Hermann Ungar
Knaben und Mörder
Hermann Ungar

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Ein Mann und eine Magd

Ich bin ohne Eltern aufgewachsen. Denn mein Vater starb kurz nach meiner Geburt. Er war Rechtsanwalt in der Provinzstadt, in der ich geboren wurde. Ich besitze nichts, was mich an meinen Vater erinnert, außer einem Brief an meine Mutter.

Nach dem Tode meines Vaters, der meiner Mutter sogar ein Stück Geld hinterlassen hatte, verließ meine Mutter, von einer starken Leidenschaft oder von Abenteuerlust getrieben, mit einem Ingenieur die Stadt und ließ mich vollständig mittellos mit einem Dienstmädchen in ihrer Wohnung zurück. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört. Bloß der vorhin erwähnte Brief wurde später von einem Gericht in Kanada als ihre Verlassenschaft meiner Heimatgemeinde übermittelt. Damals war ich sechs Jahre alt.

Es ist klar, oder wenigstens verständlich, daß mich nichts meinen verstorbenen Eltern verbindet. Ich verstehe noch heute nicht, was Liebe zu Eltern ist. Das Organ hierfür ist bei mir nicht vorhanden: ich kann mir nicht vorstellen, was Elternliebe überhaupt bedeutet; sie läßt mich ungerührt bei anderen. Was mir gefehlt hat und wonach ich mich oft gesehnt habe, war ein warmer Mittagstisch oder ein Dach über den Kopf oder ein gutes Bett, aber einen Vater oder eine Mutter habe ich nie vermißt. Wenn ich »elternlos« sage, denke ich an Not und schlechte Kindertage. Sonst drängt sich mir keinerlei Vorstellung bei diesem Worte auf.

Ich war also allein und ohne Mittel von meiner Mutter zurückgelassen. Die Stadt hatte für mich zu sorgen und das tat sie, indem sie mich dem »Siechenhaus«, das ein reicher Bürger gestiftet hatte, übergab. In diesem Siechenhaus waren vier Freiplätze für Greise und zwei für Knaben und ich habe als einer dieser Knaben vierzehn Jahre meines Lebens verbracht.

Ich bin ein neuer Anfang gewesen. Ich wuchs heran ohne Tradition. Nichts Bewußtes hat mich der Vergangenheit verbunden. Ich habe nichts von meinem Vater gelernt und leider nichts von ihm geerbt. Dem Leben stand ich ohne vorgefaßte aufgezwungene Meinungen und ohne eingetrichterte Prinzipien gegenüber, in denen andere, wenn ich es mir recht vorstelle, schon durch die Atmosphäre eines Elternhauses aufwachsen. Was neu war, machte mich staunen und lockte mich. Auch der Trieb der Geschlechter zueinander schien mir den im Elternhause Aufwachsenden irgendwie bekannt zu sein allein dadurch, daß sie Mann und Weib miteinander sehen und sich einer Mutter in Liebe verbunden fühlen. Unvorbereitet, selbst ihren Duft nicht ahnend, trafen mich die erwachten Sinne.

Aber ich gehe weit vom Wege ab mit solchen Betrachtungen und sollte der Reihe nach alles erzählen. Wie das Haus aussah, wer es bewohnte und was sich weiter begab. Das Siechenhaus befand sich in einem alten schmutziggrün lackierten Giebelbau mit vielen Fenstern, deren jeder Flügel acht Scheiben hatte. Das ganze Haus machte auf den ersten Blick den Eindruck größter Unregelmäßigkeit. Ich glaube, es ist aus der Verbindung zweier verschiedener Gebäude entstanden. Zur Tür führten zwei ausgetretene Steinstufen und links neben der Tür stand eine Steinbank, wenn man die durch jahrelange Benützung glatt gescheuerte, auf zwei gedrungenen Blöcken ruhende Steinplatte so nennen darf. Auf dieser Steinbank bin ich manchmal gesessen, wenn ich vom Spiel mit Knöpfen und Kugeln müde war.

Auch von innen sah das Siechenhaus nicht freundlicher aus als von außen. Die ausgetretenen steilen Stufen ins erste Stockwerk, die morsche Tür in das Vorhaus, die eine schrille Glocke in Bewegung setzte, die dunklen Flecken in der angegrauten Malerei der Wände, alles das ist nicht dazu angetan, in mir helle Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit zu erwecken. Ich weiß, daß ich nie etwas Fröhliches in diesem Haus erlebt habe. Ich glaube, daß in diesem Haus nie gelacht wurde. Ausgelassen, laut war ich vielleicht mit anderen Kindern, wenn wir in den Winkeln der alten Gasse oder auf dem schmutzigen Platze vor der Schule spielten. Wenn ich aber das Haus betrat, war mein Herz von einem Druck beengt, den ich sogar heute noch, denke ich an das Siechenhaus zurück, in mir spüre.

Vom Vorhaus führte rechts eine Tür zur Wohnung unseres Waisenvaters und links führten einige Treppen zu den Räumen, die wir bewohnten. Nur zwei-, dreimal habe ich einen Blick in die Wohnung unseres Waisenvaters, den wir bei seinem bürgerlichen Namen, Herr Mayer, nannten, geworfen. Dort gab es Tischtücher, Familienbilder, Sofa und gepolsterte Stühle. Mir schienen diese Räume als Spitze irdischen Luxus. Und Herr Mayer als glücklichster Mensch. Heute weiß ich, daß auch er ein armer, auf das Gnadenbrot harter Leute angewiesener Mensch gewesen ist.

Das eigentliche Siechenhaus, dort wo ich wohnte, zerfiel in vier Räume. Der erste, in welchen man geradewegs über die Treppe aus dem Vorhause kam, war verhältnismäßig groß und hatte drei Fenster. In der Mitte stand der lange, mit Wachstuch bespannte Tisch, an dem wir unsere Mahlzeiten einnahmen. An der Wand hing ein großes Bild, das unseren Wohltäter darstellte; dieses Bild fürchtete ich. Ich wagte nicht, es anders als verstohlen anzusehen und gleich wieder wegzublicken. Mir war, als habe der Wohltäter böse Augen. Als kränke es ihn, daß ich hier von seiner Wohltat lebe. Ich machte den Wohltäter ungerechterweise für meine traurige Jugend verantwortlich. Hätte er dieses Haus nicht gestiftet, dachte ich, könnte ich hier nicht sein, sondern wäre wie die anderen Kinder bei den Eltern und hätte zu essen genug und hübsche Kleider und einen Ball zum Spielen. Mein Haß gegen dieses Bild ging so weit, daß ich einmal nachts mich in den Saal, so nannten wir dieses Zimmer, schlich und mit einem großen Tuche das Bild verhängte. Bei Tage, wo ich die Augen des Wohltäters auf mich gerichtet fühlte, hätte ich das nie gewagt. Das Tuch blieb einige Tage hängen. Niemand kümmerte sich darum. Bis es Herrn Mayer auffiel und er es entfernen ließ.

Mit dem Saale waren drei Kammern durch je eine Tür verbunden. Jede Kammer war für zwei Personen bestimmt. An jeder der beiden langen Kammerwände stand ein schmales hölzernes Bett, zwischen den Betten ein kleiner Tisch. Zwei Stühle, einige Haken in den Wänden und eine schwarze Kiste für Wäsche und Kleider, das war die ganze Einrichtung unserer Wohnstätte. Waschen mußten wir uns in einem Trog im Vorzimmer.

Aus den Fenstern unseres Zimmers sah man auf die schmale Gasse hinunter und in die unregelmäßigen Giebel der alten Nachbarhäuser.

Zu der Zeit, als ich im Siechenhaus aufwuchs, waren nicht alle Freiplätze besetzt. Nicht weil man keine Armen gefunden hatte, keine Greise und keine Knaben, die sich darum beworben hätten, sondern seit der Stiftung die Verhältnisse teurer geworden waren und die Zinsen des Vermögens nicht mehr für die volle Zahl der Freiplätze gereicht hätten. So waren mit mir nur drei Greise zugleich im Hause. Ein Platz für einen Greis und einer für einen Knaben blieben unbesetzt.

Daß ich der einzige Knabe war, war nicht von Vorteil für mich. Die besondere Zusammenstellung von Knaben und Greisen zu gemeinsamem Leben ist, wie ich glaube, vom Wohltäter nicht zufällig gewählt worden. Ich glaube vielmehr, er wollte durch die Aufnahme von Knaben mit der Wohltat den praktischen Zweck verbinden, eine billige Arbeitskraft zu bekommen. Ich kann sagen, daß meine Arbeitskraft genügend ausgenützt wurde. Früh morgens mußte ich den Alten und Herrn Mayer wie seiner Frau, die ich fast nie gesehen habe, Kleider und Schuhe putzen, mußte für Stasinka, die Magd, Kohle aus dem Keller holen, Holz zerkleinern, Wasser tragen, zum Kaufmann gehen, bevor ich dann, schon müde, in die Schule ging. So bedauerte ich oft, keinen zweiten Knaben mit mir zu haben, der mir die Hälfte der Lasten abgenommen hätte. Besonders schwer fiel mir die Bedienung der alten Männer. Denn Herr Mayer und seine Frau fühlte ich als Wesen höherer Art. Mayer war zum Herrn über mich gesetzt. Und Stasinka, der Magd, war ich gerne zu Gefallen. Aber die Alten: sie waren doch meinesgleichen! Sie waren nicht mehr als ich! Warum sollte ich ihnen die Schuhe und Kleider putzen und sonst behilflich sein, diesen schmutzigen alten Männern, die ich verachtete?

Da also unser nur vier im Hause waren, stand eine der Kammern leer. In den beiden anderen aber schliefen wir, in einer Jelinek und Klein, in der zweiten der alte Rebinger und ich. Ich sage der alte Rebinger, trotzdem auch Jelinek und Klein alt waren; aber Rebinger war ganz besonders alt. Jede Nacht fürchtete und hoffte ich, er werde sterben. Aber er starb nicht. Als ich das Siechenhaus verließ, war er noch immer am Leben und sah gerade so aus, wie er immer ausgesehen hatte, seit ich mich seiner erinnern konnte.

Mit diesen Menschen, in diesem Hause habe ich die Tage meiner Jugend verbracht, abgesehen von den Stunden in der Schule und den kurzen Weilen, die ich mit anderen Jungen auf der Straße spielte. Ich war kein besonders guter Schüler. Ich war ein armes Kind, noch dazu aus dem Siechenhause. Das sagt gar viel in einer kleinen Stadt, wo die Lehrer mit den Familien der Kinder aus angesehenem Hause verkehren, dort privaten Unterricht erteilen und durch zahlreiche Beziehungen materieller und gesellschaftlicher Natur mit ihnen verknüpft sind. Wenn ich etwas wußte, eine gute Aufgabe brachte, wurde nie wie bei anderen viel Wesen davon gemacht. Wenn ich dagegen, was wohl öfter vorkam, etwas schlecht gemacht hatte, wurde ich gescholten, ja manchmal auch – das wagte der Lehrer nur bei ganz armen Kindern – geschlagen. Dazu kam, daß mir durch das plötzliche Verschwinden meiner Mutter ein Ruf von sittlicher Minderwertigkeit anhaftete und daß selbst meine Mitschüler mich damit neckten, ja daß sie sogar einige verächtliche Verse über mich in Umlauf brachten, die mir bis zu meinem Abschied von der Schule anhafteten. Trotzdem diese Verse dumm und schlecht sind, haben sie mich, so oft ich sie hörte, so schwer gekränkt, daß ich sie mir bis zum heutigen Tage gemerkt habe, obwohl ich manches erlebt habe, was mich schwerer hätte erschüttern müssen und woran ich gleichwohl vergessen habe:

Ich lauf zu meiner Mutter gut,
sie ist ja Blut von meinem Blut.
Habt ihr nicht meine Mutter gesehn?
Ich will zu meiner Mutter gehn!
O denkt euch meinen Schreck,
mein gutes Mütterlein ist plötzlich weg.

