bertier wurde verbannt und bestraft, weil er gewagt, vor die König und die ganze Hof den Tyran Neron zu spielen, ohne Galanterie-Degen und weiße Handschuh.«

»Fürchterlich!« rief Mylius, »wahrhaft gräßlich, und dennoch muß ich jenen großen Künstler loben. Der Zug ist grell, aber wahr. Welch ein sprechenderes Merkmal seiner bodenlosen Verderbtheit konnte dieser Wüthrich wohl geben? Daß er Rom verbrennen ließ, die Ermordung seiner eigenen Familie kaltblütig anbefahl, zahllose Verbrechen auf sein Haupt häufte, kann in den Augen der Zuschauer sein Bild nicht so verzerren, als jene weggelassenen Handschuhe es thun. Nun erscheint er ganz als Scheusal, als über alle Grenzen des Menschlichen sich hinaus verirrendes Ungethüm, dem nichts heilig, nichts mehr ehrwürdig ist.«

Ein Theil der Anwesenden lachte, ein anderer beobachtete die Mienen des Marquis, um nach seiner Theilnahme oder Abneigung an diesen Worten ihr Betragen einzurichten.

Madame Golzig, die die Aufmerksamkeit wiederum auf sich und ihre nächsten Angelegenheiten lenken wollte, rief jetzt: »Was mich betrifft, gebe ich den jungen Ankömmlingen unbedingt meinen Beifall; sie sind beide von gutem Aeußern, wohl gebaut, und scheinen, was ihre Conduite betrifft, Kinder rechtlicher Eltern zu seyn. Der Eine ist sogar von einer so saubern Niedlichkeit, daß er der Mademoiselle dort bei der Probe nicht einmal einen Kuß geben wollte; doch so etwas empfiehlt. Ihr Spiel betreffend, mag das Publikum entscheiden.« –

»Ja, ja, das Publikum,« riefen alle, »das Publikum hat die letzte Stimme!«

»Ich habe,« setzte Madame Golzig ihre Rede fort, »jetzt noch einen wichtigen Gegenstand Ihnen, meine Anwesende, vorzulegen. Es ist die Klage entstanden, daß ich zu viel ernsthafte Historien zur Aufführung bringe. Die vielen Staatsgeschäfte, der nahe Krieg, und die große Besorglichkeit überhaupt machen, daß die Leute heut zu Tage ernsthafter sind, als sie es jemals waren. Wer in die Comödie geht, will darum nicht wieder ähnliches Herzeleid, sondern Lust und Lachen finden. In Betreff dieser Anforderungen sind denn auch die beiden neuen Akteure verschrieben, sie können singen und tanzen; der eine sogar will auf dem Seil Künste machen, wenn's erforderlich ist. Nun aber fehlen mir wieder die gehörigen Possen und Liederspiele. Ich habe schon mancherlei Plane und Gedanken mir gemacht. Auf meine Bitten schickte mir mein Correspondent aus Hamburg etliche von solchen curiosen singenden Comödien, die allesammt sehr schöne Titel haben; freilich sind sie nicht mehr ganz neu, doch ließe sich mit ein paar Aenderungen gewiß das Trefflichste daraus machen. Lesen Sie, Herr Mylius.«

Der junge Mann ergriff das Blatt, und trug der Gesellschaft folgende Titel vor: »Der aus Hyperboreen nach Cimbrien überbrachte güldene Apfel, ein allegorisches Triumphspiel mit Tanz- und Singbelustigung. Der gestürzte und wieder erhöhte Nebucadnezar, eine Tragödie mit Tanz. Die große römische Unruhe, oder die edelmüthige Octavia, eine mit Tanz ausgeschmückte Historie. Der angenehme Betrug, oder das Carneval zu Venedig.« –

Der Leser hielt inne, und man fing an, sich über diese Bühnenstücke zu besprechen, als in dem Moment die Saalthür aufflog: bei einigen starken Wetterschlägen trat ein junger blühender und erhitzter Offizier hinein, am Arm eine Theaterschöne, die mit zum Congreß gehörte, jedoch vorgab, sich bei einer Freundin verspätet zu haben. Sie ließ sich von ihrem Begleiter den Mantel abnehmen, und hörte mit freundlichem Lächeln auf die Artigkeiten, welche ihr der Marquis über den Tisch hinüber ziemlich laut zuflüsterte. Ein paar Schauspieler machten eben so laute Bemerkungen über den neuen Halsschmuck der Schönen.

Der Offizier näherte sich der Madame Golzig, und rief: »Ob es nicht jetzt Zeit sey, die Karten tanzen zu lassen; für ein treffliches Soupé später habe er schon gesorgt.« Bei diesem Antrage erhoben sich mehrere sogleich, und schlichen leise, nach ihren Hüten greifend, fort. Die andern rückten die Tische näher zusammen, schloßen die Fensterläden, und der Lieutenant ergriff die Karten, um Bank zu halten. Eine tiefe Stille trat ein, und die vielen vom Wein glühenden rothen Gesichter blickten, wie mit Zauber gebannt, auf die Blätter, die unter den Händen des Offiziers ihre ominösen Zahlen zeigten.

Lessing hatte sich schon beim Beginne jenes nutzlosen Streites aus dem Zimmer entfernt, und stand jetzt, in Träume versenkt, unter einem breitblättrigen Kastanienbaum; ihn störte der verworrene Lärm aus dem Hause nicht, wohl aber fuhr er jetzt auf, als er sich von einem weichen Arm umschlungen fühlte, und gewahr wurde, daß Sabine neben ihm stand. Der Blick ihres, Auges schien durch die Dunkelheit in das seinige zu dringen. Eine Pause verging, dann stieß sie mit einem schmerzlichen Seufzer die Worte aus:

»Ephraim, Du bist mir untreu?«

Sie weinte jetzt auf das heftigste, und der Jüngling bog sich zu ihr herab.

»Wunderliches Mädchen,« rief er, »weßhalb glaubst Du das? Doch,« setzte er schnell hinzu, »glaube es nur immerhin, Du mußt jetzt erfahren, daß wir uns nicht mehr wiedersehen werden, obgleich in Einer Stadt mit Dir wohnend, werde ich sowohl Dich als Deine Gesellschaft geflissentlich vermeiden.«

Sie weinte immer heftiger, und er bog seinen Arm um ihren Leib.

»Weine nicht,« rief er mit weicher Stimme, »ist es nicht besser, daß sich ein Band schnell und unverzüglich löst, so lange es noch schwach und leicht ist? Wir wollen beide ein besseres edleres Ziel uns vorsetzen.«

Sie schlang ihren Arm um seinen Hals. »Ich weiß nicht, was Du willst, Ephraim! ich weiß nicht, was edel oder verwerflich, was Tugend oder Verbrechen ist, Du bist mein Eines und Alles; wenn Dein Auge mir lächelt, so bin ich gut, fliehst Du mich, so könnte ich morden.« –

»Fürchterlich!« rief der Jüngling bewegt, »armes, verwahrlostes Mädchen, wie soll ich Dir helfen?« –

»Horch, wie der Donner schmettert,« unterbrach sie seine Worte; »tausend Menschenherzen zittern jetzt in Furcht und Aengsten, ich kenne keine Gefahr. Ich habe über der Erde wie auf ihr nur Dich allein, Ephraim! Wenn der Blitz uns jetzt hinwegnähme, wenn er, indem sein Strahl dieses Herz durchbohrt, zugleich die Qual endete, die darin verschlossen, die Qual, Geliebter, daß Du nicht mehr mein bist, so wäre mir auf immer geholfen.«

Sie schwieg, und auf's neue rannen ihre Thränen.

»Du schwärmst,« hub er mit ernster Stimme wieder an; »uns soll der Blitz tödten, und was hätten wir dann mit einander zu schaffen?«

Das Mädchen zuckte krampfhaft zusammen.

»Was wir mit einander zu schaffen haben?« erwiederte sie mit einem seltsam stockenden Ton, »das will ich Dir sagen.«

Sie hob sich auf die Fußspitzen bis zum Ohr des Jünglings, und zischelte schnell und leise einige Worte hinein. Heftiger rauschten die Gipfel der Bäume, wiederholte Donnerschläge ließen sich hören.

»Jetzt weißt Du es,« rief sie, indem sie krampfhaft seine Hand drückte, und mit einem Sprunge in die Dunkelheit verschwand.

Einsam schlich Ephraim aus dem Garten durch die leergewordenen Gassen seinem Hause zu.

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Mylius unterließ nicht, seinen Freund aufzusuchen; wenige Tage nach dem obigen traf er ihn auf einem Spaziergange, und schloß sich ihm ohne weiteres an. Es war Abend, der aufsteigende Mond begann schon seine Herrschaft in den schärferen Schattenlinien, die Gebüsch und Häuser warfen, zu zeigen. Der junge Philosoph fühlte sich eben so ausgelassen munter, als sein Freund nachdenklich und verzweifelnd; er brachte viele Scherze und Spässe vor, auf die jener wenig oder verstimmt antwortete.

Endlich rief der Ungeduldige nach einer Pause fast zornig: »Was ist Ihnen denn, verehrter Dichter, Sie sind ja langweilig wie eine französische Tragödie!«

Er bereute diese Worte, und indem er den Freund mit einer stürmischen Bewegung an sich schloß, setzte er hinzu: »Nein, keinen Vorwurf! mir ahnet, daß Sie in einer wohlthätigen Crisis begriffen sind, und da darf man den Kranken am wenigsten in seiner Ruhe stören.« –

»Es ist wirklich so, wie Du sagst,« entgegnete Lessing, »und wenn Du nicht so leichtsinnig wärest, immerdar jedes ernste Nachdenken von Dir wiesest –« –

»Wer sagt Dir das?« unterbrach der Philosoph seinen Freund. »Ich dem Ernst und dem Nachdenken entgehen? welche Anschuldigung! Ist denn mein Lachen und Spott weniger Ernst?« Er faßte die Hand des Freundes und rief: »Sieh', es ist so ruhig um uns her, wie matte Fliegen sind sie alle von ihrer langweiligen Wand herabgefallen, das summt, das schwirrt, das sticht und beschmutzt nicht mehr; jetzt läßt sich's wieder in dieser Stadt leben, jetzt wird es mit einemmal kühl, frei und luftig! Oben steht mit dem klaren Mond an der gedankenvollen Stirn die alte Nacht; die Stille, der Gott großer Seelen, läßt sich sanft auf die Erde nieder, und wie ein großes Kapitel der Weltgeschichte liegt eine feierliche Stunde vor uns. Das volle schöne Bewußtseyn solcher Stunden, würde ich, wenn ich ein Mädchen an meiner Seite hätte, am schönsten durch einen Kuß aussprechen; auch die Freundschaft hat ihre Schäferstunden, wie die Liebe, nur daß sich hier die Geister küssen, durch leuchtende Gedanken, große Ideen küssen; laß uns jetzt eine solche Schäferstunde feiern.«

»Du kannst, wenn Du willst,« entgegnete Lessing, »auch gefühlvoll und herzlich seyn.«

»Es ist mein Ernst,« rief Mylius, »ach Freund, wir verstehen uns beide. In dem großen schlafenden Berlin sind wir die einzigen vielleicht, die da wachen und fühlen. Sieh, so wie wir einträchtiglich jetzt mit einander wandern, so, sagt mir eine innere Stimme, werden wir auch, zwei vereinte große Geister, durch kommende Geschlechter schreiten: Du ein Dichter, ich ein Philosoph. Lessing! bei dem stillen mitternächtlichen Antlitz dort oben, das keinen großen Gedanken kleinlich verräth, Freund, bei all den Geisteraugen, die dort aus fernen Welten auf uns niederschauen, laß uns rüstig auf der erwählten Bahn fortschreiten, laß uns berühmt, laß uns groß werden!«

Lessing drückte mit Feuer die dargebotene Hand. »Gewiß,« rief er, »erfüllen wir unsere Bestimmung, wenn wir fest dabei beharren der innern Stimme zu folgen; sie ist es, die, wenn wir die Wahrheit suchen, uns immer am sichersten leitet.«

Mylius veränderte schnell Ausdruck und Stimme; Spott und Unwille glitt über sein Antlitz, und er rief mit einem boshaften Lachen: »Ich belustige mich manchmal etwas Albernes zu behaupten, und könnte mich todt lachen, wenn ich sehe, daß es immer noch Fische gibt, die an die Angel beißen, obgleich recht sichtlich nur ein elender Wurm an derselben zappelt. Nein, dem Himmel sey Dank, dergleichen Träume habe ich ausgeträumt. Unsterblichkeit, Wahrheit, überirdischer Dichterruhm! Liebster Freund, lassen Sie uns nur unsere Schulden bezahlen, machen Sie, daß Sie Ihrem Herrn Vater im Predigtamte folgen. Ich heirathe die dicke Haushälterin des Professors, sie hat einiges Geld, wir richten uns ein, und leben dann als ehrsame anständige Berliner, die keine Unsterblichkeit nöthig haben.«

Lessing warf einen zürnenden Blick auf den Sprecher.

»Ja, ja,« fuhr dieser fort, »wie kannst Du nur glauben, mit den Deutschen, und besonders mit diesen Berlinern, ließe sich irgend etwas anfangen? Beginne nur gar nicht das Werk, denn all Deine Mühe, Deine Anstrengung wird dennoch vergebens seyn. Hier, wo Gottsched, der gekrönte Poet ist, wo Hagedorn und Gellert bewundert werden, willst Du eine neue Schule gründen? Den Haß, die Verfolgung – ja selbst die Verachtung, die auf deutscher Sprache und Kunst liegt, in der ein großer König selbst das Beispiel gibt, willst Du, Einzelner, bekämpfen? Thorheit! Und bist Du denn wirklich selbst ein Dichter? Ein gutes Theaterstück, das Du halb und halb übersetzt hast, entscheidet herzlich wenig, Deine Verse sind am Ende auch keine Meisterstücke.«

»Wie bedaure ich Dich,« rief Lessing schmerzlich, »Deine Zweifel und Dein Spott werden Dich noch innerlich zernichten. Geflissentlich rufst Du den Glauben an Edles, Treffliches und Schönes hervor, um dann das köstliche Gut langsam und in Qualen vom Spotte zerreißen zu lassen.«

»Ja,« entgegnete Mylius, »der Spott ist meine Gottheit. Es ist doch in der Erscheinung etwas Kräftiges, Wahres! Ist irgend eine Eigenschaft im Menschen unsterblich, so ist es der Spott; er ist der ewig stolze lachende Gebieter, vor dessen Antlitz die Creatur flieht, er ist's, der uns den Herrscherstab in die Hand gibt über diese elende Welt. Es gibt keine Größe ohne Ueberlegenheit, keine Überlegenheit ohne Spott. Durch Spott nehme ich jedem Stachel des Mißgeschicks seine Spitze. Ueber alles geht das Ergötzen, ein treuherziges Gemüth, so recht warm in Glauben und Zuversicht hineinzusprechen, um ihm dann die Binde abzunehmen.«

Lessing sah seinen Freund aufmerksam und nicht ohne Rührung an. »Du weißt,« sagte er nach einer Pause, »daß ich hierin nicht mit Dir gleicher Meinung bin. Auch Dir ist es mit diesen Gesinnungen, im Grunde genommen, nicht Ernst; Dein Gemüth ist weich, Dein Sinn nicht ohne Wohlwollen, dennoch verschließest Du diese Schätze, um, statt anzuziehen und zu fesseln, zurückzustoßen und zu beleidigen. Da wir die Welt nicht entbehren können, so müssen wir durch Liebe sie gleichsam erobern.«

»Wie?« rief Mylius aufgebracht, »im Ernste also willst Du Dich der Thorheit, dem Unverstand, der Gemeinheit und dem dummen Dünkel als Beute dahin geben?«

»Nicht dieses ist damit gemeint; ein Kampf muß überall stattfinden. Ehe wir auf unsere Weise wirkend eintreten können, müssen viele Hindernisse beseitigt, neue Bahnen gebrochen werden; weßhalb aber nun diese nothwendigen Kämpfe sich ohne Grund noch schwerer machen, als sie ohnedieß sind? Die Thorheiten, gegen die wir zu Felde ziehen, sind ein altes Erbstück der Menschheit, wir sehen es überall hin ausgetheilt, uns selbst nicht ausgeschlossen. Wenn wir nicht mit Absicht das Gehässige aufsuchen, so wird es uns bald gelingen, jene Gebrechen von dem mit ihnen behafteten Einzelwesen zu trennen, und dieses werden wir dann mit Wohlwollen und Nachsicht betrachten können. Von diesem Standpunkte aus gesehen, kann allein die Satire, der Spott im allgemeinen von Nutzen seyn; er wird die Wahrheit an's Licht fördern, ohne daß wir dabei uns und unsre gesellschaftliche Stellung ihm zum Opfer bringen.«

»Genug des Streites!« rief Mylius eifrig, »wir beide bekehren einander doch nicht, und bleiben nun einmal wie wir sind. Es ist mir auch mit allem, was ich da gesprochen habe, durchaus nicht Ernst gewesen, der Mond ist an allem Schuld; so wie er mit seinem wunderlichen Planeten-Antlitz das alte Meer zu Zeiten aufrüttelt, daß es wie wahnsinnig ebbt und fluthet, so bringt er auch in einem Menschenkinde, das sich ihm aussetzt, den ganzen Schatz von Redensarten und Betrachtungen in eine leichtfertige Bewegung. Glaube nur immer, daß ich das beste Herz habe gegen Dich; zu Liebenswerthen hab' ich's auch allerdings. Und nun laß uns einmal zur Abwechslung über diese Kirchhofmauer voltigiren. Hast Du nicht bemerkt, daß, während wir die tiefsinnigsten Dinge besprachen, ein paar allerliebste Schwarzmäntel, vom Diener gefolgt, an uns vorüber trippelten, sie verloren sich über den leeren Platz herüber, in jenes Häuschen des Kirchhofwächters. Bei dem Alten können sie unmöglich etwas zu schaffen haben; gib acht, die Fledermäuse suchen im Geheim und in der Stille der Nacht die vor wenigen Wochen angekommene Kaffee-Prophetin auf, von welcher man Wunderdinge erzählt.«

Lessing, an die seltsame Weise des jungen lebhaften Philosophen gewöhnt, zwang sich, auf diese neue Grille einzugehen; er zeigte nur die Unmöglichkeit, Zeuge von den Verhandlungen der Prophetin mit ihrem Besuch seyn zu können.

»Nichts leichter, als das,« rief Mylius, »sind wir nur erst über die nicht hohe Mauer herüber, so kenne ich im Hof schon die Wege und Schliche; der alte Wächter hat eine hübsche Nichte im Hause, bei der wir, wenn die Unternehmung scheitert, Schutz suchen können.«

Die tiefe Stille, die auf dem Platz und auf der ganzen Umgegend lag, der helle Mondschein ringsum, der auf dem Häuschen, der Mauer und dem weiten Kirchhof gleich Tageshelle niederglänzte, und endlich das geheimnißvolle Werk, welches sich innerhalb der Mauern der kleinen Wohnung zubereitete, lockte die beiden Jünglinge mächtig an. Mit ein paar Sprüngen war das Hinderniß der Mauer beseitigt, und sie standen nun in Mitte der Gräber und Monumente.

Von einem derselben, dessen ziemlich hoch gelegene Platte sie erstiegen, bot sich nun eine freie Aussicht auf das erhellte Fenster, und durch dasselbe auf das Innere eines niedrigen Stübchens. Lessings Theilnahme an dem Wagestück wurde, da sie anfangs nur erzwungen war, jetzt auf das lebhafteste rege, da er im Hof an der Thüre, gleichsam als Wache ausgestellt, den alten Christian erkannte, der sich an den Pfosten lehnte und ruhig hinauf in den Mond blickte.

In der Stube drinnen sah man die Prophetin beschäftigt, verschiedenes Geräthe herbeizubringen; ein Tisch stand nicht weit vom Fenster, an demselben rechts hatten die beiden, Damen Platz genommen. Die eine, es war Leopoldinens zierliche Gestalt, lag in den Stuhl zurückgelehnt, der schwarze Spitzenschleier verdeckte das Antlitz; die andere, wie es schien, eine ältliche Dame, war beiden Lauschern fremd, auch sie war sorgfältig verschleiert. Christian, was Lessing jetzt erst bemerkte, steckte in einer fremden Livrei.

Bald war der Tisch mit Kartenblättern belegt, zugleich dampfte ein Kessel nebenbei; ein großer schwarzer Kater, sich oben auf dem Stuhl der Alten zeigend, blickte mit feurigen Augen herab. Die ältliche Dame hatte sich erhoben, aufgestützt bog sie sich herüber, um der Lage der bunten Blätter besser folgen zu können; ein blitzendes Ohrgehänge wurde sichtbar, indem es, so nahe der Kerze, leuchtende Farben schoß. Leopoldine lag dagegen ruhig in ihrem Armstuhl, sie spielte mit dem Fächer und schien Langeweile zu haben. Christians Profil zeichnete sich, vom Monde beschienen, riesengroß auf der hellen Wand ab.

Kein Laut ward rege; der schöne malerische Effekt des wunderbaren frischen Bildes, die magische Einfassung, die die Schatten der Nacht, die einsamen Gräber umher, so wie das weiße Licht der Leichensteine bildeten, nichts hievon entging den beiden nächtlichen Lauschern, die sich gegenseitig durch stille Winke ihr Interesse, das sie an der stillen Verhandlung nahmen, mittheilten.

Endlich veränderte sich die Gruppe im Zimmer; es hatte den Anschein, als seyen die Schicksalswürfel günstig gefallen, denn in dem Moment erhob sich die Alte aus ihrem Stuhl, scharrte mit den langen dürren Fingern die bunten Blätter zusammen; die Dame, ihr gegenüber, zog ein Beutelchen hervor; es blinkten Goldstücke, die gierig aufgefangen und eingesteckt wurden. Der Kater sprang herab, die Prophetin ergriff das Licht, um ihren vornehmen Gästen zu leuchten, und man hörte von innen »Christian« rufen. Dieser schüttelte sich den Schlaf vom Leibe, und sprang hastig hinein; das Zimmer wurde dunkel, Thüren gingen, und nach einer ziemlichen Weile trat die Alte mit dem Licht allein wieder ein, und setzte es auf den leergewordenen Tisch.

Mylius erhob sich aus seiner gebückten Stellung, und rief: »Das sind nun also die Früchte der Aufklärung und Philosophie, in denen ein so großer König sich die Mühe gibt, seiner Residenz voranzugehen. Zu Kaffee-Orakeln, zu elenden Kartenschlägerinnen schleichen sie, diese stolzen Schönen, die am Tage in ihren Salons die tönenden Sprüche aller sieben Weisen Griechenlands im Munde führen.«

»Still!« rief Lessing, indem er den Freund zu sich niederzog, »so sieh' doch, wie seltsam sich eben die Scene verändert hat.«

Man erblickte die Alte gleichsam im Kampf mit einer Gestalt im Mantel, welche lebhaft auf sie eindrang; es wurden so laute Worte gewechselt, daß man sie herüber bis auf den Kirchhof hören konnte. Die Prophetin wehrte sich, ihr Kater umsprang sie in engen Kreisen, das niedrig stehende Licht warf wunderliche gaukelnde Schatten, und endlich trat seitwärts, wie aus der Wand hervor, ein großer breitschultriger Mann zwischen die Streitenden. Mit der einen Hand hielt er die Alte fern, mit der andern riß er ihrem Gegner den Mantel ab, und es wurde jetzt ein schlanker Jüngling von blühendem Aeußern sichtbar, dessen schöne Gesichtszüge aber Zorn und Abscheu entstellten. Beide, die Alte und ihr Bundesgenosse, fielen jetzt über ihn her; ein Faustschlag des Jünglings warf das Licht herab, das nun auf dem Boden fortbrannte, die drei Gestalten rangen miteinander, die Kaputze der Alten wurde herabgerissen, und ihre grauen Haare flatterten auf den Rücken nieder.

Mylius, der dergleichen Scenen leidenschaftlich liebte, ließ sich nicht länger abhalten, im Drama eine Rolle mit zu übernehmen, er stellte es zugleich seinem Gefährten als eine Ehrensache vor, dem armen Verfolgten in der Stube zu Hülfe zu kommen, so daß dieser nicht länger widerstand, und beide näherten sich jetzt vorsichtig dem Hause. Als die Streitenden von außen Schritte vernahmen, stellten sie sogleich alle Thätigkeit ein, und zogen sich, in der Meinung, es nahe die Polizei, vorsichtig und in der Stille zurück. Die beiden Jünglinge traten ein, und ihr erster Blick fiel auf den, welchen sie retten wollten, und der jetzt, wie es schien, leblos auf einer Bank am Ofen lag. Die Alte kniete neben ihm, die Hände ringend, indeß der Kirchhofwächter, der sogleich Mylius erkannte, auf diesen zutrat und ihn freundlich begrüßte.

Erst nach vielen Fragen und Erörterungen wurde der ganze Zusammenhang des Ereignisses deutlich. Der junge Mensch war ein Page des Königs, er hatte die beiden Damen hier aufgesucht, und als er sie nicht mehr gefunden, die Alte zwingen wollen, zu gestehen, was für Unterhandlungen sie mit jenen gepflogen. Auf ihre Weigerung war nun der heftige Kampf entstanden; eine geringe Verwundung am Haupte, die, wie man glauben mußte, er sich selber verursacht, brachte den Fall und die Ohnmacht des jungen Helden zu wege.

Während des Streitens und Erzählens hatte sich Lessing dem Pagen genähert, und in dessen Zügen den Ausdruck der reinsten jugendlichen Schönheit gefunden. Ein junger Antinous, in der Blüthe seiner reizenden Gestalt, wäre nicht im Stande gewesen, mehr Mitleid und Interesse einzuflößen, als der mit geschlossenen Augen in Ohnmacht daliegende Jüngling. Er wurde jetzt, da sich neue Besuche bei der Prophetin meldeten, von den beiden Freunden und dem Wächter in ein oberes Gemach getragen, und daselbst auf ein Ruhebett niedergelegt.

Der Dichter ließ sich's nicht nehmen, bei ihm zu wachen, und auf die ersten Zeichen der wiederderkehrenden Besinnung zu lauschen; er hatte sich von der Alten verschiedene einfache Heilmittel geben lassen, die er nun, so gut es gehen wollte, anwendete. Nach einer Weile öffnete der Kranke die Augen, er blickte um sich und schien nicht errathen zu können, wo er sich befinde. In leidenschaftlicher Heftigkeit fuhr er auf, und rief:

»Elendes, abscheuliches Weib! gestehe, wozu hast Du ihnen gerathen, welche neue Schändlichkeit soll vollführt werden!«

Lessing ergriff seine Hand, die fieberhaft glühte, und sagte mit sanfter Stimme: »Mein Herr, Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden; die Alte, auf welche Sie zürnen, ist nicht gegenwärtig, auch haben Sie ihr Unrecht gethan, gewiß kennt sie den Namen jener Damen nicht, die vor wenig Minuten dieses Haus verlassen haben.«

Der Jüngling richtete sich auf, und betrachtete mit großen offenen Augen seinen Gesellschafter. »Und wer sind Sie?« fragte er nach einer Pause.

Der Dichter erklärte jetzt mit wenigen Worten das Vergangene; es entschlüpfte ihm während seines Berichts der Name der Gräfin, und sogleich ergriff der Page seine beiden Hände, indem er auf seine leidenschaftliche Weise rief:

»Also Sie kennen die edle Familie, Sie wissen, welch ein entsetzliches Unglück ihr ganz nahe bevorsteht?«

Lessing war erschreckt und heftig bewegt erwiederte er: »daß er von keiner drohenden Gefahr wisse;« er fragte, bat, beschwor seinen jungen Gefährten, doch dieser schüttelte schweigend das Haupt.

»Wozu Sie, mein Herr,« entgegnete er endlich mit dumpfer Stimme, »in ein Geheimniß einweihen, da wir beide doch zu schwach sind, dem drohenden Verhängnisse vorzubeugen. Nehmen Sie meinen Dank für die Hülfe, die Sie mir gegen die Hexen und Zauberer dieser Mörderhöhle geleistet haben; ich fühle mich vollkommen wohl, um meinen Rückmarsch wieder anzutreten.«

Er nannte bei diesen Worten seinen Namen, und Lessing erfuhr, daß sein neuer Freund aus einer der ersten Familien stammte. Beide nahmen jetzt herzlich von einander Abschied, und indeß jener Mantel und Degen zusammensuchte, begleitete ihn der Zurückbleibende bis an die kleine Stiege, die in den Hof und von dort auf die Straße herableitete; er nahm ihm noch das Versprechen ab, sich rücksichtlich seiner Verwundung in acht zu nehmen, und blickte ihm nach, bis die in Mantel gehüllte Gestalt um die Ecke verschwand.

Rückkehrend suchte jetzt der Dichter seinen philosophischen Freund auf; er fand ihn auf dem Kirchhof in einem zärtlichen Zwiegespräch mit der Nichte des Wächters, die sich hervorgemacht hatte, um nach der Ursache des Lärms und Gezänkes in dieser Nacht zu fragen. Die Prophetin war mit ihren neuen Gästen auf das eifrigste beschäftigt; als nun der Oheim kam, um sein Mündel zurück ins Haus zu treiben, verließen die beiden Freunde den Schauplatz so wunderlicher Ereignisse, und wanderten der Stadt zu. Auf dem Rückwege berichtete Lessing, was mit dem Erkrankten sich ereignet hatte; er konnte nicht aufhören, die Gestalt, die Schönheit des Gesichts und das einnehmende Wesen des Pagen zu rühmen, so daß Mylius endlich sagte:

»Ich kenne Deine Weise hierin, ein jedes neue Gesicht zieht Dich an, Du siehst tausend Dinge darin, die uns andern verschlossen bleiben, und erhebst dergestalt eine ganz gewöhnliche Erscheinung zum Helden irgend eines in Deinem Kopfe sich schon zubereitenden Drama's. Ich habe dem Burschen weiter nichts angesehn, als daß er ein Händelmacher ist, wie alle jene übermüthigen Herrchen, die da wissen, wie sehr Sie auf die Langmuth des Königs, dessen enfants gâtés sie sind, rechnen dürfen.«

Bei ihrer Wohnung angelangt, trennten sich beide. Mylius wollte noch den Dichter überreden, der in diesen Tagen anzustellenden Probe seines Schauspiels mit beizuwohnen, doch dieser schlug es ihm rund ab. Ohnedieß mußte er sich schon Vorwürfe machen, das der Mutter gegebene Versprechen nicht in dessen ganzem Umfang erfüllt zu haben.

———————

Die letzte Probe hatte zur Zufriedenheit der Theaterfreunde und der Madame Golzig statt gefunden und man ging jetzt an die Darstellung des Werks. Es nahte sich der Tag, wo auf den Brettern der Bühne zu Berlin zum erstenmal Miß Sara Sampson erschien. Der junge Dichter fühlte am Vorabende dieses Tages die Fassung und Ruhe schwinden, welche er bis jetzt behauptet hatte; vergeblich hielt er seinen Vorsatz fest, weder auf den Tadel noch auf das Lob der Menge entscheidendes Gewicht zu legen; das Vatergefühl für das geliebte Kind seiner Muse ließ ihn dennoch jetzt vor dem erstern zittern, und das andere herbeiwünschen. Auch ohne sein Mylius gegebenes Wort hätte er es dennoch nicht vermocht, im Schauspiele gegenwärtig zu seyn.

Nach einem Besuche bei jenem vornehmen Gönner kehrte er also frühzeitig in sein einsames Zimmer zurück, und nahm das Manuscript seines Drama's zur Hand. Als die Stunde schlug, in der gewöhnlich das Schauspiel seinen Anfang nahm, sah er ganze Massen von Fußgängern sich seinem Hause vorbei, dem Theater zu, in Bewegung setzen.

»Sie gehen,« sagte er bei sich, »mein Stück zu sehen. Die lieben Gedanken und Bilder, die ich so lange bei mir gehegt und gepflegt, die schöne Saat, die in stillen Stunden mir hoffnungsreich keimte, sie gehen, sie jetzt einzuärndten. Die Undankbaren, nicht einen Blick werfen sie hinauf zu dem, der ihnen sein Liebstes und Bestes dahingibt.«

Er konnte zürnen, als er einen Wagen, in welchem eine lustige Gesellschaft Platz genommen, dem Thore zufahren sah.

»Welche unpassende Zeit,« grollte er bei sich, »jetzt auf's Land, oder zu irgend einem langweiligen Vergnügen zu fahren! Doch gewiß sind es welche von jenen traurigen Geschöpfen, die nur in dem gedankenlosesten Rausche ihr Vergnügen finden, jede gehaltvollere ernstere Unterhaltung wie die Pest fliehen; mögen sie dahinfahren, sie würden auch auf der Bühne nichts als ihre eigene Erbärmlichkeit sehen.«

Jetzt erblickte er einen Wagen herankommen, der wegen eines augenblicklichen Gedränges ein paar Sekunden anhalten mußte; es waren Vornehme, denn sie kamen spät. Unwillig über die Verzögerung blickte eine Dame aus dem Fenster, und Lessing erkannte Clarissen. Sein Herz schlug freudig, jede Besorgniß wich.

»Dem Himmel sey Dank,« rief er, »mein geliebtes Kind wird nicht fremd einer fremden Menge entgegentreten; sie ist im Schauspiel, ihrem zarten Ohr, ihrem gebildeten Auge wird kein edles Wort, keine schöne Beziehung entgehen. O möchte sie empfinden, daß ihr Geist es war, der mich umschwebte, als ich Sara's edle weibliche Züge entwarf.«

Er entfernte sich vom Fenster, und blätterte in dem Manuscript: »Jetzt!« rief er, »ist die Exposition vorüber, die Scenen mit dem alten Sampson, Waitwell und dem Gastwirth sind da gewesen, das Interesse hebt an mit Mellefonts Erscheinung, und man erwartet Sara's Auftreten; die kleine Sabine wird die Rolle verderben, ihr Herz weiß nichts von einer Zärtlichkeit, die Adel mit Innigkeit verbindet, sie ahnet nicht das Daseyn jenes zarten Seelen-Colorits, das, in alle Farben der Leidenschaften überspielend, keine entschieden annimmt; sie wird meinen, alles mit einem hausbackenen Unglücklichthun abzumachen.«

Unwillig durch diese Betrachtungen gemacht, warf er das Manuscript hin; die eintretende Dämmerung hinderte ihn, seine Beobachtungen über die Fußgänger auf der Gasse fortzusetzen. Die Stube wurde ihm zu eng, und er entschloß sich herabzusteigen. Unten angelangt, machte er einige Gänge, und gelangte unwillkürlich in die Nähe des Theaters.

Es war unterdeß spät geworden, das Schauspiel erreichte sein Ende, und aus den geöffneten Thüren des Gebäudes drängte sich jetzt die Flut der Zuschauer dem einsamen Wanderer entgegen, nicht wissend, daß sie dem Schöpfer ihres heutigen Vergnügens so nahe waren. Wie gerne hätte er ein Urtheil, eine Meinung gehört; doch die wenigen Worte, die er erlauschen konnte, ärgerten ihn, denn er hörte fragen: in welches Gasthaus man gehen wolle, um zu Nacht zu speisen.

Zur Seite an der Mauer saß ein kleines Mädchen an ihrem Korbe mit Früchten, zu ihr trat jetzt der Dichter, um dem Strome auszuweichen. Die Kleine wollte ihm die Früchte, die er verlangte, nicht geben, indem sie bemerkte: daß ihre Großmutter sogleich erscheinen werde, sie sey nur noch im Theater. Alsbald zeigte sich die Matrone; sie schien gerührt, und trocknete sich mit der Schürze die Augen.

