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Simonsen blieb im Tor stehen, zog sein altes fettiges Taschentuch heraus und wollte das Zeugnis hineinlegen, das er in der Hand hielt. Zuerst aber faltete er das schmutzige Papier auseinander und las es durch, obwohl er es auswendig konnte:

 

»Anton Simonsen war in unserem Geschäft drei Jahre lang als Lagerist angestellt.

Er hat sich in dieser Zeit als ein nüchterner, fleißiger und williger Mann bewährt.

Für die Maschinenhandlung Herkules N. Nielsen.«

 

Nein, nein, dieses Zeugnis würde allerdings nicht viel nützen. Der Teufel hol's – das war doch eine Gemeinheit von dem Kontorchef! Wenn der bei den Kunden stand und auf sie einredete und dies und das von Lieferungszeit und allem Möglichen sagte, da war er nicht so ängstlich – aber ein Zeugnis ausstellen, mit dem ein armer Kerl noch Arbeit finden würde, nein, das konnte er nicht. – Ja, ich kann doch nicht hinschreiben, daß Sie Ihre Arbeit zu unserer Zufriedenheit ausgeführt haben, hatte er gesagt, der Kerl. Aber nüchtern, dieses Wort mußte er doch ins Zeugnis schreiben. Zuerst stand es nicht drin. Aber er, Simonsen, hatte es verlangt. Ja! – Ich meine, Sie haben die ganze Zeit nach Schnaps gerochen, Simonsen, hatte der Kontorchef gesagt. Da aber hatte er aufbegehrt: Ich trinke dann und wann einen Schnaps, Herr Kontorchef, hatte er gesagt, und Ihr hättet das wohl auch getan, wenn Ihr in dem kalten Lager da unten hättet arbeiten müssen. Aber niemand darf behaupten, daß Anton Simonsen in der Arbeitszeit betrunken gewesen sei! Nicht ein einziges Mal bin ich auch nur nahe daran gewesen. – Ja, da hatte er nachgeben müssen, der Hanswurst, und das Fräulein mußte das Zeugnis schön neu schreiben, mit »nüchtern« darin. Nun war es also – wie es war –, schön war es nicht, und etwas Besseres hatte er nicht vorzuzeigen.

»Aufgepaßt, zum Teufel – Schlafmütze!«

Simonsen sprang zur Seite und an die Wand. Polternd schwankte ein Lastschlitten mit Tragschienen zum Torweg herein. Von den nassen Pferderücken stieg der Dampf auf, während die Tiere sich mit aller Macht ins Geschirr legten, um den Schlitten über das Pflaster des Torweges hinwegzuziehen. Der Kutscher schrie ihm noch mehr zu – Simonsen konnte jedoch nichts hören, da die Worte in dem Lärm der aneinanderschlagenden Eisenschienen ertranken.

Er legte das Zeugnis ins Buch und schob dieses in die Brusttasche. Unwillig schielte er hinter dem Fuhrwerk her. Dort stand es im Hof drinnen beim Lagerhaus, wo der Kranbalken mit Rad und Ketten aus einem dunklen Loch in der schwärzlichroten Mauerwand mit den vergitterten Fenstern herausragte – die Pferderücken dampften weiß, und die Haare waren zu kleinen, nassen und bereiften Zotteln zusammengeklebt. Der Kutscher hatte den Tieren keine Decken übergelegt – er stand da und sprach mit einem Mann.

Simonsen knöpfte den Wintermantel zu, der noch ziemlich neu und ordentlich war, richtete sich auf und schob den Bauch vor. Ein Gefühl von bürgerlicher Würde stieg in ihm auf – noch war er doch ein besserer Mann, und so ein Flegel von einem Kutscher überfiel ihn einfach mit Schimpfreden. – Und gleichzeitig mit seinem Selbstgefühl stieg etwas in ihm auf, das sich beim Anblick der beiden Arbeitspferde gerührt hatte, wie sie sich so ins Geschirr gelegt hatten, daß die Muskeln an ihren schweißigen Lenden heraustraten. Er ging in den Hof.