Auch die Melodie, nach der dieses Spottgedicht gesungen wurde, klingt mir noch in den Ohren.

In den Pausen zwischen den Lehrstunden zogen meine Mitschüler ihr Frühstück aus der Tasche und ich stand dabei und sah ihnen mit großen Augen zu. Ich gewöhnte mir an, sie um einen Teil ihres Frühstücks zu bitten, und manchmal erhielt ich wirklich auf diese Weise ein Stückchen Butterbrot. Meistens aber bekam ich nichts, sondern wurde ausgelacht.

So war auch die Schule für mich keine angenehme Abwechslung nach Rebinger, Klein und Jelinek. Im Gegenteil, ich ging ungern in die Schule, trotzdem ich auf diese Weise dem Siechenhause auf einige Stunden entrinnen konnte. Fühlte ich doch, daß die drei Alten zu Hause mir gut seien. Sie wußten, wie wichtig ich für sie sei, wie notwendig. Sie hätten sich gehütet, sich's mit mir zu verderben. Gewiß, sie ekelten mich an, ich verachtete sie, ich haßte sie, ich hätte sie schlagen mögen, wenn ich stark genug gewesen wäre. Aber gerade das machte mich stolz zu Hause. Dort in der Schule verachtete, verhöhnte man mich. Hier im Siechenhause war ich ein notwendiges, wenn nicht bedeutendes Glied der Gesellschaft.

Der einzige von den Alten, dem ich eine gewisse Bewunderung nicht versagen konnte, war Jelinek. Täglich um zehn Uhr vormittags ging Jelinek zum Frühstück ins Wirtshaus. Das kostete, wie er immer gewichtig erklärte, acht Kreuzer. Lange vor zehn machte sich in uns allen eine große Unruhe bemerkbar. Nur Jelinek spielte den Gelassenen. Wir fühlten alle: gleich muß der Augenblick da sein, wo Jelinek, Siechenhäusler wie wir, uns wieder bodenlos demütigen wird, und wir warteten gespannt darauf. Nie haben Rebinger oder Klein, seit sie im Siechenhaus sind, dieses Glück genossen, »gabeln« zu gehen. Gewiß war das Wirtshaus nicht vornehm, in das Jelinek gabeln ging, aber er war dort doch Gast, Herr, Käufer. Jelinek genoß die Augenblicke, bevor er uns verließ, bis zur Neige. Langsam ging er im Saale auf und ab. Klein und Rebinger taten im höchsten Maß unbeteiligt. Aber Rebinger zitterten die Kinnladen vor Wut und der Speichel rann ihm aus dem zahnlosen Mund auf den Rock. Klein bastelte mit einer derartigen Wut an dem Regenschirm, den er gerade reparierte – er war Schirmmacher gewesen und man ließ noch manchmal bei ihm eine kleine Reparatur vornehmen –, daß er fast die Stöcke zerbrach. »Also gehn wir halt«, sagte Jelinek dann kurz vor zehn mit einer Ruhe, die ihresgleichen nicht fand, und ging mit langsamen, würdevollen Schritten.

Dann aber entlud sich Rebingers und Kleins Wut. Ich glaube, sie fühlten sich in ihrer Würde verletzt durch Jelineks Gabelfrühstück. Sie begannen Geschichten zu erzählen, sie überboten einander in Schilderungen von Prassereien aus ihrem eigenen Leben, daß Jelineks Wirtshaus, sein Acht-Kreuzer-Essen, die ganze Stadt daneben verblassen mußten.

Jelinek konnte sich's nämlich leisten. Denn Jelinek machte Geschäfte. Ich stellte mir darunter immer etwas ungemein Geheimnisvolles vor, obzwar Jelineks Geschäfte gewiß höchst arm an Geheimnissen waren. Sie bestanden nämlich darin, daß er alte Flaschen um einige Heller kaufte, indem er von Haus zu Haus nach ihnen fragte, um sie dann mit einem kleinen Gewinn an einen Händler weiter zu verkaufen. Mir kam Jelinek vor wie ein Großkaufmann, dessen Schiffe auf dem Ozean fahren, warenbeladen. Neben ihm war Kleins Tätigkeit, die ich täglich vor mir sah – seine zerbrochenen Schirme –, unbedeutend und armselig.

Jelinek mit dem grauen herabhängenden Schnurrbart, der kreischenden und dabei heiseren, ewig schreienden Stimme war der einzige von meinen Mitbewohnern, vor dem ich etwas Respekt fühlte. Klein war fast blind und seine Augen blickten müde durch eine verbogene Brille. Niemals war er rasiert. Und immer hatte er einen Schirm zwischen die Knie geklemmt, an dem er bastelte. Für Klein konnte ich manchmal Mitleid empfinden, das so weit ging, daß ich ihm einen Gegenstand, nach dem seine Hände suchend tappten, der ihm zu Boden gefallen war oder den er verlegt hatte, stumm zuschob. Seine geduldige Ruhe machte meinen Haß, der selbst vor Jelinek nicht immer Halt machte, wehrlos.

Unerbittlich, unnachsichtig, stumpf war mein Herz gegen Rebinger. Sein Körper, der von den Fingerspitzen bis in die Knie ununterbrochen zitterte, seine roten, wimpernlosen Lider, die triefenden Augen, sein zahnloser Mund, der in fortwährender Bewegung war und aus dessen Winkel ohne Unterbrechung ein dünner Faden Speichel rann, sein fortwährendes stotterndes kopfloses Sprechen, seine ganze menschliche Hilflosigkeit machte mich zu seinem Feind. Ich war ein Kind und an diesen Greis gekettet, der nachts sein Bett beschmutzte und dessen verlöschendes Leben einen Schritt von mir Nacht für Nacht einen Kampf mit dem ihm zusetzenden Tode zu kämpfen schien. War ich geboren als ein böses Kind, daß dieser Alte in seinem Bresten nichts in meiner Seele rühren konnte und daß ich, wie ich glaube, an die Leiden dieses zitternden Körpers, dieser ausgelöschten Seele gekettet zu sein schwerer empfand als der Häftling seinen ewigen Kerker?

Hinter dem Siechenhause befand sich ein kleiner schmutziger Hof, aus welchem Treppen in einen Garten hinaufführten. Es war eine der Merkwürdigkeiten dieses Hauses, daß man kaum aus einem seiner Teile in einen anderen, kaum aus einem Zimmer ins andere gelangen konnte, ohne über Treppen gehen zu müssen. Der Garten war klein. Einige Bäume standen darin, in der Mitte ein alter Nußbaum, unter dem sich eine Holzbank befand. Er grenzte an andere Höfe und Gärten, von denen er durch eine etwa mannshohe baufällige Mauer getrennt war. In einer Ecke, zu der man quer durch den Garten am Nußbaum vorbei gelangte, war ein Brunnen gebohrt, über dem ein Bottich hing; drehte man das Rad, sank der Bottich an einer knarrenden Kette in den Brunnen hinab. Aus diesem Brunnen ward das Wasser, das man im Hause brauchte, geschöpft.

Rebinger pflegte Nachmittag auf der Bank unter dem Nußbaum zu sitzen. Er hielt die Hände auf den rohen Stock gestützt und murmelte vor sich hin. Und wenn Stasinka vorbeiging, in jeder Hand eine Butte, Stasinka, die Magd, den Blick der glanzlosen Augen stumpf vor sich hingerichtet, die starken Füße in Holzpantoffeln, schleppend, nickte er ihr zu. Seine Augen waren auf ihre schweren dicken Brüste gerichtet, die bei jedem Schritt schwappten. Ich drehte für Stasinka das Rad. Und ich sah Rebingers Blicke und Stasinkas Brust und ich fühlte, daß Rebinger etwas wisse, was mir unbekannt sei.

Ohne ein Wort des Dankes ging Stasinka zurück, wie sie gekommen war. Rebinger sah ihr nach, seine eingefallenen Lippen verzogen sich zu einem lüsternen Lachen. Und der Speichel rann ihm auf den schmutzigen Rock.

Ich habe jahrelang mit Stasinka unter einem Dach gelebt und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ich viel zu Stasinka gesprochen habe. Aber, wie merkwürdig es auch klingt: so genau ich mich jeder ihrer Bewegungen, ihres Blickes, ihres Ganges, ihres Körpers erinnern kann, so lebhaft ich noch heute ihren Geruch in meiner Nase zu fühlen glaube, wenn ich an sie denke, so wenig kann ich mich ihrer Stimme erinnern. Mir ist als habe ich sie nie sprechen, nie lachen gehört. Meiner Erinnerung ist Stasinka stumm. Ich höre ihren Atem, den sie schnaubend aus der Nase stößt, ich sehe ihr dickes farbloses Gesicht, ich sehe selbst das Muster ihres Kleides, aber ein Wort, das sie gesprochen hat, höre ich nicht.

Ich bin vielleicht acht Jahre oder etwas älter gewesen, als Stasinka ihren Dienst im Siechenhause antrat. Ich glaube nicht, daß Stasinka vom ersten Augenblick an mich irgendwie erregte. Das ist wohl erst nach und nach gekommen. Wenn ich es recht überlege, finde ich, daß ich vielleicht, vielleicht sage ich, vollständig teilnahmslos an ihr vorbeigegangen wäre, wenn Rebinger nicht gewesen wäre. Rebinger hat mir die Augen geöffnet und noch heute ist der Augenblick, in dem dies geschah, vollständig klar vor mir.

Ich stand im Garten, um verstohlen halbfaule abgefallene Äpfel vom Boden aufzulesen. Rebinger saß auf seiner Bank und blinzelte in die Sonne. Da kam Stasinka mit ihren Butten durch den Garten und ging auf den Brunnen zu. Ich war einige Schritte von Rebinger entfernt, sah seine Lippen sich bewegen, sah wie er zitternd den Stock auf den Boden anstieß und eine Bewegung machte, wie um sich zu erheben.

»O du dicke Kalle du«, sagte er und nach jedem Worte setzte er ab, wie um Kraft zum nächsten zu holen, »dicke Kalle du!«

Ich ließ den angebissenen Apfel zu Boden fallen. Ich sah Rebingers verzerrtes Gesicht und folgte dem starren Blick seiner Augen. Ich sah erstaunt, wie zum ersten Male, die Magd. Rebingers Lallen tönte in meinen Ohren: Kalle du! Ich hatte das Wort nie gehört. Ich wußte nichts und alles.

Etwas Neues brach ein in mich, da ich sie erkannte: Stasinka! die dicke Kalle. Nie hatte ich ein Weib anders denn bei schwerer Arbeit gesehen, nicht einmal je bei mütterlicher Zärtlichkeit. Nun bestürzte mich plötzlich der Sprudel einer schlafenden, ungerührten Quelle in mir.

Ich warf die Arme in die Höhe und entlief.