»Was ist Euch,« rief Lessing, »warum weint Ihr?«

»I Gott,« erwiederte die Alte, »über das dumme Zeug, was sie heute drinnen aufgeführt haben; wenn die vornehmen Herrschaften so viel Rührung zeigen, wie soll denn unsereins sein Thränlein zurückhalten. Da hab' ich denn auch mit meinen alten Augen tapfer mitgeweint.«

»Ey, Alte, erzähle doch, wie war die Geschichte?«

»Miserabel,« entgegnete die Höckerin, »mit einem Worte gesagt, aber so tugendhaft und schön, wie ich noch nichts erlebt; ich habe viel Unglück mit Männern gehabt, aber so ein abscheulicher Galant, wie im Stücke einer vorkommt, ist mir noch nicht erschienen; ich würde auch ganz anders mit ihm umgesprungen seyn, als das liebe sanfte Weibsbild es thut.«

Der Dichter war entzückt über diese anspruchlose Kritik. Ehe die Alte wußte wie ihr geschah, hatte er einen Theil seiner Börse in ihre Hand ausgeleert, und war, ohne ihren Dank abzuwarten, in die Menge hinein verschwunden.

Kaum hatte er sein Zimmer wieder betreten, als Mylius mit einem freudeglühenden Gesichte herein und dem Freunde um den Hals stürzte.

»Dein Stück hat gefallen, allgemein gefallen,« rief er, »freue Dich!« –

»Ich weiß es,« erwiederte der Dichter; »aus einem Munde, der weder schmeichelt noch lügt, hab' ich's erfahren.« –

»Jetzt, da das Gewünschte sich erfüllt,« fuhr der Philosoph in seiner Rede fort, »kann ich Dir wohl meine Zweifel entdecken, die ich am Gelingen hatte. Es ist ein Rausch, sag ich Dir, die guten Berliner werden frühzeitig wieder erwachen; der Himmel weiß, welch ein Wind ihnen diese neue Laune angeblasen; ein poetischer Schnupfen hat sie befallen, so daß sie für diesen Moment in der That im Stande sind, eine wirkliche Dichtung zu würdigen und sich an ihr zu erfreuen. Allein ich fürchte, ich fürchte, nur zu schnell wird sich die liebe Gesundheit wieder einstellen.«

Der Spötter brachte jetzt zwei Flaschen Wein aus seinen Taschen, und setzte sie mit einem Triumphlächeln auf den Tisch.

»Die gute Frau Golzig, die heute Abend wahrhaft kindisch vor Freude ist, bittet Dich in aller Demuth, diesen gläsernen Gesellen auf ihr Wohl den Hals zu brechen; sie wird auch morgen mit einer namhaften Geldrolle angerückt kommen, die du als das erste Honorar, das Dir der leidige Thespis-Karren zollt, nicht von Dir weisen darfst.«

Lessing vernahm ungern diese Worte, die störend in seine Bilder und Träume eingriffen; er hätte gerne Einzelnes über die Darstellung, über die Zuschauer gehört, allein er mußte schon den Philosophen, der auf seine Weise jetzt polterte und lärmte, seinen Weg gehen lassen. Es wurden wunderliche phantastische Pläne für die Zukunft geschmiedet, neue überraschende Aussichten eröffnet, und zuletzt erschien dem Schwärmenden keine Schranke unübersteigbar. Der frische Jugendmuth, vom Glücke zum erstenmal entschieden angelächelt, erobert im Spiel die Welt, und trägt das Köstlichste als schnelle Beute davon. Ein Theil der Nacht war schon vergangen, als Mylius wieder fortstürmte und den Dichter seinen Träumen überließ.

———————

Eine Gesellschaft beim Grafen Felix war versammelt, und Lessing hatte zum erstenmal eine Einladung erhalten, dort zu erscheinen. Er war über dieses Ereigniß weniger erfreut als verwundert; der Graf war ihm bekannt als einer jener tonangebenden Großen der Hauptstadt, die eine glänzende Erscheinung bilden, indem sie in ihrem Salon alle Geister, die auf Rang, Ansehen und in Mode stehender Bildung Anspruch machen können, vereinigen. Seine Reichthümer, das Ansehen der Familie, so wie Geist und Talent, hatten ihn frühe eine wichtige Laufbahn antreten lassen. Er war Gesandter an verschiedenen fremden Höfen gewesen, und genoß gegenwärtig einer kurzen Ruhe, die er den Musen und den Studien widmete. Der nahe Krieg und die schlimmen Weissagungen, mit denen die Politiker sich trugen, drohten jener Ruhe bald ein Ziel zu setzen.

Als der Dichter sich nahte, trat ihm der Graf entgegen; er zeigte eine hohe stolze Gestalt, auf der freien Stirn Adel und Würde; ein geistreiches Lächeln um den schöngeformten Mund, sichere Leichtigkeit in jeder Bewegung. Mit wenigen aber passenden Lobsprüchen erwähnte er des neuen Schauspiels, und stellte den Jüngling der Gesellschaft als den Dichter vor. Die Unterhaltung wurde durchgehends in französischer Sprache geführt; unserm Lessing kam hier lange Uebung zu statten, er bewegte sich leicht und mit Anstand in den fremden Formen. Da lästiger Zwang entfernt war, so ordnete sich bald Jeder seinem gewählten Interesse zu. Die Politiker traten zusammen; an den Kartentischen ließen sich ältliche Herren nieder; in einem entferntern Gemach wurde Musik gemacht; aufmerksame Diener eilten mit Erfrischungen durch die erleuchteten Säle.

Der Graf, Lessing und noch einige andere Herren versammelten sich in einem Zimmer, dem ein breiter Kamin Wärme und Freundlichkeit verlieh. Man sprach über das neue Drama, und der Graf nahm Gelegenheit, seine Ansichten über die Bühnenkunst zu entwickeln. Der magere gesprächige Marquis, der sich auch zugegen befand, lobte jedes seiner Worte, und beklatschte lärmend die geäußerten Meinungen und Urtheile. Der Dichter, der anfangs ruhig hinhörte, wurde jetzt durch die Fragen des Grafen mit in's Gespräch verflochten; er war völlig entschlossen, sich so freimüthig, als es schicklich war, zu äußern, um die Gelegenheit zu nutzen, seine Erfahrungen und Ansichten laut werden zu lassen. Zuerst mußte er wiederum dem Angriff auf deutsche Sprache und Kunst begegnen.

»In der That,« rief der Franzose, »es ist ein Wunder, daß ein deutsches Stück bei einem gebildeten Publikum Beifall gefunden.«

»Wir leben in der Zeit der Wunder,« entgegnete Lessing trocken.

»Wie meinen Sie das?« fragte der Graf.

Der Dichter fuhr mit Freimüthigkeit fort: »Ist der schnelle Wachsthum dieses noch jungen Königreichs, sind die glänzenden Eigenschaften seines Fürsten, die Europa staunen machen, und die nur wenige bei diesem Prinzen im Beginne seiner Laufbahn zu erwarten sich berechtigt glaubten, keine Wunder? Gränzen die überraschenden Erfolge der Forschungen berühmter Männer in jedem Fache des Wissens, die jetzt unser Vaterland zu den seinen zählt, nicht ebenfalls an's Wunderbare? Und darf bei allen diesen herrlichen Erscheinungen die Poesie nachbleiben? Soll sie sich nicht vielmehr auch erheben, da sie, um würdige Stoffe zu bearbeiten, nicht mehr nöthig hat, die Fremde zu plündern?«

»Sie sind ein eben so warmer Anwalt, als Sie ein geschickter Poet sind,« rief der Graf mit Lächeln; »fahren Sie nur fort.«

»Der Deutsche,« nahm Lessing wieder das Wort, »hat über Nacht einen Schatz gefunden, er hat entdeckt, daß er auch eine eigenthümliche Sprache hat. Jahrhunderte lang hatten Thorheit und Unverstand ihn nicht zu dieser Entdeckung kommen lassen, jetzt, da sie gemacht ist, wird er sie zu brauchen wissen. Dank sey es unserm großen König, so abgeneigt er persönlich seiner Muttersprache ist, so mächtig wirkt er durch seine glänzende Erscheinung, sie aus dem Staube zu erheben. Den politischen Reformen folgt der Krieg der Geister. Ist es ihm doch gelungen, die Aufmerksamkeit Europas auf sich und auf seine an Umfang nur geringen Staaten zu lenken; lebt wohl ein Preuße, der in jenem stolzen Bewußtseyn es über sich gewänne, sich fremdem Joch, fremder Willkühr unterworfen zu denken? Zu dieser Selbstständigkeit ist der kleine Staat schon gediehen, die Thaten des nahen Krieges werden sie gewiß noch erhöhen, und die deutschen. Gelehrten und Dichter sollten, wissend, daß Europas Blicke auf sie gerichtet sind, sich nicht zu dem kühnsten Aufschwunge ermächtigen? Doch abgesehen von den Beweggründen eines edlen Patriotismus, ist denn diese schöne Sprache ihrer selbst wegen nicht würdig, daß wir uns um sie mühen, ist's nicht perfider Undank, wenn wir sie um eine fremde vertauschen? Sie, die als erster göttlicher Quell der Nahrung in unserer Seele die schlummernden Keime weckt, die ihre frischen Blumenblätter schützend um den kindlichen Geist schlägt, anfangs weich und biegsam im Munde unserer Knaben und Mädchen, dann sich kräftigend und ermannend, bis sie von den Lippen des Dichters, gleich einem noch unberührten Orgelspiel, zu göttlichen Psalmen blühend emporweht, und in Andacht und Entzückungen schwärmt. O deutsches Wort, so süß und geistig wie der Traube Gold, ich werde es noch erleben, dich geachtet und geliebt zu sehen.«

»Vielleicht erlebe auch ich es noch,« nahm der Graf das Wort, »in einer Zeit wie der jetzigen kann viel und Großes geschehen. Es ist überall schon ein Vortheil, wenn alte unbrauchbare Formen abgeworfen, und neue passende angenommen werden, nur muß der Tausch mit Kenntniß und Geschmack geschehen, es ist dann gleichviel, ob politische oder blos intellectuelle Kämpfe die Ursache hiezu hergegeben. Ich tadle auch keineswegs, daß Sie ihr Drama in deutscher Sprache abgefaßt; wenn ich überhaupt tadeln dürfte und wollte, so bezöge sich mein Tadel auf den Inhalt des Stücks: es will mir nicht gefallen, daß es Verhältnisse aus dem gewöhnlichen Leben schildert. Ich verkenne den Werth solcher Genre-Stücke keineswegs, doch soll die Tragödie, bestimmt in ihrem köstlichen Rahmen ein großes, prächtiges, blendendes Gemälde uns vor Augen zu stellen, sich damit befassen, den engen Kreis kleiner bürgerlicher Verhältnisse aufzufassen und wieder zu geben? Was kann diesen, zwar guten und trefflichen, aber durch ihre kümmerliche Stellung beschränkten Leuten Erhabenes oder Erschütterndes begegnen! Wie viel geschickter wissen die großen Meister der französischen Schule ihre Stoffe zu wählen. Genährt von griechischer Kunst und Schönheit, erleuchtet durch die herrlichen Ideen dieses größesten aller Völker, tritt Corneille auf, und wird, indem er Aristoteles Grundsätze geltend macht, der Gründer der französischen Bühne. Dem Gedichte wird jetzt eine feste Gestalt, dem Verse ein bleibendes Gesetz gegeben; der ordnenden Regel unterworfen ist jeder Schritt des Mimen und alle Erscheinungen unbedingt der Schönheit und Würde unterthan. So hebt sich vor den staunenden Blicken, aus anscheinend niedrigen Stoffen geformt, veredelt und geläutert, ein prangender Bau, bei dem die künstlich gefügten und geglätteten Steine nicht die mindeste Spur ihrer Zusammenfügung zeigen. Racine wirft über diesen Bau die anmuthigsten Blumenketten seiner Sitte, auch er bessert und veredelt, bis Voltaire endlich, die Geister seiner großen Vorgänger in sich vereinigend, jenen Wunderbau lichtvoll zu dem herrlichsten Musentempel erweitert. Jede Tragödie dieses Meisters ist gleichsam für sich ein stolzer Portikus, hinter dessen schimmernden Säulen-Kolossen die prächtigen Gestalten der Heroenzeit in ihren königlichen Gewändern rauschend uns vorüber wandeln. Wir sehen Könige, Priester, Helden, mit dem ganzen Geschick ihres Hauses belastet, auf der stolzen aber ängstlichen Höhe, wohin ihnen staunend das Auge folgt, sich kämpfend bewegen; mit Schreck vernehmen wir, daß auch an ihre göttlichen Stirnen die Leidenschaft streift, daß auch sie dem Gesetze unterworfen sind, das alles Lebende erdrückt, und ihr erschütternder Fall endlich betäubt und schlägt uns nieder. So sind, mein junger Freund, jene erhabenen Kunstwerke, warum strebten Sie nicht diesen Mustern nach? Weßhalb wählten Sie nicht einen Stoff aus der alten Geschichte? Ich bin überzeugt, bei Ihrem Talente hätten Sie etwas Ueberraschendes, Treffliches leisten können.«

»Ich bin nicht ganz der Meinung von Euer Hochgeboren,« entgegnete Lessing ernst, »ich meine, daß der Mensch überall Mensch bleibe, und daß jener schmeichlerische Prunk größtentheils ein erlogener Flitterstaat ist. Wie unrichtig und übereilt Corneille den Aristoteles angewendet, wie oft er augenscheinlich die Grundsätze jenes Philosophen verdreht hat, will ich hier nicht einmal auseinander setzen; es genüge mir die Worte eines Franzosen selbst anzuführen, um die Wahl meines Stoffes zu rechtfertigen. Marmontel behauptet, daß man dem menschlichen Herzen Unrecht thut, daß man die Natur verkennt, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, um uns zu bewegen und zu rühren; die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, des Menschen überhaupt, diese seyen pathetischer als alle Titel, sie mögen noch so prangend klingen.«

»Hm,« rief der Graf nach einer Pause, »Marmontel sowohl als Dacier sind keine dramatischen Genies, sie haben keine Vorstellung von den Erfordernissen eines guten Bühnenstücks.«

» Le pauvre Marmontel!« fügte der Marquis achselzuckend hinzu.

»Noch schärfer,« fuhr Lessing fort, »spricht Diderot sich gegen die bewunderten Muster seiner Nation aus. In seinen Bijoux indiscrets läßt er die schalkhaftesten Geister eines feinen Spottes an dem kostbaren Gerüste rütteln, vor dem das staunende Europa sich beugt. In einem Dialog zwischen einer witzigen schönen Sultanin und ihren Freunden schildert er das von aller Natur, Wahrheit und Einfachheit entblöste Theater, zeigt mit lebendiger Farbe den falschen Pomp, die überladene Rhetorik, den lächerlichen Dünkel und die stolze Altklugheit in den großen Tragödien, und stürzt ihre Meister von der eingebildeten Höhe ihres Ruhms herab.«

»Um an ihre Stelle seinen ›natürlichen Sohn‹ zu setzen,« entgegnete der Graf, »ein Stück, das eine langweilige matte Intrigue, mit dem unwahrscheinlichsten Beiwerk aufgeputzt, in einem pedantischen Geklingel von neumodischen philosophischen Sentenzen dahinschleppt, und durch das Diderot die Geißel Palissot's verdientermaßen gegen sich in Bewegung setzte. Freilich mußte dieser kleine Geist jene großen Männer tadeln, um seiner Persönlichkeit Geltung zu verschaffen. Doch, wird man ihm folgen?«

»Gewiß,« nahm der Dichter das Wort, »wenn es darauf ankommt, Wahrheit und Natur wiederum in ihre Rechte einzusetzen.«

»Ich erstaune,« rief der Graf eifrig, »Sie sind auf dem Wege, mein Freund, der deutschen Kunst, die, wie Sie selbst gestehen, nur erst im Werden ist, Ziel und Richtung zu geben; wohlan, wo wollen Sie aber dann die Muster hernehmen, wenn Sie jene große Schule des Geschmacks und Genie's von sich stoßen? Der Bühne welches Volks geben Sie dann den Vorzug?«

»Die Engländer,« entgegnete Lessing, »haben uns große Muster aufgestellt. Shakspeare ist ein mächtiger Geist, von eben so viel Tiefe als Kraft.«

» Ah ciel!« rief der Marquis; » ce n'est qu'un poète barbare!«

»Ich kenne einige Dramen dieses Dichters,« sagte der Graf; »während meines Aufenthalts in London hatte ich Gelegenheit, sie mit einem gelehrten Freunde zusammen zu durchlesen. Wir gingen nicht ohne Studium an's Werk, es kostete mich nicht wenig Zeit und Mühe, ehe ich mir Bahn brach; doch am Ziele meines Strebens angelangt, mußte ich dennoch gestehen, daß ich mich ohne sonderlichen Nutzen und Dank in ein Verwirrniß begeben. Gewiß sind es großartige, kühne, durch Schmuck der lebendigsten Farben anziehende Gemälde, allein sie sind auch, was Plan und Ausführung betrifft, eben so keck, verwegen, als unklar und seltsam. Ein wunderliches Gemisch von Reichthum und Armuth, tiefer Weisheit und greller Unwissenheit, kurz das Produkt eines unreifen Talents, schmachtend in den Fesseln eines dunkeln Jahrhunderts, preisgegeben den Einflüste rungen einer rohen, weder durch Studium noch Geschmack geleiteten Naturgabe.«

»Wie sehr,« rief Lessing feurig, »achte ich diese heilige Naturgabe, diesen angeborenen Seherblick, der in die Tiefen aller Erscheinung dringt, gegen die hohlen Schattenbilder der Convenienz, gegen das Gesperre von Regel und Sentenz. Möge man in Beurtheilung der altklassischen Meisterwerke noch so verschiedener Meinung seyn; zugeben muß man, daß sie mit dem Leben, dem Charakter ihrer Zeit auf das innigste verschmolzen waren, ja, daß sie aus diesem Zusammenhange gerissen, ihre wahre Würdigung und Größe nur unvollkommen behaupten können. Was man zu uns herüber bringen konnte und herüber gebracht hat, waren die Formen: ein schönes Phantom, dem das Leben fehlte. Die großen Tragiker der Neuern fühlten dieses wohl, Corneille vielleicht am lebhaftesten; der Geist, den er jenem fremden Gebilde einblies, war aber nicht der Athemzug des gesunden Lebens, sondern die parfümirte Hofluft, in der jene Dichter athmeten, wurde nun auch den Werken eingehaucht. So entstanden jetzt die Zwittergeschöpfe, deren Leib und Seele nicht zusammenpassen wollen, die der allerneuesten und der ältesten Zeit zugleich angehören, in deren polternden Reden die Aufgeblasenheit mit der Schwäche coquettirt, und von deren Daseyn endlich Wahrheit und Poesie nichts wissen. Wie ganz anders gestaltete sich die Bühne jenes Nachbarvolks. In einer durch Religions-Meinungen gespaltenen, durch innere Kämpfe unruhigen Zeit entwickelte sich in Stille und Abgeschiedenheit ein mächtiger Geist; stürmisch wirft er sich in's Leben, erleidet und durchforscht Mannigfaltiges, drängt sich kühn aus dem Staube zum Thron, und hier entrollt er vor den Augen einer kunstgelehrten Fürstin die herrliche Folge der köstlichsten wundervollsten Gemälde, in denen jede Gestalt vom Boden, auf dem sie gewandelt, Farbe und Spur trägt. Des Volkes unverfälschte kräftige Laune, des Priesters verderbliche Schlauheit steht neben der Fürsten keckem Stolze und der Vasallen trotziger Unbeugsamkeit. Wechselnd zieht sich der Schöpfungen bunte magische Kette an unserm Auge vorüber, jede vollendet, bedeutungslos keine. Da ist weder hemmende Regel, noch hinderndes Gesetz; in sprudelnder Fülle quillt der unerschöpfte Born, ewig frisch, aus dem Busen des Dichters. Hat er dann vom wandelnden Zuge vergangener Geschlechter uns bedeutungsvolle Kunde gegeben, so schlägt er, um auszuruhen, das bunte Zelt der Fabel auf; dann bringen ihm die Geister die herrlichsten verborgenen Schätze, ihr ganzes Füllhorn schütten sie vor ihm aus, und eine neue Zauberwelt steigt schwindelnd auf vor unsern Blicken. In diesen magischen Räumen treibt dann das bunteste Maskenspiel sein neckisches Wesen; doch durch die Melodieen treibender Lust, in das ausgelassene Gespötte hinein, tönt das tiefe sehnsüchtige Lied der Klage, haucht der glühende Schmerz sein Leben aus, und das Entsetzen des Wahnsinns spielt mit der unschuldigsten Kindeslust.«

Der Graf hatte mit Theilnahme diese Worte angehört; jetzt erwiederte er: »Sie berühren, Verehrtester, gerade da einen Umstand, den ich am wenigsten mit den Vorzügen Ihres Dichters zu reimen weiß. Wozu jene grelle Mischung des Höchsten und Niedrigsten? Warum geflissentlich das Erhabene, Rührende neben das Scurrile und Triviale gestellt? Führen Sie mir nicht dagegen an, daß sich im Leben auch beides verbinde; soll denn die Kunst das Leben mit jener nackten Wahrheit wiedergeben, wie die Maler jener Schule, die auf ihren Gemälden die eckelhaftesten Verrichtungen uns vor's Auge stellen? Ist die Kunst nicht gerade deßhalb Kunst, weil sie uns die durcheinander fluthenden Erscheinungen scheidet und gruppirt, das Ungehörige entfernt, und das Auseinander gehende zusammenfaßt, mit einem Worte: die Natur veredelt?«

»Freilich!« rief der Dichter eifrig, »wenn wir diesen Grundsatz aufstellen, so ist jeder Streit beendet; von diesem Punkte aus erfolgt die Trennung beider Bühnen. So wie einzelne treffliche Köpfe der großen Nation jetzt schon bemerkt haben, daß man mit jenen Grundsätzen nicht weit gelangen kann, daß ihrer Bühne der eigentliche Nerv fehlt, so wird es nöthig seyn, daß thätige Freunde die erwachende junge Kunst bei uns Deutschen vor dem Gifte bewahren. Sind wir einmal dazu bestimmt, bei einem unserer Nachbarn in die Schule zu gehen, so mögen es die Britten seyn.«

Der Marquis wandte sich unwillig und verächtlich weg, und der Graf sagte lächelnd: »So kommen wir denn wieder zu Ihrer Miß Sara Sampson zurück.« Er erhob sich, und drückte dem jungen Poeten die Hand. »Es freut mich,« setzte er hinzu, »daß Sie sich uns offen und frei mitgetheilt; kann ich Ihre Ansichten auch nicht theilen, so erkenne ich doch an, daß sie auf Ueberzeugung und Studium gegründet sind. Schenken Sie unserer Bühne mehrere so liebenswürdige Sara's, als die gestrige eine ist, und ich will nicht fragen, ob das Urbild über den Canal herüber oder aus der Hauptstadt des guten Geschmacks zu uns gelangt ist.«

In dem Moment wurde es laut im Nebenzimmer; zwei junge Herren sprangen herein, ein Duft von Ambra floß um sie, ihnen folgte ein nachläßig gekleideter Mann, bei dessen Erscheinen sich der Graf mit Aufmerksamkeit hinwandte.

»Theurer!« rief der lange Dürre, »was treiben Sie hier? man vermißt Sie drinnen; wenn Sie philosophiren, so lassen Sie mich daran Theil nehmen, das Spiel heute macht mir Nervenleiden.«

Er warf sich bei diesen Worten auf eines der am Kamine stehenden Tabourets, und suchte eine malerische Stellung anzunehmen, obgleich ihm dieses, bei den dürren langen Beinen, nicht recht gelingen wollte. Die beiden Ambra-Herren tänzelten unterdeß im Gemache umher, und einer zog den Vorhang von einem kleinen Gemälde; er brach in ein unmäßiges Gelächter aus, sein Gefährte, den er herbeiwinkte, stimmte darin ein; sie klapperten mit ihren Degen und goldenen Döschen, und blieben endlich vor dem Spiegel in einer Stellung aus der Menuett stehen.

Der Graf stellte Lessingen dem Prinzen vor, der ihm huldvoll zunickte. Nach einer kleinen Pause fragte er auf Deutsch: »Hat Er etwas bei sich? so lese Er vor.« Ohne die Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder zum Grafen, und setzte das französische Gespräch mit diesem fort.

Die Diener kamen mit der Meldung, daß das Soupé servirt sey. In den Nebenzimmern erhob man sich, die Spielmarken klapperten, die Ambraherren zogen sich bescheiden zurück, und der Prinz flatterte mit kleinen Schritten am Arm des Grafen aus dem Zimmer. Alles ließ sich jetzt um die mit Wein und Speisen überfüllte Tafel nieder. Lessings Platz war unten, und es fand sich, daß ein corpulenter Landedelmann, der eines Geschäfts wegen auf ein paar Tage in die Residenz gekommen, und sich ziemlich unwohl in der eleganten Gesellschaft seiner Standesgenossen fühlte, sein Nachbar wurde. Der Dichter knüpfte mit ihm ein Gespräch an, und der treffliche Mann trug, da er in Erfahrung brachte, daß jener Bücher schreibe, ihm an, die Chronik seiner Familie und seiner ziemlich weitläufigen Besitzungen aufzuzeichnen.

»Er kann sich dabei etwas Bedeutendes verdienen, mein Freund,« setzte er schmunzelnd hinzu; »freie Kost und Wohnung nebenbei auf meinem Schlosse ist eben auch nicht zu verachten, und dabei erlangt Sein Geist in Aufzählung und Niederschreiben merkwürdiger Ereignisse und Personen die gehörige Bildung und Festigkeit.«

Der Dichter, den sein Muthwillen trieb, auf dergleichen Vorschläge stets auf das treuherzigste einzugehen, dankte mit vielen Worten; indem er zugleich seinem neuen Gönner begreiflich zu machen suchte, daß er für's Erste noch beschäftigt sey, Theaterstücke zu schreiben. Der Edelmann wurde, als er dieses hörte, nachdenklich, und seine Miene drückte jetzt eben so viel Mitleid und Bekümmerniß aus, als früher Wohlwollen und Theilnahme in ihr geruht hatten.

»Junger Mensch,« rief er, »Er wandelt da geradenwegs in Sein zeitliches und ewiges Verderben, unterlaß Er das; wer wird Ihm ein Amt oder eine Frau geben, wenn man weiß, daß Er so ein elendes Handwerk treibt. Bedenke Er das Ende aller irdischen Dinge, mein Freund, und die ewige Verantwortung dort oben.«

Aus diesen frommen Betrachtungen wurde der treffliche Mann ziemlich unsanft aufgeschreckt durch ein lautes Gezänk vom obern Ende des Tisches her, und zwar über eine Stelle aus Voltaire's Pucelle. Man war uneinig, ob ein leichtfertiges Bild aus jenem Gedicht diese oder eine andere Beziehung haben könne. Einige verlangten die angeführten Verse in ihrem Zusammenhange zu hören, und in dem Momente erhob sich der Prinz oben an der Tafel, stellte sich in die gezierte Stellung eines beliebten bekannten Deklamators, und rezitirte wohl ein paar Dutzend Verse in einem singenden Ton her.

Als er geendigt hatte, ertönte ein allgemeines Klatschen und Rufen, die Streitenden versöhnten sich im Gelächter und Beifall, der Landedelmann aus der Mark schüttelte aber bedenklich das Haupt. Er wurde noch ungehaltener, als jetzt eine Fluth kleiner ärgerlicher Anekdötchen einbrach, zu der jeder der Gäste seinen Antheil hergab; besonders waren ein paar französische Abbé's unerschöpflich, sie stahlen sich einander die Geschichten vom Munde, und fachten die ausgelassenste Laune an. Es wurden die Höfe von Versailles und Berlin in dieser Beziehung verglichen, und der Marquis erklärte, daß der letztere, obgleich schon weit vorgedrungen, noch viel vom ersteren zu lernen habe. Diese Parallele gab Veranlassung, auch andere Gegenstände dem Spott und der Verfolgung Preis zu geben, und vor allen mußten jetzt die Abbé's Sarkasmen über die Kirche und ihre Priester auf sich nehmen. Ein vor kurzem erschienenes, von einem witzigen Kopf, doch mit zügelloser Feder, geschriebenes Gedicht, kam zur Beurtheilung, und jetzt ertönten Schwänke und Reden, die der Landedelmann nur mit Entsetzen anhörte.

»Ach Gott,« seufzte er vor sich hin, »ich habe einen Sohn bei der Armee, er ist mein Stammhalter; ich habe den Jungen in Gottesfurcht und Ehrbarkeit erzogen, was wird in solcher Gesellschaft aus ihm werden!«

Der Graf endigte das Gespräch, indem er laut rief: » Après nous le déluge!« –

»Ja wohl après nous le déluge,« wiederholte der ganze Chor den bekannten Spruch der Marquisin von Pompadour. Die Gläser klangen zusammen, Scherz und Gelächter erreichte die höchste Spitze.

»Die schöne Frau, die ganz Europa jetzt an ihrem Zügel hält, hat vollkommen recht,« nahm der Marquis das Wort. »Gibt es ein Jahrhundert des Glanzes, der höchsten Geisteskraft und des göttlichsten Leichtsinnes, so ist es das unsrige; was nach uns folgt, kann uns ganz gleichgültig seyn. Mögen doch dann Fluthen oder Feuerbrände diese Welt zerstören, und ein Geschlecht vernichten, das, nachdem die höchsten Güter erschöpft sind, doch nur eine magere Erndte halten würde.«

»Indessen wissen möchte ich doch,« rief ein Abbé, »wohin unsere Seele nach dem Tode versetzt wird, wenn es keinen Himmel und keine Hölle gibt; irgendwohin muß sie doch.«

»Verfliegen wird sie, in Nichts dahinstieben,« entgegnete der Graf; »der Geist ist nur eine Modifikation der Materie, wie uns Diderot lehrt.«

» Après nous le déluge!« riefen alle, »das große Jahrhundert soll leben!«

»Was mich betrifft,« nahm ein junger Offizier das Wort, »so verwandele ich mich gerne in einen Seufzer auf den Lippen eines schönen Kindes.« –

»Und ich in den Gegenstand dieses zärtlichen Hauches,« rief der Abbé. Sein Nachbar, ein ältlicher süßlächelnder Herr, gestand mit Lächeln, daß er am liebsten der Schuh an Chloé's schönem Füßchen seyn wolle; und der Marquis bat sich von den ewigen Göttern das Amt eines Kniebandes aus.

Alles lachte, und der Graf rief, zum Prinzen gewendet: »Und Euer Durchlaucht wählen sich kein zukünftiges Plätzchen?« –

»Gewiß,« war die Antwort, »meine Wahl ist getroffen; ich masquire mich als Crebillon's Sopha.« –

»Vortrefflich!« rief eine Stimme, »so sind wir alle vielleicht um hundert Jahre wieder in diesem Saal versammelt, und ich lade hiemit die hochverehrten Sopha's, Knieebänder, Seufzer und Schuhe zum Abendessen ein. Wer sich nicht maskiren kann, komme ohne Maske.«

Eine augenblickliche Stille trat nach diesen Worten ein; die Geister-Einladung verfehlte ihre Wirkung nicht, und man fing jetzt an, Gespenstergeschichten zu erzählen. Der Spott brauste hier von neuem auf, bis der Prinz rief:

»Meine Herrn, über diesen Gegenstand muß ich mir das Lachen verbitten; ich kann Ihnen bezeugen, daß in unserm Stammschloß sich jedesmal bei einem bevorstehenden Todesfall eine gespenstische Erscheinung in weißer Frauentracht zeigt.«

Diese Aeußerung stimmte wieder zum Ernst, und der Landedelmann athmete wieder auf, indem er seinem Nachbar zuflüsterte: »Nun Gottlob, sie glauben noch an Gespenster, da ist doch nicht alle Hoffnung verloren.«

Nachdem einige Geschichten vorgetragen worden waren, rief ein ältlicher Offizier: »Sie wissen doch, meine Herrn, daß unserem König im Schlosse Sanssouci einmal –«

Der Graf winkte dem Erzähler mit den Augen, man bemerkte, daß der Prinz die Farbe wechselte; er erhob sich, und mit ihm stand jetzt die ganze Gesellschaft auf. Der Graf näherte sich dem Marquis, und lispelte diesem zu, indem er auf jenen Offizier deutete:

»Wie unvorsichtig, in des Prinzen Gegenwart jene merkwürdige Geschichte zu berühren, und überhaupt das Kapitel von den Erscheinungen aufzubringen. Jedermann weiß, daß Seine Durchlaucht, wenn gleich am Tage ein starker Geist, doch am Abend und gegen die Nacht zu an den Nerven leiden.«

Mitternacht war lange vorüber, und die meisten Gäste machten sich zum Aufbruch bereit; unser Dichter war einer der ersten. Durch die vielen Gemächer irre geleitet, verfehlte er den rechten Ausgang, und gelangte in das Schlafgemach des Grafen. Eine einsame Lampe verbreitete ihr Mondlicht durch den geschmackvoll verzierten Raum; der Kamin brannte, auf einem Tischchen vor dem Bette war ein weibliches Portrait aufgestellt. Es zeigte Clarissens Züge; neben dem Bilde lag ein offener Brief, er war von ihrer Hand geschrieben, und der Jüngling konnte sich nicht enthalten, die wenigen eiligen Worte, die er enthielt, zu lesen; sie lauteten:

»Wenn es wahr ist, daß Sie mit dem jungen Prinzen in Verbindung stehen, daß Sie auf seine Entschlüsse Einfluß haben, so beschwöre ich Sie bei der Ruhe und dem Glück unserer Familie, retten Sie meine unglückliche Schwester, ehe es zu spät wird. Vielleicht nur noch wenige Stunden sind unser.«

Ein Geräusch, das sich im Vorgemach hören ließ, machte, daß der Dichter, auf das schleunigste seinen Platz verließ. Man bemerkte ihn auf der Treppe und nicht; als er auf der Gasse angelangt war, betrachtete er in seinem Geiste den geheimnißvollen Schatz, den er eben gefunden. Die Worte des Pagen an dem Abend bei der Prophetin fielen ihm jetzt wieder ein, und er stellte beide Anzeichen zusammen. Mehr aber als diese Besorgnisse beschäftigte ihn der Umstand, Clarissens Bild beim Grafen angetroffen zu haben.

»Sollte sie ihn lieben,« rief er bei sich, »ihn sich zum Gatten gewählt haben?«

Er glaubte in dieser Voraussetzung eine Unmöglichkeit zu sehen, und dennoch mußte er gestehen, daß des Grafen glänzende Erscheinung eine solche Wahl bei jedem andern Mädchen vollkommen rechtfertige.

Die Verworrenen, Bilder des Gehörten und Gesehenen an diesem Abend verfolgten ihn, und er mußte fürchten, daß sie ihn in seine Einsamkeit begleiten würden, um ihn dort zu plagen. Gerne hätte er jetzt Mylius zur Seite gehabt, doch er mußte fürchten, den Philosophen in so später Stunde nicht mehr wach zu finden.

An dem Hause, bei Sabinen's Tante, vorbeigehend bemerkte er Licht; er blieb stehen und hörte drinnen Gespräch und Gelächter, zwischendurch das Klirren von Säbelhieben. Verwundert schlich er sich ins Haus, öffnete ein dunkles Vorgemach, und lauschte durch die Thüre. Nur mit Mühe konnte die junge Schauspielerin erkennen, sie war phantastisch gekleidet, ein Helm deckte ihr Haupt, die Rechte war bewaffnet, und sie führte ihre Hiebe eben so sicher als regelrecht; den Gegner konnte man nicht sehen, doch deutlich tönte Mylius Stimme aus dem Grunde des Gemaches hervor. Der Dichter klopfte an, die alte Tante kam vorsichtig mit dem Licht an die Thüre, und als der Ankömmling sich zeigte, wurde er mit Freuden bewillkommnet.

Es that sich jetzt kund, daß noch spät eine Probe gehalten worden, weil man das gestrige Stück am kommenden Abend wiederholen wollte. Mylius hatte dieser Probe beigewohnt, und als die andern sich entfernt, war er mit Erlaubniß der Alten geblieben, um Sabinen einen kleinen Unterricht in einem regelrechten Duell zu geben, da es sich fand, daß die Theaterschöne in ihrer nächsten Rolle ein solches zu bestehen habe.

Der Kampf hatte bei des Freundes Erscheinen sogleich ein Ende, obgleich dieser von neuem dazu aufforderte, und endlich, da Sabine sich weigerte, selbst die Waffe ergriff, wo sich denn beide Freunde recht tapfer herumschlugen. Als diese Lust gebüßt war, warf sich der Dichter mißmuthig auf das Sopha, und alsbald gesellte sich Sabine zu ihm.