»Ich finde, du hättest deine Pferde zudecken können. Ist das auch noch ein Anstand, die Tiere so naß, wie sie sind, bei dieser Kälte einfach stehenzulassen?«

Der Kutscher – ein langer, schlampiger Mensch – drehte sich um und blickte auf ihn herab:

»Was schert dich denn das, geht dich das etwas an?«

»Und was meinst du, daß dir passieren würde, wenn ich ins Kontor hinaufginge und sagte, wie du mit ihren Pferden umgehst?«

»Mach, daß du weiterkommst, und zwar schleunigst – was schert's denn dich – was stehst du da und kümmerst dich um Sachen, die–;« der Kutscher trat einen Schritt näher auf Simonsen zu.

Simonsen wich ein wenig zurück – aber der Kerl wagte ihm ja nichts zu tun, hier drinnen im Hof –, Simonsen blies sich noch mehr auf und sagte:

»Ja, ich wollte dich bloß darauf aufmerksam machen, daß sie von den Kontorfenstern aus sehen können, wie du die Pferde behandelst.«

Damit kehrte er um. Das sichere Wohlstandsgefühl verließ ihn im gleichen Augenblick. Denn während er durch das Tor ging, kam ein Herr die Treppe heruntergelaufen und rannte an ihm vorbei – mit einer Pennsylvaniamütze, Pelz und schwarzem Stock mit silberner Krücke – rot und weiß und blond – der gleiche, mit dem er gesprochen hatte, als er sich seinerzeit um den Posten bewarb.

Draußen fing es an zu dämmern. Es ging schon auf vier Uhr. Olga würde sich wohl mächtig anstellen, wenn er so spät zum Mittagessen kam. Na, er mußte eben sagen, er habe so lange im Lager bleiben müssen.

Simonsen schlurfte rasch durch die Torvstraße. Er zog die Beine etwas nach und trippelte zu gleicher Zeit – und mit dem großen runden Bauch und den kurzen, gebogenen Armen erinnerte er ein wenig an einen Gummiball, der so dahinhüpft und rollt. Klein und kurzhalsig war er, und sein Gesicht war aufgeblasen und fett, mit wässerigen Augen, die tief hinter den Lidern versteckt lagen, geäderten Wangen und einem kleinen bläulichen Klumpen von einer Nase über dem struppigen graugelblichen Knebelbart.

Es war ein garstiger Samstagnachmittag anfangs Dezember, und die Luft war dick vom grauen Frostnebel, der nach Gas und Ruß roch und schmeckte. Auf dem Fahrweg schlingerten die Schlitten über die aufgefahrene, bucklige und hartgefrorene Schneeschicht, und auf dem Gehsteig floß der Menschenstrom schwarz und schwerfällig an den erleuchteten, vereisten Schaufenstern vorüber. Alle Augenblicke stieß jemand mit Simonsen zusammen und sah ihm böse nach, wie er so in seine eigenen Gedanken vertieft dahintappte.

Nicht, daß es großartige Gedanken gewesen wären, die sich in ihm rührten. Denn er schob es von sich – irgendeine Stelle mußte sich ja wohl finden. Dann brauchte er es Olga nicht zu sagen, daß ihm gekündigt worden war – bis Neujahr. Ach ja, das Leben war ein Kampf.