Mir ist, als müsse der erste Eindruck der erwachenden Sinne unvergänglich sein. Als sei ein jeder dem ersten Weib, das ihm begegnet, für immer verfallen, wenn auch vielleicht bloß in einer Liebe, die Religion und Sitte der Leidenschaft entkleidet haben, wie der Liebe zu einer Mutter. Meine Leidenschaft zu Stasinka ist nie erloschen, trotzdem Stasinka stumpf und ohne Glanz geblieben ist, indes ich auch Höhen des Lebens sehen durfte.

Die ersten Folgen der Begegnung im Garten waren lockende Furcht vor Stasinkas Gegenwart und auflodernde Feindschaft gegen Rebinger. Ich saß wach in meinem Bett und lauschte mit schreckdurchwühltem Gesicht wollüstig den Ausbrüchen seiner nächtlichen Schmerzen. Ich hätte ihn gewiß ersticken lassen in seinem Husten, ohne um Hilfe zu rufen. Ich fühlte in unbestimmtem Ahnen, daß Rebinger, dieser lallende, in Nacht versunkene Greis, mein Leben aus seiner Bahn gerissen und es Schuld wie Zerstörung ausgeliefert habe. Haß und Böses in mir wurden stark an Rebingers Leiden.

Trotzdem Stasinkas Gegenwart, ihr Anblick mich zutiefst in meiner Seele schreckte und meine Glieder in Furcht vor etwas mir Drohendem, Ungewissem erbeben ließ, waren meine Träume erfüllt von Sehnsucht, sie zu sehen. Ich lauerte tagsüber auf dem dunklen Korridor, damit ihr Geruch, ihr Kleid mich streifte, wenn sie aus der Küche ging. Ich saß am Brunnen und wartete, bis sie kam, Wasser zu holen. Saß Rebinger auf der Bank unter dem Baum, verbarg ich mich im Gebüsch und ließ kein Auge von seinem Gesicht. Ich hätte nicht können ihm unverborgen gegenüberstehen. Da wäre mein Haß zum Mörder geworden. Ich hätte nur aufspringen müssen und seine Kehle wäre zwischen meinen harten Fingern zerbrochen, wären nicht Blätter und Zweige als Hindernis zwischen mir und ihm gestanden. Ich floh ins Versteck vor mir selbst.

Kam sie, drehte ich bebend das Rad. Sie sah mich nicht an. Ihre Tieraugen blickten ausdruckslos auf die rollende Kette. Sie dankte nicht und ging.

Mich aber zwang eine Kraft über mir mitleidslos in ihre Nähe. Stumm begann ich ihre Arbeit für sie zu tun. Sie stand oder saß dabei, regungslos, ihren schweren Atem aus der Nase stoßend und ließ es geschehen. Ich aber warf vom Holz, das ich spaltete, meine Blicke ängstlich auf ihre voll herabhängenden, sich langsam hebenden und senkenden Brüste.

Damals begann ich mir die ersten Kreuzer zu verdienen. Das tat ich, indem ich am Sonntag Zeitungen vom Postamt holte und den Abnehmern zustellte. Denn sonntags wurde in unserem Orte die Post nicht zugestellt. Ich verdiente so wöchentlich etwa zwanzig bis dreißig Kreuzer. Ich kaufte Süßigkeiten dafür, ein buntes Band, einen glänzenden Kamm und legte es Stasinka hin, die meine Geschenke wortlos nahm.

Mit der Zeit war es mir gelungen, mir in die Küche, die eigentlich zu Herrn Mayers Wohnung gehörte, Zutritt zu verschaffen. Abends, wenn Mayers schlafen gegangen waren, öffnete ich leise die Küchentür und trat ein. Stasinka stand da und wusch Eßgeschirr oder bereitete die Arbeit für den nächsten Morgen vor. Ich trat hinzu und nahm ihr die Arbeit aus der Hand.

So ging wieder Zeit dahin, wohl lange Zeit. Und ich wuchs heran im Siechenhause mit drei Greisen und mit einer Magd.

Der Augenblick, da ich, vierzehnjährig, das Siechenhaus verlassen sollte, dürfte nicht mehr ferne gewesen sein, als wieder ein Ereignis eintrat, das sich mit besonderer Deutlichkeit meiner Erinnerung eingeprägt hat.

Es war an einem Abend in der Küche. Die kleine Petroleumlampe brannte auf dem Küchentisch. Stasinka und ich hockten auf der Erde und lasen Linsen aus einer großen Waschschüssel. Stasinka saß mir ganz nahe. Ich wagte nicht, die Arme oder Füße zu bewegen, kaum die Hände zu rühren. Nur meine Finger langten wie fremde Apparate die schlechten Linsen aus der Schüssel. Es war als sei Stasinkas Gegenwart körperlich eine Last, die schwer über mir und ihr und den Dingen ruhe.

Ich fühlte ihren Atem an Ohr und Wange. Meine Nase sog den warmen Geruch ihres Körpers. Wie ein müdes großes Tier hockte sie da in der Fülle ihres trägen Fleisches, die Augen lichtlos und die großen Hände neben den meinen in der Schüssel.

Meine Füße begannen zu zittern. Ich hatte das Gefühl, als verlöre der Körper seinen Halt und fiele. Aber ich fürchtete mich so entsetzlich, Stasinka auch nur um die Breite eines Haares näher zu kommen, als würde dann unfehlbar etwas Ungeheures, Niederschlagendes hereinbrechen über mich, mich zu vernichten.

Ich begann zu schwanken. Bebend löste sich der Krampf der widerstehenden Muskeln. Ich fühlte, wie meine Schulter sich der ihren näherte, fühlte es, als ob ich dabei einen ungeheuren langen Weg durchmesse. Nun berührte mein Körper den ihren.

Stasinka aber schob mich von sich. Und hatte die Hand wieder ruhig in den Linsen.

Da brach Lust auf in mir. Knabenscheu schwand, Tier, Leidenschaft, Blut schrie in mir. Ich war frei. Ich war bereit, Herr zu sein. Noch tasteten meine Hände Bruchteile von Sekunden hilflos an meinem Kopf, dann streckten sie sich. Ich sprang auf. Griff nach Stasinkas vollen, dicken, sich hebenden, senkenden Brüsten.

Stasinka erhob sich stumm. Sie umfaßte mich und hob mich wie eine leichte Last. Sie öffnete die Tür. Sie stieß mir ihre schwere Faust gegen die Rippen und ließ mich an der Schwelle zu Boden fallen. Dann schloß sie ruhig hinter sich die Tür.

Ich aber, daliegend, mich windend, erlitt die erste Entzückung der Liebe.

Die letzten Monate meines Aufenthaltes im Siechenhause half ich Stasinka nicht mehr bei ihrer Arbeit. Ich belauerte und verfolgte sie. Ich wollte nicht mehr Stasinka dienen. Ich wollte stärker sein als sie.

Ich stand nachts an der Küchentür und hörte ihr ruhiges, vollgefressenes Schlafen. Ich belauschte sie, das Ohr an die Tür gepreßt, bei ihren menschlichen Verrichtungen und bebte in gewaltsam verhaltenen Lüsten. Ich folgte ihr in den Keller und lauerte auf die Stunde, da ich sie packen könne, Stasinka packen an ihren dicken Brüsten. Doch ich fürchtete den glanzlosen Blick ihres stummen Seins.

So, von unerfüllten Lüsten durchtobt, vergingen die letzten Tage meiner Leiden im Siechenhause. Die Schule hatte ich bereits verlassen und der Tag kam immer näher, an dem ich von meiner Jugend Abschied nehmen sollte, in die Welt gehen, einsam, ganz auf mich allein gestellt, und sehen, wie ich mir forthelfe.

Der Abschied ward mir nicht schwer. Um so mehr als ich vorläufig in unserem Orte bleiben sollte und mein Auszug kein Abschied für immer war. Täglich nach der Arbeit würde ich ins Siechenhaus gehen können, sollte mich etwas dazu treiben. Aber ich hatte keinerlei Gefühle für das Haus und seine Insassen, nicht einmal ein Gefühl der Dankbarkeit. Ich war froh, das Haus meiner traurigen Kindheit, die Greise wie Herrn Mayer zu verlassen, froh, das Bild des Wohltäters nicht mehr vor mir sehen zu müssen und meine Seele war voll von Bildern einer glücklichen Zukunft, in der ich nicht mehr duldete, sondern Herrn war und über andere gestellt.

Stasinka, die Magd allerdings, blieb, indes ich ging. Ich würde ihr nicht mehr nachschleichen können auf ihren Wegen durch das Haus und ihre Gegenwart würde nicht mehr um mich sein, wenn ich aus dem Hause war. Aber ich würde einmal, das wußte ich, wieder kommen und vor Stasinka stehen als Herr, in dessen Hand Macht gegeben ist, Macht über Gold, über Menschen und würde sie lachend zur Erde zwingen vor mir.

Zwei Tage vor meinem Abgang ward ich zum Verwalter des Hauses, einem angesehenen Bürger, gerufen. Er hielt mir eine Ansprache, von der ich nicht viel verstand, weil ich durch den Reichtum, mit dem das Zimmer, in dem ich empfangen wurde, mir eingerichtet zu sein schien, abgelenkt wurde. Nur so viel weiß ich, daß er mich ermahnte, des Wohltäters und seiner guten Tat an mir in meinem ferneren Leben eingedenk zu bleiben und daß er, wie mir heute scheint, mehr sich als mich darüber zu beruhigen versuchte, daß ich hilflos und einsam in die Welt gestellt würde, indem er ausführte, ich könne auf Grund des Samens, der im Siechenhause in meine Brust gelegt worden sei, im Kampfe ums Leben, der mir bevorstehe, nicht verlorengehen. Trotz dieser Teilnahme für mich entließ er mich mit einem Geldgeschenk von zehn Gulden, das der Wohltäter für die das Siechenhaus verlassenden Knaben festgelegt hatte, um sich nie mehr um mein Schicksal zu bekümmern.

Am Morgen, an dem ich scheiden sollte, stand ich auf wie immer und putzte wie immer Klein, Jelinek, Rebinger und Herrn und Frau Mayer Kleider und Schuhe. Dann sagte ich Herrn und Frau Mayer Lebewohl. Herr Mayer sagte einige Worte, in denen er mir viel Glück wünschte und hielt unterdessen meine Hand fort in der seinen. Mir war als sei ihm als einzigem schwer, mich ins Ungewisse ziehen zu lassen und als suche er nun vergeblich, mir etwas Gutes zu sagen. Ich muß irgendwie unbestimmt seine Güte gefühlt haben und damit, daß ich nun ja doch ein Zuhause verliere, wenn auch ein armes und freudloses; denn ich begann zu schluchzen. Da küßte mich Herr Mayer auf die Stirn.

Dann ging ich in den Saal, wo die Greise saßen, packte meinen Rock in ein Zeitungspapier, nahm meine kleinen Habseligkeiten zusammen, reichte den Alten die Hand und ging. Im Hofe stellte ich mich unter das Küchenfenster und rief:

»Lebewohl, Stasinka, ich gehe ja fort von hier, lebewohl!«

Stasinkas Kopf erschien im Fenster und ihre Augen sahen mich müde an.