»Nun,« sagte Mylius, »Sie kommen ja aus einer vornehmen Gesellschaft, weßhalb diese üble Laune jetzt?«

»Laß mich von diesem Maskenspiel schweigen« entgegnete der Gefragte; »mein Kopf schwindelt, so bunt haben sich Vernunft und Unvernunft, Geist und Albernheit, Witz und Plattheit, Ausgelassenheit und Furcht, grasser Aberglaube und Aufklärungssucht durcheinander gejagt, und dieses Gemisch, einem gesunden Geiste widerstehend, nennt man die gute Gesellschaft. Das sind deine Deutschen, du armes Vaterland! Ach, es ist kein Trost, keine Hülfe zu erwarten!«

Er stützte das Haupt in die Hände, und saß grollend da; Sabine schlang ihren Weißen Arm um seine Schulter: »Wie sie meinen Freund behandelt haben,« klagte sie, »erst loben sie ihn auf der Bühne, und dann schlagen sie ihn hinter den Coulissen.«

»Es geschieht ihm ganz recht,« rief Mylius, »habe ich's nicht gleich gesagt, nichts ist mit diesen Leuten anzufangen. Gehe in den Krieg, Freund, laß Dich todtschießen, so ist die Welt einen lästigen Verbesserer los, und Du erndtest doch wenigstens den Ruhm eines tapfern Soldaten.«

»Nicht todtschießen!« rief Sabine, »nicht todtschießen Meinen kleinen Dichter. Kommen Sie,« setzte sie heiter hinzu, »wir wollen Ihr Drama aufführen, ich will Ihnen zeigen, wie ich die Sara gespielt, oder hören Sie vielleicht lieber, wenn ich Ihnen etwas vorsinge?«

Sie ging und brachte ihre Laute; nach einem kleinen Vorspiel sang sie mit leiser Stimme:

Ein Küßchen, das ein Kind mir schenket,
Das mit den Küssen nur noch spielt,
Und bei den Küssen noch nichts denket,
Das ist ein Kuß, den man nicht fühlt.

Ein Kuß, den mir ein Freund verehret,
Das ist ein Gruß, der eigentlich
Zum wahren Küssen nicht gehöret,
Aus kalter Mode küßt er mich.

Ein Kuß, den mir mein Vater gibet,
Ein wohlgemeinter Segenskuß,
Wenn er sein Söhnchen lobt und liebet,
Ist etwas, das ich ehren muß.

Ein Kuß von meiner Schwester Liebe,
Steht mir als Kuß nur soweit an,
Als ich dabei mit heißem Triebe
An andre Mädchen denken kann.

Ein Kuß, den Lesbia mir reichet,
Den kein Verräther sehen muß,
Und der dem Kuß des Täubchens gleichet,
Ja, so ein Kuß, das ist ein Kuß!

Sie hatte geendet, ließ die Laute in den Schoos sinken, und sah mit einem wehmüthig schalkhaften Blicke hinauf.

»Es ist das beste Lied, das Du gemacht hast,« rief Mylius, »nur will mir nicht gefallen, daß die Küsse so streng klassifizirt sind; wer überhaupt beim Küssen an Bezeichnungen und Unterscheidungen denken kann, küßt immerdar nur schlecht.«

»Es ist auch nicht so gemeint,« entgegnete der Dichter; »die Betrachtung kommt nach dem Genuß. Wie schlimm wäre es mit unsern Empfindungen bestellt, wenn wir uns von ihnen keine Rechenschaft geben könnten.«

»Nur keinen gelehrten Discurs,« rief Sabine, »dergleichen kann ich durchaus nicht leiden.«

Die Jünglinge schwiegen und sahen die Schöne an, die sich jetzt zu Lessing beugte; sie schüttelte das Köpfchen, und indem sie den Freund besorgt anblickte, seufzte sie:

Ach ihn hat ein giftig Schlänglein
Angerührt mit böser Tücke;
Kalt und bleich sind seine Wänglein,
Ausgelöscht sind seine Blicke.

Sie erhob sich, und ging still im Gemach auf und ab.

»Man sehe nun den Dichter,« rief Mylius heftig, »worin steckt nun eigentlich sein ganzes Unglück? Er hat ein Stück geschrieben, das gefällt, er hat einen trefflichen jungen Menschen zum Freund, er hat –«

»Kommt!« rief Sabine rasch, und zog beide Jünglinge an der Hand zu sich, »kommt, ich will euch ein Mährchen erzählen.« Sie sah sich scheu um, und fuhr dann in einem Tone zu sprechen fort, gleich einer Wärterin, die ein unruhiges Kind zur Ruhe bringen will.

»Es reiste Jemand auf der Landstraße, der Mann hatte zwei hübsche Kinder, ich weiß nicht, ob sie sein eigen waren, oder nicht; diese Kinder nannte er Liebe und Haß. Wie der Mann nun so schnell durch die Nacht dahinfuhr, geschah es, daß eines dieser Kinder aus dem Wagen fiel. Es war die Liebe, sie weinte bitterlich, als sie sich so allein sah auf der einsamen Straße, dennoch hatte sie keinen Schaden gelitten, stand auf und ging einer Stadt zu, deren Lichter in einem großen schönen Strome sich widerspiegelten.

Gleich aus dem ersten Hause kam auf ihr Anpochen ein Mann heraus, der hatte Augen wie große Pfefferkörner, einen Mund gleich einer breitgepreßten Rosine, und eine lange lange Mandelnase, der sagte verdrießlich: Ich bin, wie Du siehst, ein Gewürzkrämer, und kann die Liebe nicht brauchen. Die arme Liebe ging weiter, doch je mehr Straßen sie durchmachte, ängstlich suchend, desto mehr Lichter erloschen, und der Häuser, an welchen sie anklopfen durfte, wurden immer weniger. Aus einem trat ihr ein dünner Mann entgegen, der wehrte sie mit beiden langen dünnen Armen ab, und sah wie eine aus dem Gelenk gefallene Papierscheere aus; er raschelte aus einem Haufen Papiers hervor, und quikte und schnalzte: Ich bin ein Schreiber, und kann die Liebe nicht brauchen. In einem schönen Pallast saß ein bildhübscher junger Mann wach, der sah die Liebe wehmüthig an und sagte: Ich kann Dich nicht brauchen, denn ich muß heirathen.

Und so hatte jeder seine Gründe, am Ende war die ganze Stadt dunkel, und das arme Kind gerieth in Verzweiflung. Als sie so nach Lichtern spähte, da bemerkte ihr Auge im Thurme hoch in den Lüften ein einsames Licht; geschwind stieg sie die enge Treppe hinauf, sie klopfte an: Herein! rief eine laute Stimme. Da sah sie am Tische einen Knaben sitzen, dem die hochgelben Locken wie Flammen um den Kopf brausten, die rothen Wangen sprühten Feuer, und er las emsig in einem alten Mährchenbuch.

Ach! rief er, so bist Du also das Wesen, von dem hier so viel geschrieben steht, gut, bleibe bei mir; zugleich kannst Du mir im Geschäfte helfen, denn ich bin Thürmer am Orte.

Und nun zeigte er ihr die verschiedenen Glocken, und die Art und Weise, wie sie angezogen werden mußten. Diese, rief er, ziehst Du an, wenn Feuer in der Stadt ist; jene große ruft die Leute zur Andacht und zum lieben Gott; die da läutet die armen Gestorbenen auf den Kirchhof, und diese hier ertönt, wenn eine heilige Prozession durch die Stadt geht; nun merke Dir dieses wohl. Beide lebten jetzt eine Zeitlang mit einander, hoch über der Stadt, in glücklicher Eintracht.

Allein bald zeigte sich's, daß der wilde Knabe viel zu eifrig in seinem Buche las, und daß die gute Liebe viel lieber ihm in die blauen Augen schauen wollte, als an den Glockensträngen ziehen. Er nahm sie auf seinen Schooß, erzählte ihr die eben gelesenen Mährchen; sie lehrte ihm dagegen, wie man Lippe auf Lippe drücken müsse, daß ein Kuß entstehe.

Kam dann die Stunde, wo sie läuten mußte, so sprang sie verdrießlich auf, und hatte gewöhnlich vergessen, was jede Glocke bedeutete. Sie riß dann an der Feuerglocke, so daß die Menschen in der Stadt unten entsetzt aus ihren Häusern sprangen, um nach der Feuersbrunst umzuschauen, dann wollte sie schnell ihr Unrecht gut machen, und läutete die Prozession-Glocke; sogleich fielen die Leute in den Straßen auf die Kniee, weil sie nicht anders meinten, als das Allerheiligste käme heran, und als nichts kam, standen sie verdrießlich auf, rieben sich die Augen, und schauten kopfschüttelnd nach dem Thurme hinauf.

Einmal zog sie gar alle Glocken zusammen an, und da entstand eine fürchterliche Verwirrung; wie auf einem Kornboden die Mäuse, so sprangen die Menschen in den Straßen durcheinander; ein Theil wollte auf den Kirchhof, ein anderer jagte wild durch die Gassen und schrie Feuer, ein dritter fiel auf's Kniee, und ein vierter verfügte sich andächtig in die Kirche, um die Predigt anzuhören. Der Pastor aber, der ein vernünftiger Mann war, sagte: Der Thürmer ist toll.«

»Und so sage auch ich, Du bist toll, mein Freund!« schloß das muthwillige Kind seine Erzählung; »Dein Kopf gleicht dem Thurme in meiner Fabel, er ist auch verrückt.«

»So rücke ihn wieder zurecht,« rief der Jüngling, und neigte sich zu ihr.

Sie sah ihm mit einem spöttischen und zürnenden Blicke in's Auge. »Nur nicht zärtlich, nichts kann mich so wild machen, als solch Wesen; ich liebe mir den Mann ernst, tiefsinnig, verschlossen, sogar launisch und verstimmt.«

»Und wie ich's war,« rief der Dichter, »so wurde ich getadelt, wunderliches Geschöpf!«

Sie lehnte das Haupt an die Polster zurück. »Wenn Sie wüßten, meine Herren, wie schläfrig ich bin, so würden Sie mich nicht länger belästigen.« Sie schloß die Augen, ihre Arme sanken in den Schooß nieder.

»Ein höflicher Abschied, den wir bekommen,« rief Mylius aufspringend und nach seinem Hut greifend.

Lessing betrachtete die Schlummernde. »O, diese Augen,« rief er nach einer Pause, »jetzt da sie geschlossen sind, hat die Welt Ruhe! Diesen trügerischen Mond deckt Gewölk, und jeder kann nun schlafen und träumen, so lange und schwer er will. Oftmals, wenn ich als Kind so in den verschleierten Mond hinauf sah, dachte ich bei mir: der Mond will allein seyn, er hat zu denken, und will nicht, daß man ihn störe. So kehren auch Mädchenblicke oft in sich, wenn sie allein sind, und über all' das Unheil, das sie angerichtet, nachdenken wollen. Wie manche Mädchenaugen scheinen zu schlafen, und sind am Ende nur solche stille nachdenkende Monde.«

Sabine lächelte mit geschlossenen Augen, sie reichte langsam ihre Hand zum Abschiede hin, und beide Jünglinge verließen das Zimmer.

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Der reiche Edelmann, der durch Lessings Aufmerksamkeit und Ergebenheit gewonnen war, dachte jetzt ernstlich daran, den Jüngling an sich und sein Interesse zu fesseln. Es wurde der Plan zur Reise entworfen, die Bedingungen, welche beide Theile zu machen hatten, festgesetzt, und der Sohn, ein gutgearteter lebhafter Knabe, gewöhnte sich an den Gedanken, künftighin seinem jungen Lehrer, zu dem er schon jetzt Vertrauen und Zuneigung fühlte, ganz anzugehören.

Diese erfreulichen Aussichten meldete unser Dichter seinen Eltern; zugleich, damit die Nachricht nicht entstellt, durch fremde Einmischung zu ihnen gelangen möge, schrieb er in kurzen Worten von der Aufführung seines Theaterstücks und dem dabei geärndteten Beifall. Jetzt, da er sich auf der einen Seite geschützt und gerechtfertigt sah, konnte er um so freier von seinen schriftstellerischen Arbeiten sprechen.

Als er diese Briefe abgesendet, fühlte der Jüngling, daß die Hauptlast damit nicht von seinem Busen gewälzt war. Clarissens Schicksal und das ihres Hauses war es, was ihm beständig im Geiste vorschwebte. Die Besorgnisse, welche jene aufgefangenen Winke und dunkle Anzeichen in ihm erregten, konnten nur durch ein Gespräch mit ihr selbst gehoben werden; allein wie zu einer solchen Gunst des Geschicks, die er sich schon so oft im Stillen gewünscht, gelangen?

Zum erstenmal fühlte er schmerzlich die Wahrheit jener Betrachtung, die ihm seine Mutter damals vorgehalten, die Convenienz, die strenge Etiquette, mit der der Adel sich fern hielt und seine Stellung gegenüber den andern Ständen behauptete, erschien ihm jetzt vollends grausam und unerträglich. Das einzige Mittel, von den beiden Gräfinnen etwas zu erfahren, vielleicht gar zu einer Unterredung mit ihnen zu gelangen, war, Babeten aufzusuchen, sie in's Interesse zu ziehen, und hierzu fand er sich nicht abgeneigt; allein wo sollte er dieses muntere Kind allein und ohne Zeugen antreffen? Der Zufall verhalf ihm zu günstiger Gelegenheit.

Ein einsamer Spaziergang hatte ihm immer wohlgethan; in der Abenddämmerung, die schon zu herrschen begann, wanderte er daher vor's Thor hinaus. Die Straße, die ohnedieß nicht zu den besuchtesten gehörte, wurde bald völlig leer, und unser Dichter befand sich, ehe er es recht bemerkte, allein auf jenem Platze bei der Kirchhofmauer, an derselben Stelle, wo er vor wenigen Tagen zurück mit seinem gesprächigen Freunde gestanden.

Wie damals, so leuchtete auch jetzt der aufsteigende Mond mit sanftem und klarem Lichte nieder, das einsame Häuschen der Prophetin, der daranstoßende Kirchhof und die mit Bäumen bepflanzte Straße zeigten sich friedlich und still, wie in jener Nacht, wo sich ein so buntes und wunderliches Leben dennoch in ihnen barg.

Lessing horchte in die Stille hinein und vernahm nun ein Lied, das eine weibliche Stimme anfangs leise, dann immer lauter absang. Die Töne kamen vom Kirchhof herüber und das Auge, mit Aufmerksamkeit hinschauend, konnte alsbald auch eine Gestalt erblicken, die auf einem der Leichensteine, nahe dem Hause des Wächters, Platz genommen hatte.

Neugierig, wer die Sängerin sey, schlich sich unser Freund behutsam heran und erkannte jetzt das gefühlvolle Kammermädchen, das, beide Arme um die Knie geschlungen, mit dem weit zurückgebogenen Haupte in den Mond starrend, folgende Strophen sang:

Wenn Dein Strahl, Du Freund der Nächte,
Chloe's zart Gemüthe kennt,
Weiß er auch, wie es jetzt heftig
Bei Leander's Strenge brennt.

Ach, kein Schäfer ward wie dieser.
So mit holdem Reiz geschmückt,
Keinem ist der stolzen Chloe
Herz zu rauben, so geglückt.

Eil', o Freund der stillen Nächte,
Bring' ihm Seufzer, Hauch und Gruß,
Lächle auf sein Antlitz nieder
Und flüst're: das war Chloe's Kuß.

Die Verse tönten still über die Gräber dahin, und das gerührte und begeisterte Mädchen erschrack heftig, als jetzt der Dichter auf sie zutrat. Das hübsche Gesichtchen zu ihm gewendet, erwiederte sie auf seine Fragen:

»Ach geh'n Sie, Musje, und lassen Sie mich man schwärmen, der jute liebe Mond juckt mir so freundlich an, daß ich sogleich an meene Amour denken mußte. O Jott, Jott, man wees jo nicht, was er macht.« Sie hub an zu schluchzen, suchte nach ihrem Taschentuch und konnte es nicht sogleich finden, da sie den obern Rock aufgebunden hatte, um ihn auf dem Steine nicht zu beflecken. Lessings Fragen nach dem Fräulein überhörte sie in ihrer trüben Stimmung und fuhr schluchzend in ihren Klagen fort. »Berlin ist eene jrose Stadt, Potsdam ist een scheener Ort, aber es gibt nirgends auf Jottes Erdboden so vele elende und betrogene Frauenspersonen als hier, das Alles wegen der Herrn Offizöhre und den bösen Kriegsläuften; c'est pour celà, die jungen Kavalöre haben keene Lust an reellen Passionen, sie ziehen man die liaisons vor, und dazu kommt die vornehme philosophische Conduite, daß es eene Schande ist, einem ehrlichen Mädchen sein Wort zu halten. Du juter Mond, Du da oben, hélas! gibt es auf Dir auch des perfides amants? ne, ne, es gibt keene!«

Sie weinte jetzt auf das heftigste, und der Jüngling, der sich neben sie gesetzt hatte, umfing sie tröstend.

»Glaube nur, liebe Babette,« rief er, »daß Dein John, wie alle andere Grenadiere, die ein so hübsches Bräutchen zurückgelassen haben, nicht die kleinste Untreue sich erlauben dürfen. In diesen Fällen verübt der Mond eine strenge Polizei; es entgeht ihm kein Ungetreuer, und finden sich solche, so werden sie alle mit den Zöpfen an die blanke Scheibe angenagelt.«

» Mais sans doute?« fragte die Blondine, indem sie sich rasch umdrehte, »das also ist die Strafe für ungetreue Amanten?« –

»Verlaß Dich darauf,« rief der Dichter ernstlich, »der Freund da oben ist hierin unerbittlich, und ich kann Dich versichern, daß er gerade auf Berlin es gemünzt hat. Aber nun sage mir, wie es bei Euch zu Hause geht und was die beiden gnädigen Comtessen machen.«

Babet trocknete sich die Augen, warf noch einen Blick auf den Mond und erwiederte dann: »Das janze Haus ist in eener barbarischen Traurigkeit, unsere alte Tante Sibille ist angekommen, et je vous jure c'est une odieuse personne! entre nous soit dit. Sie werden, Monsieur Ephraim, Alles changirt finden, keen Auskommen ist mehr und das Allerschlimmste soll noch kommen, man wees nicht was. Die alte Kartenhexe ist befragt worden, jetzt steh'n die Koffer gepackt, gegen Morgen soll es davongehen; ich habe nur noch auf ein Stündchen zu der alten Gertrud, die hier bei ihrem Bruder, dem Kirchhofwächter, wohnt, schlüpfen können pour prendre congé. Der Christian aber läuft herum, um auch Monsieur Ephraim zu suchen, da Euch, entre nous soit dit, die gnädige Comtesse Clarissa etwas zu vertrauen hat.«

»Verdammt!« rief Lessing aufspringend, »und das sagst Du mir erst jetzt? Geschwind, wo ist Christian, er soll mich hinführen.«

Das Mädchen veränderte bei diesen Zeichen einer lebhaften Ungeduld weder ihren Platz, noch im Wesentlichen ihre Mienen.

»Er wird hierher zurückkehren, wenn er Euch nicht findet,« erwiederte sie nach einer Pause, dann wandte sie wieder ihre Blicke dem Monde zu: »ach!« rief sie seufzend, »mein Unglück ist eenzig, daß ich von so schwermerischer Complektion bin, ich meene das Simphatisiren wird mir noch eenmal das Garaus machen; zuverläßig bin ich unter allen dienstbaren Frauenzimmern das empfindsamste. O du jettliche Liebe, jrausamer Jott, wohin führst Du mir?« –

Sie hätte noch gerne so fortgeschwärmt, wenn des Jünglings Ungeduld es zugelassen. Er bestand darauf, daß sie sogleich ihn zu ihrer Gebieterin führen sollte; er hätte das ganze Haus in Bewegung gesetzt, wenn nicht zu Babettens Freude jetzt der alte Christian erschienen wäre, der athemlos von seinen vergeblichen Gängen Heimkehrte. Er schrie laut auf, als er den Dichter erblickte; beide verständigten sich jetzt und es wurde der Entschluß gefaßt, sogleich den Weg anzutreten. Vorher fand es jedoch der Alte für gut, die zärtliche, seiner Obhut anvertraute Schöne in sicheres Gewahrsam zu bringen.

»Du Plaudertasche!« fuhr er sie mürrisch an, »es ist auch jetzt Zeit, mit jungen Herrn zu parliren und in den Mond zu gucken; geh', fort in die Stube, dort wird Dir Mutter Gertrud Wolle aufzukratzen geben.«

»Deine Äugen will ich auskratzen, Du alte Mausefalle!« rief das Mädchen schnippisch. »So ein kurzzöpfiger, flatterwadiger Mensch, wie Er, hat freilich nie das himmlische Glück gefühlt, was unser eenem die noblen Sentiments gewehren thun.«

»Das Mädel ist total übergeschnappt!« brummte Christian, nachdem er Babetten fortge führt, »hat auch die verdammten Bücher gelesen. Das Uebel kommt von der zunehmenden Poeterei. Seitdem diese gottlosen Künste los und ledig sind, hat der Teufel frei Quartier. In meiner Jugend gab es nur große Folianten, Kriegshistorien, Moskowitische Reisebeschreibungen, hochgelehrte Chroniken und dergleichen weise und verständige Bücher, die dann so ein prachtvolles Gewicht hatten, daß man leichtlich ein paar Schädel mit ihnen einschlagen konnte; das kleine Zeug aber, das heutzutage geschrieben wird, nistet sich wie schädliches Ungeziefer überall ein, kriecht den Frauen in die Poschen, nimmt in jeder Puderbüchse Platz, und macht, daß ein ehrlicher Ehemann oder Liebhaber ganz des Teufels werden möchte.«

Unser Freund überhörte diese Betrachtungen gänzlich, er war heftig bewegt, seine Wangen glühten, seine Schritte wurden immer eiliger.

»Was wird sie mir entdecken?« rief er bei sich selbst, »nicht ohne Abschied hat sie sich von mir trennen wollen! Du Glücklicher, an Dich hat sie gedacht, in Deinen Augen als kalt und gleichgültig zu scheinen, war sie nicht im Stande, lieber gab sie etwas von der, ihr so hoch stehenden Sittenstrenge nach.«

Er mußte sich mit Gewalt Fassung auferlegen, als man sich jetzt dem Hause näherte. Diese Zusammenkunft, ihm vom günstigsten Geschick als köstlichstes Geschenk bewilligt, durfte auf keine Weise ungenützt dahingehen, so Vieles hatte unser Freund auf dem Herzen, so manches Wichtige konnte in einer vertrauten einsamen Stunde besprochen und entschieden werden. Als er die Stiege betrat, klopfte sein Herz heftig, Christian winkte ihm Stille zu; vorsichtig schritt er einen langen Gang voran und öffnete endlich an dessen Ende eine Thüre, die in ein kleines Vorgemach leitete.

Der Eingang, der in's Nebenzimmer führte, war offen, und Lessing sah seine Freundin, das Haupt sorgenvoll auf den schönen Arm gestützt, allein an einem Tischchen sitzen, das mit Papieren und Kostbarkeiten bedeckt war. Sie erhob sich und kam ihm entgegen. Ihr Gang war frei und stolz, doch ihre holdselige Miene nicht ohne eine kleine Befangenheit: das große schwarze Auge blickte mit einem Ausdruck von Wehmuth und Besorgniß vor sich hin. Christian durfte im Vorgemach bleiben; ein paar Kammerfrauen beschäftigten sich mit Einpacken von Kleidungsstücken und Geräthe.

»Nicht wahr, verehrter Herr Lessing,« hub die schöne Gestalt, mit dem sanftesten Ton der Stimme, an, »mein Thun und Treiben erscheint ihnen seltsam und unerklärlich. Vor wenig Wochen war ich es, die von Ihnen völlig und auf die Dauer des ganzen Winters Abschied nahm, und jetzt ist es dieselbe Person, die Sie so angelegentlich und in der ganzen Stadt aufsuchen läßt. Allein Sie sollen den Grund dieses widersprechenden Entschlusses sogleich erfahren; nehmen Sie Platz und schenken Sie mir ein ruhiges Gehör.«

Christian brachte einen Stuhl herbei, und der Jüngling mußte dicht neben seiner schönen Freundin Platz nehmen. Schüchtern hob er das Auge, und seine Blicke suchten und trafen die ihrigen; die innere Unruhe und Befangenheit, der sie vergeblich Meister zu werden strebte, goß einen weichen rührenden Liebreiz über sie aus, nie war sie ihm schöner erschienen.

Jetzt wurde die Thüre zum Vorgemach geschlossen, trübe brannten die Kerzen an den hohen Spiegeln, eine Spieluhr klagte in langsamen Accorden durch die lautlose Stille; als ihre schwermüthigen Melodien verklungen waren, erhob sich die Gräfin, und nachdem sie ein paar Gänge durch's Gemach gethan, nahm sie völlig gefaßt und ruhig ihren Platz wieder ein.

»Mein junger, verehrter Freund,« hub sie an, »Sie sind ein Dichter; man gibt Leuten Ihrer Art oft eine gewisse Vorliebe für alles Besondere und Abenteuerliche Schuld; der Plan, den ich jetzt mit Ihrer Hülfe auszuführen Willens bin, grenzt an jene Eigenschaften. Ein Unglück, das meiner Familie nahe bevorsteht, und welches ich vergeblich auf andere Weise abzuwehren gesucht, zwingt mich, ein Mittel zu ergreifen, welches ich unter andern Umständen selbst für höchst unstatthaft erklärt hätte.«

Die Aufmerksamkeit des Jünglings war auf's höchste gespannt und die Gräfin fuhr fort: »Ich heische Ihren Beistand für meine arme Schwester; vernehmen Sie, welch' einen fürchterlichen Plan man gegen das arme Kind ersonnen. Meine Familie, an Glanz und Ansehen immerdar hochstehend, hat fortwährend höher gestrebt; reichten Verdienste und Auszeichnungen nicht hin, ihre Zwecke zu befördern, so mußten wohl oft Mittel an die Stelle treten, die jene ruhmwürdigen Eigenschaften, wenn gleich an Wirkung, doch nicht an Würde ersetzten. Der unbegrenzte Ehrgeiz meiner Verwandten hat unser Haus schon einmal dem Verderben nahe gebracht, meine Tante hat diese unglückselige Leidenschaft in einem Maße geerbt, der sie zu den verdammungswürdigsten Thorheiten treibt, wie denn jener Plan, dessen Ausführung im Werke ist, ein trauriges Beispiel hierzu liefert. Sie haben wohl von dem jungen Prinzen vernommen, der unsere Hauptstadt vor einem Jahr besuchte: dieser liebenswürdige Herr hatte meine Schwester kaum erblickt, als er die heftigste Leidenschaft zu ihr faßte und jeden nur möglichen Weg aufsuchte, um in dem Busen des Mädchens dieselben Flammen zu entzünden. Sie sind beide sehr jung! Leopoldine mit der Welt und ihren Verhältnissen gänzlich unbekannt, geschmeichelt durch eine so auszeichnende Annäherung, gelockt durch das Abenteuerliche einer Intrigue bildet sich ein, den Prinzen schwärmerisch zu lieben, unsre gute, sonst so verständige Bonne ist thöricht genug, sie hierin zu bestärken. In den Händen meiner Tante erhielten nun aber diese unglücklichen Bestrebungen vollends Gestalt und Richtung; der Graf Felix wurde sofort in's Interesse gezogen, und mit dem Prinzen, der auf Befehl seines Vaters die Stadt verlassen mußte, ein förmlicher geheimer Briefwechsel angeknüpft und unterhalten. Mich suchte man von jeder Theilnahme auszuschließen, meinen Forschungen wichen Alle geschickt aus, und selbst das schwesterliche Vertrauen, bisher eben so warm als thätig zwischen uns bestehend, wurde wankend gemacht. Alles, was ich in dieser Lage thun konnte, war, die handelnden Personen nicht aus dem Auge zu lassen, sie, wo es in meiner Macht stand, geschickt und unmerklich beobachten zu lassen. Auf diesem Wege brachte ich nun in Kenntniß, daß der junge Prinz Versuche gemacht, sich meiner Schwester zu bemächtigen, durch die Spionen seines Vaters jedoch an dem Gelingen seines Vorhabens verhindert worden sey. Die Bestätigung dieser Nachricht konnte ich ganz wohl an dem tragischen Aussehen der Bonne, so wie an der schlechten Laune meiner Schwester absehen. Es wurden neue und nachdrücklichere Versuche vorbereitet. Unser Vormund, ein schwacher, charakterloser Mann, erschien, der Graf wurde berufen, man steckte die Köpfe zusammen, Briefe langten an und wurden versendet, meine gute Schwester schwamm dabei in Thränen, die sie sorgfältig vor meinen Blicken zu verstecken suchte. Alle diese Anzeichen, mehr aber noch die Mittheilungen meiner Späher, ließen mich das Herannahen einer Katastrophe ahnen, deren Wichtigkeit ich jedoch nicht für so bedeutend hielt, als ich es jetzt leider erfahren muß. Es ist von nichts Geringerem die Rede, als meine Schwester dem Prinzen auszuliefern, und zwar ist die heutige Nacht dazu bestimmt, die Reise anzutreten, deren Ziel ein entfernt gelegenes einsames Lustschloß ist, in dem der Prinz uns erwartet, und wo eine ingeheim vollzogene Trauung das Unglück meiner armen Schwester, die Demüthigung unserer Familie, soll vollenden helfen. Ich kann nicht erwarten, daß auch jetzt ein Hinderniß dem Unternehmen in den Weg treten wird; zu sicher sind die Verbündeten ihrer Sache, zu geschickte Hände haben diesesmal die Wege gebahnt, auch habe ich selbst, da ich erst gestern von Allem Kenntniß erhalten, keine rettende Voranstalten treffen können; das einzige Mittel, das mir bleibt, und das ich jetzt mit rascher Hand ergreife, ist; Leopoldinen schleunig zu entfernen. Gewalt würde zu nichts führen, nur List kann wirksam helfen; der Prinz darf nicht früher von dem ihm gespielten Betrug etwas wissen, als bis es zu spät ist, die verlorenen Vortheile wieder zu erlangen; deßhalb reiset Leopoldine scheinbar mit uns. Mein zweites Kammermädchen, meiner Schwester an Wuchs und Größe ziemlich, ähnlich, nimmt ihre Stelle an meiner Seite in meinem Wagen ein, die Fahrt, durch die Nacht begünstigt, geht ohne Hinderniß von Statten, und auf dem Schlosse angelangt, werde ich dann diese Handlung zu rechtfertigen, meine Stellung gegen den unbesonnenen jungen Herrn sowohl, als auch gegen meine Verwandten zu behaupten wissen.«

»Und Ihre Gräfin Schwester,« rief der Dichter, »was wird aus ihr?«

»Ich komme jetzt,« fuhr die Dame fort, »an die Ihnen zugetheilte Rolle. Sie begreifen, daß ich Leopoldinen nicht dem Schutze, auch der nicht in der Verschwörung stehenden Verwandten anvertrauen darf; das erzürnte Mädchen würde Alles aufbieten, die Hülfe dieser Leute in Tätigkeit zu setzen, und jene könnten dann wohl schwach genug seyn, ihr nach Willen zu handeln. Ich muß vollkommen sicher seyn, die Hände völlig frei haben, nur dann kann mein Rettungsplan gelingen. Es kommt daher darauf an, Leopoldinen dahin zu bringen, wo weder der Prinz, noch meine Verwandten sie vermuthen können; ich vertraue sie daher Ihrem und dem Schutze jenes alten treuen Dieners unseres Hauses an. Christian hat den Befehl, sie noch heute Abend zu seiner alten Verwandtin zu bringen, einer frommen, gutherzigen Frau, die zur Sekte gehört, welche auch in unserer Gegend so viele Anhänger zählt. In dem Hause dieser Alten bleibt sie auf das sicherste verborgen; wie ich hoffe, soll ihre Gefangenschaft nur wenige Tage dauern, unterdessen habe ich die nöthigen Briefe geschrieben, und der Vater des jungen Mannes, der regierende Herr, den ich persönlich zu kennen die Ehre habe, wird dann, wenn es nöthig seyn sollte, mich kräftig unterstützen.«

Lessing hatte über diesen Mittheilungen sich selbst vergessen; seine Aufmerksamkeit und Theilnahme war durchaus in Anspruch genommen, und als jetzt das Fräulein geendet, der Klang ihrer süßen, bewegten Stimme nicht mehr an sein Ohr tönte, erwachte er aus seiner Befangenheit und fragte nach einer Pause: »Und was kann ich bei diesem trübseligen Ereigniß thun, Gnädigste?«

Die Gräfin nahm in Ton und Miene jetzt den weichsten, bezauberndsten Ausdruck an.

»Mein edler Freund,« sagte sie, »können Sie dieses noch fragen? Sie sollen der Verlassenen vornehmste Stütze seyn. Die Zeit unseres Bekanntseyns hat mich belehrt, daß ich hierin Ihnen unbedingt vertrauen darf. Was jene treuen ergebenen Gemüther bei aller Bereitwilligkeit nicht leisten können, übernehmen Sie; von Ihnen erwarte ich genaue Berichte, ob und auf welche Weise meine Anordnungen hier ausgeführt worden. Von Ihnen kann, da sie jetzt die Lage der Umstände und meine Ansicht kennen, Leopoldine den wirksamsten Trost, die sicherste Hülfeleistung erwarten. Oder habe ich vielleicht zu viel auf Ihre Bereitwilligkeit, zu fest auf Ihre Freundschaft für unser Haus gebaut?«

Sie reichte bei diesen Worten ihre Hand dem Jünglinge hin, die dieser rasch und mit Innigkeit an seine Lippen drückte. Er war so bewegt, daß ihm die Worte fehlten; erst nach einer Pause erwiederte er:

»Ist's denn Wahrheit oder ein Traum? Sie, Gräfin, würdigen mich Ihres engen Vertrauens; ich darf zum erstenmal in die Tiefen eines Herzens schauen, das der Himmel nie edler und trefflicher schuf? Ach, wenn Sie wüßten, wie stolz ich auf dieses Band bin, das uns hinfort verknüpfen wird!«

Clarissa lächelte: »es wird nur jenes Band befestigen helfen,« erwiederte sie, »welches uns schon früher vereinte. Sind wir uns damals in jenen schönen Träumen einer poetischen Welt begegnet, so wird es keine geringe Freude seyn, in der wirklichen uns gegenseitig treu und thätig wiederzufinden.«

Sie erhob sich jetzt und zog die Klingel; Christian trat herein und empfing den Befehl, Leopoldinen zu rufen. Dieser Name weckte bei'm Dichter auf's Neue Zweifel und Besorgnisse; Clarissa fixirte ihn mit einem forschenden und aufmerksamen Blicke.

»Befürchten Sie nichts,« nahm sie nach einer Weile das Wort, »das arme furchtsame Mädchen wird uns keine Hindernisse in den Weg legen, sie ist jetzt, da es zur Entscheidung kommen soll, kleingläubig und ängstlich geworden. Verzweifelnd hat sie noch vor einer Stunde sich in meine Arme geworfen, ich habe sie zu diesem Gange vorbereitet. Sie geht, die Kaffeeprophetin, auf deren Sprüche sie unbegrenztes Vertrauen setzt, noch um einige Zweifel zu befragen; Christian wird sie schon in's rechte Haus leiten. Am Morgen, wenn wir unterdeß schon längst fort sind, müssen Sie, verehrter Freund, dann zu der Verlassenen gehen, und ihr so viel von dem heutigen Gespräch mittheilen, als Sie eben für passend finden. Das Uebrige wird sich von selbst geben. Doch ich höre sie schon kommen.«

Christian trat herein, er hatte Thränen im Auge. Clarissa gab ihm einen Brief, den sie eben versiegelt hatte, indem flog die Thüre auf, und in Mantel und Tücher gehüllt stürzte Leopoldine herein und ihrer Schwester an den Hals. Lessing hörte sie schluchzen; sie wiederholte ihre innigen Umarmungen, bis jene leise ihr zurief: » Calmez-vous, on nous observe!« Die Eilige drückte noch einen Kuß auf die Stirne der Schwester, indem sie rief: »Wartet auf mich, wartet auf mich, sogleich bin ich wieder da, hörst Du, daß ihr nur nicht am Ende fortfahrt ohne mich!« Sie zog ihren Schleier fester, und schlüpfte zur Thüre hinaus.