Es hatte ja keine solche Eile; der größte Teil eines Monats lag noch bis Neujahr vor ihm. Wenn es aber brenzlig werden sollte, dann mußte er eben an Sigurd schreiben. Sigurd konnte ihm sicher wieder eine Stellung verschaffen. Es war doch nicht zuviel verlangt, wenn man einen Sohn, dem es so gut ging wie Sigurd, um diesen Gefallen bat. Ein Vergnügen war es freilich nicht, es war ja das viertemal – aber doch im Laufe von acht Jahren –, zu Neujahr wurden es genau acht Jahre, seitdem Sigurd ihn auf dem Büro untergebracht hatte, weil diese feine Schwiegertochter, diese Mähre, ihn nicht gut genug fand, um sich daheim in Frederiksstad mit ihm sehen zu lassen. Ärgerlich war es, daß er an allen drei Stellen wieder hatte gehen müssen – aber seine Schuld war es nicht gewesen. Auf dem Büro waren es die Fräuleins gewesen, die es ihm so schwer gemacht hatten – diese naseweisen Dinger, gerade als wäre es die etwas angegangen, was er im übrigen tat, wenn er seine Arbeit gut ausführte, und das hatte er getan. Und ihnen war er nicht zu nahe gekommen – ganz gewiß nicht –, das wäre noch schöner gewesen, diesen wichtigtuerischen, spitzen, blassen Frauenzimmern. Ja, dann arbeitete er im Holzlager. Dort war er nun in jeder Beziehung ordentlich und pünktlich gewesen, denn das war gerade um die Zeit, als er zu Olga gezogen war. Diese Arbeit war er zwar nicht gewohnt gewesen – aber wäre ihm nicht der Vorarbeiter aufsässig gewesen, dann hätte er die Stellung nicht verloren. Und dann war er also in die Maschinenfabrik gekommen. Nein wahrhaftig, wenn das leicht war für einen Mann nahe den Sechzigern, noch alle diese sonderbaren Dinge zu lernen, von denen er ja vorher keine Ahnung gehabt hatte –! Mit der Expedition und dem Verpacken und dem Lagerbuch und dem ganzen Dreck zurechtkommen zu müssen! Der Lagerchef war ein fauler Hund, und immer sollte er daran schuld sein – und immer waren sie ekelhaft gegen ihn gewesen, beim Disponenten und Kontorchef angefangen, der ihn ständig daran erinnerte, daß er nur zeitweilig angestellt sei, und immer ausforschte und fragte, ob er nicht etwas anderes in Aussicht habe – bis zum Lagerchef und den Vorarbeitern und den Kutschern – und der Kassiererin. – Wie mürrisch und verdrossen und böse und widerlich war sie doch immer, wenn er zu ihr kam und um Vorschuß bat.

Es ballte sich in seinem Gehirn zusammen – ein grauer, zottiger Nebel von Unruhe und Mißmut –, daß Olga zanken würde, wenn er heimkäme, und daß Sigurd und seine Frau äußerst ungemütlich werden würden, wenn sie erfuhren, daß man ihm gekündigt hatte und daß er wieder in einer neuen Stellung anfangen mußte. In einer neuen Stellung, in der er ängstlich und ohne Verständnis in seinem unklaren Gehirn mit einer neuen, ihm unbekannten und nie erlernbaren Arbeit herumlaufen würde – in einem neuen Lager oder vielleicht einem neuen Büro, vollgestopft mit fremden, feindlichen Gegenständen, sich unter ständigen Zurechtweisungen und Nörgeleien duckend, stumpf auf eine neue Kündigung wartend – so wie er durch seine anderen Stellungen geirrt war und sich geduckt hatte, schwerfällig und alt und dumm.