Ich hatte nicht weit zu gehen. Etwa fünf Minuten vom Siechenhaus entfernt stand das Gast- und Einkehrwirtshaus »Zur Glocke«, in dem ich als Lehrling eintreten sollte. Denn ich wollte Kellner werden. Dieser Beruf schien mir von allen, die in Frage kamen, weitaus der aussichtsreichste und lockte mich auch sonst, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft gegeben habe, an. Vielleicht ist Jelineks Gabelfrühstück, die tägliche Vormittagszene im Siechenhause schuld daran gewesen, mir einen Beruf, der mit ständigem Aufenthalt in einem Gasthause verbunden ist, besonders verlockend erscheinen zu lassen. Was immer mich zu dieser Wahl bestimmt haben mag: ich trat bei der Witwe Glenen als Schanklehrling in die Lehre.

Die Witwe war ein altes, grauhaariges Weib. Sie schielte ein wenig, war dick und resolut. Man sah es ihr an, daß sie imstande war, mit betrunkenen Gästen und Knechten fertig zu werden.

Das lange dunkle Gastzimmer machte gewiß keinen vornehmen Eindruck. Leute mit dem Hut auf dem Kopf, Pfeifengestank, bespuckter Fußboden, schreiende Kartenspieler, dazu noch ein Musikautomat, der den Lärm vergeblich zu überschreien versuchte. In einer Ecke thronte die Witwe Glenen hinter dem kleinen Laden, umgeben von Flaschen, Gläsern und glänzenden Pipen. An ihr mußte jeder vorbei, der das Zimmer verließ und mit ruhiger Selbstverständlichkeit strich sie das hingelegte Nickel- oder Silberstück in ihre Lade.

Meine Tätigkeit bestand fürs erste darin, von Tisch zu Tisch zu gehen und die Gläser nach den Gästen, die fortgegangen waren, zu sammeln und hinter dem Laden in einem Eimer zu spülen, dann auf einen Wink von Frau Glenen in den Keller zu springen und diese oder jene Flasche zu holen. Außerdem hatte ich aufzureiben, zu heizen, Holz zu zerkleinern, Kleider, Schuhe zu putzen, kurzum alles zu tun, was gerade zu tun war, während Franz, der ältere Lehrling, unter den strengen Blicken der Frau, die ihre Augen nicht von ihm ließ, die Gläser füllte, die ihm die Gäste oder die ich ihm hinschob und außerdem in Stall und Hof nach Ordnung und Sauberkeit sehen mußte.

Leicht war die Arbeit, die ich zu leisten hatte, nicht, und abends war ich so müde, daß ich auf die Schütte Stroh, die ich mir im Gastzimmer gerichtet hatte, hinsank und einschlief. So kam es, daß ich in der ersten Zeit nicht ins Siechenhaus ging, ja kaum manchmal an Stasinka zu denken Zeit fand. Erst später, als ich an die Arbeit gewöhnt und mich von dem oder jenem zu drücken gelernt hatte, pflegte ich um die Dämmerung aus der »Glocke« davonzulaufen und von rückwärts durch fremde Gärten und über Mauern in den Siechenhausgarten einzudringen. Dort stand ich dann im Gebüsch und wartete, bis Stasinka kam. Kam sie, trat ich langsam vor und drehte wie früher das Rad. Sie ließ es geschehen. Nie schien sie davon irgendwie überrascht. Dann ging sie, ich sah ihrem in den Hüften sich langsam unter der Last der vollen Wasserbutten bewegenden Körper nach, der im Hause verschwand. Ich ging, auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war.

Lange konnte mir die Stellung im Gasthaus »Zur Glocke« nicht gefallen. Ich hatte Größeres im Auge. Mir schwebten menschengefüllte Restaurants, lichtdurchflutet, vor, von denen Franz mir erzählte, der einmal in der Hauptstadt gewesen war. Ich sah mich mit einem enganliegenden schwarzen Rock bekleidet zwischen Tischen, an denen vornehme Menschen saßen, hindurchschreiten und hatte eine Tasche voll klingenden Geldes. Franz sparte, um in die Stadt fahren zu können und dort eine Stelle zu suchen, und ich beschloß, mit ihm zu gehen. Allerdings konnte ich nicht daran denken, mir von den Kreuzern, die ich manchmal von einem Knecht, dem ich beim Ausspannen half, geschenkt bekam, die vierzig Kronen, die man nach Franzens Berechnung fürs erste brauchte, zurückzulegen. Aber über die Geldfrage machte ich mir keine Sorgen. Und als Franz mir einmal nachts mitteilte, er werde in zwei Tagen morgens sich auf die Beine machen, erklärte ich ihm meinen Willen, ihn zu begleiten.

Vorbereitungen hatte ich keine zu treffen. Nur was ich am Leibe trug, war mein Besitz. Abschied zu nehmen hatte ich von niemandem außer von Stasinka. Das wollte ich in der letzten Nacht tun.

Am Abend vor unserer Abreise ging Franz zu Bekannten und Verwandten Abschied zu nehmen. Ich blieb. Im Hause wurde es ganz ruhig. Frau Glenen schlief fest im dritten Zimmer. Nur hie und da hörte man aus dem Stalle das Klirren einer Kette, an der ein Pferd riß.

Ich stand von meinem Strohlager auf und tappte mich zum Laden, ohne Licht zu machen. Ich ging zur Geldlade und steckte meine Messerklinge in den schmalen Spalt zwischen Lade und Pultdecke. Dann begann ich langsam die Pultdecke zu heben. Da es mir nicht gelingen wollte, die Lade auf diese Weise zu öffnen, begann ich die Schrauben, mit denen das Schloß im Holze befestigt war, zu entfernen. Dann versuchte ich, das Schloß in seinem Lager zu lockern. Das gelang. Die Lade ließ sich schon ein klein wenig herausziehen. Jetzt stemmte ich das Messer noch einmal mit aller Kraft gegen die Pultdecke und zog zugleich die Lade mit einem heftigen Ruck vor. Das Schloß knackte und die Lade war geöffnet.

Ich nahm zweihundert Kronen in Noten, die regelmäßig aufeinander geschlichtet lagen, an mich und schob die Lade zu. Dann ging ich aus dem Hause, um von Stasinka Abschied zu nehmen.

Im ganzen habe ich zweimal in meinem Leben gestohlen. Das war mein erster Diebstahl, vom zweiten werde ich später erzählen müssen. Das sei vorweggenommen, daß mein zweiter Diebstahl sich vom ersten im wesentlichen dadurch unterschied, daß ich beim zweiten Male schon wußte, damit etwas Schlechtes zu tun, während ich das erste Mal von diesem Gedanken ganz unberührt war. Es schien mir damals selbstverständlich, dieses Geld aus der Lade an mich nehmen zu dürfen, da ich es doch dringend brauchte. Und ich glaube heute, wo ich doch über viele Dinge, die ich in meinem Leben getan habe, schon anders denke als zu der Zeit, da ich sie tat, daß ich mit diesem ersten Diebstahl wohl wirklich nicht etwas Schlechtes getan habe; die Unbefangenheit, mit der ich damals stahl, spricht mich vor mir selbst frei.

Ich nahm also das Geld an mich und ging, von Stasinka Abschied zu nehmen. Wie so oft kroch ich über Mauern bis ich im Siechenhausgarten und vor Stasinkas Fenster stand. Es war eine warme Sommernacht und Stasinkas Fenster stand offen. »Stasinka«, rief ich leise, »Stasinka«, und da sich nichts rührte, nahm ich eine Handvoll Sand und kleine Steinchen und warf sie durchs offene Fenster.

Stasinkas Kopf erschien verschlafen und zerrauft. »Komm herunter«, flüsterte ich, »ich reise weg. Ich will dir was sagen, Stasinka.«

Sie verschwand. Es vergingen einige Minuten, in denen ich angstvoll zwischen Hoffen und Hoffnungslosigkeit bebte. Endlich erlöste mich das Geräusch ihres schweren Schrittes auf der Treppe.

Sie trat aus dem Hause. Der Körper war durch ein Tuch nur zur Not verhüllt.

»Ich fahre weg, Stasinka«, sagte ich, »ich bin gekommen, dir Lebewohl zu sagen.«

Sie schwieg. Ich drängte mich an sie. Das Bewußtsein, sie lange, lange, vielleicht nie mehr zu sehen, gab mir Mut.

»Ich fahre weg, hörst du«, sagte ich; ich stand ihr schon ganz nahe. »Ich bin noch nicht quitt mit dir, Stasinka.« Daß sie stumm dastand, teilnahmslos, machte mich wütend. »Nun kannst du mich nicht mehr aufheben wie ein Kind, du, nein! Hörst du, nicht mehr aufheben!«

Ich drängte sie gegen die Tür. Stasinka gab mir, ohne Widerstand zu leisten, nach.

»Nun zeige ich dir, wer jetzt der Stärkere ist, Stasinka! Willst du das sehen?« Wir standen im dunklen Vorhaus. Ich zog die Tür hinter uns zu.

Aus dem vergitterten Fenster neben der Tür fiel ein matter Schein auf ihre Gestalt. Nichts war zu hören als ihr gleichmäßiger schwerer Atem.

Jetzt griff ich sie fest um ihren Leib. Sie hob die Hand abwehrend gegen mich. »So willst wohl wieder, wieder wegschieben, zur Seite schieben, he? Stasinka? Du!«

Ich schob mein Bein hinter ihr Knie und legte sie zu Boden. Ihre Augen sahen mich fremd und unbeweglich an. Ich kniete über ihr. Als ich nach ihren Brüsten griff, suchte sie sich mit einem plötzlichen Ruck zu entwinden. Ich fuhr ihr gegen die Gurgel.

»Kalle du, Kalle du«, sagte ich und stürzte mich über sie.

Sie hob die Hand, als zeige sie nach oben. Ihr Blick war starr nach oben gerichtet, als sähe er etwas Entsetzliches.

Ich wand mich um. Und sah – ans Fenster gepreßt, verzerrt zu faunischer Fratze – Rebingers Gesicht.

Ich sprang auf und lief hinaus. Er stand da und seine Hände hielten die Gitterstäbe umklammert. Ich trat von rückwärts auf ihn zu.

Ich hatte das Gefühl, als seien meine Hände, die sich um Rebingers dürren Hals schlossen, eiserne Zangen. Ich fühlte wollüstig das ewige Zittern seines Körpers in meinen Fingern. Als es aufgehört hatte, ließ ich seinen Körper zu Boden fallen.

Dann ging ich in das Haus zurück, befreit, wie nach einer großen Tat. Stasinka war nicht mehr da.

Ich schlich die Treppe hinauf. Ich wußte, daß die Glocke an der Tür nicht läute, wenn man sie mit plötzlichem Ruck öffne. Sie gab einen kurzen, leisen Ton.

Die Küche war versperrt. Ich kratzte an der Tür wie ein Hund. Dann lauschte ich und hörte: den lauten Atem der schlafenden Stasinka.

Als ich durch den Garten ging, sah ich im dämmernden Morgen Rebingers Gestalt wankend und unsicher sich an der Mauer entlang ins Haus tasten.

So verließ ich das Siechenhaus und Stasinka. Zum letzten Male für lange Zeit kroch ich über Mauern und schlich durch die Gärten. Ich wandte mich nicht um. Langsam schlenderte ich dem Bahnhof zu.

In der Stadt nahmen wir Wohnung in einem finsteren schmutzigen Viertel. Mit uns schliefen noch drei Männer im Zimmer. Nacht für Nacht andere. Tagsüber liefen wir von Hotel zu Hotel, um unsere Dienste anzutragen.