Lessing konnte seine Rührung nicht verbergen, Clarissa aber behauptete die strengste Fassung. Sie trat auf unsern Freund zu, als er sich jetzt nahte, um Abschied zu nehmen.

»Wohlan!« rief sie, »mein treuer Ritter, so treten Sie denn jetzt den Dienst bei Ihrer Dame an, ich hoffe, er ist nicht ganz ohne poetischen Zauber. Ist geschehen, was geschehen muß, so sehen wir uns freudig und getröstet bald wieder.«

Sie reichte dem Jüngling nochmals die Hand. Er konnte nicht scheiden, jetzt, da er die edle Gestalt vielleicht zum letztenmal vor sich sah. Da sie in vertrauter Hingebung ihn mit einem schönen Vertrauen beglückt hatte, fühlte er es doppelt schmerzlich, daß sie ihm nichts gesagt, was ihn näher betraf, kein Wort über sein Schauspiel. Wie wenig passend es sey, sie jetzt in ihrem Schmerz, in ihrer Bedrängniß daran zu mahnen, wußte er wohl, und dennoch konnte er nicht fort. Clarissa schien seine Gedanken zu errathen.

»Das Schicksal ist grausam,« rief sie, »ich dachte mich mit Ihnen im Nachgenuß ihrer schönen Dichtung, die uns vor wenigen Tagen vorgeführt wurde, zu erfreuen, recht oft und warm meinen Dank auszusprechen, und jetzt werde ich selbst zur Rolle einer tragischen Heldin berufen! Vergeben Sie mir darum, mein edler Freund, daß ich mit Ihnen nur von mir und meinen Interesse gehandelt.«

Man hörte einen Wagen vorfahren, die Kammerfrauen zeigten sich an der Thüre, die Uhr schlug Mitternacht. Es kamen eilige Tritte die Stiege herauf durch den Gang; Clarissa winkte, und gewaltsam riß sich unser Freund von der Seite des holden Mädchens; er stürmte fort, und erst als die kalte Nachtluft seine heiße Stirn und die entflammten Wangen berührte, lösten sich Schmerz und Befangenheit in leise Wehmuth auf.

Nach einem kurzen unruhigen Schlummer suchte er am Morgen sogleich die Wohnung von Christians Verwandten, der alten Barbara, auf. Als er die Thüre öffnete, erstaunte er nicht wenig; mit dem Rücken ihm zugekehrt, saß ein junges Geschöpf in der einfachen Tracht der Secte gekleidet; es blickte herum, und er erkannte Leopoldinen, die sogleich mit einem Schrei in die Höhe fuhr. Sie hatte geweint, ihre Wangen waren bleich, ein Brief zitterte in ihrer Hand.

»Um Gotteswillen!« rief sie, und faßte den Arm des Freundes, »kommen Sie, mich zu retten? Ich bin verrathen, betrogen! – Sehen Sie, diese abscheulichen Kleider – o ich komme von Sinnen. Eine alte Närrin und der Pinsel von Diener beherrschen mich hier, und das alles auf Befehl meiner saubern Schwester! Lesen Sie, lesen Sie, hier steht alles, – ich bin des Todes!«

Sie sank im Sessel zurück, die Alte trat herein mit einem Riechfläschchen, allein sie wurde mit Geberden des äußersten Abscheus zurückgestoßen.

»Geh' Sie, Ungeheuer!« rief die Zornige, »Ihr Anblick schon bringt mich in die fürchterlichsten Krämpfe.«

Lessing hatte indessen Zeit, den Brief Clarissens zu lesen, der französisch geschrieben, die zärtlichsten Sorgen schwesterlicher Liebe enthielt.

»Ich beschwöre Dich bei dem Angedenken unserer guten Mutter,« schloß der Brief, »den Leuten, denen ich vertraue, und die ich geprüft habe, Dich blindlings hinzugeben. Bedenke, Leopoldine, daß ich die Stelle der Mutter bei Dir vertrete, daß ich über Dich befehlen darf, wenn es Deine Rettung gilt. Man hat mich auf das empfindlichste beleidigt, allein meine Wachsamkeit nicht untergraben können; der Augenblick ist da, wo ich handelnd auftreten muß, ich fühle die gekränkten Rechte meiner Geburt, das ganze Gewicht unsrer edlen Herkunft, den guten Ruf unserer Familie, und endlich Deinen Frieden, Dein Lebensglück, Leopoldine, in meinen Händen ruhen. Urtheile selbst, ob ich hier unthätig zuschauen darf.«

Kaum hatte er das Blatt durchlesen, als die unglückliche Gräfin wieder ihre Klagen anhub; er suchte sie zu trösten, erklärte ihr die Absichten der Schwester, doch er mußte bemerken, daß seine Worte nur noch stärkere Affecten rege machten.

»Also Sie auch im Bunde?« rief sie, »auch einer meiner Wächter? Ich will nichts hören, zu unserm Hause will ich eilen, dort alles in Bewegung setzen, ich will –«

Christian trat jetzt herein, sie fuhr auf ihn los, mit dem Befehl, sogleich sie dorthin zu begleiten. In des alten treuen Dieners Gesicht lag eine seltsame Mischung von Unterwürfigkeit, Mitleid und angenommener Strenge.

»Recht gern,« erwiderte er nach einer Pause, »allein da Ihr, gnädigstes Fräulein, nun einmal meine Nichte seyd, so müßt Ihr abwarten, bis es mir gefällig ist, Euch dahin zu bringen; für's erste wird wohl nichts daraus werden.«

»Gut!« rief sie, indem sie sich rasch umdrehte, und dunkle Flammen des Zorns das reizende Gesichtchen färbten, »diese Impertinenz soll Er mir büßen, ihr alle sollt euch nicht ohne Strafe so weit vergangen haben! Es ist eine beispiellose Unverschämtheit.«

Christian näherte sich ihr, er schien bittend ihre Hand fassen zu wollen, doch in dem Moment erhielt er einen heftigen Schlag mit dem Fächer; der Alte verzog keine Miene. Nach einer Pause sagte er:

»Als Ihr klein waret, liebes Fräulein, und der alte Christian Euch nicht etwas nach Willen that, da hat er auch manchesmal Schläge hinnehmen müssen; nun, ich will diesen Schlag zu den andern thun. Was aber den Spaziergang anbelangt, so bleibt Ihr diesesmal hübsch zu Hause; es würde sich auch nicht schicken, in dem Kattunleibchen, welches Ihr anhabt, auszugehen.«

Lessing versuchte auf's neue, seine Trostgründe anzubringen, doch das auf's höchste gereizte Kind wollte durchaus nichts mehr hören; sie warf sich in die Ecke des kleinen Sopha's hüllte ihr Antlitz in's Taschentuch, und blieb so unbeweglich liegen.

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Die große Stube bei der Frau Barbara war besonders aufgeräumt und geputzt worden, der Fußboden mit Sand und grünen Zweigen bestreut, die metallenen Gehänge und Schlösser an dem alterthümlichen Geräthe glänzend aufgefrischt; das große Bild an der Wand, den Fenstern gegenüber, einen Reformator der Kirche darstellend, ein strenges unerquickliches Gesicht, mit einer Wolkenperücke, hatte eine stattliche breite Einfassung von Wachholder und Tannenzweigen erhalten. Weniger festlich waren die zwei kleinen Seitenbilder, Portraits von Barbara's Vettern, ausgestattet. Die Gesichter dieser Herren, von denen einer es sogar bis zu einem Prediger in der Mark gebracht hatte, waren auch in der That keiner größern Auszeichnung würdig; sie ähnelten, was ihre Breite und das dunkelrothe Colorit betraf, der einförmigen ausdrucklosen Fläche eines tüchtigen westphälischen Schinkens, wo dann die grelle weiße Perücke füglich die Speckseite darstellen konnte.

In der Mitte des Gemaches befand sich ein Tisch, reinlich behangen, auf ihm eine große in schwarzem Corduan gebundene Bibel, der zur Seite ein Glas Wasser, zur Erquickung des frommen Sprechers, stand. Eine kleine Handorgel nahm das bescheidene Plätzchen an der Thüre ein, das die überall hinvertheilten Bänke leer ließen. Starkduftendes Räucherpulver hielt sich, in blaue Wolken aufgelöst, in der Mitte des Zimmers, und umfing Frau Barbarens Gestalt, die sich in dieser festlichen Atmosphäre mit kleinen knisternden Schritten und mit großem Wohlbehagen herumbewegte. Ihre Aufmerksamkeit war beschäftigt, hie und da noch ein Stäubchen oder eine Feder abzukehren, und dann über den Kanarienvogel am niedrigen Fenster ein dunkles Tuch zu breiten, damit die unvernünftigen Naturlaute dieser Creatur Gottes eine würdige fromme Unterhaltung nicht stören möchten.

Diese Versammlung, die unter keinem Vorwand ausgesetzt werden durfte, war geeignet, Christians Verlegenheit auf's äußerste zu treiben, er hatte seine ganze Ueberredungsgabe, sein ganzes Ansehen geltend zu machen gesucht, um die schöne Gefangene zu überreden, sich mit unter die frommen Gäste zu begeben, allein dieses Ansinnen war von Leopoldinen rund abgeschlagen worden. Der Gedanke empörte sie, einer Gesellschaft anzugehören, die sie so oft selbst als lächerlich oder verächtlich geschildert. Den ganzen Morgen hatte sie mit Weinen zugebracht: die alte Barbara und Christian, die nicht von ihrer Seite wichen, mußten abwechselnd die ganze Heftigkeit ihres Charakters fühlen. Der letztere zeigte eine unbezwingliche Geduld, so wenig diese sonst in seinem Wesen lag; allein Ehrfurcht, innige Ergebenheit für seine Herrschaft überwogen jetzt, da es darauf ankam, ihr einen wichtigen und entscheidenden Dienst zu leisten, alle übrigen Gefühle. Sogar die Anhänglichkeit und den Gehorsam, den er den Anforderungen der Secte schuldig zu seyn glaubte, war er nach einem hartnäckigen Kampfe zwischen seinem Gewissen und seinem weltlichen Diensteifer, endlich entschlossen, diesesmal in den Hintergrund treten zu lassen. Als daher die Stunde schlug, wo Frau Barbara's Zimmer sich mit ihren frommen Brüdern und Schwestern füllte, bezog er seufzend seinen Wachtposten an der Thüre des kleinen Gemaches, in dem die Gräfin sich befand.

Den Zug der Besuchenden führte die reiche Wittwe aus Kamenz an, Frau Dorothea, die mit ihrem Vetter Christlieb erschien, und von Barbara mit auszeichnender Ehrfurcht empfangen wurde. Die weite Fahrt, die sie nicht gescheut hatte, bewies ihre Anhänglichkeit für die Secte; ihr folgten andere Mitglieder, zum Theil aus noch entfernterer Gegend; allein da sie weder an Ansehen noch an Reichthum sich mit der Wittwe messen konnten, mußten sie sehen, daß der Ehrenplatz nahe am Predigertischchen jener eingeräumt wurde. Frau Barbara hatte für diese ihr eben so theuren, doch nicht so begünstigten Schwestern und Brüder desto mehr fromme Küsse und zutrauliche Handschläge, welche denn herzlich empfangen und erwiedert wurden. Ein Scharren mit den Füssen und ein Geräusch, das jedoch nur bis zur Stärke eines dumpfen Gemurmels anwuchs, verkündete dem armen Christian in seinem daranstoßenden Gefängniß, daß man jetzt an das Geschäft ginge, die Plätze zu vertheilen; eine äußerst langweilige Ceremonie, welche jedoch mit gewissenhafter Strenge beobachtet wurde.

Die darauf eintretende Stille ließ ihn vermuthen, daß jetzt Alles seinen Platz gefunden, und der dünne Kaffee seiner guten Schwester die Reihe herum mache, der dazu bestimmt war, die Durstenden zu erquicken, ohne zugleich ihren Geistern durch eine zu gewürzhafte Mischung Ruhe und Besonnenheit zu rauben. Es war Sitte, vor Beginn der eigentlichen Andachtsübungen, der Predigt, dem Gesange und den verschiedenen Reden, einige der Gemeine angehende Vorfälle und Verhältnisse, zu besprechen. Die Männer, die hierin vorangingen, hatten fast alle nach einander dieses Recht in Anspruch genommen, und es sollte eben auf die Frauen, die schon lange darauf warteten, übertragen werden, als sich der Leinweber Maths hervorthat, und mit einer ehrerbietigen Verbeugung ebenfalls um die Erlaubniß, sein Herz auszuschütten, bat. Sie wurde ihm gewährt, und der dünne seltsame Mann trug jetzt mit bewegter Stimme seinen Wunsch vor, daß man ihn aus der Secte wiederum entlassen möchte.

»Was soll ich es länger läugnen,« setzte er fast weinend hinzu, »ich fühle seit einiger Zeit mich gleichsam von Gott und von Menschen verlassen.«

»Wie das?« nahm Christlieb das Wort, »thut man nicht alles, seitdem Ihr unter uns seyd, Euch das Leben ruhig und sorgenfrei zu machen?«

»Das ist's ja eben,« erwiderte Maths, »diese Ruhe und dieses Glück vertreiben mich eben. Ich habe es jetzt mit dem Ernst und der Traurigkeit versucht, und will zu meiner alten Lustigkeit zurückkehren. Wie lange schon ist mir nichts Freudiges geschehen, wie lange hab' ich eine tüchtige Herzstärkung, wie ich sie wünsche, entbehren müssen? Selbst die Erinnerung an mein früheres Glück und die Erzählungen davon sind mir verboten; immer gleiche Arbeit, Erholung, ernsthaftes Gespräch, sorglose Ruhe und liebevolles Beisammenwohnen, nein, dergleichen kann keine schwache Creatur lange aushalten! Trübsinn und Ernst legen sich wie ein Panzer um die träge Seele, so daß der allerkräftigste und gutgemeinteste Schicksalsschlag sie aus ihrer unerquicklichen Starrheit nicht zu erwecken vermag. Nein, nur wer recht frisch und lebendig im Unglück sitzt, wie der Salamander im Feuer, der kann auf die Welt und ihre Erscheinungen ein stetes lebhaftes Auge richten, der spielt in den lustigsten Farben, nach allen Seiten hin, seine Thätigkeit aus, und ruht nicht eher, als bis das kräftige schöne Element, das ihn erhalten hat, ihn auch verzehrt. Ich glaube wohl, daß Ihr mich, Verehrte, nicht ganz begreift, daß Ihr mich thöricht und einfältig scheltet; allein jeder muß nun einmal auf seine Weise glücklich seyn können. Ich habe mir nun diese Weise erwählt, darum entlaßt mich immer, und denkt, daß nur wenig an mir verloren sey.«

»Hinter Eurer Thorheit, Freund Maths,« nahm Christlieb das Wort, »ist mehr Schalkheit verborgen, als Ihr uns glauben machen wollt. Gesteht es nur offen, Ihr habt es gut, und wollt's noch besser haben. Meint Ihr, wir wüßten nicht, wie Ihr den großen Herrn nachschleicht, von ihnen Geschenke annehmt, und zu, wer weiß es, was für Diensten Euch von jenen brauchen laßt. Doch mag's seyn: was mich betrifft, ich gebe meine Stimme, daß Ihr mit Gott gehen möget, wohin es Euch gefällt. Ein jeglicher Baum kann nur Früchte tragen nach seiner Art, und die eurige scheint eben nicht sonderlich zu seyn.«

»Recht so, sehr ehrwürdiger Freund und Bruder,« rief Maths freudig, »scheltet nur recht! Die Früchte, die ich trage, es sind auch in der That holzige, elende Dinger, ohne sonderlichen Geschmack und Farbe. Allein dafür steht das Bäumchen auch draußen, im freien rauschenden Wald, theilt mit den Brüdern Regen und Sturmwind, hat es nicht so gut, unterm festen warmen Glaskasten zu wuchern, wie Ihr; indessen ist ihm dann wieder erlaubt, seine Zweige wie lustige Arme frei nach dem Himmel auszustrecken, indessen die eurigen hinter das starre Spalier sich müssen zwängen lassen. Wie gesagt, ich hab's nun auch mit der Gartenluft versucht, und will wieder hinaus in den Wald.«

Die Gesellschaft, welcher diese ganze Rede mißfiel, gab, nach einigen Bemerkungen und Einwürfen, einstimmig ihre Bewilligung zu der Entfernung des Leinwebers. Man ging jetzt zu andern Gegenständen über. Nachdem die angesehenern Frauen schon das Wort geführt hatten, nahm jetzt die alte Gertrud vom Schlosse die Gelegenheit wahr, um auf die Entfernung eines zweiten mißfälligen Mitglieds der Secte anzutragen; als man sich hierüber verwunderte, erklärte sie sich umständlicher.

»Ihr werdet, Geliebte,« rief sie, »mich nicht so böslich verkennen, als wäre ich selbst dieses räudige Schaaf, welches sich aus der Heerde zu verbannen für nöthig hielte. Nein, Hochgeehrte, mein Antrag bezieht sich auf ein junges thörichtes Weibsbild, das nicht gegenwärtig ist, mit einem Worte: auf das Kammermädchen Babet. Sie ist nun völlig unheilbar verrückt; Vernunft, Ermahnung, Predigt und gutes Beispiel ist durchaus an ihr verloren, nur durch eine derbe Züchtigung kann sie gerettet werden, und einer solchen wird sie nicht entgehen, denn das gottlose Ding will heirathen!«

Die ganze Versammlung flüsterte, und Einige gaben laute Zeichen des Mißfallens.

»Ey, ey, Jungfer Gertrud,« rief Christlieb, »das Heirathen an und für sich ist keine so gottlose Sache, ich will hoffen, daß sich die Mamsell einen ehrsamen tugendgelobten Freier wird erkieset haben.«

»Einen Grenadier hat sie sich erwählt,« entgegnete Gertrud seufzend, »und zwar einen von sechs Fuß Länge!«

Die Frauen steckten bei diesen Worten die Köpfe zusammen, und bei den Männern verzog sich manches strenge Gesicht zu einem leichten Anflug von Lächeln. Christlieb schüttelte das Haupt, er schien noch auf eine Entschuldigung für die Angeklagte zu sinnen; sein Nachbar, der Schulmeister, jedoch rief mit strenger und lauter Stimme:

»Wenn dem so ist, so mag die Mamsell nur aufpacken und davongehen, ehe ich, für meine Person, leide, daß einer von dem gotteslästerlichen Soldatenschwarm in unsere Gemeinschaft eintrete, ehe scheide ich selbst heraus.«

»Recht, Herr Gevatter,« nahm ein großer finsterer Mann, seinem Gewerbe nach ein Großhändler, das Wort. »Kein Soldat in unsere Nähe; kommt nicht alles Unheil im Lande von Pike und Patrontasche her? Seitdem diese rohen Kriegsschaaren herrschen, seitdem unser König darauf denkt, ihre Anzahl noch immer zu vergrößern, liegt Handel und Gewerbe, und mit ihnen des Staates Wohlstand darnieder. Ich habe das Wesen jetzt schon fast vierzig Jahre in der Nähe angesehen, und ich sage Euch, es war nie so arg, wie jetzt; und laßt nur erst den Krieg völlig hereinbrechen. Wie wird es dann seyn? Schon jetzt sind die Wege und Stege mit Gesindel aller Art besetzt, kein Wald ist sicher, kein Haus an der Straße; überall erzählt man von Einbrüchen und Plünderungen, wo das Ohr hinhört, Klage und Wehelaut. Unsere Stadt selbst ist verwandelt und verändert. Die ewigen Paraden und Manöver, das Exerzieren und Trommeln, Schießen, Fluchen und Commandiren macht, daß man sein eigenes Wort oft nicht versteht; dabei treibt alles bunt durch einander, da ist kein Sonntag und Werktag mehr, jeder Tag ist dem Gesindel recht. Es fehlt nur, daß es uns vollends aus unsern Häusern wirft, so wie sie es mit den armen Sachsen thun, daß sie uns auch Tornister und Flinte umschnallen, damit keiner von uns in der großen Puppen-Comödie müssig zuschaue.«

Dieses Thema, eines der ergiebigsten, fand volle Theilnahme, besonders, da der alte Grenadier, wie Einige den Kammerdiener nannten, nicht gegenwärtig war. Ein paar Einwendungen, die man zum Schein vorbrachte, entflammten den Eifer des Redners nur noch mehr, bis derselbe zu einem Grade stieg, welcher dem bessern Patrioten gefährlich und vermessen schien.

»Der König! der Staat!« schrie der heftige Mann; »das sind immer die hochklingenden Worte, hinter welche sich die Bosheit und Dummheit heutiges Tages verstecken. Was soll der Unsinn heißen? Ich sage Euch, gebietet mir der König auch tausendmal: du sollst deinen Nächsten todtschlagen, ihm das Haus über'm Kopf anzünden, ihm sein Hab und Gut rauben, werde ich's thun? Ebenso, was soll's mit dem Gehorsam für den Staat? – Verdammt ist, wer dem Götzen dient, wegen irdischen Vorteils sich dem Gesetz verkauft! Würde es wohl so viel Elend auf der Welt geben, wenn nicht die meisten Menschen sich thörichter oder sündhafter Weise einbildeten, daß sie dem sogenannten Vaterlande allerlei Opfer schuldig seyen? Der Christ ist auf die Welt gesetzt, um überall sein Vaterland, in allen Menschen seine Brüder zu finden. Wenn alle so dächten, so gäbe es kein unglückliches Land, und kein ungerechter tyrannischer König fände Leute, welche, den göttlichen Gesetzen zuwider, seine Befehle erfüllten. Krieg und Elend hätte in der Welt ein Ende.«

»Wie der Prediger Salomo gesprochen!« rief ein kleiner dürrer Mann am Ofen, »das Aergerniß kommt von den Großen, der Geringere muß folgen.«

»Muß folgen?!« entgegnete der Sprecher eifriger, »und wo liegt dieses Muß? Sehen wir nicht alle, daß unseres Königs Befehle das Unglück des Landes herbeigezogen? Der Vater war schon so ein Soldaten-Narr, und er ist es noch mit Hundert multiplicirt! Gebt ihm nur nach, und er macht auch den Säugling zum Soldaten, peitscht und trommelt alle in's Verderben, und wandelt dieses schöne herrliche preußische Königreich in eine große Kaserne um, wo denn Abgötterei und Laster aller Art heimisch sind. – Ja, ja, laßt es nur so weit kommen mit Eurem Staat, Eurem Gehorsam und Eurem König! Es wird der Jammer nicht lange ausbleiben.«

Christlieb erhob sich, und sagte: »Du sollst dem König geben, was des Königs ist, der Obrigkeit gehorchen, die Macht über dich hat.«

»Trefflich!« rief der Eiferer, »allein es steht auch geschrieben: ärgert dich dein Auge, so reiße es aus und wirf es von dir. Wozu hätten wir die Einsicht und das Verständniß, weßhalb wäre uns denn das Licht ertheilt worden, wenn wir es frischweg im Sündigen und Lasterleben den andern nachthun wollten? Unser Königreich ist noch ein junger Staat, und solchem gebührt Arbeitsamkeit, Thätigkeit, äußere Ruhe, und vor allen Dingen Gottesfriede! – Ist von dem allem auch nur die leiseste Spur zu sehen? Soldat muß alles seyn. Kaum hat der Bube im Dorfe hinter der Schulbank zur Noth den lieben Katechismus hinuntergewürgt, und verdaut noch eben das Gebot: du sollst nicht tödten, so läßt ihn der König in die bunte Jacke stecken, und befiehlt: du sollst tödten; so geht denn der Bursche hin, und wenn er nicht tödtet, so wird er getödtet. Von den Kanzeln wird gebetet, daß die Kriegsmacht gedeihe, was will das anders sagen, als daß der Himmel zulassen möge, daß nur recht viele Leute um ihr Hab und Gut, ihr Blut und Leben gebracht werden. Vergeblich ist auch die Hoffnung, daß mit jenen Menschen später noch etwas anzufangen sey, wenn der Krieg vorüber. Der Soldat, hat er einmal die Früchte gekostet, die seine Pike so leicht vom fremden Baume bricht, verliert die Lust, eigene groß zu ziehen. Geraubt Gut ist ihm gewohnte Speise geworden, und hat er keine Feinde mehr zu bestehlen, so bestiehlt er seine lieben Landsleute, wo er ihnen nicht gar die Kehlen abschneidet. Und dieses jetzige und kommende Elend sollen wir geduldig mit ansehen, und wohl noch den Obern mit Lobsprüchen überhäufen? Nein, das Ding will beim rechten Namen genannt seyn, und so sage ich denn: es ist eine Schande für jeden Christen, diesem Könige Gehorsam zu leisten!«

»Tod und Teufel!« schrie jetzt eine Stimme, »eine Schande wäre es, Euch nicht den Hirnschädel zusammenzuklopfen, theurer Gevatter und Bruder!« Alle sahen hin, und erblickten Christian, der sich an der Thüre zeigte, und dunkelroth im Gesichte mit rollenden Augen jene Worte ausgestoßen hatte.

Der Eiferer, als er den gewesenen Grenadier sich so plötzlich gegenüber sah, schwieg im Schrecken, welche die drohende Anrede rings in der Versammlung verbreitet hatte, ebenfalls einige Minuten, dann faßte er sich wieder, und schien eben bereit, seinem Gegner zu erwiedern, als dieser in seiner nachdrücklichen Strafpredigt fortfuhr:

»Ja, eine Schande ist es für jeden ehrlichen Mann und Patrioten, Euer Scheuerlumpen-Gesicht, Herr Bruder, nur flüchtig angesehen zu haben. Tausend Donner! Bursche, das Höchste und Herrlichste, was der Preuße hat, Vaterland und König, sein Blut, sein Leben, davon spricht die Memme, als wär's ein fauler Apfel. Freilich solch' Bubenpack – mit Erlaubniß, Herr Bruder – hat kein Vaterland nöthig, denn, Gott sey Dank, überall gibt es dreibeinigte – nun ich will nur schweigen!«

Ein Theil der Anwesenden hatte sich beim Beginn dieses Zanks erhoben, und Christlieb rief jetzt: »Das thut auch, Freund, und gebt Euch zufrieden! wie ist auch nur der Streit unter Brüder gekommen?«

»Brüder?« schrie der Großhändler, »ich nenne Niemanden Bruder, der es mit der allgemeinen Verderbniß hält, was sag' ich, der selbst einmal zu den Dieben, Mördern, Plünderern, kurz: zum Soldaten-Gesindel gehört hat. Ich rufe nochmals laut: durch diesen König, durch diesen Atheisten und Soldatennarren ist das Reich in's Elend gestürzt! Die Gutgesinnten und Frommen müssen sich vereinigen und gegen ihn zusammenhalten.«

Kaum waren diese Worte ausgestoßen, als der Eindruck, den sie auf den Kammerdiener äußerten, alle Anwesende in Furcht und Schrecken setzten. Die ganze unbändige Wuth und Hitze seiner Jugendjahre schien wiedergekehrt und auf's neue den alten Körper zu beleben. Sein Arm holte aus, mit Gewalt wollte er die Masse durchbrechen, die sich ihm vordrängte, um den Gegenstand seines Zorns zu erfassen; den geöffneten Lippen fehlten die Worte, die Rechte suchte nach dem Säbel, als gälte es, wie in früheren Zeiten, dem Feinde auf den Leib zu rücken.

Endlich legte sich die erschütternde Wuth des ersten Moments, und eine Stille trat ein, um einer mit Wildheit gemischten Verachtung den Platz einzuräumen. Hochaufgerichtet erhob sich die stattliche Gestalt in der Mitte des Zimmers; ohne ein Wort zu sprechen, drängte sie die Menge von sich, heftete die glühenden Blicke auf ihren Gegner, löste endlich den langen Zopf ab, der hinten auf den schwarzen Rock herab hing, und ihn der Versammlung vor die Füße werfend, tönten die Worte:

»Da, ihr Zopfträger! da, nehmt mein Abzeichen! Ich will verdammt seyn, wenn ich länger in Gemeinschaft mit Leuten stehe, die unsern geliebten König und mit ihm den Soldatenstand lästern!«

Er sprach's, und wandte sich langsam um, indem er der Thüre wieder zuschritt. Der Auftritt hatte für die Anwesenden so viel Erschütterndes gehabt, daß noch lange Zeit alle Blicke sprachlos auf den hingeworfenen Zopf hafteten. Es war Vielen, als sähen sie die Leiche eines geehrten würdigen Mitglieds vor sich liegen; endlich wurde er von zwei Frauen, in seiner ganzen Länge, behutsam vom Boden aufgehoben und dem Prediger auf das Tischchen gelegt.

Der Eiferer nahm wieder seinen Platz ein, jedoch nicht ohne daß mißbilligende Blicke ihn mit stillen Vorwürfen verfolgten, die der heftige Mann aber in voller Sicherheit und im Stolz seiner ausgesprochenen Ansicht durchaus nicht scheute; er schien nur zu bedauern, daß sein derber Arm, sein untersetzter starker Körper nicht Gelegenheit erhalten, die ihnen verliehenen Kräfte in einem kleinen Intermezzo von Backenschlägen und Ellenbogenstößen zu zeigen.

Die Gemüther zu beruhigen, verfügte sich jetzt Frau Barbara, die durch den Zorn ihres Bruders, als Gastgeberin, sich heftig gekränkt fühlte, an die kleine Orgel, und suchte den Kreis in die rechte Stimmung wieder hinein zu orgeln. Wirklich war ihr dieses, mit Hülfe einiger mit in das Spiel einfallender singender Stimmen, schon so ziemlich gelungen, als von neuem ein fürchterliches Gepolter im Nebenzimmer losbrach. Man hörte Christians Stimme, welche schrie: »Sie ist fort, sie ist fort! Der Teufel hat sie geholt!«

»Ja wohl hat der Teufel sie geholt,« brummte der Eiferer, »nämlich Eure Vernunft, Herr Bruder. In der That, das fehlte noch, daß solcherlei Gezüchte sich unter uns einnistet. Welch' Geschrei, welch' Gelärm!«

Die ganze Gesellschaft hatte jetzt ihre Plätze verlassen, und drängte zur Thüre; Jungfer Gertrud und Frau Barbara thaten vergeblich Vorstellungen; das Toben und Gezänke wurde immer ärger. Einige andächtige und schüchterne Familien nahmen sich fest vor, dieses Haus des Unfriedens nie wieder zu betreten. Bei Eröffnung des Nebengemachs zeigte sich eine neue auffallende Gruppe: Christian hatte den Leinweber Maths am Kragen, und schüttelte die dürre Gestalt seines Gefangenen nach Leibeskräften; als er die Neugierigen hereinströmen sah, schrie er ihnen entgegen:

»Nur zurück, nur zurück, ihr Freunde, was ich mit diesem trefflichen edlen Manne zu thun habe, geht euch weiter nichts an; orgelt und singt nur immer weiter fort, ich werde nach meiner Weise auch Musik machen. Potz Kroaten und Panduren, ihr sollt sehen, daß ihr es mit einem alten Grenadier zu thun habt.«

Mit diesen Worten schob er die Andringenden zurück, und schloß die Thüre ab. Barbara, die ihren Bruder, sein Thun und Treiben heute nicht begriff, die nur so viel aus seinen Aeußerungen ersah, daß die Gräfin entschlüpft seyn müsse, fühlte sich selbst jetzt auf das heftigste geängstigt und besorgt. Welche Folgen konnte die Flucht der Dame für sie, für ihren armen Bruder haben? Und wie war überhaupt ein Entkommen möglich gewesen? Notwendig mußte der Zeitpunkt gewählt worden seyn, wo sich der unglückselige Zank erhoben hatte; allein in welcher Beziehung stand der Leinweber zu dem allem?

Zu so wenig tröstlichem Erfolge auch diese Erörterungen führten, so fand doch die Wittwe für gut, die Aufmerksamkeit ihrer Gaste, da diese einmal rege geworden, mit dem Wesentlichsten bekannt zu machen. Die meisten fanden sich hierdurch beruhigt; man besprach sich über einzelne Umstände, und nach Verlauf weniger Minuten gelang es dem jungen Prediger, indem er geschickt an das eben Vorgefallene seine Betrachtungen anknüpfte, die Theilnahme wieder auf sich und den Hauptgegenstand zu lenken.

Während auf diese Weise noch einzelne kostbare Betrachtungen, gleich Schätzen aus einem Schiffbruch, gerettet wurden, rollte ein mit ein paar muthigen Rossen bespannter Miethwagen, in welchem der alte Christian und der Leinweber Maths Platz genommen, in fliegender Eile aus dem Potsdamer Thor hinaus. Der zornige Grenadier hielt es unter seiner Würde, mit dem Sectirer auch nur das geringste Wort zu wechseln, bis beide auf dem Schauplatz der ihnen bestimmten Thätigkeit angelangt seyn würden. Dieser war kein anderer als die erste Station von Berlin, wo der Wagen endlich in ziemlich später Abendstunde anhielt.

Christian faßte beim Aussteigen seinen Gefährten beim Arm, damit er ihm nicht entschlüpfte, und so stürmten beide in die bezeichneten Gemächer, wo sich die entführte Gräfin befinden sollte. Hier trat ihnen ein Herr in einen Mantel gehüllt entgegen, er schien durch das Geräusch des anfahrenden Wagens aufmerksam gemacht, und beobachtete mit scharfen Blicken die Eintretenden; kaum hatte er den Leinweber erkannt, als er auf ihn losstürzte, und ihm einige unverständliche heftige Worte zuflüsterte; zugleich faßte er einen Arm des Mannes, und da Christian den andern nicht freiließ, wurde der unglückliche Sectirer eine Zeitlang von seinen erbitternden Feinden auf das unbarmherzigste herumgerissen; ja, sein Elend zu vollenden, zogen beide in gleichem Moment handfeste Stöcke hervor, und ließen sie unter Flüchen und verworrenen Fragen auf dem Rücken ihres Opfers tanzen. Endlich drang Mathsen's Stimme durch.

»Ach, meine Herren!« rief der Gepeinigte, »wenn Sie wüßten, wie Sie durch diese Liebkosungen mich gleichsam wie neugeboren machen! Wie lange hab' ich nach dergleichen geschmachtet. O Himmel, wie gibt's doch keine größere Freude, als zwischen zwei recht tüchtigen Prügeln mitten inne zu schweben. Aber halten Sie ein, auch in seinen Genüssen muß man Maß und Ziel beobachten!«

»Elendes Narrengesicht,« schrie Christian, »ist jetzt Zeit zu Deinen Spässen – wo ist die Gräfin? Gestehe, oder« –

»Laßt den Prügel fort, später werde ich mir wieder etwas davon ausbitten; behaltet die Speise nur frisch bei euch, in euren Händen wird sie ohnedieß nicht so leicht kalt werden.«

»Wo ist die Dame?« rief der Mann im Mantel.

»Ich weiß es nicht, gnädigster Herr Graf,« erwiderte der Bedrängte, »und würdet Ihr mich zu Todte karessiren, ich wüßte es nicht.«

»Graf?« brummte Christian. Der Mantel war dem jungen Manne entfallen, und der Kammerdiener erkannte den Grafen Felix. In Ehrfurcht wich er bei Seite, zog den Hut ab, und schien mit verdrießlichem Gesicht und gesenktem Haupte zu erwarten, wie sich nun das ärgerliche Räthsel lösen werde.

»Gott sey gedankt« seufzte Maths, »jetzt leitet sich doch eine Erkennungsscene ein, es wird ohne Zweifel nun zur Verständigung beider Theile kommen.«

Der Graf, nachdem er einige Schritte durch's Gemach gethan, blieb vor Christian stehen, indem er rauh und ungehalten die Worte ausstieß: »Was bringt Ihn hieher?«

»Der Befehl meiner Herrschaft, Euer Gnaden.«

»Und wie lautet der?« –

»Hab' keine Ordre, Euer Gnaden, ihn bekannt zu machen,« entgegnete der Alte, indem er in der steifen Haltung eines Soldaten an der Thüre stehen blieb.