Aber Simonsen hatte doch eine gewisse Übung darin, sich unangenehme Gedanken fernzuhalten. Im Grunde war er ja auf diese Weise durch das ganze Dasein geirrt, hatte sich geduckt und auf Kündigung gewartet und auf Schelten und Unbehaglichkeiten, als auf das Unentrinnbare. So war es ihm auf der See gegangen, und so war es in Konsul Isachsens Hafenspeicher gewesen – und so hatte er es daheim mit seiner Frau gehabt damals, als sie noch lebte. Böse und mürrisch und streng und unfreundlich war sie gewesen – seine Schwiegertochter hatte übrigens gar nicht so wenig Ähnlichkeit mit ihr. Ja, er, der Sigurd, mußte wohl sicher dafür büßen, daß es ihm eingefallen war, sich mit dieser feinen Tochter des Kapitäns Myhre zu verheiraten, die vorne und hinten nichts besaß. Wie nett hatten sie es doch daheim gehabt in den Jahren nach Lauras Tod – der Junge war schön vorwärts gekommen, gut gegen seinen alten Vater gewesen und hatte ordentlich für sich und alles bezahlt. Nicht, daß es ihm, Simonsen, etwa in den ersten Jahren hier schlecht gegangen wäre – da war er wieder Junggeselle und obenauf gewesen, hatte dies und das genossen, Vergnügen und Leben –, und seitdem er mit Olga zusammen lebte, hatte er es im Grunde auch recht gemütlich gehabt – die meiste Zeit wenigstens. Etwas unangenehm war es ja gewesen, damals, als sie schwanger geworden war – aber das war ja auch wirklich entschuldbar –, und sie gab sich zufrieden, sobald er ihr die Ehe versprach. Bisweilen quälte sie ihn ja damit, daß er Ernst machen und sie heiraten sollte. Ja, nicht, daß er nicht vorhatte, dies auch einmal zu tun – er hätte es schon längst getan, hätte er nicht gewußt, daß er mit Sigurd und seiner Frau deswegen eine Menge Unannehmlichkeiten bekommen würde. Aber er würde wohl einmal einen schönen leichten Posten finden, in dem er bleiben konnte. Und wenn Olga ihre Schneiderwerkstätte erweitern konnte und Henry, Olgas Junge, in dem Geschäft, wo er jetzt Laufjunge war, ins Kontor kam, denn das hatte man ihm versprochen – er stellte sich so gut an, der Junge–, dann konnten sie es alle miteinander so schön und gemütlich haben. Dann konnte er mit dem Grogglas und der Pfeife auf dem Sofa sitzen, während Olga aus und ein ging und wirtschaftete und Svanhild bei ihm saß und ihre Aufgaben lernte. Denn Olga war ein braves und ordentliches Weib, und die Leute sollten Svanhild nicht nachsagen dürfen, daß sie ein uneheliches Kind sei – wenn sie auf die Schule käme.

Simonsen war in die Ruselökstraße gekommen. Der Nebel lag dick und rauchig in der engen Straße, von dem Licht gestreift, das gelblichgrün aus den zugefrorenen Fensterscheiben der kleinen Läden herausdrang. In ihnen allen hing dort, wo die Gasflamme oder die Lampe einen Fleck aufgetaut hatte, ein Bündel Weihnachtsspankörbe, ob es nun ein Weißwarengeschäft oder ein Lebensmittel- oder Tabaksladen war. Der rötliche Schein aus den großen Schaufenstern in den beiden Stockwerken des Basars auf der anderen Seite der Straße floß ölig in den Nebel hinaus – die Gaslaternen oben auf der Terrasse waren gerade noch zu sehen, doch die Herrschaftshäuser da droben waren vollkommen verschwunden, von ihnen drang kein Lichtstreifen herab –, trotzdem ahnte man sie wie eine Mauer hoch oben im Nebel – sie drückten gleichsam die Straße, die wie ein Graben zu ihren Füßen lief, tief hinunter.

Simonsen trippelte und tappte dahin – an vielen Stellen, wo man die Eiskruste nicht weggehauen hatte, war der Gehsteig glatt. Es wimmelte von Kindern, die in den dunklen Torwegen aus und ein liefen – draußen auf der Straße zwischen den Wagen und Schlitten versuchten sie zu schildern, wo sie auch nur eine glatte Kufenspur in der holprigen, braunen Schicht aus hartgefrorenem Schnee fanden.

»Svanhild!«

Simonsen rief es streng einem kleinen Mädchen in schmutziger, weißer Kapuze zu. Sie war auf den Schneehaufen neben dem Gehsteig geklettert und rutschte auf ihren winzig kleinen Schneeschuhen, die ganz schwarz waren von dem rußigen, schmutzigen Schnee und fast keine Riemen mehr hatten, auf die Straße hinunter.

Das Kind blieb mitten in der Straße stehen und sah Simonsen an, der über den Schneehaufen hinwegstieg und auf sie zuging. Ihre himmelblauen Augen waren voll von bösem Gewissen, während sie das helle Haar unter die Kapuze strich und die kleine Nase mit dem roten Fäustling abwischte.