Franzens Pläne gingen, wenigstens fürs erste, nicht so hoch wie die meinen. Er fing bei den kleinen Hotels an und war zufrieden, nach vier oder fünf Tagen in einem Absteighotel eine Stelle als Lohndiener zu erhalten, die angeblich wegen des stündlich wechselnden Publikums besonders einträglich sein sollte. Ich fand Franzens Standpunkt begreiflich. Er hatte ja bloß vierzig Kronen und ich hatte noch fast zweihundert. Ich konnte mir's erlauben, wählerisch zu sein.

Ich hatte mich immer im engen schwarzen Rock gesehen, hineilend zwischen Tischen, an denen vornehme Leute saßen. Nun wollte ich nichts nachlassen von meiner Forderung. Höchstens eine Livree wie sie die Boys, die gelassen in den Hallen der eleganten Hotels standen, trugen, hätte ich für den schwarzen Rock getauscht. Aber wie Franz mit hinaufgekrempelten Hemdärmeln, eine blaue Mütze mit goldenen Buchstaben auf dem Kopfe, das wollte ich um keinen Preis der Welt.

So lief ich denn weiter, von Hotel zu Hotel, ohne Erfolg. Langsam wurde ich bescheidener und ich begann, in Cafés und Restaurants mich anzubieten. Vielleicht wäre ich in kurzem wie Franz Lohndiener in einem Hotel letzter Güte geworden, hätte ich nicht eine Bekanntschaft gemacht, die mich davor bewahrte.

Franzens Bettstatt bezog ein junger blonder Mensch, den ich zu meinem Erstaunen in den folgenden Tagen Abend für Abend neben mir traf. Kein Wunder, daß wir zwei als die einzigen Bleibenden im ewigen Wechsel der nächtlichen Gäste einander näherkamen. Ich erfuhr, daß mein Nachbar Kaltner heiße, daß er einige Jahre in Amerika gelebt und sich dort auch etwas beiseite gelegt habe. Er sei hierher gekommen, leider, um es nun hier zu versuchen, habe aber erkannt, daß hier kein Geld zu machen sei, und kehre nun, und zwar schon in den nächsten Tagen, nach Amerika zurück. Die Karte zur Überfahrt hatte er schon in der Tasche.

Kaltner erzählte mir von Amerika. Daß man dort sein Glück machen könne, wenn man arbeiten wolle, und daß er jedem, der ihn darnach frage, raten könne, hinzugehen.

Mich verlockten die Aussichten, die sich mir nach Kaltners Erzählungen in Amerika bieten würden. Ich ließ mich von Kaltner in einem Café einem älteren Herrn mit einem Vollbart vorführen, der mich durch ein goldgefaßtes Augenglas, das er zu diesem Zwecke am vorderen Drittel seiner hageren Nase festklemmte, prüfend musterte.

»Haben Sie hundertzwanzig Kronen?« fragte der Herr unvermittelt, nachdem er mich eine Weile auf diese Weise angesehen hatte. Als ich ja sagte, setzte er sich sofort hin und schrieb etwas auf einen braunen Zettel. »Bitte«, sagte er. Ich legte hundertzwanzig Kronen hin und er gab mir den Schein.

Das alles war sehr schnell gegangen und ohne daß ich eigentlich um meinen Willen gefragt worden wäre. Selbst wenn ich aber gewollt hätte, hätte ich nicht gewagt zu widersprechen.

Tags darauf befand ich mich auf der Reise nach Hamburg und einen weiteren Tag später schiffte ich mich auf einem alten schmutzigen Schiff, das »Neptun« hieß, ein.

Ich hatte nichts mit als drei Laibe Brot und einen Geldbetrag von zwanzig Mark.

Ebenso wie meine erste Eisenbahnfahrt hat auch die erste Reise über den Ozean keinen Eindruck auf mich gemacht. Ich bin für Naturschönheit wohl nicht empfänglich gewesen, worüber sich niemand wundern wird, der weiß, daß ich im Siechenhaus aufgewachsen bin, und nach dem, was ich erzählt habe, begriffen hat, welcher Art meine Kindheit gewesen ist. Ganz abgesehen davon, daß ich keine Zeit zu müßiger Naturbetrachtung hatte, da ich auf dem Schiffe Hunger litt und nur dadurch mich wohl am Leben erhalten habe, daß ich den elenden Zwischendeckpassagieren Wasser zutrug, Kinderwäsche waschen half und ähnliches mehr, wofür ich da einen Happen übelriechender Wurst, dort ein Stück Brot oder einen Schluck Schnaps erhielt.

Man könnte denken, daß das Zusammenleben mit den Auswanderern, diesen schmutztriefenden, halbverhungerten Menschen, mich weich gemacht habe für menschliches Elend.

Aber die Armut meiner Reisegefährten erweckte Abscheu in mir und Verachtung. Reich sein, dachte ich, mächtig sein! Und Gold, viel Gold in der Tasche. Und dann vor Stasinka hintreten, die Magd aus dem Siechenhause.

Das war wohl der einzige Traum meiner Jugend.

Auf dem Schiffe schon hatte ich erfahren, daß es in New York Viertel gäbe, in denen Deutsche und Juden wohnen, wo man daher fortkommen könne, ohne englisch zu sprechen. Wir kamen am Morgen an und ich ließ mich von einem Mitreisenden, der seine Frau aus Europa geholt hatte, in diesen Stadtteil führen. Dort machte ich mich sogleich auf die Suche nach einem Verdienst.

Ich war vom Glück begünstigt. Denn nachmittags war ich schon Aushilfsbursche in einer kleinen Bar.

Dort gefiel es mir nicht lange. Ich hatte viel Arbeit und unangenehme Arbeit, und kaum genug Verdienst, um mich satt zu machen. Täglich kam es zu Raufhändeln, die ich über einen Wink meines Chefs dadurch schlichten mußte, daß ich die Gäste auf die Straße setzte. Ich verließ diesen Posten bald und kam nach einiger Zeit, in der ich von Tag zu Tag eine andere Stellung hatte, in ein Tingeltangel, in dem ich mehrere Monate blieb. Hier ging es mir verhältnismäßig gut. Eine von unseren Damen, ein großes, schlankes Mädchen von etwa dreißig Jahren mit hellblondem Haar, fand nämlich Gefallen an mir, so daß ich neben meinem eigenen Verdienst noch einen Teil des ihren einstreichen konnte.

Trotzdem wäre ich wohl auch in Amerika nicht weitergekommen, sondern Zeit meines Lebens Barkellner geblieben, höchstens Besitzer einer kleinen Bar geworden, hätte ich nicht Mut und Skrupellosigkeit genug besessen, meinem Glück ein wenig nachzuhelfen. Ich hatte eingesehen, daß ich in unserem Tingeltangel auch nicht mehr erreichen könne, als ich schon erreicht hatte, und verließ es deswegen, indem ich, um einen Abschied von meiner Freundin zu vermeiden, eines Tages ausblieb.

Ich kam als erster Kellner in eine Bar, in der viel und hoch gespielt wurde und in der es darum etwas zu verdienen gab. Meine Tätigkeit in dieser Bar ist entscheidend für mein Leben geworden.

Ich war etwa zwei Monate in der Chicago-Bar, als einmal gegen Morgen mein Blick auf einen dicken schlafenden Herrn fiel, der nach seinem Äußeren ohne Mühe als wohlhabender Viehhändler oder Farmer zu erkennen war. Ich stand an den Pfosten der Küchentüre gelehnt. Der schlafende Herr war der letzte Gast. Ich war müde und blickte gähnend nach der Uhr. Es war halb fünf Uhr. Ich sah zum Mixer hinüber, der hinter dem Bartisch duselte, und wieder zum schlafenden Gast. Mein Blick blieb an seinem Rücken hängen. Der Rock hatte sich etwas hinaufgeschoben und in seiner gespannten Hose waren deutlich die Konturen einer gefüllten Brieftasche zu erkennen.

Langsam ging ich an dem Schlafenden vorüber. Ich nahm das leere Glas, das auf dem Tische vor ihm stand, und trug es zum Bartisch. Kein Zweifel: Gast und Mixer schliefen tief.

Ich zog mein Messer aus der Tasche und schnitt im Vorübergehen mit scharfem Schnitt die Hosentasche auf. Dann ging ich wieder zur Küchentüre und lehnte mich an den Pfosten.

Der Riß in der Hose klaffte bei jedem Atemzuge des Mannes. Eine braunlederne Tasche, wie sie eben die Viehhändler vom Lande tragen, wippte und wurde mit jedem Atemzuge deutlich sichtbar. Ich bewegte mich nicht. Meine Augen gingen ohne Unterbrechung im Kreise vom Gast zum Mixer, vom Mixer zur Tasche.

Nach einigen Minuten war die Tasche fast ganz sichtbar. Der obere Rand ragte schon aus dem Tuch der Hose heraus. Nur am unteren Ende hielt sie noch leicht.

Ich ging langsam auf den Mann zu, griff mit zwei Fingern nach der Tasche und schritt rasch zur Tür hinaus auf die Straße. Um in meinem weißen Kellnerdreß nicht aufzufallen, pfiff ich mir einen Wagen und fuhr nach Hause.

Dort erst öffnete ich die Tasche. Ich fand viertausend Dollars in Papier. Viertausend Dollars ist Geld, Stasinka, viertausend Dollars ist Geld.

Zugleich machte ich mich reisefertig und saß im nächsten Zug, der nach dem Westen fuhr.

Das war mein zweiter und letzter Diebstahl. Von da an hatte ich es nie mehr notwendig zu stehlen. Ich hatte in der Brieftasche neben dem Geld auch Adressen von Viehhändlern in allen Staaten gefunden. Die Beziehungen meines Vorgängers nutzte ich aus und hatte nach zwei Jahren fünfundzwanzigtausend Dollars verdient.

Nun fuhr ich Kajüte nach Europa.

Es war ganz selbstverständlich, daß ich nach Europa fuhr. Ich bin nie ein Träumer gewesen. Ich habe in Amerika schwer gearbeitet und keine Zeit gehabt, von Stasinka zu träumen. Ich dachte an sie und sah ihren schleppenden Gang, die großen, schweren Brüste und den stummen Tierblick ihrer Augen. Ich sehnte mich nicht nach ihr: ich wußte, ich müsse noch einmal ins Siechenhaus zurück und Herr werden über Stasinka.

An einem Sommerabend kam ich in meiner Heimat an. Am Bahnhof hatte sich nichts verändert, aber gegenüber stand ein neuer Gasthof. Ich kehrte ein. Beim Abendessen holte ich den Wirt aus und erfuhr, daß im Siechenhaus alles geblieben sei, wie es damals war. Bloß Jelinek, Klein und Rebinger waren gestorben. Dafür saßen drei andere Greise an ihrer Stelle. Ich sagte dem Wirt, dem mein Interesse fürs Siechenhaus sonderbar vorzukommen schien, daß ich selbst dort aufgewachsen sei, und fragte dann unverhohlen nach Stasinka. Stasinka war noch immer Magd im Siechenhause.

Als es ganz finster geworden war, machte ich mich auf den Weg. Wieder wie als Bursche in der »Glocke« schlich ich mich durch die Gärten und über Mauern. Ich kannte noch jeden Schritt. Dann stand ich im Garten des Siechenhauses. Ich warf wie früher eine Handvoll Sand durch das geöffnete Küchenfenster. Stasinkas Kopf erschien.