Der Graf warf sich verdrießlich in den nächsten Stuhl. »So rede Du, Dummkopf,« rief er nach einer Pause zum Leinweber, »Deine Geschicklichkeit ist wahrscheinlich schuld, daß ich und jener Diener zugleich die Betrogenen sind.«

Maths lächelte: »Das wäre in der That ein feines Spiel, oder um mich besser auszudrücken, ein feines Gewebe, zu fein für diese groben Finger. Nein, wenn Euer Gnaden und jener ehrliche Diener belieben, sich zu den Getäuschten zu rechnen, so bin ich der eigentliche Betrogene.«

Christian hob den Stock und der Erzähler machte eine demüthige abwehrende Bewegung.

»Als ich das Briefchen von Euer Gnaden,« fuhr er fort, »in welchem der Plan zur Entführung, zur Flucht, Reise, mag man doch das Ding nennen, wie man will, ausführlich bezeichnet stand, der Gräfin glücklich in die Hände gespielt hatte –«

»Tod und Teufel,« fluchte der Kammerdiener, »hinter meinem Rücken Briefe zu bestellen!«

Ein gebietender Blick vom Grafen hieß ihn schweigen, und Maths nahm wieder das Wort: »Da galt es nur noch Eine Schwierigkeit zu überwinden, und die war nicht die geringste, nehmlich einen äußerst wachsamen Posten zu entfernen, der sich vor die Thüre des Gemaches, in welchem das gnädige Fräulein schmachtete, aufgepflanzt hatte.«

»Das war ich,« schrie Christian, »und der Teufel in Person hätte mich nicht von der Thüre weggebracht, wenn nicht jener elende, lumpige –«

»Laßt's gut seyn, der treffliche Patriot hat Euch nicht geschadet, und mir nicht genützt, denn als ich jenen zufälligen Zwist benutzend eilig in's gedachte Zimmer eindrang, das schöne Fräulein in den schon bereitstehenden Wagen zu heben, war kein Fräulein und kein Wagen zu sehen. Euer Gnaden können sich meine Verzweiflung denken; alles, was ich erforschen konnte, war: daß ein altes eben vorbeiwankendes Mütterchen die Dame wollte gesehen haben, wie sie mit einem Herrn eingestiegen und davongefahren sey. Wie ich diese betrübte Post einsammle, fällt jener edle Wüthrich über mich her, erhascht das Billet an die Gräfin, das noch daliegt, und zwingt mich sofort, die Fahrt hieher zu machen. Was mich in meinem Elend noch stärkte, war die Hoffnung, die Comtesse vielleicht doch hier zu finden; allein auch dieser Stern hat mich betrogen, und so hab' ich nun wohl das meiste Recht, das Schicksal herauszufordern und zu verwünschen.«

»Du wirst Deinem Lohne nicht entgehen, Spitzbube!« rief der Graf zornig aufspringend. »Ihr fahrt beide sogleich mit mir nach Berlin zurück; finde ich, daß Einer von euch gewagt hat, mich zu täuschen, so werde ich ihn zu bestrafen wissen.«

»Und wer mich betrogen hat,« brummte Christian bei Seite, »dürfte ich ihn nur auch meinen ganzen Grimm fühlen lassen. Bei meiner Ehre, ein sauberes Stückchen! Wüßte ich nur, was Wahrheit und was Lüge dabei ist; aber hin ist hin, die Gräfin ist nun einmal fort!«

Die Anstalten zur Rückfahrt waren bald getroffen; als man eben den Wagen besteigen wollte, langte der Prinz an, in Gesellschaft einer ältlichen Dame. Der Graf zeigte beiden in kurzen Worten das Geschehene an. Man stritt hin und her, endlich war der Entschluß gefaßt, daß die Gesellschaft sich theilen sollte; der Fürst und die Dame blieben im Posthause, und der Graf fuhr nach der Residenz zurück. Es war schon völlig Nacht, als man sie erreichte.

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Zwei Wochen waren vergangen nach der Flucht der Gräfin. Lessing, den dieses Ereigniß, obgleich er sich keine Schuld dabei zumessen konnte, erschreckt und in Sorgen gestürzt hatte, wurde bei Meldung des Vorgefallenen durch die Antwort Clarissens beruhigt. Obgleich sie über das unglückliche Geschick ihrer Schwester sich beklagte, so schien sie gleichwohl doch mit ihrer Entfernung aus dem Hause der Frau Barbara einverstanden.

Hatte sie nun der Uebermacht ihrer Gegner sich gefügt, oder waren veränderte Zwecke in's Mittel getreten, dieses blieb dem dabei so lebhaft interessirten Jünglinge unentschieden. Er durfte auch diesen Räthseln nicht tiefer nachgrübeln, da die nun bald anzutretende Reise seine Thätigkeit in Anspruch nahm. Die immer mehr sich bestätigenden Gerüchte vom nahen Ausbruch des Krieges trieben den Edelmann zur Eile an. Es wurde festgesetzt, daß man einige Tage auf dem Landgut einer Verwandten des vornehmen Gönners verweilen wolle, um dort an der Grenze von Böhmen, dem Schauplatz der beginnenden Feindseligkeiten näher, fernere Entschlüsse und Pläne zu fassen.

Unser Dichter, der sich jetzt dem gewünschten Ziele so nahe sah, fühlte sich auf das heftigste bald von Freude, bald von einer quälenden Unruhe aufgeregt. Die letzten unruhigen Begegnisse, Clarissens Entfernung, jetzt die eigene Trennung von dem liebgewordenen und gewohnten Schauplatze so vieler Jahre, dazu das Scheiden von so manchen Freunden und Bekannten, und die ungewisse Aussicht in die Ferne beschäftigten und verwirrten seinen Geist, indem sie das Erfreuliche, welches jenen Zuständen beigemischt war, nur unvollkommen erscheinen ließen.

Mylius, der seinen Freund nicht aus den Augen ließ, gesellte sich auch jetzt zu ihm, um den Besorglichen zu erheitern und zu zerstreuen. Der Philosoph hatte von dem ganzen Ereigniß mit der Gräfin nichts erfahren, ebenso wenig war es in der Stadt bekannt geworden, und die jetzt allgemein eingetretene Unruhe und Spannung verdrängte jedes andere Interesse. Mylius sprach von der Madame Golzig, dem Theater, und kam dann auf seine eigenen Hoffnungen und Aussichten.

»Da jetzt,« rief er, »alles auseinanderstiebt, jeder in Erwartung großer Dinge sich besondere und neue Verhältnisse sucht, so hätte auch ich nicht übel Lust, meinen ganzen äußern und innern Menschen um und um aus und durchzukehren; es müßte eine spaßhafte Erscheinung geben. Wie wäre es, wenn ich zum Beispiel Soldat würde?«

»An Muth und Entschlossenheit,« entgegnete Lessing, »fehlt es Dir durchaus nicht.«

»Ich könnte immer eine sehr würdige Zierde in dem von Sir John Fallstaff auserlesenen Heerhaufen abgeben.«

»Was mich betrifft,« nahm der Dichter das Wort, »so werde ich meinen einmal betretenen Weg ruhig fortgehen. Nur wenn wir die äußern Verhältnisse, auch die scheinbar verworrensten zu ordnen und zu beherrschen wissen, können wir vom Nutzen der Erfahrung sprechen; ohne solches Wissen geht uns das Kostbarste, in eitel Stückwerk verloren.«

»O ihr ewig Feststehenden und Unbeweglichen!« rief der Philosoph, »werdet ihr denn nie einsehen lernen, daß nur im steten unbewußten Rausche das Leben genossen seyn will? Daß die höchste und tiefste Kunst des Denkens darin besteht, wie man alles Denken vermeiden könne? Dieser Krieg, der alle in Furcht und Bewegung setzt, dient mir zur wahren Ergötzlichkeit. Nun wird man sehen, wie sich unser gekrönter Philosoph benehmen wird. Und doch sind die Schlachten, denen er entgegen geht, nur Kinderspiele gegen die Kämpfe, die der Held in seinem Garten zu Sanssouci gegen den sechstausendjährigen Feind der Menschheit, gegen die kleine Frage: Warum? zu bestehen gehabt hat; freilich umgab ihn dort nur der Duft junger Frühlingsrosen, und hier wird Pulverdampf und das Brüllen der Kanonen ihn begleiten; aber ist er ein ächter Philosoph, so stellt er sich lieber den Kanonen gegenüber als jenem Wörtchen.«

Die Freunde waren jetzt bei dem Garten der Frau Golzig angelangt; das Häuschen darin lag verödet und einsam. Die letzten rauhen Tage hatten die Bäume zum Theil schon entlaubt, zum Theil ihr schönes dunkles Grün in fahles Gelb verwandelt. Am Eingang zeigten sich mehrere Gestalten in Mäntel gehüllt; es war die Principalin mit einigen ihrer Schauspieler. Sie sprach gerade mit einem jungen Manne, der in einem dürftigen Aussehen und ziemlich zerlumpter Kleidung vor ihr stand.

Die Freunde traten heran, und sogleich wandte sich die lebhafte Frau mir der Frage an sie: »Haben Sie, Herr Lessing, schon das Unglück vernommen?«

»Schon wieder ein Unglück!« rief Mylius, »ist denn die ganze Stadt auf's Unglück versessen?«

»Dieser junge Mensch,« fuhr die Principalin fort, »meldet sich eben zum Liebhaberfach; er ist früher Schreiber gewesen; doch eine zufällige Verstümmelung seines Fingers macht ihn zu dem Geschäfte untauglich. Ich weiß in der That nicht, was ich thun soll, denn ich bin so eben in großer Verlegenheit. Mein erster Liebhaber hat mir gestern aufgekündigt, er geht unter die Soldaten; man hat dem albernen Burschen weißgemacht, daß er ohne weiteres die Hauptmannsstelle erhalten werde. Der Thörichte ist jetzt fort, und hat mir zwei tüchtige Subjecte, von denen der eine Könige und Tyrannen, der andere zweite Liebhaber spielte, mitgenommen.«

»Ey, ey!« rief Mylius, »das ist schlimm, unser Theaterdichter geht nun auch fort, meine Liebe.«

»Auch fort?« wiederholte die Frau, »also kommt es doch einmal zu der Reise, Herr Lessing. Nun, ich wünsche Glück, schreiben Sie nur immer darauf zu Schauspiele, die Leute, die im Krieg nicht todtgeschossen werden, laufen mir am Ende doch noch in's Theater. Preußen, Russen, Oestreicher, Franzosen, Schweden, es soll mir alles gleich seyn.«

»Sie wahre Cosmopolitin!« rief der Philosoph.

»Und muß man dieß nicht seyn,« entgegnete die Dame, »bringt man es wohl weit in der Welt bei andern Grundsätzen? Ich habe das Leben von allen Seiten kennen gelernt, und finde, daß alles, das scheinbar Ungefügigste selbst, doch am Ende zu einander paßt. Grob und fein, gelehrt und ungelehrt, wild und zahm, alles hat seine Stellen, wo es sich einander nähert, eines in das andere gleichsam sich verliert; trifft man diese Stellen, so ist es eben nicht schwer, mit den Menschen auszukommen. Nur muß man überall nachgeben, im Nachgeben besteht die Kunst von unser Einem; und haben wir denn zu rechter Zeit nachgegeben, so sitzen wir doch am Ende oben drauf. Mein kleines Theater war anfangs elend genug, ich und mein alter Mann spielten alle Rollen, grausame oder verliebte, gleichviel; da galt eh zu schmeicheln, den schlechten Poeten ihre Verse abzulocken, deren Freunde und Gevattern Freibillets zu geben, vornehmer Herren Diener unentgeldlich einzulassen, Klatscher anzustellen, und was es dergleichen Mittelchen der edlen Kunst unter die Arme zu greifen, mehr gibt. Es ging, und muß überall gehen. Die Zahl meiner Getreuen wuchs, ich konnte meinen nackten Helden Kleider kaufen und Stücke schreiben lassen, bis ich's denn nun so weit gebracht, die Werke eines so großen Poeten, wie Herr Lessing ist, in der herrlichen Stadt Berlin, vor dem ganzen Adel und den Herren Offizieren, selbst vor dem Könige, spielen zu lassen.«

»Ja, ja,« rief Mylius, »Sie sind eine gewandte Frau, Madame Golzig.«

»Es könnten schon manche Leute von mir lernen,« bemerkte die Gelobte mit einem Seitenblick auf den Dichter. »Doch wir sprechen hier in kühler Zugluft; kommt herein, ihr Herren, und nehmt mit einem Glas Punsch vorlieb, so gut sich's eben findet, wir wollen dann weiter über dieses Thema sprechen.« Sie nöthigte den zaghaften neugeworbenen Liebhaber, den andern nachzugehen. Als man in die Stube eintrat, zeigten sich am Fenster sitzend zwei junge Schönen mit Taschentüchern an den Augen, wie es schien, in Thränen zerfließend. Ein paar andere Mädchen hatten am Tische Platz genommen, zwischen ihnen eine Schaale mit dem beliebten Getränk. Ein gutmüthiger freundlicher Mann, der die alten Rollen spielte, verwaltete hier das Geschäft, die leeren Gläser wieder zu füllen. Frau Golzig trat zu den Trauernden, indem sie sprach: »Nun, seyd nur guter Dinge, hier bringe ich euch einen neuen Liebhaber! Jener kriegerische Taugenichts hätte doch über kurz oder lang sowohl euch als mein Theater im Stich gelassen.«

Ein paar Offiziere kamen jetzt eilig herein. Sie brachten Nachrichten aus Sachsen und vom Kriegsheer mit; alle drängten sich neugierig um sie.

»Es ist richtig,« rief der erste, ein hübscher Blondkopf, noch fast athemlos, »der Kampf geht los. Oestreich und die übrigen Länder mögen nur ihr Testament machen, ihre Herrscher haben lange genug das Scepter geführt.«

»Erzählt, gnädiger Herr!« rief Frau Golzig, »doch seyd vorher so gütig und nehmt Platz; auch ein Glas Punsch müßt Ihr nicht verschmähen.«

Der junge Mann stürzte ein volles Glas hinunter, und fuhr dann in seiner Rede fort: »Es sind die merkwürdigsten Manifeste und Erklärungen in diesen Tagen hervorgekommen; so viel ich deren gelesen, so handeln sie alle davon, den Einbruch unsers Königs in Sachsen zu rechtfertigen, und in der That kann man nun auf das überzeugendste lesen, wie wir allein nur Recht, und die andern alle Unrecht haben.«

»Die Einschließung des sächsischen Lagers in Pirna und die gewaltsame Besitznahme des Archivs erregen die meiste Verwunderung und Bewegung,« setzte der andere Offizier hinzu.

»Und mit Recht,« bemerkte sein Gefährte eifrig, »es sind wahre Heldenthaten, unsterbliche Unternehmungen. Es wird jetzt ein Festspiel geben, die drei größten Reiche Europa's gegen unser kleines Land bewaffnet zu sehen.«

»Gott stehe dem König bei,« rief die Prinzipalin, und leerte ihr Glas.

Der Marquis trat nun auch herein. Er bestätigte jene Nachrichten, und fing an, da er gekommen war, um Abschied zu nehmen, kleine Geschenke unter die Theaterschönen zu vertheilen, Die beiden verlassenen Liebhaberinnen wurden hierbei am reichsten bedacht. Ihr Kummer und ihre böse Laune schwanden zusehends. Die Offiziere ließen nach alter Gewohnheit ein gutes Abendessen mit Wein kommen, und so war denn trotz der schlimmen Nachrichten bald wieder die ausgelassenste muntre Laune in den schon ziemlich eingeschmolzenen Kreis eingeführt. Lessing erkundigte sich nach Sabinen, und erfuhr, daß sie seit ein paar Tagen unwohl sey, und das Zimmer hüten müsse. Er entschloß sich, sie vor seiner Abreise noch aufzusuchen, und stahl sich mit diesem Vorsatze aus der Gesellschaft fort, in der sein Freund Mylius zurückblieb.

An einem besonders schönen und heitern Tage verließ der Edelmann, in Gesellschaft unsers Dichters und des Knaben, die Residenz. Christian hatte die Erlaubniß erhalten, mitzufahren; man wollte ihn auf dem Schlosse jener Verwandten zurücklassen, denn es war in diesen Tagen die Nachricht eingelaufen, daß Clarissa sich daselbst befinde. Lessing erfuhr jetzt, daß die dort wohnende ältliche Dame zugleich dem gräflichen Hause verwandt war, ja es schien, daß der Edelmann durch sie mit den letzten Vorfällen und Ereignissen schon ziemlich vertraut geworden.

Die Reise ging ziemlich schnell von statten, so lange man auf preußischem Boden sich befand; es zeigten sich Schwierigkeiten, als die sächsische Grenze überschritten war. Die Landstraßen in Sachsen waren nicht selten durch Truppenmärsche versperrt; kriegerische Anordnungen aller Art zeigten sich immer häufiger, und je mehr man sich der Hauptstadt Dresden näherte, desto mannigfaltiger und bewegter gestaltete sich das Gemälde. Die Dörfer und kleinen Ortschaften, durch die die Reisenden kamen, waren mit Soldaten gefüllt; in den Wirthshäusern, an den Tischen hörte man nur von den zu erwartenden Händeln sprechen. Offiziere von höherem und niederem Rang, eben so unterschieden durch Alter wie durch Bildung, zum Theil aus entfernteren Provinzen herbeigerufen, versammelten sich in den ersten Privathäusern; man schrie und lärmte: die wundersamsten Gerüchte wurden erzählt, und fanden Glauben. Jedermann, der Besitzungen in Sachsen, Schlesien oder Böhmen hatte, mußte für sie fürchten, denn es wurde von unerhörten Brandschatzungen, Plünderungen und allen Gräueln des wildesten Krieges, die zu erwarten ständen, gesprochen.

Der Edelmann, der hie und da zu Gast geladen, nicht umhin konnte, an diesen Gesprächen Theil zu nehmen, verlor, so sehr er es seinem Gefährten zu verheimlichen strebte, zusehends seine frühere Unbefangenheit. Ihm war, vor nicht langer Zeit, ein ansehnliches Landgut an der schlesischen Grenze durch Erbschaft zugefallen; dieser Besitz machte ihm jetzt Sorge. Von allen Seiten empfing er den Rath, die Reise aufzugeben, jetzt, da er ihre Vortheile doch nicht mit Muse werde genießen können, um sich nachdrücklich seines gefährdeten Eigenthums anzunehmen. Der bedrängte Mann entschloß sich endlich, den Rath seiner Verwandten hierüber einzuholen, um nach ihrem Benehmen dann das seinige einzurichten.

Die Reise wurde indeß immer langsamer fortgesetzt; man ließ Dresden links liegen, und erreichte am Abend eines durch allerlei störende und hindernde Ereignisse beschwerlichen Tages endlich das alterthümliche Schloß, in dem die Baronin wohnte. Es lag, von einem Wäldchen geschützt, nur wenig entfernt von einem hübschen Dörfchen, durch das die Landstraße führte. Die Reisenden waren nicht wenig erfreut, das vorläufige erste Ziel ihrer Wanderschaft erreicht zu haben. Wie klopfte Lessings Herz, als er die Mauern erblickte, welche die Geliebte umschlossen hielten. Hier sollte er sie nun wiedersehen, in einem fremden Lande, unter fremder Umgebung, und wie durfte er sich Leopoldinen denken?

Bei der Ankunft im Schloß fanden die Reisenden wider Vermuthen noch manche Hindernisse zu besiegen; sie wurden mit Fragen aufgehalten, Boten wurden hin und her gesandt, und eine Menge Personen zeigten sich geschäftig, den Wagen und. seinen Inhalt auf das genaueste zu erforschen. Ein starker untersetzter Bursche, der in einer halb militärischen, halb bäurischen Kleidung steckte, suchte so gut es gehen wollte, Plan und Ordnung in seine verdrießlichen Untersuchungen zu bringen. Nebenbei gab er sich die Miene eines Mannes, von dessen Sorgfalt das Wohl des Landes in so bedrängten Zeiten abhing.

Des Edelmannes Geduld, durch diese Zufälle schon bedeutend angegriffen, wurde vollends erschöpft, als er bemerken mußte, daß seine Verwandte, mit den Vorsichtsmaßregeln nicht zufrieden, sich in das Innere ihres Schlosses, gleichsam wie hinter die Mauern eines belagerten Kastells, zurückgezogen hatte. Der große weitläufige Bau schien völlig leer und ausgestorben. Die Ankömmlinge mußten durch dunkle Hofe, durch spärlich erleuchtete Gänge und über finstere enge Treppen stolpern, ehe sie in Gemächer gelangten, die das Ansehen von bewohnten Räumen hatten. Die wenige Dienerschaft zeigte sich jetzt, und wurde vom Edelmann mit finsterm Gesichte und von Christian mit Flüchen empfangen. Es wurde mehr Licht geschafft, man trat in immer wohnlichere Gemächer ein, und zuletzt öffnete sich ein großer ziemlich freundlicher Saal, dessen Wände rings eine ansehnliche Gallerie von Ahnenbildern zierte. Hier beschloß man einstweilen zu bleiben. Der Edelmann, der seiner Verwandten noch seine Aufwartung machen durfte, wurde zu dieser geführt, und Lessing blieb allein. Nicht lange, so vernahm er Christians Stimme, die rief:

»Bei allen Teufeln der Holle, so ist der verdammte lachende Pavian auch hier zu treffen!« Der Jüngling öffnete die Thüre, und der erhitzte Alte stolperte, mit ein paar Mantelsäcken beladen, keuchend herein. »Ganz zum Rasendwerden!« entgegnete er auf Lessings Fragen, »das perfide Antlitz ist auch hier zu Hause. Die Prügel, die ich ihm zwischen Berlin und Potsdam brühwarm aufgezählt, können noch nicht kalt geworden seyn, so kommt er mir schon wieder vor die Fäuste.«

»Von wem sprichst Du, Christian?«

»Von wem anders,« tobte der Gefragte, »als von jenem Heuchler und Pharisäer, von dem Zopfträger, dem Leinweber Maths, von demselben, der unsere schöne Gefangene dem Grafen verrathen hat. Die blasse Unke steckt nun auch hier. Beim Herausgehen, als ich durch die dunkeln Maulwurfsgänge dieses alten Nestes stolpere, fühle ich, daß etwas Langsames, Schleichendes sich neben mir durchzuschroten versucht, sogleich tappe ich hin, und bekomme auch auf den ersten Griff eine dünne Kehle zu fassen, die ich frisch zuschnüre. Da lacht und schmunzelt, wispert und greint es, und ich erkenne nun, daß der Sectirer in meiner Mache sich befindet. Flugs zähle ich ihm einige Stöße auf, und frage dabei, was mir die Ehre und das Vergnügen verschaffe. Da lächelt das Stück Narrheit, daß ich's in der Dunkelheit zu sehen glaubte, und sagte: Ich bin hier, um die Hochzeit der gnädigsten Gräfin mitfeyern zu helfen. Als ich diese Worte höre, erhält das Mondkalb sogleich noch manchen herzhaften Druck mehr. Und wen heirathet sie? frage ich so sanftmüthig, als ich nur im Stande bin. Ei, entgegnet das liebe Kind, denselben schönen Herrn, der sie, als ihr, Trefflichster, so gut Wache hieltet, über Stock und Stein entführt hat. Jetzt ging mir die Geduld aus, und meine Fäuste haben den Braunschweiger Marsch auf dem Rücken der Bestie getrommelt. Ich will hoffen, er wird daran denken, daß er mich an den miserabelsten Moment meines Lebens erinnert hat. Weiß ich doch wahrlich nicht, mit welchem Gesicht ich vor die gnädige Comtesse jetzt treten soll.«

»Mit dem langweiligen alten Gesichte, das Er bis jetzt immer gezeigt hat,« spottete eine laute Stimme, und die lustige Babet stand hinter den Sprechenden.

»Sie auch da!« brummte der Kammerdiener, »doch freilich, wenn die Ratte sich zeigt, kann die Katze auch nicht fehlen.«

Babet stieß einen Schrei aus, indem sie die Hände überm Kopf zusammenschlug. » Ciel! rief sie, »wo hat er denn seinen langen langen Zopf gelassen? Das kurze Ding da ist jo etwas janz nees.«

Christian stampfte mit dem Fuße: »Soll mich denn alles an meine schwache Stunde erinnern? Kind, rede mir nicht mehr vom Zopf, oder ich mache ihn zu einem engen Halsbande für Deine niedliche Gänsegurgel.«

»Jeeses!« rief das Mädchen, »der arme Mann ist nicht gescheit, seinen Zopf zu verlieren, das eenzige Jute, was er noch am janzen Leebe hatte.«

Christian hielt ihr den Mund fest: »Willst Du schweigen, hast Du keinen Respekt vor dem Sohn unseres Herrn Pastors hier, der jetzt ein berühmter Mann ist?«

Babet machte, unter fortwährendem Lachen, eine zierliche Verbeugung nach der andern: » Monsieur, votre très-humble servante

»Daß doch irgend ein mitleidiger Kosack das verdammte Mädel auf seiner Pike in die andere Welt spedirte,« schwatzte Christian weiter. »Rede, sag' ich Dir, was ist's mit dem verwünschten Schlosse hier, wer ist der Mann unserer Gräfin?«

»O Jott,« entgegnete Babet, »so weit sind wir noch jar nicht; die liebe Comteß Polly ist noch immer dasselbe, was sie in der jettlichen Stadt Berlin war. Erst muß der König seine Permission zu der Mariage geben, und man wees nicht, ob er das thun wird.«

»Weißt Du was, Babet, ich habe eine treffliche Mariage für Dich: einen Leinweber, mit Namen Maths; Donner und Wetter, das gäb' ein Pärchen.«

Das Kammermädchen machte ein ernstes Gesicht. »Spotte Er nicht über den Maths,« rief sie, »wenn er es mit der Herrschaft nicht janz verderben will. Es gibt keenen Menschen, der bei der Comteß Clarissa so in Gnaden stände.«

»Das ist nun ganz zum Davonlaufen!« lärmte Christian. »Räthsel über Räthsel; wozu hätte ich denn den Elenden dreimal, viermal abgeprügelt?«

Der Diskurs wurde unterbrochen durch den Edelmann, der hereintrat, und von seiner Verwandten dem Dichter eine Einladung brachte, sich bei ihr einzufinden. Mit fast schüchterner Erwartung folgte Lessing. Auf dem Wege nach den Gemächern der Damen sagte der Edelmann zu seinem Begleiter: »Sie werden, mein Freund, jetzt ein junges liebenswürdiges Brautpaar sehen, das unter dem Schutz meiner Muhme sich hier aufhält.«

Die Thüren öffneten sich, und die Baronesse, eine ältliche würdevolle Dame, empfing ihre Gäste in einem mit allen Bequemlichkeiten und kostbarem Schmuck verzierten kleinen Salon. Nach den ersten Begrüßungen rauschte der Thürvorhang zur Seite auf, und Leopoldine hüpfte herein, an ihrer Hand führte sie einen jungen schönen Mann in Uniform nach sich. Lessing erkannte den Pagen; er war voller und bedeutender geworden, die reiche Kleidung hob die jugendliche Gestalt auf das günstigste hervor, lebhafte Röthe färbte die Wangen, und die muntern dunkeln Augen glänzten Freude und Zärtlichkeit. Er näherte sich dem jungen Dichter eben so herzlich als freudig überrascht.

Es erfolgten jetzt mancherlei Fragen und Erörterungen. Leopoldine schmollte noch etwas mit ihrem Gefangenwärter, wie sie ihn nannte, dann aber ließ sie sich bewegen, seine Entschuldigungen gütig anzuhören, und zuletzt reichte sie ihre kleine Hand dem Jünglinge hin, der sie wiederholt an seine Lippen drückte. Der Edelmann und die Baronesse weideten ihre Blicke an der lieblichen Gruppe, die die drei schönen jugendlichen Gestalten zusammen bildeten; allein unser Dichter vermißte die Hauptperson.

Auf seine Frage erwiderte Leopoldine: »Clarissa läßt sich entschuldigen, zu ihren despotischen Einfällen, die sie mit so viel Anmuth und Liebenswürdigkeit über ihre Umgebung zu verhängen pflegt, gehört nun auch der, daß sie jetzt krank ist; doch für Sie, Herr Lessing, wird sie immer morgen noch ein freies Stündchen haben.«

Sie wandte sich zur Baronesse und setzte mit einem schalkhaften Seitenblick hinzu: »Nicht wahr, wenn diese beiden ernsten Herrschaften wieder zusammen sind, wird es von neuem über mich hergehen. Ich kann nun einmal diesen Tugendhelden nichts recht machen, und ich will es in der That auch nicht. Denn sagen Sie selbst, ma tante, was spielen doch die Tadler, wenn sie nichts mehr zu tadeln finden, für eine klägliche Rolle.«

Sie duldete hier den Kuß des jugendlichen Geliebten, und auf einen Moment schwand jetzt der Zug von boshaftem Muthwillen, der um die reizende Wange und die frischen Lippen spielte. Sie eilte zur Thüre hin, und zog mit Gewalt den alten Christian, der dort lauschte, hervor, indem sie ihm auf die anmuthigste Weise freundlich that, so daß der gute Alte, der sich auf Vorwürfe und Zorn gefaßt gemacht hatte, nicht wußte, wie er sich vor Rührung und Ergebenheit gebehrden sollte.

»Nicht böse seyn,« rief sie, »nicht böse seyn, Alterchen! Ich habe Ihm wohl den Kopf gewaschen, nicht wahr, recht ordentlich? und seiner alten Belle auch; aber ihr waret auch gar zu garstige Karrikaturen, Er mit seinen Redensarten, und sie mit ihrem Kattunleibchen. Ich hätte euch ganz gut vergiften mögen.«

»Thut es nur noch,« entgegnete er, indem die hellen Thränen über die gefurchten Wangen liefen, »es ist ja doch Zeit, daß ich einmal abmarschiere, und ich will es lieber jetzt thun, da ich die Ueberzeugung von Eurem Glück, gnädigste Gräfin, mit in's Grab nehme.«

»Immer galant,« rief Polly, »immer ganz Grenadier und Soldat!« Sie ließ ihn sich völlig aussprechen, sagte ihm noch einiges Freundliche, und hüpfte dann zu ihrem Geliebten zurück. Der junge Graf erhielt den Auftrag, den Dichter als den ihm besonders zugetheilten Gast bei sich aufzunehmen, und so schieden die beiden jungen Männer, indem sie dadurch das Zeichen zum allgemeinen Aufbruche der kleinen Gesellschaft gaben. Der Edelmann schied von seiner Muhme mit dem Versprechen, sich bei guter Stunde morgen wieder einzufinden, wo dann die beiden Theilen so nahe angehenden Güterangelegenheiten auf das umständlichste besprochen werden sollten.

Lessingen erwartete ein viel anziehenderer Gegenstand der Unterhaltung. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Ungeduld zu bemeistern, bis die Stunde erschien, wo die Sitte den Besuch gestattete. Er fand seine schöne und edle Freundin krank im Lehnsessel; ihr Antlitz hielt eine ungewöhnliche Blässe umzogen, der Blick des klaren Auges war getrübt, die reizende Gestalt nicht wie sonst stolz und aufgerichtet, doch die reinste Güte, die rührendste Sanftmuth sprach aus ihren Zügen; sie bemerkte den Eindruck, den ihr verändertes Wesen auf den jungen Mann machte, trotz dessen Bestrebungen, ihn ihr zu verbergen. Gütig reichte sie ihm die Hand, und bat ihn, neben ihr Platz zu nehmen.

»Wir sollten,« nahm die zarte Erscheinung das Wort, »unser Leben nicht nach Jahren, sondern nach den Schmerzen und Genüssen zählen, die uns zu Theil geworden: es fände sich wohl dann, daß eine Stunde uns älter macht, als ein ganzes Jahr, eine Minute uns oft um eben so viel wieder verjüngt. Ihr Auge, mein Freund, weilt mit Theilnahme, mit Besorgniß auf mir; Sie finden mich wohl verändert, und ich will Ihnen nicht bergen, daß mir Kämpfe geworden sind, die zu bestehen ich mehr Kräfte anwenden mußte, als zu besitzen ich mir anfangs bewußt war. Doch der Wille wächst mit den Hindernissen, die sich ihm entgegensetzen: wie vermöchten wir denn überhaupt ohne ihn, wir schwachen Geschöpfe, mit den schwachen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, nur irgend etwas Bestimmtes und Entschiedenes auszuführen. Allein nichts von allem dem! Es ist überstanden, ich habe mein Ziel erreicht; die Ehre meiner Familie ist gerettet, das Glück meiner Schwester gesichert, und mir wird das Bewußtseyn, im Sinne meiner guten edlen Mutter gehandelt zu haben. Die Pflicht, die mir Ihnen gegenüber jetzt obliegt, ist nicht zu rechtfertigen, rücksichtlich des plötzlichen Verschwindens Leopoldinens, welches, wie Sie jetzt selbst errathen werden, gewissermaßen auch mein Werk ist. Nicht Mißtrauen in Ihre Vorsorge und Wachsamkeit, mein treuer Freund, sondern lediglich ein neues drohendes Mißgeschick veranlaßte mich, die Gefangene ihrem Schutze wieder zu entziehen. Hören Sie mich ruhig an. So sehr sich meinen Beschlüssen der Eigenwille und die Leidenschaft des jungen Prinzen entgegensetzte, so wußte ich doch, daß mir freier Spielraum blieb, so lange Leopoldinens Aufenthalt ein Geheimniß ihm sowohl, als seinen Verbündeten war. Ich trotzte auf diese Sicherheit und bedachte nicht, daß mir ein schlimmer Feind zurückgeblieben war, der gegen meine inständigen Bitten und Vorstellungen die Angelegenheiten meiner Gegner begünstigen half. Dieser Feind war jener Graf Felix, von dem Sie wohl schon gehört haben, ein früherer Jugendgespiele vom Erbprinzen; er und eine entferntere Verwandte des fürstlichen Hauses gaben sich nun alle erdenkliche Mühe, meiner Schwester Aufenthaltsort zu entdecken. Es gelang ihnen nach einiger Zeit mit Hülfe eines erkauften Spähers, der Niemand anders war, als einer von jenen Sektirern, die sich in der Gegend unseres Schlosses niedergelassen haben und für kluge und arbeitsame Leute gelten. Ich hatte diesem Menschen, der seinem Gewerbe nach ein Leinweber ist, früher, wo er elend und höchst bedürftig war, einiges Almosen zukommen lassen, und siehe da, diese magere Saat war bestimmt, mir die reichsten und herrlichsten Früchte zu tragen. Dankbar erinnerte er sich meiner, und als er nun einsieht, daß der Dienst, den er jenem Herrn leisten wolle, ein Dienst gegen mich sey, so beschließt die treue Seele im Geheim, mich von Allem in Kenntniß zu setzen. Um Leopoldinens Schicksal wußte indeß noch Jemand, der, wie sich jetzt erwiesen, wohl das größte Recht hatte, in meine Plane mit eingeweiht zu werden. Es ist dieses der junge Mann, den Sie gestern gesehen haben. Seine Leidenschaft für meine Schwester kannte ich wohl, doch möchte ich sie nicht begünstigen, einestheils weil beide, er sowohl als sie, mir noch zu jung schienen, anderntheils, weil junge Officiere nur schwer von ihren Obern die Erlaubniß sich zu vermählen erhalten. Diese Gründe wurden doch jetzt durch den Drang der Umstände plötzlich beseitigt. Der junge Graf theilte mir jene Geständnisse des redlichen Sectirers mit; er verband seine glühenden Wünsche mit der Aussicht auf das unabwendbare drohende Mißgeschick, und Sie können sich denken, mein Freund, daß hier mein Entschluß nicht einen Moment wankte. Meine Antwort gab dem Glücklichen meine volle Einwilligung, ich legte das Glück meiner Leopoldine in seine Hand, und indem ich die Verlassene als seine künftige Gattin ihm zuführte, rief ich zugleich die Ehre und den Muth eines jungen, kühnen und edlen Herzens wach, sein erworbenes Eigenthum auf alle Weise zu schützen. Er hat meine Zuversicht nicht getäuscht; allen Gefahren trotzend, hat er sie mir sicher hieher geführt und erwartet nun die Stunde, wo es mir vergönnt seyn wird, die Liebenden in den vollen Besitz ihres Glückes zu setzen. Ich sage die Liebenden, und es scheint, daß ich vielleicht etwas zu voreilig Leopoldinens Herz und Neigung verschenkt habe. Doch ich kenne meine Schwester, ja ich kenne die meisten jungen Mädchen unserer Zeit, deren Glück eigentlich darin besteht, daß sowohl Liebe als Haß nie bei ihnen zum Bewußtseyn gelangen, und daß sie sich dann in ihrer Unbefangenheit heute zu Diesem, morgen zu Jenem überreden lassen. Der junge Graf ist ein schöner Jüngling, seine noch etwas blöde Ergebenheit schmeichelt sich desto tiefer in ein weibliches Herz, je mehr Muth, Entschlossenheit und Keckheit auf der andern Seite jene Eigenschaften unterstützen. Dabei ist er von untadelhafter Abkunft, Herr eines ansehnlichen Vermögens, und was mir über Alles gilt, in dieser verderbten Zeit ein reiner Charakter.«

So sehr unsern Freund diese Mittheilungen beschäftigten, so mußte er doch für die Sprechende fürchten. Er suchte darum ihre Aufmerksamkeit von jenen sie näher angehenden Betrachtungen zu entfernen, und brachte darum das Gespräch wieder auf den Antheil, den der Sectirer bei der Rettung des Fräuleins gehabt. Er klagte hiebei sich selbst und seinen Mangel an Wachsamkeit an. »Doch,« setzte er hinzu, »wer hätte auch jenem halb thörichten Manne dieses planmäßige und durchdachte Handeln zugetraut.«

»Mich selbst,« entgegnete die Gräfin, »hat es überrascht. Ein Beweis ist mir diese Erfahrung, wie oft wir uns in Beurtheilung der Menschen täuschen. Wie klug und besonnen hat er das Werk begonnen und durchgeführt, wie richtig setzte er voraus, daß es nur dann gelingen könne, wenn er sich des vollen Vertrauens beider Theile versichert haben würde. Unsere sowohl als des Grafen Belohnungen hat der seltsame Mann hartnäckig ausgeschlagen; in meinen Diensten will er bleiben, doch nur unter der Bedingung, daß ich ihn wieder frei gehen lasse, wenn und wohin es ihm gefällt.«

Das fortgesetzte Sprechen hatte die Kranke ermüdet. Die Blässe ihrer Wangen nahm einen noch gefährlichern Charakter an: sie mußte die Schläfen mit starkem Wasser reiben, und während ihr Freund sie mit den schmerzlichsten und aufmerksamsten Blicken beobachtete, lehnte sie in die Polster ihres Stuhles zurück, und lag eine kurze Weile mit geschlossenen Augen da. Der Arzt trat leise in's Gemach, Leopoldinen folgte ihm, und zog Lessingen mit sich fort.