»Wie oft hast du es schon gehört, Svanhild, daß du dich nicht auf der Straße herumtreiben darfst! Warum kannst du nicht ein braves kleines Mädchen sein und im Hof drinnen spielen –«

Svanhild blickte furchtsam auf.

»Ich kann doch drinnen im Hof nicht Ski laufen – da ist doch kein Hügel –«

»Und wenn nun ein Wagen kommt und dich überfährt – oder ein betrunkener Mann dich mitnimmt – was glaubst du wohl, daß Vater und Mutter dazu sagen würden?«

Svanhild schwieg beschämt. Simonsen hob sie auf den Gehsteig hinüber, und sie trippelten weiter, Hand in Hand – ihre kleinen Skier klapperten auf dem schneefreien Pflaster.

»Glaubst du, daß der Vater heute abend mit dir spazierengehen will, wenn du ein so böses, ungehorsames Mädchen bist und nicht tust, was man dir sagt? – Ihr habt daheim wohl schon gegessen?«

»Die Mutter und der Henry und wir haben schon lange gegessen –«

Simonsen stapfte in den Torweg hinein. Frau Olga Martinsen, Damenschneiderei, Mädchen- und Knabenkleider, 3. Stock im Hof, stand hier auf einem weißen Blechschild. Simonsen durchquerte den Hofraum und schielte zu dem erleuchteten Fenster hinauf, wo einige Modezeitungen sich an die Scheiben lehnten. Dann nahm er Svanhilds Skier unter den Arm und führte das Kind die schmale Hinterhaustreppe hinauf.

Vor Olgas Flurtüre standen ein paar kleine Buben und lasen beim Schein einer herausgehängten Küchenlampe in einem Heft. Simonsen brummte etwas und schloß die Tür auf.

Es war dunkel im Gang – an dem einen Ende drang Licht durch die Glasscheibe der Tür, die zur Stube führte. Simonsen ging in sein Zimmer – auch hier war es dunkel – und kalt. Teufel, sie hatten das Feuer im Ofen ausgehen lassen. Er zündete die Lampe an.

»Lauf zur Mutter hinein, Svanhild, und sag, daß ich gekommen bin.«

Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer. An dem Tisch, auf dem halbfertige und zugeschnittene Stoffe und Stoffreste lagen, saß die Abrahamsen über einen Saum gebeugt. Sie hatte an der einen Seite der Lampe eine Zeitung befestigt, so daß das ganze Licht auf ihr kleines gelbes Altjungferngesicht und ihre braunen wurzelartigen Hände fiel. Es blitzte ein wenig in dem Stahl der beiden Nähmaschinen – und drüben an der Wand schimmerten Olgas und Svanhilds weiß gedeckte Betten.

»Und Ihr schafft mehr denn je, Fräulein Abrahamsen –«

»Ach ja, so ist es – man muß wohl –«

»Ja, ist es nicht sonderbar mit so einem Weihnachten – die ganze Welt steht auf dem Kopf –«

Svanhild kam von der Stube herein:

»Die Mutter sagt, daß dein Essen im Ofenrohr steht –«

»Ja – darf ich hier sitzen und mit Euch plaudern, Fräulein Abrahamsen – es ist so kalt bei mir drinnen – dann habe ich nette Gesellschaft und –«

Fräulein Abrahamsen hatte stillschweigend eine Ecke des Tisches frei gemacht, während Simonsen das Essen holte – Weißkohlsuppe und Wurst.

Hm. Das war gut. Wenn man jetzt noch –. Simonsen stand auf und ging an die Tür zur Stube.

»Du, Olga –«

»Ah, guten Abend, Simonsen – wie geht es denn Euch –«

Er öffnete die Tür und schaute ins Zimmer.

»Nein, seid Ihr es wirklich – bekommt Ihr wieder ein neues Kleid, Fräulein Hellum –«

Olga stand da, den Mund voller Stecknadeln, und probierte an – legte vor dem Konsolspiegel die Falten über Fräulein Hellums Brust zurecht:

»So, mein' ich.« – Olga nahm die Lampe von der Nickeletagere daneben und hielt sie hoch.