»Stasinka«, sagte ich, »ich bin zu dir gekommen. Kennst du mich noch, Stasinka...? Komm herunter zu mir, Stasinka!«

Stasinkas Kopf verschwand. Ich wußte, daß sie gehorchte. Sie trat aus der Tür, wieder bloß in ein Tuch gehüllt. »Ich bin zu dir gekommen, Stasinka«, sagte ich.

»Sieh mich bloß an, Stasinka, sieh mich doch näher an. Ich bin was geworden, siehst du. Weißt du, was das heißt: was geworden?«

Stasinka sah mich ergeben an. Sie hatte noch immer die großen hängenden Brüste und noch immer stieß sie laut den Atem aus der Nase.

»Nun wirst du mich doch nicht wegschieben, Stasinka!« sagte ich. Ich trat nahe an sie heran. »Nun doch nicht mehr. Jetzt bin ich ein Herr, Stasinka, verstehst du, ein Herr!«

Ich legte meinen Arm um sie. Sie stand müde da.

Meine Finger griffen nach Stasinkas Brust. Aber Stasinka streckte ihre Hände aus und stieß mich ruhig von sich. Ihre Augen waren unbeweglich und zu Boden gerichtet.

»Stasinka«, sagte ich, »ich bin kein Waisenkind mehr. Stasinka, jetzt bin ich stärker als du.«

Stasinka, die Magd aber, wandte sich um und sich leise in den Hüften wiegend, als trüge sie die schweren Butten zum Brunnen, ging sie langsam zur Tür.

Dich mach ich noch kirre, dachte ich, dich mache ich kirre!

»Stasinka«, sagte ich, und ich bemühte mich, ruhig und freundlich zu sprechen. »Deswegen bin ich nicht zu dir gekommen, fürchte dich nicht, deswegen nicht. Ich wollte dich... Ich wollte dich mitnehmen nach Amerika!« Sie blieb an der Tür stehen. Und ich begann ihr zu erzählen von Amerika. Ich wußte nicht, was sie locken würde, was sie verstehen konnte, und so schilderte ich ihr alles ohne Ordnung. Bei schönen Kleidern, die sie tragen würde, fing ich an. Ich sprach von dem ruhigen Leben, das sie führen würde. Von Geld sprach ich, von Essen und wieder von Essen. Ich verbiß mich in dem plötzlichen Gedanken, sie nach Amerika zu nehmen. »Aber gleich mußt du mit mir gehen «, sagte ich, » morgen! Ich komme dich holen. In der Früh. Und du wirst mit mir gehen, Stasinka!«

Sie ging ins Haus hinein. Ich wußte, sie würde morgen mit mir gehen. Denn sie würde gehorchen. Dann war sie in meine Macht gegeben und ich wollte sie zerbrechen sehen unter meiner Gewalt.

Am Morgen holte ich sie ab. Sie kam ohne Hut mit einem in ein Tuch geschlagenen Bündel, das ihre Habseligkeiten barg. Sie folgte mir in einem Abstand von wenigen Schritten zum Bahnhof. Ich nahm Karten erster Klasse für uns beide. Stasinka sollte sehen, wer ich sei. Aber sie saß stumm mit bewegungslosen Augen auf ihrem Platze.

In Hamburg kaufte ich ihr einen Hut und ein Kleid. Sie war weder erstaunt noch dankbar. Sie nahm es schweigend hin.

Wir schifften uns ein, ich erste, sie dritte Kajüte. Vielleicht verstand sie eher, wenn sie den Unterschied sah. Täglich ließ ich sie in meine Kajüte holen und ihr einen Imbiß servieren. Sie aß, schwer atmend und schweigend. Lange noch, nachdem sie gegangen war, lag der Geruch ihres Körpers in der Kajüte. Ich saß da und sog ihn ein wie den Rauch einer Zigarre. Nun wollte ich sie nicht mehr besitzen. Nur sich aufbäumen wollte ich Stasinka sehen gegen mich, aufschreien hören. Aber sie blieb stumm und ihre Augen sahen mich glanzlos an.

In New York quartierten wir uns in einem kleinen Hotel ein. Stasinka bekam ein kleines Dachzimmer. Für mich nahm ich ein Zimmer in der ersten Etage. Dann ging ich daran, auszuführen, was mir, als ich im Siechenhausgarten Stasinka gegenüber stand, wie ein Blitz durch den Kopf gefahren war.

Ich wußte, wo man in New York seine Leute trifft und suchte ein kleines Café auf, in dem russische und polnische Juden verkehrten. Es war ein kleines rauchgeschwärztes Lokal, an den Wänden befanden sich Plüschbänke, die wohl einmal rot gewesen waren. Dicht gedrängt standen kleine Marmortischchen, an denen die Gäste saßen, viele mit dem Hute auf dem Kopf. Manche gingen von Tisch zu Tisch oder standen in den schmalen Gängen zwischen den Tischen. Das Zimmer war erfüllt von den schreienden Stimmen der gestikulierenden Menschen und dem Klappern der Geschirre, die in einem Winkel des Raumes gefüllt und gespült wurden. Ein Kellner, blaß, mit verschlafenen Augen, in einem fettglänzenden Frack, trug Gläser mit Tee auf einer großen Tasse.

Ich sah mich nach einem Platze um. In einer Ecke saß ein Herr, dem Aussehen nach ein galizischer Jude, allein an einem Tische. Ich setzte mich zu ihm. Er sah mich beobachtend ein Weilchen an, dann sprach er mich an.

»Frisch in New York?« fragte er.

»Selber frisch«, sagte ich kurz.

Er erkannte sofort, daß ich kein Neuling sei. Langsam fuhr er sich mit seiner Hand durch den schütteren braunen Vollbart. Die Hand war fein und zart wie eine Kinderhand. Seine wimperlosen entzündeten Augen gingen unstet durch den Raum.

Durch die schmutzigen Fenster schien trübe das Licht eines regnerischen Tages. Ich sah teilnahmslos auf die Straße hinaus und wartete, daß mein Nachbar mich wieder anspreche. Nach einer Pause fing er wieder an:

»Sie machen Geschäfte?«

»Nein. Ich stehle.«

Er lächelte zu meinem Witz.

»Geschäfte, ich hab mir's gedacht. In was, wenn ich fragen darf? Ich kann Ihnen sagen, man ist schon anders zusammengekommen. Kann man wissen, vielleicht kommen wir auch zusammen.«

Ich sah mein Gegenüber mit durchdringendem Blicke an. Dann sah ich mich vorsichtig um, wie um mich zu vergewissern, daß uns niemand belausche.

»Sachen!« sagte er und begleitete dieses Wort mit einer verächtlichen Handbewegung. »Was brauchen Sie da Angst zu haben? Ich heiße Seidenfeld. Also in gestohlene Ware?«

»Die Ware hat noch keiner gestohlen«, sagte ich bedeutungsvoll. Nun sah er mich durchdringend an. Ich fing den Blick ruhig auf.

»Ich verstehe«, sagte Seidenfeld und wieder strich seine kleine vornehme Hand durch den Bart, »ich verstehe. Jung?«

»Vielleicht achtundzwanzig.«

»Bissel alt. Kann man sagen hübsch?«

»Man kann sagen hübsch. Dick!«

»Dick? Das ist jetzt nicht der Geschmack. Höchstens bei Beller. Dort verkehren Polaken. Die haben gern dick. Also man kann ja versuchen. Bringen Sie die Maad her.«

»Zwanzig Dollars«, sagte ich. Der Einfall kam mir ganz plötzlich. Ich mußte daran verdienen, sei es auch nur einen schmierigen Dollar. Verkaufen mußte ich sie. Verkaufen. Und einen Dollar dabei verdienen. Triumphierend lächelte ich bei diesem Gedanken.

»Zwanzig Dollars!« Seidenfeld schrie auf wie ein Todwunder. »Zwanzig Dollars, wo sie jetzt einem zulaufen, was?«

Er trommelte mit seinen Fingern auf die Tischplatte. Wie ist es möglich, dachte ich, daß dieser Mensch solche kleine zarte Hände hat?

»Was wollen Sie also geben?« fragte ich.

Er wandte sich mir mit dem ganzen Gesicht zu. Ich sah, daß seine Augen ungleich waren. Das linke Auge war halb geschlossen. In ernstem Tone, dem eine energische Bewegung der rechten Hand noch Nachdruck verleihen sollte, sagte er:

»Erst muß ich die Kalle sehn!«

Da begann ich ein entsetzliches Lachen, daß ich mich schüttelte und hustete. Ich lachte und hustete durcheinander. Meine Kindheit, meine Jugend, meine Vergangenheit brach los in diesem bösen Lachen. Die Leute im Café drehten sich nach mir um. Und Seidenfeld sah mich an, als sei ich verrückt geworden.

»Hat man schon gehört? Lachen tun Sie? Kann man kaufen, ohne zu sehn? Wer hat schon gekauft, ohne zu sehn? Sie haben schon gekauft?«

»Sie haben recht«, sagte ich, noch schwer atmend. Ich mußte mir die Tränen von der Wange wischen. »Mir ist was eingefallen, Herr Seidenfeld. Gewiß, Sie sollen sie sehn.«

Ich ging gleich und holte Stasinka. Sie setzte sich an den Tisch und wir verhandelten über sie in ihrer Gegenwart. Ich sah sie oft von der Seite an. Ihre Brüste hoben und senkten sich. Aber sonst schien sie wie eine Masse leblosen Fleisches.

Seidenfeld gab mir fünf Dollars. Dann brachte ich Stasinka zu Beller. Wir saßen im Wagen und Seidenfeld saß am Bock. Ich klimperte mit Seidenfelds Dollarstücken in der Tasche.

»Stasinka«, sagte ich, »du wolltest mich nicht. Aber ich habe dich lieb und so schenke ich dir statt meiner tausend Wasserpolaken.«

Ich packte Stasinka noch einmal mit aller Wildheit an ihrer Brust, die ich seit den Knabentagen sich hebend, sich senkend, groß und schwer all die Jahre vor mir gesehen hatte.

In der schmalen, dunklen Seitengasse, in der Bellers Etablissement sich befand, stieg ich aus und ging.

Am folgenden Abend suchte ich die »Neue Welt« – so hieß das Haus, in das ich Stasinka gebracht hatte – auf. Auf mein Läuten öffnete mir ein grinsender Neger und führte mich die Treppe hinauf. Ich hörte die erstarrte Musik eines automatischen Klaviers aus dem Salon, in den ich eintrat, ohne vorher abzulegen.

Ein Geruch von Schweiß und starken Getränken schlug mir entgegen, ärger, als ich ihn aus meiner Barkellnerzeit kannte. An den Wänden standen Sofas, die in allen Farben spielten, an den Ecken kleine Tischchen. Der Raum in der Mitte war frei, wahrscheinlich zum Tanzen. Eine müde brennende Gaslampe ließ alle Dinge in einem konturenverwischenden Zwielicht erscheinen.

Einige Mädchen, etwa fünf, lungerten auf den Sofas umher. In einem Winkel saß Stasinka. Sie war mit einem Fetzen roten Seidentuches bekleidet, der ihre Brüste nahezu frei ließ. Ihr Blick war stumpf zu Boden gerichtet.