»Ich darf,« sagte sie in ihrer muthwilligen Laune, »mit meinem ganz jungen Bräutigam nicht so lange allein seyn. Er hat schon seit einer Stunde, während die gute Tante nach Genuß ihrer Morgenpastetchen eingeschlummert ist, mir tausend alberne und verliebte Dinge gesagt. Kommen Sie, durch Ihr ernsthaftes Gesicht und Ihre wohlgepuderte Perücke müssen Sie ihn in den geziemenden Schranken halten. Zugleich bekommt die gute Clarissa Zeit über neues Unheil zu brüten, das sie mir und meinen Vertrauten gelegenheitlich dann zufügen kann.«

Der Dichter ließ sich von der Braut ins Gesellschaftszimmer führen; hier war so eben die Bonne angelangt, und beide alte Damen begrüßten sich auf das förmlichste, indem sie gleich nach den ersten Grüßen sich einander aus den kleinen Porcellan-Möpschen Tabak anboten. Der Page lag an einem Tischchen nachläßig hingelehnt beim Schachspiel. Er sprang jetzt auf und erkundigte sich nach Clarissens Befinden, und ob er ihr die Hand küssen dürfe.

»Nein,« erwiderte Leopoldine, »und soll denn durchaus alles im Hause geküßt werden? Hier ist ein Dichter, Herr Ephraim Lessing, dem können Sie Ihre Zärtlichkeit und Ehrfurcht bezeugen, denn er ist ein großer Mann. Ohne daß er gütig ein Auge zugedrückt, wären Sie nie zu meinem Besitz gelangt.«

Sie scherzte noch eine Welle so fort, und während die Freunde ein Gespräch anknüpften, fiel sie über die alten Frauen her, und hetzte in ihrem Muthwillen beide auf das anmuthigste aneinander.

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Indeß die Liebenden auf günstige Nachrichten, der Edelmann und die Baronesse auf Briefe vom Verwalter ihrer Güter warteten, Clarissa vom Arzt im einsamen Zimmer zurückgehalten wurde, fand unser Dichter genügend Zeit, sich mit der Gegend umher bekannt zu machen. Sein Trieb zu Spaziergängen war ihm hier nicht wenig förderlich. Sein liebster Ausflug war in das nahe Dörfchen, das trotz der späten Jahreszeit sich noch mit manchem gefälligen Reiz geschmückt zeigte, und in dessen wenigen Gassen ein stets wechselndes Treiben die Nähe größerer Städte und Ortschaften bezeichnete.

Besonders fehlte es dem vortheilhaft gelegenen einzigen Wirthshause nie an Gästen, die zu jeder Stunde mit großem Gefolge lärmend ein- und auszogen, und den wohlbeleibten Wirth in steter Regsamkeit hielten. Lessing war seit einigen Tagen in die Zahl der regelmäßig wiederkehrenden Besucher eingetreten, und genoß darum die Ehre, einen vortheilhaften Platz am obern Theile der besetzten Wirthstafel zu erhalten, von welchem Standpunkt aus er auf seine Weise die immer wechselnde Gesellschaft beobachtete. Gemeiniglich bestand diese in Soldaten, selten zeigten sich niedere Beamte oder reiche Bauern der Gegend. Manche ruhige Gäste, die Jahrelang ihr bescheidenes Plätzchen am Tische behauptet hatten, blieben in diesen stürmischen Zeiten ganz fort. Zu diesen gehörten vor allen Dingen die guten Patrioten, die es nicht über sich gewinnen konnten, den harten Reden über ihr Vaterland und ihren Fürsten, aus dem Munde der ihnen aufgedrungenen Gäste ruhig anzuhören.

Der gefällige Wirth suchte hier den Vermittler zu spielen, doch freilich mit entschiedenem Unglück. Er war von Geburt selbst ein Preuße, hatte jedoch in Sachsen Brod und Verdienst gefunden, und hielt es deßhalb für seine Pflicht, zu Gunsten beider Länder, wenn sich ein Streit erhob, auf ungeschickte Weise, ein vermittelndes Wörtlein einzulegen; konnte es aber unvermerkt geschehen, so erzeigte er seinen Landsleuten alles nur mögliche Gute, die es ihm jedoch eben so wenig dankten.

Unter den immer wiederkehrenden Gästen bemerkte Lessing einen alten Stelzfuß, der seinen Ehrenplatz am Ofen hatte, selten sich ins Gespräch mischte, wenn es aber geschah, stets mit einer gewissen Ehrfurcht von den lärmenden Soldaten angehört wurde.

Nach einigen Abenden, wo mehr Ruhe geherrscht hatte, wurden die Debatten wiederum auf's lebhafteste angeregt, durch das Gerücht von einem neu errichteten Freicorps, das sich in großer Schnelligkeit gebildet hatte, und unter einem unternehmenden Anführer meistens aus Leuten bestand, die nicht zu Soldaten erzogen, sich durch den allgemein hinvertheilten Eifer, und durch die Begeisterung für den Krieg verleitet, in Eile zusammengefunden. Die wohldisciplinirten Soldaten spotteten jener Neulinge, bei denen der Enthusiasmus die fehlenden Formen ersetzen sollte. Man erwartete eine Anzahl Mitglieder dieses Corps am folgenden Tage auf dem Durchmarsch im Dorfe zu sehen; sie sollten dem Könige vorgeführt werden, und die Spötter weissagten ihnen den übelsten Empfang. Der Wirth, der einen Neffen, einen ausgelassenen Burschen, mit darunter hatte, hörte die Lästerzungen anfangs geduldig an, dann glaubte er aber auf die Seite der Verspotteten treten zu müssen, und brachte nun Entschuldigungen und Lobsprüche auf, die ein unmäßiges Gelächter verursachten.

»Es fehlte nur noch, Herr Wirth, »rief ein sächsischer Unteroffizier, »daß sie Euch unter die Helden aufnähmen. Wahrlich, das Bandelier über Euer gesegnetes Bäuchelchen müßte sich trefflich ausnehmen.«

»Wenigstens,« entgegnete der Angegriffene, »werde ich dem Feinde nicht Gelegenheit geben, zu erforschen, ob es eben so gut hinten als vornen mich kleidet. Wohl dem, der, so bunt es auch herging, nie dem Gegner den Rücken zeigt, der Ehrenmann mag nun Soldat oder Fürst seyn, gleichviel.«

Der Sachse fühlte gar wohl das Anzügliche, das in diesen Worten lag, er versteckte jedoch seinen Aerger hinter ein schallendes Gelächter. Die Spöttereien über das Freicorps gingen ihren Gang fort; endlich erhob sich der Alte hinterm Ofen, und auf dieses Zeichen seiner Theilnahme am Gespräch ward es augenblicklich still im Kreise.

»Ist denn mehr nöthig,« rief er, »als daß sie Preußen sind. Ein jeder Bursche von ihnen, wenn er es noch nicht gefühlt hat, wird es jetzt fühlen, daß ein Gott, ein König, ein Vaterland uns alle zusammenhält.«

»Bravo!« schrie ein alter preußischer Corporal, »das ist ja auch die ganze Hexerei. Wer die drei Dinge nicht auf dem Papier, nicht in alten Dokumenten oder Gebetbüchern, sondern im Herzen und Gewissen beisammen hat, der ist die eigentliche glückselige Creatur. Eine jede der andern Nationen hat jene Dinge einzeln, oder nur Stück von den Stücken. Bei vielen ist der König in tausend Stücke zerbrochen, und so ein einzelnes Stückchen heißen sie dann Churfürst, Herzog, Landgraf, oder wie so ein zerbrochener Königsscherben sonst heißen mag. In andern Ländern ist wieder der Gott in viele tausend Heilige zersprungen, und was das Vaterland betrifft, so können die meisten es nur auf der Charte finden, wo es denn auch in tausend kleine bunte, gelbe, grüne, rothe Stücke jämmerlich zerbrochen daliegt. Wir aber haben alle jene Stücke in einem tüchtigen vollständigen Ganzen beisammen, und folglich sind wir besser als alle andere Völker, sie mögen heißen wie sie wollen.«

Der Sachse hörte diese Rede mit lauernden Blicken an, und als sie geendigt war, der Wirth sowohl als die andern Landsleute des Sprechers ihm ihren Beifall schenkten, murrte er vor sich hin: »Wartet nur, man wird euch schon in Stücke schlagen, daß es eine Lust seyn soll.«

Der Preuße, der diese Worte nicht hörte, und nur die unwillige Miene sah, bot lächelnd seine Hand dem Unteroffizier hin.

»Nicht übelgenommen Kamerad,« rief das narbige freundliche Gesicht, »zwischen Wirth und Gast soll immerdar Politeß herrschen. Schickt doch unser gnädiger Herr selbst nach Pirna, um sich nach dem Befinden von Dero Hoheiten zu erkundigen, obgleich er wohl vermuthen kann, daß sich Hochdieselben verzweifelt schlecht befinden. So laßt auch uns mit einander leben; bedenkt doch, zum Teufel, daß Ihr bei allen unsern Spässen, den jetzigen und den noch kommenden, hübsch neutral bleiben müßt.«

Der Sachse reichte zögernd seine Hand hin.

»Nur zu,« rief ein junger Preuße, »gebt nur gutwillig die Hand, denn sonst haben wir Mittel, sie zu nehmen.«

Alles lachte, und der Sachse stimmte in diese frohe Laune, wiewohl nur gezwungen, ein. »Was kümmert uns,« rief er nach einer Pause, »ob die schlesischen Leinwandballen künftig mit einem preußischen oder österreichischen Stempel verschickt werden, ob sich die Herrn Minister mit ihren betreßten Röcken am Hofe der Kaiserin-Königin unter einander herumbalgen, ob in Paris in der Oper preußische oder österreichische Bärenmützen tanzen, und vollends wie in Petersburg die Wettergläser stehen; wir sind ruhige friedfertige Leute, arbeitsam und fromm, uns soll man nur ungeschoren lassen.«

»Das wird man auch,« rief der Corporal, »fahrt nur immer fort, eure Porzellanpüppchen zu drechseln. Die kleinen Dinger sehen so glatt und appetitlich aus, und die Pagoden sagen zu allem ja! ja! just wie eure Minister.«

»Macht nur nicht,« entgegnete der Verspottete, nachdem er das unmäßige Gelächter hatte austoben lassen, »daß sie endlich die Köpfe schütteln, sie verstehen auch das.«

»Oho! dann hauen wir die ganze gläserne Garnison in Stücke,« schrie der junge preußische Soldat, »die langweilige Sippschaft hat ohnedieß lange genug auf dem Kamine gewackelt, und in Ruhe sich gespreizt.«

Auf diese Worte war ein zorniger Blick des Sachsen ganze Antwort. Er wollte sich vom Tische erheben, doch der Wirth, der einen ernsthaften Streit voraussah, war schnell bei der Hand, eine Versöhnung und Ausgleichung zu Stande zu bringen.

»Nein, nein,« rief er, »man zerschlägt nicht das Hausgeräthe seines Wirths, zum Dank für dessen gute Bewirthung. Besonders wird Niemand jene artigen kleinen Figuren verderben wollen, die in der That nirgends so zierlich als in unserm Meissen gemacht werden. Ich selbst besitze eine kleine Sammlung solcher Püppchen.«

Er brachte nun schnell seinen Reichthum hervor, stellte sie auf dem Tisch auf, und die Soldaten nahmen sogleich einzelne in die Hand, indem sie mit aufmerksamen und lächelnden Blicken die kleinen, weißen, glatten und bemalten Leiber durch ihre schmutzigen Finger gleiten ließen.

Der Corporal griff nach dem Püppchen des Königs von Polen. Nachdem er es hin und her gedreht hatte, rief er: »Was hat der Kerl denn für ein rothes Ordensband am Halse?«

»Es ist kein Ordensband,« entgegnete der Wirth, »der Kopf war dem Dingelchen abgebrochen, und da hat meine Christel ihn mit Siegellack wieder aufgepflanzt.«

Es wurde gelacht, und der Corporal rief: »Trefflich, der Herr hat seinen Kopf verloren, und da muß nun ein französisches rothes Bändchen es wieder zusammenhalten helfen.«

Der junge Soldat griff nach einem weiblichen Figürchen.

»Das ist die Marquise von Pompadour,« erklärte der Wirth.

»Pfui Teufel!« rief jener, und ließ die Puppe auf den Tisch fallen, »fast hätte ich an der Metze die Finger besudelt.«

Ein Bauerbursche nahm sie und betrachtete sie wohlgefällig. »Ist doch ein Blitzmensch,« bemerkte er, »was sie für rothe Backen und stattliche Brüste hat.«

»Recht, mein Sohn,« rief der Sachse, »lobe nur, was zu loben ist; es ist verteufelt leicht tadeln, wenn man's nicht besser zu machen versteht.«

Der Alte vom Ofen hatte sich herbeigemacht, und langte mit zitternder Hand nach dem Püppchen, das den König Friedrich vorstellte, in noch jugendlichem Alter. Er brachte es verstohlen an seine Lippen, und sprach dann, indem er die Figur vor sich hinstellte:

»Ja, ja, so stand er, so sah ich ihn stehen, als die Männer den Sarg seines Vaters vor ihn hinstellten. Da blickten ihn die ergrauten Krieger an, gleichsam mitleidig, wie man ein Mägdlein ansieht, das bereit ist, allein und ohne Hüter in die weite Welt zu gehen, und mancher dachte: ja, geh nur, Prinzlein, bist jetzt König, aber es wird dir sauer werden, die schwere prächtige Krone zu tragen, nachdem der da im Grab sie niedergelegt hat. Sieh' zu, Prinzlein, daß du das Werk gut hinausführest, denn Aller Augen blicken auf dich! So dachten die alten Graubärte, die um ihn standen; aber als das Prinzlein jetzt die großen hellen Augen, die wie Gottes Sterne leuchten, aufschlug, und sich umsah, da vermochte dennoch Niemand diesem Blicke zu begegnen. Auch mich traf der Strahl, und war mir, als könne ich ihn deuten, als läse ich, wie in einem prophetischen Buche, Vergangenes und Zukünftiges darin. Es war ein Blick, wie nur er, nur er ihn hat, und dieser Blick sagte uns allen, was wir wissen wollten, so deutlich, als hätten wir ein hundert Manifeste vor uns liegen.«

Während dieser Rede des Greises, die er mit bewegter Stimme vortrug, herrschte eine lautlose Stille; die glänzenden Blicke aller Landsleute waren auf seinen nur mit spärlichen Silberlocken bekleideten Scheitel gerichtet. Er küßte die Figur nochmals, und stellte sie dann wieder zu den übrigen.

Der Corporal, dem die ernste Stimmung nicht gelegen kam, rief jetzt: »Gerechtigkeit muß seyn überall, und das Gute darf nie ohne Lob ausgehen; so habt ihr Sachsen denn auch den Ruhm, die schönsten Weiber und Dirnen in eurem Ländchen großzuziehen. Das haben wir jetzt, da wir eure Gäste sind, erst recht einsehen gelernt.«

»Ja wohl,« entgegnete ein Sachse mit einem unwillkürlichen Seufzer. Der Unteroffizier sah vor sich hin und lächelte.

»Was habt Ihr denn da?« fragte der Corporal.

»I nun!« war die Antwort, »es fällt mir, da Ihr die Schönheit unserer Weiber auf's Tapet bringt, ein lustiges Geschichtchen ein, das mir irgendwo ein junger Predikant erzählte, bei Gelegenheit, als ich noch das Schusterhandwerk trieb, und mich gerade auf der Wanderung befand. Es zeigt den Grund an, weßhalb unsere Mädchen schöner sind, als die anderswo.«

»O erzählt!« rief der Wirth.

»Laßt hören,« setzte der Corporal hinzu.

Der Sachse nahm mit der ihm eigenthümlichen schlauen Miene das Wort, indem er sagte: »Jener gute Predikant sprach einmal mit mir über das Paradies, und ich gestand ihm offenherzig mein Bedauern, daß dieser berühmte Garten Gottes so spurlos verloren gegangen. Das ist nicht der Fall, entgegnete mein Freund, er ist nur getheilt worden, und man trifft in den verschiedenen Ländern noch ansehnliche Proben seiner Herrlichkeit an. Als der liebe Gott nämlich an dem großen Garten, Harmonie genannt, Mißfallen fand, und Adam die Zettelchen an den Bäumen wegen Verbot des Tabakrauchens nicht achtete, Frau Eva überdieß vom Bürgermeisterbaum die seltenen Borsdorferäpfel abknickte, da schloß er die Harmonie zu, und die ganze Anstalt vor dem Thore ging ein. Adam mußte mit Weib und Kind jetzt in die Stadt ziehen, und Niemand durfte sich Hoffnung machen, den Sommer oder Frühling den schönen Garten wieder zu sehen. Er wurde nebst Appartinenzien öffentlich untern Hammerschlag gebracht, und es fanden sich alle Völker der Erde ein, um etwas zu erstehn. Der Hispanier, mit dem dicken Faltenkragen und dem langen Zipfelbarte, bot etwas bedeutendes für den hellen blauen Himmel, erhielt ihn auch; der Schweizer kaufte die schönen hohen Felsen; den silbernen Mond und die goldene Sonne, die aber leider durch Adam sein Tabakrauchen ein wenig schwarz angelaufen waren, bekamen für ein Billiges die deutschen Herren Kalendermacher, die sie auch sogleich frisch in ihre Kalender setzten; den Burgermeisterbaum, der die Eigenschaft besaß, daß er Gutes und Böses erkennen lehrte, kauften die Advokaten, um ihn zu verbrennen, damit Niemand weiter Recht von Unrecht unterscheiden könne. Die Holländer nahmen die seltenen Blumen, den Sand aber kauften die Berliner, und bauten darin ihre schöne Stadt auf.«

Ein Gelächter erhob sich, und der Wirth rief: »Trefflich! Ihr habt gut gezielt, und gebt uns jetzt volle Ladung wieder zurück.«

Der Corporal fragte: »Nun, und wie blieb's denn mit der Schönheit der Weiber?«

»Die hat in Folgendem ihren Grund: Wie nun alles verkauft war, blieb nichts nach, als der Quell der Jugend, der sah aber so klar und jämmerlich aus, daß endlich, da Niemand ihn wollte, ein altes Mütterchen aus mitleidigem Herzen einen Groschen dafür bot, und ihn auch erhielt. Da sie aber des Wassers Kraft nicht kannte, kochte sie Abends ihre Kartoffeln damit, und schüttete endlich den Rest in die Elbe hinab. Der wundersame Quell mischte sich sofort mit den Fluthen des stolzen Stromes, und ertheilte von Stund an allen Mägdlein, die sich in ihm baden, jene liebliche Schönheit, welche wir annoch bewundern.«

Der Schwank fand Beifall, selbst der Corporal stimmte ein, und das gute Vernehmen war in allgemeiner Heiterkeit völlig wieder hergestellt. Nicht lange so ertönte Trommelschlag; die Soldaten eilten fort, die andern Gäste zerstreuten sich ebenfalls, und der Wirth brachte seine kleinen Könige und Helden wiederum in Sicherheit.

Lessing, den das Gespräch und die lebhafte Scene beschäftigt hatte, ging jetzt, da es zur Abendgesellschaft im Schlosse noch zu früh war, ein wenig vor's Dorf hinaus. Er ließ die Hauptstraße links liegen, und kam, durch's Rauschen einer nahen Mühle angezogen, an das Ufer des Baches, der seine Wellen unter überhängendem Gesträuch dahinfluthen ließ. Ein Plätzchen auf einer Bank unter einem Baume war dem Einsamen gerade gelegen; er nahm Platz, und indem er auf das nahe Geräusch, das die treibenden Mühlräder durch die Stille tönen ließen, hinlauschte, versank er in Gedanken. Die lieben Bilder der Heimath, das Andenken der verlassenen Aeltern, stieg in ihm auf, er wußte, daß sie ihn in weiter Ferne wähnten, daß ihre Gebete ihm Glück und Segen herabflehten: wie gerne wäre er sogleich zu ihnen hinüber geeilt, da er sich dem lieben Vaterhause jetzt näher befand, als in Berlin.

Diese Betrachtungen störte der Tritt eines Menschen, der, sich langsam durch die Gebüsche Bahn brechend, an das Wasser heran kam. Der einsame Wanderer mochte wohl nicht die Gegenwart eines gleichgestimmten Gefährten ahnen; er blieb darum am Bache stehen, und unser Freund erkannte die gebückte Gestalt des alten Christian. Er schwieg jedoch, und beobachtete jenen, der lange Zeit am Bache hinging, stille stand, wieder fortging, und sich endlich erschöpft und keuchend auf einem Steine am Ufer niederließ. Nach einer Weile hub er an, seine Gedanken laut vor sich hin zu sprechen.

»Alter,« tief er, »ist es auch recht, was du thun willst? – Wird's nicht besser und ehrlicher seyn, du suchst die Kugel auf, als so einen elenden Mühlgraben? Aber werden sie den alten Burschen, der nicht mehr gerade stehen kann, auch annehmen? Nicht einmal zum todtgeschossen werden ist er gut genug. Oder sollen mich wohl gar die jungen Gecken in ihre Mache nehmen, der Prügel eines Gelbschnabels von Corporal mir auf der Nase tanzen? Nein, hol's der Henker, lieber doch den Mühlgraben.«

Er erhob sich, und das Antlitz dem Baume zuwendend, wurde er jetzt erst gewahr, daß er nicht allein sey. Finster in sich hinein brummend wollte er zurück in's Gebüsch, doch Lessing hielt ihn auf.

»Bist Du toll, Christian?« rief er ihm zu. »Was treibst Du hier, alte Seele, in der unheimlichen Dämmerung?«

Der Kammerdiener blickte befangen und verdrießlich um sich; vergebens strebte er, allen Fragen auszuweichen, und sich zugleich von dem Arme des Jünglings frei zu machen. Als es nicht gelang, erwiderte er endlich:

»Nun, so mögt Ihr's wissen: die verfehlte Expedition, die der Leibhaftige uns hat verlieren lassen, ist es, was mir das Herz abdrückt. – Theurer, junger Herr, ich habe vierzig Jahre dem Hause gedient. Wo es nur etwas zu schaffen gab, gefährlich oder nicht gefährlich, schwer oder leicht, da hieß es immer, der alte Christian muß daran; kann er es nicht, so kann's kein Anderer, und jetzt – –«

Er stockte lautschluchzend, und fuhr erst nach einer Pause fort: »Und jetzt hat mich so ein Lump, so ein Hanfstengel, ein Leinweber aus dem Sattel gehoben. Ihr habt doch schon die verfluchte Historie gehört?«

Lessing errieth jetzt den Zusammenhang, er suchte den Alten bestmöglich zu trösten, doch er wehrte hartnäckig jeden Trost von sich.

»Bleibt mir mit dem Geplapper vom Leibe, Ihr wißt nicht, was vierzig Jahre dienen heißt. Freilich andere Leute dienen auch, aber ich! ich! – so mit Lust und Liebe, mit wahrer Leidenschaft dienen, so gleichsam mit der ganzen Familie in Eins verwachsen, mit Vater, mit Bruder, mit Schwester seyn, so daß man mit dem alten Hause zugleich schadhaft wird und Risse bekommt, und endlich, daß einem der Grashügel dicht neben der herrschaftlichen Gruft gemacht wird, damit bei der allerheiligsten Auferstehung sogleich der alte treue Diener wieder bei der Hand sey, um das Waschbecken und das Tüchelchen hinzureichen – nein, Herr, so dient Niemand anders, als nur ich allein. Und jetzt, begreift Ihr's jetzt, um solche Ehre bin ich für immer durch einen Lump gekommen. Er hat das Verdienst, unsere gnädigste Gräfin gerettet zu haben, er wird geliebkost, gehätschelt – still, still! laßt mich immer gehen, und seht mir nicht nach, wo ich verschwinde.«

Der Dichter mußte seine ganze Ueberredungsgabe anwenden, bis es ihm, nach langem Hin- und Herstreiten, endlich gelang, den eigensinnigen Alten in soweit zu beruhigen, daß er für heute alle Todesgedanken aufgab, und seinem Retter in's Schloß hinauf folgte. Hier schloß er sich aber in sein einsames Stübchen ein, und schwur, nicht hervorkommen zu wollen, und wenn selbst das ganze Haus in Flammen aufginge.

Einige der neuangeworbenen Soldaten waren angelangt, und hatten bei ihrem Erscheinen im Dorfe, theils durch ihr gutes Aussehen, mehr aber durch die Sparpfennige, die sie mitgebracht, die meisten Spötter zum Schweigen gebracht. Nur der Corporal fand seine schlimmen Erwartungen bestätigt. Er begegnete auf einem Gange Lessingen, und ihn freundlich grüßend, bat er ihn, zur Wirthstafel zu kommen, um die Ankömmlinge in Augenschein zu nehmen.

Es ist Einer unter diesen Ellenrittern,« setzte er lachend hinzu, »der, wenn er auch kein guter Soldat ist, doch einen trefflichen Possenreißer und Lustigmacher im Lager abgeben kann. Die heitere Creatur spricht, singt, schreit und hüpft schon seit zwei Stunden ununterbrochen fort, und kann nicht müde werden, die dünnen Beine und Arme zu schwenken. Er ist frisch vom Theater entlaufen; hört nur, da tönt uns schon seine helle Stimme durch's Gelächter entgegen.«

Wirklich vernahm man kreischende Laute, die sich vermischt mit Tönen eines einfachen Instruments hören ließen. Bei Oeffnung der Thüre sahen die Eintretenden, so viel die Wolken des Tabacks es gestatteten, eine dünne Gestalt sich mit äußerster Lebendigkeit vor den erstaunten Gruppen der gedrängten Zuschauer bewegen. Unser Freund erkannte den Liebhaber von der Truppe der Frau Golzig, ja, er erstaunte nicht wenig, als in dem bunten Gemische von allerlei Stellen aus Oper und Tragödie, eben jetzt auch sein Drama an die Reihe kam. Der Deklamator ließ sich's große Mühe kosten, die ganze verzweifelnde Rede Mellefonts zu seiner Geliebten mit Pathos vorzutragen, und bewirkte dadurch ein erschütterndes Gelächter, das er freilich nicht erwartet hatte. Einen Augenblick in seinem Eifer inne haltend, rief er dann:

»Meine Herren, was ich eben gesprochen, ist aus einem berühmten Trauerspiel, von dem unsterblichen Lessing, dem größten deutschen Poeten, den wir haben.«

Er wollte noch Einiges hinzusetzen, allein der Lärm und das Gelächter ließen ihn nicht zu Wort kommen; man verlangte allgemein, daß er tanzen solle, und sogleich fing er nach den Tönen der Musik wieder die früheren Sprünge zu machen.

Unwillig und fast beschämt durch das erhaltene seltsame Lob, zog sich Lessing aus der tobenden Versammlung zurück. Nur wenige Schritte vom Hause entfernt sah er Jemand eilig auf sich zukommen. Es war eine Gestalt in einen Mantel gehüllt. Er war unentschlossen, ob er bleiben, oder der Annäherung ausweichen sollte; in dem Moment hörte er leise seinen Namen rufen, und der Eilende stand dicht neben ihm. Es war Sabine.

Eine mehr als seltsame Tracht machte das hübsche Mädchen fast unkenntlich, ohne sie gerade zu entstellen. Ueber ihrem Frauenrocke hing ein weiter Offiziersmantel, unter dem ein Gürtel mit Waffen hervorblinkte; auf dem vom Puder entblösten glatt zurückgedrängten Haare schwebte in kecker halbschiefer Lage ein Hut mit einem stolzen flatternden Federbusche. Ihr Blick, mit dem sie jetzt den treulosen Freund betrachtete, glänzte vor Zorn und kriegerischer Wildheit. Ruhig erwartete sie seine Anrede.

»Sabine!« rief der Erstaunte, »was bringt Sie hieher, und in dieser Kleidung?« –

»Nicht wahr,« entgegnete das seltsame Mädchen, »die Maske ist nicht übel? So eine Art von Marketenderin, ein Stück von einem Soldaten, das bei Gelegenheit mit drein hauen kann? Ja, beklagen Sie mich, liebster Herr, das Schicksal hat mich erfaßt, ich bin das ordentliche vernünftige Leben satt; unsern Schauspielern habe ich mich angeschlossen, ja ich könnte sogar jetzt etwas Großes und Bedeutendes werden, so etwas Solides und Treffliches, wie man es im gewöhnlichen Leben fordert und liebt, wenn ich nur wollte. Ich hätte nur nöthig, den Hauptmann, der dieses Corps errichtet, mit meiner Zusage zu beglücken; er wirbt in vollem Ernst um mich, und will seine Frau aus mir machen.«

»Schlagen Sie ein, ergreifen Sie ihn beim Wort, ehe er anderer Meinung wird; geben Sie alles zu!« rief der Dichter.

»Schlagen Sie ein, greifen Sie zu, halten Sie fest!« wiederholte das Mädchen in einem grimmigen Tone. »Ja wohl, nur Treulosigkeit auf Treulosigkeit, Schändlichkeit auf Schändlichkeit gehäuft, und alles nur recht schnell, besonnen und keck! Die kostbare Gelegenheit, eine Büberei auszuführen, könnte ja wieder entwischen. Ja, das ist so die gangbare Münze unter euch. Nein, Herr Ephraim, greifen Sie zu, schlagen Sie nur ein in die Hand der schönen Gräfin; machen Sie nur, daß sie Sie mit ihrer adelichen Robe verdeckt, damit der Pastor bei der Trauung Sie nicht gewahr werde, um Sie nach ihrem Stammbaum zu fragen. Die Mariage kann dann noch ganz glücklich seyn. Die besten Ehen sind die, wo man den Mann gar nicht bemerkt.«

Lessing mußte, trotz der seltsamen Laune des Mädchens, lächeln.

»Sie sind wieder vollkommen wahnsinnig, Sabine,« sagte er, »was schwatzen Sie mir da vor? Geben Sie Acht, daß Ihnen Ihr Verstand nicht desertirt.«

Er wollte ihre Hand fassen, doch sie entzog sie ihm; als sein Blick sie schärfer fixirte, bemerkte er, daß sie weinte.

»Das Geschick ist seltsam,« hub sie nach einer Weile wieder an. »Als Sie mich vor vier Jahren in Leipzig zu der Madame Golzig brachten, und zu ihr sagten: diese hier ist arm, verstoßen und verlassen, geben sie ihr ein Plätzchen auf dem Theater, lassen sie sie keine Liebhaberinnen spielen, denn es ist fürchterlich, wenn eine Verstoßene, Verlassene, Verachtete liebt; lassen Sie sie Königinnen und Fürstinnen spielen, die nicht lieben dürfen. Damals, als Sie diese Worte vor vier Jahren sprachen, damals dachte ich nicht, daß ich hier so vor Ihnen stehen würde.«

Lessing lachte. »Jene Albernheiten,« rief er, »sind nie über meine Lippen gekommen. Ihr verdrehtes Köpfchen, Mademoiselle, hat stets Ihr Unglück gemacht. Freilich hätten Sie auf Ihre Weise thätig und nützlich seyn können, allein wie schlecht haben Sie meine Mühe für Sie gelohnt.«

»Thätig? nützlich?« entgegnete Sabine, »kann eine Schauspielerin jemals dieses seyn? Dieser verachtete Stand, dieser aufgegebene weggeworfene Theil der Menschheit, was kann er noch leisten? Wahrlich, die Wohlthat war sehr groß, mich in die Hände jener Elenden zu überliefern. O, mein verehrter Herr, hätten Sie mir damals gesagt: du bist arm und verlassen! aber arm und verlassen seyn ist keine Schande, doch ehe du jene Bretter betrittst, von denen kein Mädchen rein, kein Jüngling unverdorben wieder niedersteigt, erbettle lieber dein Brod an den Thüren – dann hätte ich Sie jetzt mit Dank überschüttet, dann wäre die arme kleine Sabine jetzt ein ehrsames liebendes und geliebtes Weib geworden, und diese lustige Unterredung zwischen uns beiden wäre nie zu Stande gekommen.«

»Sabine!« rief der Jüngling ernst, »wenn Du wirklich meinen könntest, Recht zu haben, mir solche Vorwürfe zu machen.« –

»Nein, nein!« schluchzte sie, und brach in Thränen aus, »ich habe dieses Recht nicht, und will auch keine Vorwürfe machen. Es ist nur gut, daß ich Sie noch allein getroffen habe, um von Ihnen Abschied zu nehmen. Morgen ziehen wir wieder weiter. Lassen Sie sich nicht länger aufhalten, oben im Schlosse werden die Lichter schon angezündet, es gibt wohl gar einen Ball, ein munteres Fest, oder etwas dergleichen. Leben Sie wohl, schöner Herr, leben Sie wohl.«

Sie flog, ohne eine Erwiederung abzuwarten, den Hügel hinab, so daß der Mantel im Abendwinde ihr nachflatterte; bald war sie den nachschauenden Blicken des jungen Mannes entschwunden, der durch den seltsamen leidenschaftlichen Auftritt erregt, nachdenklich in's Schloß zurückkehrte.

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Der erste große Sieg der preußischen Waffen im siebenjährigen Kriege war entschieden, die Schlacht bei Lowositz geschlagen worden. Die fast doppelt so starke Armee der Oesterreicher hatte sich zurückziehen, und den Eingang nach Böhmen frei lassen müssen. Diese Nachrichten und Berichte erregten allgemeine Bewegung; auch auf dem Schlosse, in dem sich noch unsere Reisenden aufhielten, faßte man jetzt entscheidende Pläne und Entschlüsse. Der Edelmann erklärte seinen Willen, die vorhabende Reise auf eine günstigere Zeit aufzuschieben; er nahm hiebei mit seinem jungen Begleiter die nöthige Rücksprache. Es sollten, nächst dem Versprechen der möglichst baldigen Fortsetzung der Reise, Entschädigungen an Geld folgen, um für die verlorene Zeit und Mühe schadlos zu halten.

Lessing, der seine Lieblingshoffnung zertrümmert sah, zeigte sich zu allem bereitwillig; es war ihm darum zu thun, die Freundschaft des achtungswerthen Mannes nicht zugleich einzubüßen, und wirklich erweckte sein thätiger Eifer bei den Bedrängnissen und drohenden Verlusten des Gutsherrn, sich ihm gefällig zu bezeigen, bei diesem die herzlichste Anerkennung und den lebhaftesten Dank.

Es wurden jetzt Anstalten zur Rückreise getroffen. Clarissa bat sich die Gesellschaft des Dichters aus, die er ihr um so lieber gewährte, da ihr Weg sie zum gräflichen Schlosse, unweit dem Wohnorte seiner Eltern führte. Das junge Brautpaar fühlte sich bei dieser plötzlichen Umgestaltung der Dinge am unglücklichsten; noch war die Erlaubniß vom Könige nicht angelangt; die Boten, die man ausgesendet, kamen unverrichteter Sache zurück. Clarissa übernahm es jetzt wiederum zu trösten und zu beruhigen, doch es gelang ihr um so weniger, je mehr Tag auf Tag folgte, eine Stunde nach der andern dahinging, ohne daß die ersehnten Papiere erschienen.

Eine trübe regnigte Octobernacht machte diesen Besorgnissen ein Ende. Es mochte Mitternacht seyn; die Hausgenossenschaft hatte sich frühzeitiger als gewöhnlich zurückgezogen. Im einsamen Schlosse erstarb die rege Thätigkeit des Tages, der dunkle melancholische Bau, mit seinen durch Gänge und Treppen verbundenen zahllosen Gemächern, sank allmählig in tiefe Finsterniß, nur daß hie und da noch ein einsames Lichtchen flimmerte, welches sein spärliches Leben dem mächtigen Reiche der Nacht entgegenzusetzen wagte. Unter die Bewohner des Schlosses, die so glücklich waren, eines ruhigen Schlummers zu genießen, gehörten nur wenige, ja es waren, wenn man die Dienerschaft ausnahm, vielleicht nur die beiden alten Frauen allein, die seinen Segnungen sich uneingeschränkt überließen; die eine, weil sie ihre Schätze, nach einem klugen Plane, jetzt völlig gesichert wähnte, die andere, weil sie keine Schätze besaß, ein Umstand, der in so unruhiger Zeit in der That eine Art von Glück war. Alle übrigen Bewohner, besonders die jüngeren, befanden sich wachend in ihren Gemächern. Der Edelmann stellte in einem Stübchen, nach dem Hofe zu, mit seinem Secretär noch einige wichtige Papiere und Rechnungen zusammen.

In Clarissens Gemach zeigte sich im Schimmer der Nachtlampe eine rührende Gruppe. Die blasse hohe Gestalt der ältern Gräfin war, nach einem erneuten Krankheitsanfall, endlich ermattet auf die Polster zurückgesunken, ihre Augen waren geschlossen, obgleich sie nicht schlief; das schöne schwarze Haar, vom Puder befreit, schloß mit seinen dunkeln Wellen die blendende zarte Weiße, die vollendeten Formen des Halses und der Schultern ein. An sie geschmiegt, das blonde Köpfchen am Busen der Schwester, lag Leopoldine; die Fülle ihres weißen Nackens bot dem umfangenden Arme Clarissens eine weiche reitzende Stütze. Wie ein Kind, das erschöpft vom heftigen Weinen an der Brust der Mutter einschlummert, so lag die kleine trostlose Braut, die hochgeröthete Wange an die blasse der Schwester gedrückt, an der Wimper noch eine blitzende Thräne; das blonde Haar mischte sein sanftes Colorit mit dem dunkeln, und die zarten Arme hielten sich umschlungen. Scheinbar war über das reizende Paar die süßeste Ruhe ausgegossen, allein in dem Busen einer Jeden lebte der ihr zugemessene Kummer völlig wach.

Dieselben Bilder der Sehnsucht und des Schmerzes, die hier den Schlaf von einem so holden Wesen verscheuchten, hielten ihn, wenige Gemächer weiter, auch von dem Auge eines sonst so fröhlichen und muthigen Jünglings fern. Selbst der Dichter, vielleicht der ruhigste unter den Bewohnern des Schlosses, hielt es für Pflicht, den Kummer seines Freundes zu theilen, um dadurch das Gewicht seiner Schwere weniger drückend zu machen. Er saß daher am Bette des jungen Grafen, ihm einen neuen französischen Roman mit vielem Feuer und Ausdruck vorlesend.

Der alte Christian brütete in seinem Kämmerlein über sein Mißgeschick, und da er den, nur durch eine Bretterwand von ihm geschiedenen, ärgsten Feind, den Leinweber, nicht nachdrücklicher zu züchtigen im Stande war, so brachte er seine Geige hervor, und begann durch fürchterliche Mißtöne das Ohr des Sectirers zu zerreißen, und jeden Gedanken an Schlaf von seinem Lager zu verscheuchen.

Allein es darf hier ein Wesen nicht vergessen werden, das die meiste Ursache zu haben glaubte, unter diejenigen gezählt zu werden, welchen ein gerechter Kummer den Schlaf fern hielt: dieses war Babet. Nahe an einer kleinen äußern Treppe des Schlosses befand sich ihr Stübchen, und war daher das einzige, welches nach außenhin Licht zeigte. Das arme Mädchen hatte durch die Nachricht von der großen Schlacht und durch ein dunkles Gerücht von dem Tode ihres Grenadiers fast die Besinnung verloren. Sie saß jetzt händeringend an ihrem Bette, das sonst so fröhliche Gesichtchen tief auf die Brust gesenkt, die, des Schnürleibes ledig, ihre eben nicht dürftigen Reize unter fortwährenden bebenden Seufzern entfaltete. Ermattet waren die Arme, die beschäftigt gewesen, Schuhe und Strümpfe von den niedlichen Füßchen zu lösen, niedergesunken, das rothe Prachtkleid lag abgestreift schon auf der Decke des Lagers, und nur ein kurzes Röckchen umspannte den Leib, den Blick auf ein paar wohlgeformte Waden freilassend.

Sie hatte auf einem Tischchen vor sich die Briefe des Geliebten ausgebreitet, und indem beide Hände beschäftigt waren, das Nachthäubchen zu ordnen und zu befestigen, ruhten die Blicke abwechselnd bald auf diesem, bald auf jenem Blatte. Die traurige Beschäftigung verfehlte nicht ihre Wirkung zu äußern; die anfangs zurückgehaltenen Thränen stürzten jetzt unaufhaltsam hervor, und sie warf sich auf die Papiere, das Antlitz in ihnen verbergend, die geliebten Schriftzüge mit Thränen nässend.

In dieser Stellung mochte sie eine geraume Zeit verharrt haben, ohne zu hören, daß indessen sich der Hufschlag eines Pferdes der Treppe genähert hatte. In jenen unruhigen Zeiten war ein von der Landstraße abirrender Reiter nichts auffallendes; die Trauernde fuhr aber jetzt entsetzt in die Höhe, als mit einem durchnäßten Handschuh an die Scheiben ihres verhängten Fensters gepocht wurde. Zitternd erhob sie sich, die Zaghaftigkeit ihres kleinen Herzens stritt sich mit der Klugheit des Köpfchens, über die Frage: ob es nicht gerathener sey, das Licht auszulöschen, um auf diese Weise dem unverschämten Störer jede Hoffnung, eingelassen zu werden, abzuschneiden; doch der unternehmende Mann, der nicht ohne Gefahr schon so weit vorgedrungen war, hätte sich wohl am Ende durch ein Hinderniß der Art nicht auf seinem Wege aufhalten lassen.

Während diesen Betrachtungen erneuten sich die Stöße an's Fenster so heftig, daß das zitternde Kammermädchen sich endlich entschloß, ein paar Fragen durch die geschlossenen Scheiben an ihren Bedränger zu richten. Eine dumpfe volle Stimme gab Antwort: »Ein Grenadier des Königs, der Einlaß verlangt.«

Das Wort Grenadier jagte das Blut auf die Wangen des Mädchens zurück; ohne zu bedenken, was sie wagte, schnell die schon abgelegten Tücher wieder umschlagend, öffnete sie das Fenster, doch sank sie in dem Moment mit einem Schrei zurück. Der draußen Stehende lehnte sich, so viel es seine Stellung und der enge Raum erlaubte, in's Fenster hinein, und schien seinerseits eben so erstaunt und verwundert. Sein Antlitz, von der Flamme hell beleuchtet, zeigte ernste kriegerische, obwohl jugendliche Formen, ein breiter Bart zog sich über die Lippen, und dunkles vom Regen durchnäßtes Haar hing unterm bebuschten Helme hervor. Der Arm des Kriegers langte in's Zimmer, und suchte sich der Hand des Mädchens zu versichern, doch dieses, durch die kalte Berührung wieder zu sich gebracht, erneute den heftigen Schrei, und flüchtete in die Tiefe des Zimmers zurück.

»John!« rief sie von hier aus, »jroßer Jott, Er kommt doch nicht, mich zu holen?«

»Freilich,« entgegnete die breitschultrige Gestalt, »die Hochzeitgäste warten, setze Dich zu mir auf's Pferd, und laß uns eilen!«

Babet stieß einen noch lebhaftern Schrei aus. Sie warf sich auf's Bett und drückte ihr Antlitz in die Kissen; nach einer Pause hob sie das Haupt langsam wieder hervor, und sank, als sie die dunkeln Augen sah, die vom Fenster aus unverwandt sie anblickten, von Neuem in die Polstern zurück.

»Dumme Jans!« tönte es von außen, »so schließ Sie mir doch auf, und lasse Sie mir herein.«

Das Mädchen erhob sich: »Jott!« rief sie, »seine reene jute Aussprache! nee, es kann Doch keen Jeist seyn.« Sie näherte sich dem Fenster, der Soldat ergriff sie, schlang seinen Arm um ihren Leib, und sie zu sich ziehend, drückte er einen herzhaften Kuß auf ihre Wange.

»Nu, mach auf, Lehngen!« rief er, »oder ich haue den janzen Bettel von Fenster zusammen.«

Babet trocknete sich die kalten Regentropfen von Wange und Hals, mit denen der Bart des rüstigen Gesellen sie beim Kuß überschüttet hatte; übrigens war dieser Kuß selbst so wenig ätherischer Art gewesen, daß man unmöglich hätte vermuthen können, es seyen dergleichen Begrüßungen im Geisterreich Sitte; auch stand in Andreas Geschichte von einer so herzlichen Umarmung und der guten Laune des nächtlichen Reiters nichts. Das ängstliche Mädchen ging also allmählig von Schreck und Entsetzen auf ein eben so ausgelassenes Entzücken über.

»John,« rief sie, »also Er ist keen Jeist? Ich darf es glauben, daß Er leibhaftig leben thut?«

»Narr!« entgegnete der Grenadier, »wenn Du's an meenen Kuß nicht gemerkt hast, was zum Henker soll ich Dir dann noch für Beweese geben, daß ich Fleisch und Beene habe.«

»Es ist jut, halte Dich nur ruhig, ich will den alten Christian rufen gehen, er hat die Schlüssel zu dieser Thüre. O jöttliche Vorsicht, wer hätte das nur ahnen können.«

Sie rannte verwirrt im Gemach umher, ergriff endlich das Licht und wollte zur Thüre hinaus. Der Soldat erfaßte sie. »Laß die alte Krabbe schlafen,« rief er, »ich steige durch's Fenster, und habe dann noch ein halbes Stündchen Zeit, mit Dir zu plaudern.«

»Nee, nee,« entgegnete Babet, indem sie mit beiden Händen den Gast abwehrte, »sey Er kein zudringlicher Cujon, Er wees wohl, daß des nicht meene Passion ist.« –

»Potz Tolpatsch und Pandur!« fluchte jetzt der Ungeduldige, »bin ich nicht Dein Bräutigam? und willst Du warten, Mädel, bis eine Kanonenkugel mich um ein Kopf kürzer macht? Doch dann werde ich kommen, gib Acht, als ein blutiger Geist, und Dir keine Ruhe lassen.«

Die letzte Drohung wirkte mächtig auf die arme bedrängte Schöne, ihre ganze Zärtlichkeit erwachte, und führte ihr die Momente des überstandenen Schmerzens wieder in's Gedächtniß. Der rüstige Geliebte war unterdeß, keine weitere Erlaubniß abwartend, mit einem Sprunge im Zimmer, und sah sich mit Augen, in denen Neugier und fröhlicher Muth glänzten, in dem kleinen behaglich erhellten Raume um. Seine Blicke weilten auf den schon abgelegten Kleidungsstücken, und unter eben nicht ganz zarten Scherzen zog er seine Schöne auf den Schoos. Die Schloßuhr ließ jetzt in langsamen Schlägen Mitternacht ertönen. Babet schreckte von neuem zusammen; der Gedanke, daß der, der sie jetzt umarmt hielt, viele Meilen entfernt in Ungarn aus seinem Grabe zu ihr gekommen, erregte die lebhafte Phantasie des unglücklichen Mädchens wiederum so heftig, daß sie in Thränen ausbrach.

Der Soldat konnte aus seiner wunderlichen kleinen Braut nicht klug werden, er schnallte langsam und unter Kopfschütteln den kalten schweren Küraß ab, und indem er ihr Haupt an seine warme bewegte Brust drückte, gelang es ihm in dem Streit, den Todesgrausen und Zärtlichkeit im Busen des Mädchens führten, die letztere endlich siegen zu machen. Sie überließ sich seinen Liebkosungen, und wäre zuletzt nicht im Stande gewesen, sich ihnen zu entziehen, wenn auch die gefürchtete unheimliche Abkunft des Geliebten ihr klar geworden wäre.

Am Morgen erfuhr die ganze Bewohnerschaft des Schlosses die freudige Botschaft, welche der Grenadier mitgebracht, nämlich die Einwilligung des Königs zu der Vermählung des Grafen. Sie war in wenigen aber freundlichen Worten in einem Briefe an Clarissen enthalten, und bald nach der Schlacht abgeschickt. Die Freude des großen Mannes über seinen erfochtenen glänzenden Sieg leuchtete zugleich daraus hervor, und erfüllte das Herz der Liebenden mit dankbarer Rührung.

Es wurden jetzt Anstalten zu der Trauung gemacht, bei welcher nur wenige Zeugen, außer den schon im Schlosse befindlichen Freunden und Verwandten, zugegen seyn sollten. Auf besondere Fürbitten des jungen Grafen durften auch Babet und ihr Geliebter an dem nämlichen Tage den priesterlichen Segen zu ihrem Bündnisse empfangen. Die alterthümliche Schloßkapelle, einst der Schauplatz großer Familienfeste und Ceremonien, nahm nach langer Zeit wieder zwei glückliche und geschmückte Paare in ihren Mauern auf. Nach Clarissens Angabe hatte man Säulen und Altar auf das zierlichste ausgeschmückt, die ganze Dienerschaft war beschäftigt gewesen, und vor allen Dingen zeigte der alte Christian einen unermüdlichen Eifer. Er erhielt, durch Lessings Vermittelung, der den verzweifelten Zustand des alten treuen Dieners bekannt gemacht hatte, jetzt von seiner Herrschaft vielfältige Beweise von Huld und Erkenntlichkeit; dennoch konnte er es nicht lassen, bei Gelegenheit des Glückwunsches seinem Kameraden, wie er den Grenadier John nannte, zuzuflüstern:

»Höre, lieber Junge, ich sage Dir nur das Eine, laß Dich todtschießen, je eher, je besser, nur werde nicht alt, mein Sohn; denn siehst Du, ich könnte Dir fürchterliche Geschichten erzählen von einem alten ehrlichen Diener und Soldaten, dem später, weil er die Dummheit hatte, alt zu werden, ein Lump, ein Bierkäsegesicht, eine Häringsrippe, mit einem Worte, ein Leinweber vorgezogen wurde.«

Es war ausgemacht worden, daß das junge Ehepaar für's Erste zum Schutz der Taute auf dem Schlosse zurückbleiben sollte; Babet trat jetzt in die Dienste der neuen Herrschaft, sie wußte es durch ihre Schmeicheleien beim Grafen dahin zu bringen, daß er es über sich nahm, einen Stellvertreter für den Grenadier bei dem Heere abzusenden; allein John wehrte sich gegen dieses Ansinnen auf's hartnäckigste.

»Nee,« rief er in seiner offenen Soldatenmanier, »daraus wird nichts, bei unser einen kommt zuerst die Ehre, dann wieder die Ehre, und zum drittenmal die Ehre, und dann erst die Frau, nebst anderm Anhängsel an die Reihe.«

Der Edelmann nahm seinen Weg zu seinen gefährdeten Besitzungen, und Clarissa blieb bei ihrem Entschlusse, in dem Elternhause, wo sie eine glückliche Kindheit verlebt hatte, Ruhe und Erholung nach den bekämpften Stürmen aufzusuchen. Die alte Französin, Lessing und ein Bekannter der jungen Gräfin, den man aus einem nahegelegenen Orte abholen wollte, waren bestimmt, ihre Begleitung auszumachen.

Vor der Abreise sollte jedoch unser Dichter noch durch einen traurigen Vorfall erschreckt werden. Er erfuhr, daß die Schauspielerin Sabine auf eine seltsame Weise ihren Tod gefunden. In dem Wirthshause des Dorfes, welches er nach jenem lärmenden Abende nicht wieder besucht hatte, wußte man ihm nur unzusammenhängende Berichte zu ertheilen. Es ging auf diesen hervor, daß sich das wunderliche Mädchen in das tollkühne Unternehmen eingelassen habe, einem als Spion erkannten Flüchtling aufzupassen, um ihn, in Gesellschaft mit ein paar verwegenen Burschen des Freicorps, mörderisch zu überfallen und niederzustrecken. Das Unternehmen, schien es, war gescheitert, Sabine durch einen Pistolenschuß des Verfolgten getödtet worden, indeß ihre Gefährten Zeit bekommen, sich zu retten. Einer von diesen war der lebhafte junge Mann, den Lessing an jenem Abende vor der Menge hatte deklamiren hören.

Als der Enthusiast den Dichter ansichtig wurde, stürzte er, mit Vergießung heißer Thränen, an seinen Hals; er konnte lange nicht zu Wort kommen, als endlich der Sturm seiner für diesesmal ungekünstelten Empfindung sich legte, brachte er die zärtlichsten Gefühle, die glühendsten Lobsprüche auf die Verstorbene vor. Auch ihr verzweifeltes Unternehmen stellte er als eine rührende Heldenthat auf.

»Sie war,« setzte der Tragiker seine Rede fort, »unsere kriegerische Muse, die verkörperte edle Begeisterung, welche uns alle erfüllt, seitdem wir aus einem zwecklosen unordentlichen Leben zu einem ehrenvollen begeisterten Beruf zusammen getreten sind. Der schändliche Verräther, den wir hier entdeckt hatten, war nicht werth, durch ihre Hand zu fallen, so wie er nicht werth war, daß ich in Berlin, am Tische der Madame Golzig, aus einer Flasche mit ihm getrunken habe.«

Lessing fragte verwundert nach dem Namen des Mannes.

»Kein Anderer,« war die Antwort, »als jener blasse, tückische, prahlerische, gimpelhafte Franzose, der sich gewöhnlich von uns Marquis nennen ließ, und der höchst wahrscheinlich ein verlaufener Schneider war. Er hat jetzt seinen Lohn dahin, und die Leute, die ihn im nächsten Orte an seiner Verwundung haben sterben sehen, versichern, daß er alle jene kostbaren Regeln des Anstandes, die er uns gepredigt, ziemlich stark aus den Augen gesetzt habe. O, kommen Sie, verehrter Herr Lessing, Sie müssen die Stelle sehen, die wir der armen kleinen, Miß Sara Sampson zum kühlen Ruhebettchen ausgesucht haben. Morgen in der Nacht, ehe unser Corps weiter geht, bringen wir das liebe Kind in aller Stille zur Ruhe.«

Er zog mit diesen Worten den Dichter mit sich fort, bis beide jenes Plätzchen am Bache erreichten, welches unserem Freunde von seinem einsamen Spaziergange her noch sehr wohl bekannt war. Unter dem Lindenbaume, an der Seite der Bank, befand sich die erwählte Ruhestätte.

»Es hat sich erwiesen,« hub der Schauspieler wieder an. »daß das liebe Mädchen in diesem Dorfe geboren worden; hier an diesem Mühlbache hat es als fröhliches Kind gespielt, hier mögen nun die Engel mit der verklärten Seele spielen, um sie liebkosend, unter den süßesten Kinderträumen, in die ewige Herrlichkeit einführen.«

Er sprach noch eine Weile so fort, und als er Lessingen erschüttert sah, erneute er seine Umarmung.

»Gott sey gelobt!« rief er, die Hände gen Himmel hebend, »so ist Mellefont nicht der Einzige, der um seine Sara weint! Ihr Andenken ist gefeiert, ihre Manen sind beruhigt. Nun fort in den Krieg, in's Gewühl der Schlachten, dort wird diese Brust wieder Frieden, Ruhe finden.«

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Ist es eine ausgemachte Erfahrung, daß im Leben verwandte Gemüther sich leicht finden und erkennen, gern zusammenhalten, und im engsten Vereine sich am glücklichsten befinden, so kann sich wohl ähnliches noch leichter auf einer Reise, ein Zustand, der so oft mit dem Leben im allgemeinen verglichen wird, fügen. Wer sich genöthigt sieht, die Enge seines Wohnzimmers mit einem Genossen zu theilen, muß diesen, wo es nur möglich ist, sich zum Freunde zu machen suchen. Ein Reisewagen ist ein noch engeres Wohngemach, und wer hier einen oder mehrere Plätze vergibt, muß um so strenger jene Regel befolgen, je mehr hier ein Wechsel von Begegnissen aller Art von außen, eine gewisse Ruhe und Uebereinstimmung innen nöthig macht. Unsere Reisende befanden sich in dem Fall, diese Grundsätze ungezwungen und mit Heiterkeit in Ausübung bringen zu können.

In einem bequemen Wagen eingeschlossen, gegen die Unbilden des Wetters wie des Weges geschützt, saßen vier Personen sich gegenüber, die auf eine gemüthliche Weise, einer an dem andern gleich lebhaft theilnehmend, den Stoff zur Unterhaltung in einer geistreichen Folge fortführten. Den geringsten Theil am Gespräch nahm freilich die alte Französin; allein es ist schon ein Verdienst, in den Verkehr begabterer Geister nicht störend einzuwirken, und dieses Verdienst besaß die treffliche Dame im hohen Grade. Sie war zufrieden, daß man ihr, in der für sie eingerichteten Ecke des Wagens, alle Bequemlichkeiten gewährte, welche sie, als ihrem Alter und Range zukommend, betrachtete, und die sie dadurch zu nützen wußte, daß sie sich unbemerkt, und während der Unterhaltung der andern, den Anwandlungen des Schlafes überließ.

Ihr gegenüber saß jener Fremde, den man aufgenommen hatte, und der mit der höchsten Achtung von der Gräfin und unserm jungen Freunde behandelt wurde. Er war ein ältlicher kleiner Mann, von äußerst zartem Körperbau, eine kränkliche Blässe im feingeformten Antlitz, das durch ausdrucksvolle Züge um den Mund, so wie durch große geistreiche und lebhafte Augen viel Bedeutsamkeit zeigte. Seine Miene, die Haltung, so wie sein Gespräch drückten jene sanfte Bescheidenheit aus, die fast an eine kindliche Weichheit gränzt, und die älteren Männern oft einen eigenthümlichen Reiz verleiht, sie muß nur, wie es hier der Fall war, eben so weit von Schwäche wie von Charakterlosigkeit entfernt seyn. Selbst die Stimme dieses besondern Mannes theilte vollkommen den Ausdruck seiner Physiognomie, sie klang leise und wohllautend, nur eine sehr schwache Beimischung von provinziellem Dialecte, dem gebildeten Ohr Clarissens besonders bemerkbar, zeigte in ihm den Sachsen.

Die Unterhaltung bewegte sich zunächst um die gegenwärtigen Verhältnisse des Bestehenden, doch wie es unter geistreichen Personen gewöhnlich, verließ sie alsbald den materiellen Boden, um sich in die Sphäre contemplativer Anschauung zu erheben. Man sprach über die Tendenz der Zeit, über ihre religiöse und sittliche Entwickelung, und hier zeigte sich nun eine interessante Meinungs-Verschiedenheit. Clarissa trat ihrem ältern Freunde scheinbar entgegen, um sich dem jüngern näher anzuschließen. Jener, edle freundliche Mann, bekannt wegen seiner ungeheuchelten tiefen Frömmigkeit, sprach unumwunden, obgleich immer schonend, seinen Widerwillen aus gegen die falsche Aufklärungssucht, den Drang nach philosophischer Oberflächlichkeit, der sich erkältend und vernichtend aller höhern Lebensverhältnisse bemächtigt habe, und eben so den Schätzen des Wissens wie denen des Glaubens, Gefahr drohe. Clarissa gab ihm in diesem Hasse vollkommen Recht, nur trennte sie sich von ihm in der Ansicht von dem, was ihr Freund falsche Aufklärungssucht und philosophische Oberflächlichkeit nannte. Lessing, als Dichter, suchte beide Ansichten zu verbinden, indem er beide mit Gemüthlichkeit in sich aufnahm, gleichsam wie eine Biene, welche aus zwei gleichherrlichen duftenden Blüthenkelchen ihren Honig sammelt.

Die Anknüpfungspunkte zum folgenden Gespräch bildete der Umstand, daß der Gelehrte einen jungen Grafen, seinen frühern Zögling, an dem er mit väterlicher Liebe hing, jetzt nach Paris hatte abreisen sehen. Die Besorgnisse des edlen Mannes, für das Wohl des Jünglings bei seinem Eintritt in eine entsittete Welt, schienen, wenn man ihn sprechen hörte, eben so gegründet, als sie tief gefühlt und ernstlich gemeint waren.

»Warum soll ich's leugnen?« sagte er jetzt mit jener wundersamen Weichheit in Ton und Ausdruck, »ich habe in meinem einsamen Zimmer oft und innig gebetet, daß der, der diese Prüfung uns allen auferlegt hat, ihn, den Reinen, gnädig hindurchführen möge. Es ist so leicht, eine weiche junge Seele zu beschädigen, die schöne, noch nicht befestigte Form irgendwo zu verletzen, so daß sie dann für späte Tage die Spuren an sich trägt. Wie er mir am Halse hing, wie seine Thränen sich mit den meinigen mischten, ach! wenn er mir nicht so wiederkehrte! – es wäre um die Ruhe, um das Glück auch meines Lebens geschehen.«

»Wer könnte es wohl mit diesen Besorgnissen,« nahm Clarissa das Wort, »zu ernstlich und gewissenhaft nehmen? Sündlicher Leichtsinn wäre es, mit Stillschweigen oder gar Gleichgültigkeit über sie hinwegzugehen. Allein, würdiger Freund, gestatten Sie mir immer, zu gestehen, daß ich in dieser Reise keine Gefahr für Ihren Zögling sehe. Junge, strebende Gemüther müssen durchaus auf Widersprüche stoßen, um sich selber zu befestigen und in's Klare zu setzen. Hätten Sie denn in der That gewünscht, ihn immerdar in den Kreis Ihrer Obhut und Sorge eingeschlossen zu erhalten? Und wäre er auch dann jeglicher Versuchung entgangen?«

»Ich kann es nicht bestimmen,« erwiderte der Gelehrte, »doch hätte ich dann diese quälenden Besorgnisse, diese Angst um ihn, nicht zu erdulden gehabt. Ist es denn nun eben nöthig, Paris gesehen zu haben?«

»Gewiß,« rief Clarissa lebhaft. »Wenn man nicht todt einer todten Zeit angehören will, so muß man diesen Marktplatz des modernen Lebens, man muß diese Stadt der Bildung, die Schule gesellschaftlicher Sitten gesehen haben. Es ist nicht lange her, daß unser Land sich noch auf das trostloseste verwahrlost fand. Wir haben es leider selbst noch erlebt, daß sich unser junger Adel auf den Gütern, wenig aufgeklärter als seine Bauern, wenig gesitteter als das Gesinde, und um vieles roher noch, als der roheste Stallknecht zeigte. Es war in der That mit diesen Leuten kein Auskommen möglich; nicht allein das gesellige Leben, auch Staat und Kirche litten unsäglich. Als aber nun unser König an die Regierung kam, bemächtigte sich der ganzen trägen Maschine ein neuer Geist, ein lebhafter Umschwung setzte alle Räder in Bewegung, und siehe da, die Gestalt der Dinge wurde plötzlich eine andere. Er, der unermüdlich Thätige, litt überall kein Stillestehen, und die entferntesten Theile seines Reiches mußten den Pulsschlag des neuen Lebens fühlen. Vor allem brachte er die Reiselust auf. Bald sah man jene Faulen aus ihrer behaglichen Ruhe aufgerüttelt, und nach Schätzen gierig haschen, die zu begehren, wenige Jahre früher, ihnen selbst im Traume nicht eingefallen wäre. Viele gute Familienväter auf dem Lande, die bisher Anstand nahmen, nach Berlin oder Königsberg zu reisen, ohne die üblichen Gebete in den Kirchen für Reisende zu Land und Wasser abbeten zu lassen, entschloßen sich jetzt frischweg, ihre Söhne nach Paris zu schicken, und waren nicht wenig verwundert, nach ein paar Jahren, statt der unbeholfenen Knaben, gebildete, liebenswürdige Jünglinge in die Arme zu schließen, die durch Geist und Thätigkeit verdienten, die Erben eines alten Namens und großer Schätze zu seyn. Gewiß, für die Meisten ist die Welt gleichsam neu erobert worden, und unser großer liebevoller König hat seinen Unterthanen hier ein wahrhaft königliches Geschenk gemacht.«

»Ein Geschenk,« nahm unser Dichter das Wort, »das erst die Folgezeit in seinem ganzen Werthe zeigen wird. Wie sehr sind jene im Irrthum, die da meinen, es sey dem großen Manne in seinen Kriegen nur um materiellen Vortheil zu thun, als kämpfe er nur und verspritze das Blut seiner geliebten Unterthanen, um eine Hand breit Landes mehr zu gewinnen. Wahrlich, nicht das elende Besitztum, das er der Willkür seines Nachfolgers früh oder spät doch überlassen muß, ist es, was die Ehrbegierde eines solchen Helden reizt; nein, ihm glänzen höhere Preise. Geistigen Boden gewinnet sein siegreiches Schwerdt ab, dem Aberglauben, der Despotie, den Gräueln einer finstern Zeit bietet er muthvoll die offene helle Stirne, und die kostbarsten Hoffnungen des Wissens wie des Glaubens, knüpfen sich in diesem Kriege an den Namen Friedrich.«

Der Gelehrte lächelte. »Mögen,« sagte er, »junge feurige Herzen sich immerhin schwärmerischen Hoffnungen blind ergeben, uns ältern Männern jedoch muß man schon einige Zweifel gestatten. Ich gestehe, mir wird bange, wenn ich meinen Gesichtskreis so in's Unermeßliche erweitert sehe. Sind denn Demuth, Zufriedenheit, und vor allen Genügsamkeit, keine Tugenden mehr? Der gute Mensch bedarf, um Gutes zu wirken, am Ende doch nur einen geringen Raum; in der engen Schranke befindet er sich glücklich, und jener Trieb in's Grenzenlose verwirret den Blick, ängstiget ein Herz, das sich seiner schwachen Kraft bewußt ist. Eine Frucht jener Reise möchte seyn, daß unserer Jugend jetzt nichts mehr ehrwürdig und heilig erscheint. Ein böser Geist des Tadels drängt die alte Liebe und Ehrfurcht hinweg, und so vieles wird lächerliches Vorurtheil gescholten, was recht eigentlich ein enges Band um die ehrwürdigsten Verhältnisse schlang. Jene großen Geister haben wohl selbst nicht bedacht, was sie alles vernichten, indem sie das Vertrauen tödten, die heiligste Kraft im Menschen. Um nur Einen Beleg hiefür zu geben, mag es mir erlaubt seyn, eines Vorfalls zu erwähnen, der sich noch vor Kurzem in meiner nächsten Umgebung ereignete, und der vielleicht dazu dienen wird, unsere beiderseitigen Ansichten zu vereinigen oder verständlich auseinander zu setzen. Wer kennt nicht den Haß, die zum Theil grausame Verfolgung, deren sich unsere Voreltern gegen die Juden schuldig machten? Dem allereinfachsten Verstande leuchtet hier der Vorwurf klar in's Auge, und dennoch muß man sich hüten, übereilt zu verdammen oder zu erheben. Eine arme Wittwe in Leipzig, die ihr Kind schon seit langen Jahren als todt beweinte, findet es durch besondere Fügungen lebend und gesund wieder; allein sie findet es in dem Hause eines Juden, der den verwahrlosten Sprößling, als er ihn aufgenommen, groß gezogen und in seinem Glauben unterwiesen hat. Das Entzücken der glücklichen Mutter geht bei dieser Entdeckung in Schmerz, ja sogar in Haß über, so daß sie sich, von bösen Einreden noch mehr befeuert, entschließt, den Retter ihres Kindes, seinen zweiten Vater, vor dem geistlichen Gerichte zu verklagen. Die Sache macht Aufsehen: es erheben sich Streitfragen, bis sich endlich die Meinung eines Mitglieds jenes Gerichts geltend macht. Dieses war ein junger Mann, von feurigem Geist, gebildet in der neuen Schule der Toleranz und Aufklärung. Wie? ruft er lebhaft und begeistert aus, der Jude sollte strafbar seyn, weil er, die Werke der edelsten Menschlichkeit ausübend, aus einem armen verlassenen Geschöpfe einen rechtlichen, arbeitsamen, tugendhaften Menschen bildete? Er sollte strafbar seyn, weil er zu diesen Wohlthaten noch den Glauben zufügte, den er für den reinsten hielt. Hat nur der Christ das Vorrecht, menschlich zu handeln?«

»Trefflich!« rief Lessing, »ein wahrhaft edler Mann.«

»Die trostlose Mutter,« fuhr der Gelehrte fort, »kam nun zu mir. Sie forderte nun auch meinen Rath, ob sie ihren Sohn, der seinen Erzieher innig liebte, nicht von ihm lassen mochte, jetzt durch gewaltsame Mittel, durch Androhung ihres mütterlichen Fluches von dem Verführer losreißen, oder ob sie sich in ihr Schicksal fügen, und das geliebte Kind zum zweitenmal verloren geben solle.«

»Ich bin begierig, zu erfahren, wozu Sie riethen,« rief Clarissa.