Ich setzte mich in die entgegengesetzte Ecke. Eine Jüdin mit schwarzzerfressenen Zähnen kam zu mir. Ich ließ Whisky kommen. Mir war, als dringe das Geräusch von Stasinkas gleichmäßigen Atemzügen bis zu mir. Einen Augenblick lang fühlte ich ihren Blick auf mir. Dann sah sie wieder unbeweglich vor sich hin.

Lärmend kamen einige Männer, dem Aussehen nach Hafenarbeiter. Sie ließen sich am Nebentisch nieder. Frau Beller, ein schwarzes, hageres Weib mit unerbittlichen Augen, gab den Mädchen einen Wink. Sie erhoben sich müde und setzten sich zu den Männern. Bloß Stasinka blieb an ihrem Platze.

Ich hätte das Mädchen an meinem Tische gerne gefragt, wie sich Stasinka bei ihrem Eintritt ins Haus benommen habe. Ob sie geweint, geschrien, geflucht oder geschwiegen habe. Aber ich scheute mich, mein Interesse an Stasinka offen zu zeigen.

»Eine Neue?« fragte ich mit einem kurzen Blick nach der Ecke, in der Stasinka saß.

»Eine Neue«, sagte das Mädchen. Es schien, als habe sie solch ein Ereignis wie die Aufnahme einer »Neuen« in ein Haus so oft erlebt, daß es sich ihr gar nicht verlohnte, darüber zu sprechen.

»Sie ist still.« Ich versuchte das Gespräch fortzusetzen. Das Mädchen zuckte aber bloß mit den Achseln, als wollte sie sagen: Gott, jede hat eben andere Mucken.

Ein großer Mann vom Nebentisch erhob sich und ging auf Stasinka zu. Sie saß unbeweglich, indes er zu ihr sprach. Ich weiß, sie wäre auch unbeweglich gesessen, wenn sie verstanden hätte, was der Mann zu ihr sagte.

Die Frau trat hinzu und sah Stasinka mit einem strengen Blick ihrer bösen Augen an. Stasinka erhob sich und ging, sich in den Hüften wiegend, als trüge sie die schweren Butten zum Brunnen im Garten des Siechenhauses. Der Mann folgte ihr.

Stasinkas Kopf war zur Erde geneigt und mir war, als wollte sie sagen:

»Die Frau hat es befohlen.«

Ich sprang auf und sah Stasinka nach, bis sie in der niederen Türe zu ihrem Zimmer verschwunden war. Ich blieb vor der Tür stehen. Das Mädchen, das mit mir am Tische gesessen war, trat zu mir und sagte irgend etwas, das an mein Ohr schlug, ohne daß ich es verstand. Sie schmiegte sich an mich. Ich aber schob sie von mir und eilte fort.

Ich hatte geglaubt, ich würde frohlocken, wenn ich Stasinka so tief gedemütigt haben würde. Aber von Frohlocken habe ich nichts in mir gefühlt, als ich Stasinka in ihrem Zimmer in der »Neuen Welt« verschwinden sah. Da ich die Treppe hinunterging und am grinsenden Neger vorbei, war mir, als hätte ich bloß etwas Halbes getan und als müßte ich umkehren, um Stasinka zu Tode zu prügeln. Das Stummsein ihrer lichtlosen, schweren Seele, das allem, das ich grausam über sie brachte, stumpf gehorsam war, ließ mich fürchten, daß ich in all meinem Haß wehrlos sei gegen Stasinka, die Magd.

An diesem Abend in Bellers »Neuer Welt« habe ich Stasinka zum letzten Male in meinem Leben gesehen. Tags darauf lernte ich einen Mann kennen, der mir einen Handel anbot. Die Sache schien mir gut und ich steckte mein Geld hinein. Es war eine Spekulation mit einer neuerfundenen Petroleumquelle. Die Angelegenheit nahm mich derart in Anspruch, daß ich Stasinka nicht aufsuchen konnte. Nach vierzehn Tagen verkaufte ich mit einem Gewinn von zwölftausend Dollars meinen Anteil, was mein Glück war, da sich später herausstellte, daß die Quelle gar nicht existiere.

Jetzt erst kam ich dazu, Bellers Etablissement zu besuchen. Zu meinem Staunen war Stasinka nicht mehr da.

Ich fragte Beller nach ihr. Das war ein dicker blonder Mensch mit kleinen Augen und einer dicken und einer mageren Wange. Die Nase stand ihm schief aus dem Gesicht. Er sagte mir, sie habe einen Posten in einer Kleinstadt gefunden. Sie passe dort auch sicherlich besser hin. Er nannte mir einen kleinen Ort im Westen.

Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß ich Stasinka nachreisen müsse. In dem Ort, den mir Beller genannt hatte, war sie nicht mehr. Ihre Spur führte in ein Nachbarstädtchen, von dort in ein zweites, ebenfalls ohne Erfolg. So suchte ich Stasinka vergeblich durch etwa vier Wochen. Dann gab ich die Hoffnung auf und ging nach Francisco.

In Francisco bot sich mir Gelegenheit, mich an einer kleinen Ofenröhrenfabrik zu beteiligen. Ich steckte mein Geld hinein und legte damit den Grundstein zu meinem heutigen Reichtum. Die Fabrik gedieh, jährlich konnten wir sie in irgend einer Weise vergrößern. Dazu kamen glückliche Spekulationen und nicht zuletzt die Beharrlichkeit, mit der ich es verstand, die Stellung meines Kompagnons zu untergraben, der endlich darauf eingehen mußte, eine verhältnismäßig kleine Geldsumme als Abfindung anzunehmen und das Unternehmen mir zu überlassen.

Jährlich einmal ließ ich in die Zeitungen eine Notiz einschalten, durch die ich Stasinka aufforderte, sich bei mir zu melden. Ich erhielt niemals eine Antwort. Trotzdem gab ich keineswegs die Hoffnung auf, ihr noch einmal zu begegnen. Mir schien, als sei sie mir etwas schuldig geblieben, und als habe ich das Recht, vom Schicksal die Begleichung dieser Schuld zu verlangen.

Ich hatte Macht und Gold und war Gebieter über viele. In meiner Fabrik mühten sich Tausende, Männer, Frauen, Kinder, für mich. Ich war ein harter und unbarmherziger Herr gegen alle, die in meiner Macht waren. Stasinka aber hatte sich meiner Macht entzogen.

Mein fester Glaube, noch einmal Stasinka zu begegnen, sollte getäuscht werden. Allerdings hörte ich noch einmal von ihr, aber anders, als ich gedacht hatte.

Ich saß in meinem Bureau, als der Diener mir eine Frau meldete, die sich, trotzdem ich zu dieser Stunde nicht empfing, nicht abweisen lassen wollte. Ich ließ die Frau eintreten. Es war ein etwa vierzigjähriges Weib aus dem Volke mit einer lose über den Rock hängenden blauen Bluse bekleidet, plump, mit zahnlosem Mund. Auf den Armen trug sie einen etwa zweijährigen Knaben.

Auf die Frage, was sie wünsche, erzählte sie mir, sie sei Hebamme in einem Orte nahe der Küste. Eine Frau habe vor etwa zwei Jahren bei ihr entbunden und ihr den Auftrag erteilt, den Knaben, den sie geboren habe, aufzuziehen und ihn, wenn er so weit sei, die Beschwerden einer Reise nach Francisco zu überstehen, mir zu überbringen. Die Frau sei im Wochenbette an heftigem Fieber gestorben und sie, die Hebamme, entledige sich des Versprechens, das sie der Sterbenden gegeben habe, indem sie mir den Knaben überbringe.

»Die Frau ist gestorben?« fragte ich. Für mich war kein Zweifel, daß der Knabe Stasinkas Kind sei.

Die Frau bejahte meine Frage.

»Sie lügen!« rief ich.

Die Frau zog den Totenschein aus der Tasche und einige Dokumente, aus denen ich ersehen sollte, daß ich nicht betrogen würde. Ein Arbeitsbuch Stasinkas, in dem die treuen Dienste, die sie dem Siechenhaus als Magd geleistet hatte, bestätigt waren, ihre Schiffskarte und das Zeugnis über ihre Tätigkeit bei Beller.

Es war kein Zweifel möglich. Stasinka war tot.

Ich fühlte ihr Sterben nicht anders als einen Betrug an meinem Rechte, einmal über sie herrschen zu können; seit den Knabentagen, seit den Tagen und Nächten im Siechenhause, in dem meine Kindheit gefangen gewesen war, war dieser Wunsch nicht erloschen.

Stasinka war aber vor mir aus dem Leben geflohen.

Nun stand ich da mit Macht und Gold, aber Stasinka, um die ich Macht gewollt hatte, war tot.

Ich läutete dem Diener.

»Führen Sie die Frau zur Kasse. Lassen Sie ihr zweihundert Dollars zahlen.« Mein Blick fiel auf den Knaben. »Das Kind bleibt da.«

Die Frau ging. Ich trat auf den Knaben zu, der auf dem Tisch lag. Er wich vor mir zurück und schrie. Er fürchtete sich vor mir. Ich glaubte, in seinen Augen Stasinkas stummen Tierblick wiederzusehen. Umbringen, dachte ich, umbringen! Ich suchte nach einem Instrumente. Eine Papierschere fiel mir in die Hände. Ich ging auf das Kind zu. Es hatte aufgehört zu schreien und sah mich starr an.

Ich wandte mich ab. Ich ließ den Diener mit der Frau zurückkommen.

»Haben Sie einen Monat Zeit?« fragte ich. »Ich liebe dieses Kind. Ich will seine Erziehung sichern. Sie werden gut bezahlt werden«, sagte ich. Dann setzte ich mich und schrieb diesen Brief. Er war an den Bürgermeister meines Heimatsortes gerichtet.

»Verehrter Herr!

Ein Zufall hat das Geschick eines unglücklichen Findelkindes in meine Hände gelegt und mich sozusagen vor Gott für die Zukunft dieses Kindes, eines zweijährigen Knaben, verantwortlich gemacht. Ich bin unverheiratet und müßte das Kind fremden Leuten zur Erziehung anvertrauen. Selbst unter der Aufsicht Fremder aufgewachsen, kann ich mir die Entwicklung eines Kindes wohl vorstellen, welches nicht das liebevolle Bemühen um sich findet, das ich als Knabe im Siechenhause Ihrer Stadt zu finden so glücklich war. Damals wurden die Grundlagen in mir gelegt, die mich befähigten, im Leben meinen Mann zu stellen und jene angesehene Stellung zu erlangen, die ich jetzt einnehme. Das Beisammensein mit würdigen Greisen hat mich jung den Ernst des Lebens verstehen gelehrt und das Bild des Wohltäters im Speisesaal hat mir täglich einen Mann gezeigt, der im Reichtum der Armen nicht vergaß.

Hier nun bietet sich mir unverhofft die Möglichkeit, für einen Knaben zu sorgen und zugleich meiner Vaterstadt für meine schöne Jugend mich dankbar zu zeigen. Ich überweise ihnen heute noch 30 000 (dreißigtausend) Dollars mit der Bestimmung, sie mögen zur Errichtung eines weiteren Freiplatzes für Knaben im Siechenhause verwendet werden, dessen erster Nutznießer der Knabe, den Ihnen die Überreicherin dieses Briefes vorstellt, sein soll. Diese Stiftung folgt sonst in allen Bestimmungen den Satzungen des Waisenhauses. Ich bitte bloß, daß irgendwo im Saale des Siechenhauses auch mein Bild angebracht wird. Ich übersende es heute zugleich mit dem Gelde. Noch ein Gedanke drängt sich mir, da ich den Brief bereits schließen will, auf. Ich bin ein reicher Mann. Wäre ich es geworden, wenn ich nicht in meiner Jugend im Siechenhause zur Einfachheit und Arbeitsfreude erzogen worden wäre? Soll ich nun den Knaben, den der Zufall mich finden ließ, in Luxus und Reichtum erziehen, oder soll ich nicht vielmehr ihm dieselbe Grundlage geben, die ich selbst erhalten habe? Ich kenne dieses Kind kaum und schon liebe ich es. Darum will ich, daß es wie ich das Glück einer einfachen Jugend im Siechenhause meiner Heimat genieße.