»Zu nichts Gewaltsamen. Ich suchte den Jüngling auf; durch allerlei kleine Dienste, die meine Vorsorge ihm erwies, brachte ich ihn mir allmählig näher. Er faßte Vertrauen und trat mir endlich ganz nahe. Mit freudigem Erstaunen erkannte ich in ihm die feste Grundlage eines sittlich gebildeten moralischen Characters; mit Demuth und Liebe nahm er meine christlichen Ermahnungen und Lehren an, und es nahete der Tag, wo es ihm frei stehen sollte, die Religion seines Erziehers beizubehalten oder sie mit der christlichen zu vertauschen. Der Treffliche machte mir die unbeschreibliche Freude, und trat zum Christenthum über. Er gestand an meinem Halse mit Freudenthränen, daß diese Wandlung mein Werk sey; sein einziger Kummer war die tiefe Betrübniß, die sein alter Erzieher bei diesem Ereigniß empfand. Wirklich überlebte dieser Würdige den Schmerz nicht lange. Ich war sein Pfleger am Sterbebette, und soll ich's nun gestehen, theure Gräfin, die Grundsätze dieses Greisen, der die Wahrheit, die Demuth, die Reinheit selbst war, erschütterten mich auf das heftigste. Ich, der Bekehrer, war nahe daran, selbst bekehrt zu werden, allein ich habe diese Thorheit eines zu schwachen Herzens nachher auf das empfindlichste an mir gezüchtigt.«

Die Gräfin lächelte; indem sie die Hand des ältlichen Mannes ergriff, sagte sie: »O Sie sanfter liebevoller Freund, wie überrasche ich Sie hier auf einem Gefühle, das Sie verdammen, und in Geheim doch nicht missen möchten. Will ich denn etwas Anderes, als diese edle Toleranz? Giebts denn nicht eine Liebe, die allen Menschen, ohne Ausschluß, gleich angehört? die wie ein reich ausgegossenes Meer, mit immer frischem Gewoge die fernsten Küsten verbindet und einigt. Wie kann ich mir einen Gott der Liebe, der Erbarmung denken, der durch Jahrhunderte hindurch ein armes Volk verdammt und verfolgt, indeß er ein anderes mit seltsamer Nachsicht verzieht, blos weil es seine Satzungen an diesen, und nicht an jenen Namen knüpft. Nein, Geliebter, lassen Sie mich nun auch aus meiner Erfahrung ein Beispiel erzählen, ein unbedeutendes Geschichtchen, wenn Sie wollen, doch bedeutend genug für mich und für meine geistige Entwickelung. Ich habe hierbei mehr gelernt, als bei den tiefsinnigsten Lehrsätzen unserer neuesten Philosophen. Die Begebenheit ist folgende. Das Geschick war gütig gegen mich, es gab mir und meinen Schwestern eine zärtliche Mutter, eine Mutter, in deren Geist und Herzen erfahrene Klugheit und hingebende Herzensgüte sich auf das Innigste verbanden. Sie betrübte uns nur Einmal auf das schmerzlichste, und dieses durch ihren frühzeitigen Tod. Wir mußten an ihrem Sterbelager erscheinen, und sie ging daran, das letzte rührendste Vermächtniß ihrer Liebe, jene kleinen Besitztümer unter uns zu vertheilen, welche sie im Leben zunächst im Gebrauch gehabt, und unter denen ein Ring das Hauptsächlichste war. Der einfache goldene Reif, ein altes Erbstück unserer Familie, hatte, wie die Sage ging, nebst dem Segen so vieler dahingeschwundenen Geschlechter, auch die Gabe empfangen, diejenigen, die in seinem Besitz waren, liebenswerth zu machen, und in der That, meine gute Mutter zeigte hiervon den rührendsten Beweis. Welche von uns sollte nun den Wunderring nach ihr besitzen? Ich gestehe, daß wir unter einander, obgleich durch die innigste Liebe verbunden, dennoch lebhaft den Stachel der Eifersucht fühlten; doch war es öfters geschehen, daß die älteste Tochter ihn erhalten, und so trat ich denn, gleichsam auf diese hohe rührende Ehre gefaßt, zu der Sterbenden, als sie mich, abgesondert von meinen Schwestern, an's Lager beschied. Ich empfing den Ring, zugleich ihren Segen, und triumphirte. Dieses Gefühl eines so unzärtlichen Triumphs hätte mir schon sagen sollen, wie unwerth ich des ächten Ringes war. Wie geschah mir aber, als ich nach der Mutter Tode bemerken mußte, daß meine Schwestern ebenfalls mit dem Ringe prangten; auch sie hatten ihn, eine von der andern nichts wissend, von ihr empfangen. Zorn und Unwillen brachen bei mir hervor. Nicht möglich! rief ich, sie, die beste der Mütter, hätte ihre Kinder täuschen können? Wir eilten, in Thränen gebadet, alle drei zum Vater, unter Schluchzen erzählten wir die Geschichte unseres Unglücks; zugleich blinkte in der Hand einer Jeden, bis auf das kleinste Merkmal, fürchterlich gleich, der helle Schicksalsreif. Der Vater schloß uns in seine Arme.

›Meine Töchter!‹ rief er, ›erkennet die Liebe, die Gerechtigkeit, die Güte eurer Mutter; ihr waret alle drei ihr gleich lieb, alle drei ihre Kinder; konnte sie es wohl über ihr Herz bringen, einer den Vorzug, gleichsam die Gewalt über die andern zu geben? Mir vertraute sie das Geheimniß, welches ihr zärtliches besorgtes Herz ersann: zwei Ringe ließ sie verfertigen, dem achten täuschend ähnlich, und so besitzt eine von euch in der That den ächten Reif: welcher es jedoch ist, werdet ihr, und wenn ihr noch so genau eure Ringe vergleicht, nie erforschen.‹

›Ich habe den ächten!‹ rief ich mit unwilligem noch nicht gebeugten Stolze; ›kann eine andere ihn wohl besitzen als die ältest geborene?‹

›Und weßhalb gerade die?‹ fragte mein Vater ernst, ›ist es denn ein Grund, mehr Liebe zu verlangen, weil man sie zuerst in Anspruch genommen? Bist Du mehr ihr Kind, als die jüngste Tochter?‹

›So ist sie es!‹ rief ich, und meine Wange glühte; ›o gewiß! war sie nicht immer der Mutter Liebling?‹

›Und so ein geringes Maaß gibst Du der Mutterliebe,‹ entgegnete mein Vater mit bekümmerter Miene, ›als könne sie nur Ein Kind lieben? Doch, meine Töchter, es gibt allerdings ein Mittel, zu erforschen, wer von euch den ächten Ring besitzt.‹

›Und welches?‹ riefen wir alle drei heftig.

›Besitzt nicht der Ring die Kraft, seine Eigentümerin liebenswerth zu machen? Wohlan, meine Kinder, da habt ihr den Schlüssel zum Geheimniß. Welcher von euch wird's gelingen, der edlen Verklärten am ähnlichsten zu werden, welche werde ich als die Erste im Wettlauf zu so schönem Ziele eilen sehen, und welcher, als der Liebenswerthesten, werde ich Glück wünschen dürfen zum Besitz des Wunderringes?‹ –

Bei diesen Worten übergoß Schaam unsere Seelen. Gesenkten Blickes standen wir da; die ehrwürdige Gestalt unserer Mutter trat zwischen uns, sie war es, die unsere Hände zusammenfügte, ein Kuß der Liebe schmolz uns in einander, und so sanken wir vereint zu den Füßen des Vaters. Vor allem peinigte mich der Stachel schmerzlicher Reue: du bist nicht die Erwählte, dein Stolz, dein Hochmuth, wie fern ist er dem göttlichen Gesetz der Liebe! Eine Nacht voll der bittersten Thränen, der heilsamsten Schmerzen folgte dieser Prüfung; ich stritt mit meinem unbezähmbaren Charakter, und endlich ging ich siegreich hervor. Wohlan, rief ich, es gilt, von einem eingebildeten Throne herabzusteigen, im Reich der Erkenntniß gibt es weder Hoch noch Niedrig, die größere Tugend, die reinere Sitte, die Demuth entscheiden.«

Der Gelehrte ergriff die Hand der Gräfin. »Schöne, edle Freundin,« rief er, und aus seinen Augen perlten Thränen, »wie wunderbar und heilig ist Ihr Erlebniß, ja, wenn die Macht die Herzen sich zu unterwerfen, eine Gabe des ächten Ringes ist, so sind Sie in seinem Besitz.«

»Böser Freund,« rief Clarissa, »so wollen Sie mir geflissentlich auch das geringe Verdienst rauben, das ich, in Anwendung jenes schönen mütterlichen Vermächtnisses, mir aneignen darf. Deuten Sie jenes Bild auf die verschiedenen Religionen. Nehmen Sie an, daß ich in meinem Stolz den jüdischen Glauben darstelle, ihn, der sich für bevorrechtet hält, weil er der ältere ist, und der nun gewahr wird, daß ein jüngerer sich ebenfalls für auserwählt ausgibt, ja endlich ein dritter die gleichen Ansprüche geltend macht, daß diese drei bestimmt sind, mit einander im Wettkampfe zu ringen, und daß die reinste Menschenliebe, die höchste Tugend, die edelste Toleranz endlich entscheiden muß, welche Religion sich ihrem göttlichen Vorbilde am meisten nähert. Lange haben diese drei feindlichen Kräfte sich blutig bekämpft, jetzt erscheint die Zeit, in der sie sich friedlich zu vergleichen streben, und diese Zeit ist unser aufgeklärtes Jahrhundert, das Jahrhundert der Toleranz, der Freiheit.«

Lessing hatte stumm zugehört, jetzt hob er begeistert seine Blicke zu der holden Gestalt, die im Feuer ihrer Rede hoch aufgerichtet dasaß, die bleichen Wangen von einem leichten Purpur überflossen.

»Himmel!« rief der Jüngling, »welche Worte, wie klar, wie sicher, wie lebendig zeigen Sie mir mein eigenes Denken und Empfinden, wie fassen Sie in bestimmte Bilder, was sich nur unsicher und dunkel in meinem Geiste zubereitete.«

Die Gräfin reichte ihrem Freunde die Hand, ein Blick ihres schönen seelenvollen Auges zeigte, wie werth es ihr war, sich von ihm verstanden zu sehen, mit ihm die Gesinnung zu theilen. Unser Dichter schwärmte. So nahe der Geliebten, in so glücklicher Einigung mit ihr, getragen von seinen Lieblingsideen, durch ein ernstes schönes Seelengespräch noch inniger mit der Reizenden verbunden: was durfte er mehr wünschen? Nie fühlten sich drei Menschen, in vertrauter Mittheilung, im gemüthlichen Zusammenseyn glücklicher, als unsere Reisenden; allein sie sollten mitten in der heitern Welt der Phantasie an die rauhe der Wirklichkeit gemahnt werden.

Man fuhr durch einen düstern Wald: die dunkeln Föhren rauschten zu beiden Seiten des Weges über der dahin rollenden Kutsche zusammen. Der Postillion trieb eilig vorwärts, denn er fürchtete diese Gegend, berüchtigt durch kürzlich verübte Gewaltthaten, überschwemmt von unruhigem Gesindel aller Art. Das aufmerksame Ohr des alten Christian hatte schon lange verdächtige Laute durch den Wald schallen hören, prüfend, blickte er den einzelnen Soldaten in die bärtigen Gesichter, welche mit Gepäck beladen, auf der Landstraße daherzogen, und die sowohl durch ihre Kleidung als ihre Mienen den Uebergang von dem sehr ehrwürdigen Stande der Vaterlandsvertheidiger zu dem minder ruhmwürdigen der Landstreicher zu bilden schienen. Der Grenadier theilte seine Besorgnisse dem Schwager Postillion mit, und dieser zog wiederum den jungen Jäger hinter dem Wagen in's Vertrauen.

»Wenn wir nur ein besseres Stück Mannsbild im Wagen hätten,« brummte Christian, »aber der schwächliche blasse Knirps von Professor, und das zierliche Pastor-Söhnchen, es ist verdammt luftige Waare. Doch, Schwager, wenn es dran gehen sollte, so stehen wir beide noch unserm Mann, he?«

Der Postillion nickte schweigend mit dem Kopfe.

»Donnerwetter,« setzte der Kammerdiener seinen Discurs fort, »wie das im Wagen brummt und plappert, als säßen die zwölf kleinen Propheten drinnen, und läsen sich einander ihre Prophezeihungen vor. Aber so ist das Weibervolk. Siehst Du nichts, Schwager, auf dem Wege dort? Sperr' Deine Augen auf, lieber Sohn, gib Deinen Thierchen die Fuchtel, fahr zu, fahr zu!«

Noch immer herrschte ungestört im Wagen der heitere Verkehr edler Geister, noch blühte der gedankenreiche Friede, noch flogen die leichten farbigen Bälle des Scherzes und der Freude, da machte plötzlich ein donnerndes »Halt!« den Wagen und das Gespräch zugleich stehen. Die Bonne, welche am meisten aufgelegt war, ihre Aufmerksamkeit den äußern Gegenständen zu weihen, und die von Zeit zu Zeit mit ihrer spitzigen Blondenhaube aus dem Fenster geblickt hatte, sank jetzt mit einem Schrei in die Polster des Wagens zurück. Im gleichen Moment wurde der Schlag aufgerissen, Soldaten zu Pferde und zu Fuß umgaben die Kutsche, überall sah man bärtige verwegene Gesichter hineingucken, Geschrei, Pferdegetrampel, Fragen und Gelächter tönten laut durcheinander. Es fand sich, daß man sich der Grenze einer ansehnlichen Besitzung genähert hatte, auf der ein Wachtposten errichtet worden war.

Ein Mann zu Pferde sprengte jetzt an die offene Wagenthüre, er neigte sich etwas, um hineinzublicken, und fragte dann mit derber, rauher Stimme: »Was für Bagage? Wo will der Troß hin? Hab keine Permiß, ihn passiren zu lassen, heraus aus dem Karren und auf die Wache.«

Christian war herabgesprungen, und drang wüthend auf den Reiter ein; dieser wehrte sich nur leicht, ein Gelächter seiner Kameraden begleitete den ungleichen Kampf. Clarissens Stimme brachte den alten Diener nur mit Mühe zur Ruhe. Lessing und der Gelehrte verließen ihre Sitze; der letztere rief, indem er sich gegen den Reiter wandte: »Wir kommen aus der Gegend von Dresden, und haben freie Pässe bis Bautzen.«

»Nichts da,« schrie der Soldat, »Pässe hin, Pässe her, dergleichen gilt heutzutage nichts. Fort, hinein in die Wachtstube, dort wird man die Röcke der Herren und die Fähnchen der Mamsellen untersuchen.«

Die Bonne sank ohnmächtig zurück. Getümmel, Gelächter, rohes Lärmen und Schreien von allen Seiten. Einige kecke Bursche machten Anstalt, die Damen mit Gewalt herauszukomplimentiren, doch fanden sie in Lessingen, der sich vor die Thüre hingestellt, einen tapfern Widerstand. Indessen hatte der Gelehrte die nöthigen Papiere hervorgesucht, und bestand darauf, vor den wachehabenden Offizier geführt zu werden.

»Da steht er!« rief eine Stimme, und in dem Moment trat ein junger Mann von gebietender Haltung hervor. Er warf einen prüfenden Blick auf den Wagen und die Gesellschaft, dann heftete er sein Auge verdrießlich auf die Papiere, die ihm der Gelehrte hingereicht hatte. Schweigend umstanden ihn die Gruppe der Soldaten, so wie die Gesellschaft der unglücklichen bedrohten Reisenden.

Plötzlich ging der finstere Ausdruck des Lesenden in ein freudiges Staunen über, noch einmal musterte sein Blick die Umstehenden, dann erhob er seine Stimme zur Frage: »Meine Herren, welcher von Ihnen ist der Professor Gellert?«

»Ich bin es,« entgegnete der Gelehrte.

Eine lebhafte Röthe färbte die Wangen des Offiziers, seine Blicke glänzten; bescheiden nahte er sich dem ältlichen Manne, und indem er ihm eine militärische Verbeugung machte, sagte er: »Mein Herr, wir haben Befehl, Sie sowohl als ihre Begleitung ungehindert passiren zu lassen; man weiß, daß Sie diese Straße bereisen, und ich wollte eher mich selbst der größten Gefahr aussetzen, als das mindeste Ungemach einem Manne zufügen, den Jedermann achtet und ehrt. Steigen Sie ein, und erreichen Sie glücklich das Ziel Ihrer Reise.«

Er trat mit diesen Worten zurück; zugleich entfernten sich die sämmtlichen Soldaten vom Wagen, indem sie in einer kleinen Entfernung stehen blieben, um von dort aus aufmerksame und staunende Blicke auf den Mann zu richten, der eine so plötzliche unerwartete Aenderung der Scene bewirkt hatte, und der jetzt freundlich und, wie es schien, durch die allgemeine Aufmerksamkeit befangen gemacht, vor seinen Bewunderern dastand. Als die Gesellschaft, nach erstatteten Dankbezeugungen von dem gehabten Schreck sich erholend, jetzt Anstalten traf, die Reise fortzusetzen, trat ein alter bärtiger Soldat auf Gellerten zu, und indem er ihm eine ungeschickte Verbeugung machte, rief er:

»Mit Erlaubniß des Herrn Offiziers wollten wir Ihn bitten, Herr Gelehrter, daß Er uns eine seiner Fabeln hersage. Es ist nur, damit unser Einer, kommt er einmal heim zu Frau und Kind, sagen könne: ich habe auch den lieben, frommen, berühmten Professor aus Leipzig gesehen, und er hat uns eine Fabel vorerzählt. Halten's zu Gnaden, lieber Herr.«

Gellert lächelte.

»Ja, ja,« rief der Reiter, »erzählt nur, sonst nehmen wir Euch doch gefangen.«

»So muß ich wohl!« entgegnete der Fabeldichter, und fing auf dem Platze, vor dem noch geöffneten Wagen stehend, umschlossen von einem aufmerksamen Kreis von Bauern und von Kriegern, die, auf ihre Gewehre gestützt, den kleinen blassen Mann in ihrer Mitte, anblickten, mit lächelndem Munde und tönender Stimme eine seiner bekanntesten Fabeln herzusagen. Es war die, welche mit den Worten beginnt:

Phylax, der so manche Nacht
Haus und Hof mit Treubewacht, u. s. w.

Als die Verse geendet waren, drückten die Zuhörer auf verschiedene Weise ihre Theilnahme und Bewunderung aus. Die alten Krieger sahen meistens stumm zu Boden nieder, Mädchen und Weiber, welche hinter den Soldatengruppen lauschten, trockneten sich mit den Schürzen die Augen; einige Bauern blickten andächtig gen Himmel, weil sie meinten, das Vorgetragene sey eine Predigt.

Endlich trat, als der Gelehrte eben wieder in den Wagen steigen wollte, ein junger Rekrut auf ihn zu, und rief lautschluchzend: »Na, leb Er wohl, Phylax!«

Der Offizier und einige Soldaten lachten.

Der Wagen rollte jetzt ungehindert fort. Unsere Reisenden gewannen Zeit, über dieses seltsame tragikomische Intermezzo ihres ernsten Gesprächs sich zu belustigen. Dem Professor stattete man Danksagungen ab, und besonders erschöpfte sich die Bonne in Lobsprüchen und galanten Anspielungen, indem sie ihren Ritter einen neuen Orpheus nannte, dem es gelungen, die wilden Thiere des Waldes durch den Klang seiner Lyra zu bezwingen.

»Ich freue mich nur,« entgegnete der freundliche Mann in seiner anmuthigen sanften Weise, »daß ich nun auch das Meinige zur Aufklärung und Humanität habe beitragen dürfen.«

»In der That,« rief Clarissa, »Sie haben das friedfertigste Mittel gewählt. Ein Ziel, das unser großer König beim Donner der Kanonen, bei der Fackel der Verwüstung verfolgt, erreichen Sie spielend durch eine einzige scherzhafte Erzählung.«

Man lachte, und die gute Laune war völlig wieder hergestellt; nur unser junger Dichter saß, den Blick vor sich hingerichtet, sinnend in die Wagenecke gedrückt. Sein Geist weilte in fernen Räumen, und nur das Auge der Geliebten, das jetzt fragend auf ihm verweilte, vermochte ihn aus den seiner Phantasie angewiesenen glücklichen Regionen zurückgerufen. Auf ihre Fragen erwiderte er:

»Wie soll ich's verbergen, daß unser früheres Gespräch mich auf das lebhafteste jetzt wieder beschäftigt. Aus diesem Stoffe muß sich ein Gedicht, eine Erzählung, am besten ein Schauspiel, formen lassen.«

»Sie wollen doch nicht,« rief Clarissa, »mich und mein einfaches Erlebniß auf's Theater bringen?«

Der Dichter fuhr begeistert fort: »Wie, wenn man ein Gedicht schaffen könnte, dessen Mittelpunkt jene tiefsinnige Parabel mit den drei Ringen bildete? Wenn Christ, Jude, Muselmann streitend aufträten, und jenes schöne Gleichniß glänzend und befriedigend die Streitfrage löste? Welche Gruppen edler Gestalten schau' ich im Geiste, versammelt um das alte dunkle Räthsel der Menschheit, endlich, da keine es genügend zu lösen vermag, sich über der Stätte so vielen Elends, über dem Grabe ganzer hingemordeter Geschlechter, friedlich die Hände reichend. Ach, ich sehe sie vor mir, die Edlen, einer unter ihnen der Edelste, der zuerst und freiwillig die Versöhnung anbietet. Ein Greis muß es seyn, so zeigt ihn mir der Geist, ein Greis mit dem überströmenden Herzen eines Jünglings, weise und zugleich feurig!«

Gellert und die Gräfin blickten sich überrascht und lächelnd an. »Man sehe,« rief der Gelehrte, »welch ein wunderliches Ding es ist um einen Dichterkopf! Da ist sogleich ein Gemälde entworfen und ausgeführt, ohne daß wir die Farben haben bereiten, die Tafel haben aufstellen sehen.«

»Ein herrliches Gedicht!« schwärmte der Jüngling weiter; »Plan und Entwicklung einfach, doch voll Würde. Wo so große Fragen entschieden werden, darf keine geringe tändelnde Intrigue sich zeigen. Männer handeln miteinander um den köstlichsten Schatz ihres Busens, ernste durch's Leben geprüfte und bewährt gefundene Männer. Der Christ, rauh, stolz – er könnte der jüngste seyn, der Muselmann stolz, doch zugleich edel, noch nicht verweichlicht in seinem strengen Prophetenglauben durch die Künste seines Serails, und dann der Hebräer – sanft, ernst, liebevoll, weise! – Von ferne könnte eine unbedeutende doch edle Liebe hineinschimmern, gleichsam ein flüchtiges Roth auf die entschleierten Bergkolosse werfend.«

»Vollenden Sie es!« rief Clarissa, »verwirklichen Sie diese Ideen, sie scheinen mir eben so kühn als großartig. Ich werde dann den Ruhm haben, Ihnen den ersten Anlaß gegeben zu haben.«

Der entzückte Jüngling vergaß sich und seine Umgebung, leidenschaftlich faßte er ihre Hand, und rief, indem Thränen in seinen Augen glänzten: »Besitze ich denn etwas in meinem Geist, in meinem Herzen, was Sie, Clarissa, nicht in mir hervorgerufen hätten? Ich bin Ihr, Ihr Eigenthum! Ach daß dennoch so Vieles sich trennend zwischen uns drängen darf!«

Clarissa schien auf einen Moment befangen, dann blickte sie den Begeisterten mit dem klaren Auge voll Güte und Geist an. Sie entzog ihm nicht ihre Hand, sie ließ sie ihm; doch gerade diese Ruhe und Hingebung erinnerte ihn, daß er in seiner ungestümen Regung sich habe fortreißen lassen.

Gellert, um seine jungen Freunde zu schonen, hatte unterdeß ein Gespräch mit der Bonne angeknüpft; jetzt wandte er sich wieder zum Dichter und sagte: »Was jene Stoffe anbelangt, so meine ich, daß sie sich hauptsächlich aus zwei Gründen nicht wohl zur Bearbeitung für die Bühne eignen möchten. Erstlich scheint mir in der gegebenen Aufgabe zu viel Didaktisches, zu wenig dramatisches Motiv zu herrschen, und dann – ist wohl der Gegenstand selbst ganz passend? Dürfen wir wohl unsern Glauben als ein Kunstwerk behandeln, ihn nach eigensinnigen Gesetzen des Effekts modeln? Schon die Künstlichkeit der dramatischen Form, auch der allereinfachsten, würde Kälte und Zwang erscheinen lassen. Für die Eingeweihten wäre alsdann die Verhandlung zu wichtig, für die große Menge erschiene sie unbedeutend und unergötzlich.«

»Wenige Jahre zurück,« nahm die Gräfin das Wort, »wäre dergleichen auch gewißlich vergebliches Bemühen gewesen; indeß die gegenwärtige Zeit zeigt sich schon um Vieles vorbereiteter.«

»Und soll denn die Bühne immerdar auf so niedriger Stufe stehen bleiben?« sagte Lessing. »Was diese Kunst leisten könne, ist uns vielleicht allen noch nicht klar. Mir schweben die höchsten Muster vor. Will sich ein Dichter kraftvoll und überall hin wirkend seiner Zeit bemächtigen, will er Farbe und Richtung dem Geschmack mittheilen, mit Einem Worte, will er ganz als Dichter in der vollen Bedeutsamkeit seiner hohen Sendung erscheinen, so muß er dramatischer Dichter seyn. Unser modernes complicirtes Leben, mit seinen tausend durcheinander laufenden Fäden, seinen streitenden Gegensätzen von Herkömmlichem und Freiem, ist ein Gewebe so seltsamer Art, daß das tiefste Studium des Philosophen, vereinigt mit dem hellsten Seherblicke des Dichters, dazu gehört, es darzustellen, und so entsteht das Drama. Was haben wir bis jetzt in dieser Weltpoesie gehabt, und was können wir haben? Spielende Tändeley ist unser Theater, und es kann eine ernste Schule des Lebens und der Sitten seyn; geschmacklose Unnatur hat es bis jetzt gezeigt, und es ist bestimmt, die feinsten Muster des Geschmacks, die köstlichsten poetischen Gemälde zu zeigen. Wohlan, möge denn die Menge diese Ideen, welche jetzt die großen Geister beschäftigen, zuerst von der Bühne herab, in einer allgemein verständlichen Form, predigen hören.«

»Ein Dichter, der diese Grundsätze in's Leben führt,« rief Clarissa, »wird der Schöpfer der teutschen Bühne seyn, und nicht allein dieses, er wird die Poesie selbst, und alle mit ihr verschwisterten Künste aus dem Staube der Erniedrigung, aus dem Zwange der Schule herausheben, um sie dem frischen Leben, dem gegenwärtigen geistigen Bedürfniß anzuschließen. Und Sie, Lessing, Sie dürfen diese schönen Ziele uns zuführen.«

»O mein Vaterland!« rief der Jüngling gerührt, »wenn ich dir das werden könnte! Wenn mein Name dereinst genannt würde, als der Name dessen, der unwürdige Ketten zerbrach, den erlöseten Geist einem freiern Leben entgegen führte! Doch nein, schmeichelnde Träume verführen mich. Haben Sie nicht, Clarissa, den großen Geistern Frankreichs ein für allemal den Vorrang eingeräumt?«

Die Gräfin lächelte. »Zwischen unserm ersten Gespräch und dem jetzigen hat sich vieles überraschend verändert. Schon sind jene prophetischen Worte, die ich damals an den deutschen Dichter sprach, halb in Erfüllung gegangen, noch wenige Jahre, und Sie werden es ganz seyn.«

Der Jüngling schwieg. Eine Pause entstand nach dieser lebhaften Rede, und endlich nahm Gellert das Wort: »So muß ich denn einsehen,« sagte er, »daß ich, unter jugendlichen Geistern weilend, selbst nur noch einer vergangenen, mächtig gealterten Zeit angehöre. Grünend sproßt eine Welt um mich her, aus deren Zweigen ein heftig treibender Frühling die bunten farbigen Blüthenlichter hervorbläst. O meine Freunde, welch' eine seltsame Sache ist's um eine Zeit. Viele Geister erscheinen zu früh, andere kommen zu spät, wenn gerade das, was sie lieben und verehren, zu Grabe getragen wird. In ihrem unverstandenen Schmerze, wenn sie so dem Leichenzuge ihres Glückes folgen, erscheinen sie der Menge wohl thöricht. So bin auch ich bestimmt, die alte, genügsame, zufriedene, beschränkte, in ihren Schranken sich glücklich fühlende Welt zu Grabe zu geleiten, und an mir vorüber schreiten die jungen Geister einem neuen überraschenden Lichte entgegen. Ja wohl hatte jener treuherzige Bursche nur zu sehr recht, der mich selbst den Phylax nannte. Bin ich es denn nicht, der noch treu, still und ergeben auf der Schwelle des alten Hauses liegt, unermüdlich bewachend die Schätze des Hausherrn, und in dieser Treue nicht ahnend, daß unterdeß der alte Herr gestorben, daß eine neue glänzende Wirthschaft in den lieben bekannten Räumen eingerichtet worden?«

Die Gräfin wandte sich drohend zu ihrem alten Freunde, der ihr jedoch lächelnd in's Auge sah.

»Lassen Sie mich nur,« rief er, »ich bin ja glücklich. In Ihrer Nähe, meine edle Freundin, erscheint alles Herbe gemildert, jede Düsternheit gelichtet. Könnte ich nur immerdar in Ihrer Gesellschaft seyn und an der Seite des jungen Freundes dort, auf den unser deutsches Vaterland wahrhafte stolz seyn darf. Möge denn immerhin meine Thätigkeit auch geschlossen seyn.«

Lessing reichte dem edlen Manne mit ehrerbietiger Rührung die Hand. Die Gräfin brachte andere Gegenstände der Unterhaltung auf. Das Gespräch nahm wiederum eine heiterere Richtung.

Unsere Reisenden waren auf dem Schlosse angelangt. Der Dichter eilte seine Eltern wieder zu sehen. Er fand sie auf seine Zurückkunft schon vorbereitet und sie schlossen den blühenden, ihnen gleichsam wieder geschenkten Sohn mit größter Herzlichkeit in die Arme. In des Vaters Wesen war eine besondere Veränderung sichtbar, er zeigte sich dem Sohne mittheilender, seine väterliche sonst so strenge Miene hatte offenbar eine Beimischung von Achtung, von Anerkennung erhalten. Die sich immer gleich bleibende Mutter löste dem Erstaunten in wenigen Worten das Räthsel.

»Ist es denn ein Wunder,« sagte sie, »Du kehrst berühmt und ausgezeichnet zurück, man hört nah und fern von Dir sprechen, und es haben Dich Männer gelobt, auf deren Worte der Vater schweres Gewicht legt; ist es denn ein Wunder, mein Sohn, daß wir uns jetzt Deiner besonders freuen? Der Vater wird Dir dieses nie eingestehen, doch, da er sich nie verstellen kann, so hast Du es jetzt sogleich an seinem Wesen bemerkt.«

»Da hättet Ihr, theure Mutter, damals immerhin erlauben sollen, daß ich meine Verse machte!«

»Lieber Sohn,« rief die Alte, und schloß den Jüngling in ihre Arme, »die Mutterliebe ist ein bestochener Richter: thue was Du willst, Du wirst mir's immerdar recht machen, ich könnte Dich nie verdammen. Wäre auch Alles anders und schlimm gekommen, ich hätte Dich doch nicht mit weniger Zärtlichkeit in die Arme geschlossen.«

Gellerts erhebende Anerkennung des jungen Dichters machte dem alten Lessing die größte Freude.

»Das Lob dieses Mannes,« sagte er zu seiner Frau, »der ein Weiser, ein Dichter, was aber mehr als dieses, ein achter Christ ist, giebt den erquicklichsten Himmelsthau, in welchem die junge Pflanze zur Freude Gottes und der Menschen emporblühen mag. Jetzt kann er seinen Weg freudig dahin wandeln.«

Unser Ankömmling sollte nun auch das Glück genießen, von seinem Freunde Nachricht zu erhalten. Der Philosoph war von Berlin ausgewandert.

»Ich habe,« lautete eine leichtfertige Stelle im Briefe, »mit einem trefflichen Manne mich vergesellschaftet, einem Freidenker, der, seitdem er zum drittenmal von seiner kleinen Pfarre vertrieben worden, eine wahre Leidenschaft zu mir gefaßt und mir aus der Ferne ein Bündniß angeboten hat. Ich nahm es unbedingt an, und werde nun den Redlichen auf seiner dornenvollen Lebensbahn ein Stück Weges hin begleiten. Er entäußerte sich seiner Kinder, ich mich meiner Schulden, und wir ziehen beide in irgend ein gelobtes Land, wo wir dann Edles und Herrliches in Fülle leisten werden, so weit uns der Schnabel gewachsen. Vergessen Sie nicht, theurer Freund,« hieß es am Schluß des Schreibens, »die großen Entschlüsse, die wir gefaßt haben. Ich gehe, mich auf dem Grabe Sabinens zu begeistern; sie, das todte Mädchen, soll meine künftige Liebschaft seyn. Es war ein wunderbarer Kampf von Verwüstung und Heiligkeit in der Seele der kleinen Miß Sara, die Sie nie ganz zu würdigen verstanden haben.«

Lessing faltete den Brief mit stummem Schmerze zusammen. Er hatte den Freund wahrhaft geliebt, es that ihm wehe, den Wilden, Ungefügsamen immer weiter und weiter von sich abirren zu sehen.

»Sind denn,« rief er bei sich selbst, »Beharrlichkeit, Selbstüberwindung, Ruhe und Geduld keine Tugenden mehr? Muß denn ein edles Feuer, bestimmt die Welt zu säubern, an dem Bau des eigenen Hauses zehren? Unglücklicher Freund, dein Irregehen zeigt mir meinen Weg!« –

Es wurde, um die Wiederkehr des Sohnes zu feiern, ein Familienfest angeordnet. Der Professor Gellert ließ sich überreden, noch einige Tage zu bleiben, um Zeuge desselben zu seyn; auch die reiche Wittwe Dorothea nebst ihrem Bruder Christlieb, der jetzt viel von den Ver diensten und trefflichen Eigenschaften des jungen Lessing sprach, durften gegenwärtig seyn. Unser Dichter, so sehr er die Freude seiner Eltern theilte, vermochte dennoch nicht mit ausschließender Aufmerksamkeit ihren Bemühungen sich zu widmen. Die Angelegenheiten auf dem Schlosse zogen ihn mächtig in die Nähe der Geliebten. Clarissa's Verlobung rückte heran. Sie hatte sich entschlossen, dem Grafen Felix ihre Hand zu reichen, und dieser glückliche Bewerber erschien, um seine schöne Beute in Empfang zu nehmen. Lessing durfte täglich jetzt seine bräutliche Freundin sehen.

Eines Abends, in einer einsamen Stunde, erwiderte sie auf seine Fragen: »und weßhalb sollte ich diesem Wirkungskreis, der sich mir darbietet, mich entziehen? O Theurer, keine kranke Empfindelei ins Leben gebracht! Die Zeit, der wir angehören, leidet dieses am wenigsten. Ich könnte die Beleidigte spielen, ich könnte ihm es merken lassen, daß er, obwohl, wie ich weiß, aus guter Absicht, sich meinen Planen entgegengesetzt, ich könnte mich darin gefallen, einen Schleier rührender Entsagung um mein Daseyn zu hüllen, um dann in Thränen und ungerechten Klagen mich zu verzehren. Doch nein! Es ist ein edler Mann, dem ich jetzt angehören will, an seiner Seite werde ich auf meine Weise wirksam auftreten können. Die Ehe sehe ich als ein Mittel an, in der Welt eine feste Stellung zu erlangen. Nie würde ich einem unedlen Manne meinen Besitz zusagen, doch eben so wenig einem, zu dem mich eine frühere Jugendneigung hingezogen. Die bürgerlichen Verhältnisse und die Gefühle eines jungen schwärmenden Herzens sind zu schroffe Gegensätze, als daß sich jemals ein dauerndes Glück auf ihnen begründen ließe. Und so, geliebter Freund, lassen Sie uns unsere verschiedenen Bahnen antreten, einer von dem andern versichert, daß es dasselbe nie aus dem Auge lassen werde, auf die schönste Weise eines von des andern inniger Theilnahme überzeugt. Vergessen Sie nie die Clarissa, welche Ihnen als jugendliches begeistertes Mädchen den Kranz der Weihe aufdrückte; ich werde nie den Mann vergessen, vor dem ich mich in Ehrfurcht entfernt halten müßte, wenn nicht ein wärmeres Gefühl, als Ehrfurcht und Bewunderung, mich ihm wiederum näher brächte.«

Ein holdes Erröthen überflog ihr Antlitz bei diesen Worten. Eine Pause herrschte, dann erhob sie sich, drückte einen Kuß auf die Stirne des Dichters, und war verschwunden. In die seligsten Träume versunken blieb der Glückliche zurück.

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