Ich fertigte den Brief, schloß ihn und übergab ihn der Frau. Dann versah ich sie mit Geld und schickte sie mit dem Knaben nach Europa. Langsam begann ich mich damit abzufinden, daß Stasinka tot sei. Sie hatte mir ihren Knaben hinterlassen. In ihm noch vermochte ich, die tote Stasinka zu stürzen. In ihm ließ ich mein Leben sich neuerlich wiederholen. Er sollte meine Jugend erleiden. Stasinka ward nach dem Tode zerbrochen in ihrem Kinde.

Einige Wochen nach der Abreise der Hebamme erhielt ich einen Brief aus meinem Heimatsorte, in dem der Bürgermeister mich daran erinnerte, daß er es gewesen sei, der als damaliger Verwalter des Siechenhauses von mir Abschied genommen habe. Er freue sich, als Greis zu vernehmen, welchen Aufstieg der Knabe aus dem Siechenhause genommen habe, wenngleich er nie daran gezweifelt habe, da er stets der Überzeugung gewesen sei, die er nun von neuem bestätigt finde, daß Arbeitswille und Ehrlichkeit zu Erfolg führen. Dann dankte er mir ausführlich für meine edle Stiftung.

 

Jahre vergingen, in denen ich in der Tätigkeit in der Fabrik aufging. Alles andere hatte gänzlich für mich aufgehört. Ich hatte nun kein Interesse mehr auf der Welt als die Vergrößerung des Unternehmens. Macht um ihrer selbst willen. Den Arbeitern gegenüber blieb ich unnachsichtig. Bei einem Streik verschrieb ich mir Kulis als Streikbrecher. Seither bin ich einer der gehaßtesten Unternehmer in Francisco geblieben.

Ich wurde fünfzig Jahre alt und stand herrisch, stolz auf mein Werk, aber einsam da. Ich hatte keinen Freund und kein Weib. Dafür hatte ich Geld und Feinde.

Es würde zu weit führen und vom eigentlichen Zweck dieser Erzählung entfernen, wollte ich diese Zeit meines Lebens näher beschreiben. Zudem denke ich, daß das, was ich davon erwähnt habe, in Verbindung mit dem über meinen ganzen Werdegang Gesagten, genügen werde, ein klares Bild von mir zu geben.

Manchmal kam mir die Erinnerung an Stasinka und Zorn stieg in mir auf. Dann dachte ich an den heranwachsenden Knaben, in dem ich sie doch noch besiegte.

So bin ich an die Wende meines Lebens gekommen.

Ich bekam einen Brief:

Verehrter Wohltäter!

An dem Tage, an dem ich das Haus wehmütigen Herzens verlasse, in dem ich durch Ihre Güte auferzogen zu werden das Glück hatte, gebietet mir unwiderstehlich mein Herz, Ihnen meinen Dank zu sagen. Durch Ihre Güte haben Sie einem unschuldigen Kinde die Möglichkeit geboten, die Fähigkeit seiner Seele zu entwickeln und das Gute, das das Schicksal in seine Brust gesenkt hat, zu erwecken und zu vermehren.

Nun verlasse ich das Siechenhaus, in dem ich eine gesicherte Jugend verbracht habe, und werde mit Hilfe guter Menschen ein Lehrerseminar in der Stadt besuchen. Denn wie Sie, verehrter Wohltäter, drängt es mich, an unschuldigen Kindern Gott mich dankbar zu zeigen dafür, daß er auch mir, einem unschuldigen Kinde, seinen Wohltäter gesandt hat, so wie es Sie gedrängt haben mag, mich zu erretten aus Dankbarkeit gegen Ihr eigenes Geschick. Nur stehen mir nicht die Mittel zur Verfügung, in derselben Art dankbar zu sein wie Sie. Und mein bescheidenes Wollen strebt nicht, Reichtum zu erwerben, vielmehr sich in Ruhe und Einfachheit dem Guten zu ergeben. So habe ich beschlossen, Lehrer zu werden, und ich weiß, daß auch Sie diesen Wunsch gutheißen werden.

Ich versichere Ihnen, daß Ihr Bild nichts Schlechtes in meiner Seele gesehen hat. Stets habe ich Ihre Augen wie die des Stifters meines »Vaterhauses« zum Rechten ermunternd auf mich gerichtet gefühlt. Demütigen Herzens, zufrieden mit dem bescheidenen Los, zu dem mich die Fügung der Dinge bestimmt hat, verlasse ich die Stätte meiner Jugend, verlasse ich die Greise, denen hilfreich sein zu dürfen, mein Herz mit tiefem Glück erfüllt hat.

Verehrter Wohltäter, ich weiß, Sie bedürfen keines Dankes. Was Sie an dem Findelkinde, das seine Eltern nicht kennt, getan haben, haben Sie an seiner armen Mutter getan. In dem Kinde, in dem sich, wie ich weiß, die Seele der Verstorbenen wiederholt, haben Sie das Leben einer sicherlich Unglücklichen, die gewiß viel Schweres und, da sie meine Mutter war, wohl auch geduldig ertrug, nach dem Tode beglückt. Und Sie sind reich in dem Bewußtsein: Ich habe eine gute Tat getan!

Sie sollen den Namen, den mir das Siechenhaus gegeben hat, nicht kennen, damit Sie nicht meinen, mich mit Geld unterstützen zu müssen. Forschen Sie auch nicht nach ihm! Ich bin zufrieden mit meinem Los und weiß mir kein besseres.

Der Knabe, an dem Sie Gutes getan haben.

Ich ließ den Brief zu Boden sinken und sah lange starr vor mich hin. Erinnerungen und der Ton dieses Briefes bestürzten mich. Ich sah Stasinkas Knaben vor mir und hörte ihn sagen: Sie haben eine gute Tat getan.

Eine schrille Glocke weckte mich. Automatisch folgte ich ihr in die Räume der Fabrik. Ich ging durch die langen Maschinensäle im schmalen Gang zwischen den Reihen der glänzenden, ewig sich drehenden Räder. Wie von ferne hörte ich das Getöse der Arbeit.

Am Ende des letzten Saales, in dem die Erzeugnisse meiner Fabrik zum Verladen fertiggemacht wurden, erwartete mich der Direktor. Er führte mich zum eben fertiggewordenen neuesten Modell und begann, mir über die Vorzüge desselben an Hand von Notizen und des groß und glänzend vor uns stehenden Apparates zu berichten.

Ich hörte sein Worte, ohne sie zu verstehen. Während seines Vortrages noch wandte ich mich um und ging.

In meinem Arbeitszimmer las ich von neuem den Brief des Knaben, an dem ich Gutes getan hatte. Mich wunderte, daß ich nicht zornig wurde. Wollte ich ihm nicht Böses tun? Wollte ich ihn nicht Leid erdulden lassen? Und Stasinka in ihm? Aber der Knabe stand da vor mir und sprach: in mir hast du meine Mutter nach dem Tode beglückt.

So hatte sich der Knabe wie Stasinka meiner Macht entwunden. Deutlich, wie lange nicht mehr, stand Stasinka vor mir und ich sah ihren ergebenen stummen Blick: die Frau hat es befohlen. Mir aber geschah, was mir, soweit ich denke, nicht geschehen war. Mit einem Male rannen mir Tränen über die Wangen.

Ich weinte. Meine Kindheit ward wieder wach und ich sah sie gedrängt in einem einzigen Bilde vor meinen Augen. Ich sah das Siechenhaus und die Armut meiner Jugend und sah Haß und Ekel vor Armut, die mit mir wuchsen. Ich sah mich als Fabriksherrn, vor dem die Schar der Arbeiter zitterte, die ich haßte, weil sie arm waren, und die ich verachtete, weil sie ohne Macht waren. Ich sah Stasinka, die gehaßt war, die schuldlose, die meine Macht hingehen ließ, als fühle sie sie nicht. Ich sah den Knaben, den ich haßte, weil er ein Kind war, weil er mir ausgeliefert war, weil er Stasinkas fromme Augen hatte, den ich leiden lassen wollte und böse machen, bloß daß alle Einfalt der Seele, alle Stummheit gehorchender Herzen, die Mutter Stasinka aus ihm, ins Widerspiel verzerrt, lache und sich selbst besudle.

Und nun: Kinderhände greifen an die Wurzeln meiner Seele und ich weine um gütige Umarmung.

Ich wollte ein Kind, es aussetzend einem Schicksal gleich dem meinen, heranwachsen lassen, damit es werde wie... ich, der Mächtige? Sollte das Wahnwitz des Hasses sein, das, was ich vernichten wollte, mir gleich werden lassen zu wollen? Ahnte ich, ohne es zu erkennen, daß mein Leben, so reich an Macht, glücklos und arm sei, weil der Haß es einsam machte, weil Feinde es umstellten, Kälte, Fremdsein? Und jetzt wußte ich, daß auch mein Leben nach Wärme und Güte gerufen hatte, weil ich nicht ärger und härter hassen und töten zu können glaubte, als indem ich Stasinkas Kind mein eigenes Leben leben ließ. Doch das Kind ist demütig geworden und gut. Und seine Güte ruft zu mir.

Ich weinte um den Haß, den ich gesät hatte zu Vernichtung und den in seinem Ende das Schicksal gewandelt hatte.

Tränen wuschen den Haß aus meiner Seele. Mir ward, als leuchte mildes Licht in mir.

Im Lichte der guten Liebe sah ich Stasinka, die stumme Kreatur des Herrn. Sie ist eine Gehorchende gewesen, eine Fromme. Ich aber war das Element, das in ein in Gott geschlossenes Leben gedrungen ist, das Wesen des Demütigen zu zerstören, weil Haß Feind ist. Doch die gute Liebe wurde nicht zerstört und war stärker als das Böse.

Sie spricht vom Knaben zu mir und antwortet ihm aus mir.

Stasinka wurde getötet. Aber nach dem Tode wurde sie beglückt. Güte und Demut sind so groß, daß auch das Herz des bösen Mörders den Strahl des Glückes fühlt.

Ich öffnete das Fenster. Vor mir war Francisco, räderdurchwühlt, menschengedrängt, pfeifend, schnaubend, rasend. Und im Westen sah ich das Meer. Aber über Francisco und die Gier und den Haß seiner Menschen und über das Meer und über Tausende Städte voll Kampf und Feindschaft hinweg war eine Brücke von einem armen Knaben zu mir.

Ich beuge mich aus dem Fenster. Ich will näher sein, Gott, ich will näher sein! – Die Straße ist laut. Menschen treiben aneinander vorbei und sie einander nicht.

Irgendwo, denke ich, ist ein Mord geschehen. Wieder hat man Stasinka erschlagen. Ich aber bin nicht mehr allein.

O über mich, daß ein Geschöpf mich liebt...


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