»Jaja. Der Rücken sitzt doch wohl richtig, Frau Martinsen?«

Die beiden Mädchen, die im Halbdunkel auf dem Plüschsofa saßen und warteten, legten die Modezeitungen weg, sahen einander an und lächelten, sahen Fräulein Hellum an und lächelten wieder einander zu. »Guter Gott!« flüsterte die eine hörbar. Sie waren fast ganz gleich in Kleidung und allem – mit halblangen Jacken, einer kleinen Pelzkrause und flotten Filzhüten mit Flügeln darauf. Simonsen blieb in der Tür stehen – sie störten ihn ein wenig.

»Was meint Ihr, Simonsen – wird es schön, glaubt Ihr?«

»Großartig, wie Ihnen diese Farbe steht, Fräulein Hellum – aber einer Schönheit steht ja alles, sagt man –«

»Ach Sie –,« sagte Fräulein Hellum und lachte. Ein nettes Mädchen, dieses Fräulein Hellum. Olga machte den Halsausschnitt – die andere beugte den Nacken und erschauerte ein wenig, die kalte Schere kitzelte – einen hübschen, rundlichen Nacken hatte sie mit blondem krausem Haar weit herab, und weiche runde Arme.

»Das sind kostbare Sachen, das hier, denke ich,« sagte Simonsen und griff nach der Seide – und nach dem Arm, während Olga den Ärmel holte.

»Nein aber, Simonsen,« lachte Fräulein Hellum. Olga sah böse aus – sie schob ihn zur Seite und zog den Ärmel an.

»Nein aber, was ich noch sagen wollte – du, Olga – könnte nicht der Henry hinuntergehen und ein paar Flaschen Bier holen –«

»Henry mußte wieder aufs Kontor, der Arme – er muß einen Voranschlag kopieren, sagte er.«

»Nein, armer Kerl – mußte er wieder fort – ich glaube fast, das ist jetzt jeden Samstagnachmittag so. – Ja, es ist ein Kampf. Heute war's auch schon fast vier Uhr, als ich aus dem Lager kam. Nein, wer so jung und schön ist wie Sie, Fräulein Hellum!«

Svanhild schaute herein.

»Komm her zu mir, Svanhild – weißt du heute, wie ich heiße?«

»Fräulein Hellum,« lächelte Svanhild bescheiden.

»Willst du heute auch Zuckerzeug haben, Svanhild?« – Fräulein Hellum griff in ihre Handtasche und brachte eine Tüte zum Vorschein.

»Nein aber, was sagst du dazu, Svanhild – gib schön die Hand, Svanhild – mach ein schönes Kompliment –«

Svanhild flüsterte »Danke«, gab schön die Hand, verneigte sich und machte sich daran, die zusammengeklebten Zuckersachen auseinanderzubrechen.

Fräulein Hellum zog sich wieder an und schwätzte und lachte.

»Ja – dann probiere ich also wieder an, wenn es fertig ist, am Dienstag – um diese Zeit – und lassen Sie mich nicht sitzen, Frau Martinsen, hören Sie – ja, adieu – adieu, Simonsen – adieu, Svanhild –«

Simonsen öffnete galant die Tür, und Fräulein Hellum schwebte hinaus mit wehenden Hutfedern, den Bisampelz flott über die Schulter zurückgeworfen.

»Guter Gott!« sagte das eine der Mädchen auf dem Sofa und kicherte, »die kann man so lassen –«

»Hehe – ja, das ist so die Richtige –«

Simonsen zog sich zu der alten Abrahamsen und seinem kalt gewordenen Mittagessen zurück. Olga kam nach einer Weile herein, brachte den Kaffee und schenkte ein.

»Ich begreife dich nicht, Anton – hat das nun einen Sinn, sich so aufzuführen – was fällt dir denn ein – wenn noch andere dabei sitzen –«

»Ach, was waren denn das für Mädels –«

»Das Mädchen vom Pfarrer oben auf der Terrasse und ihre Freundin. – Du hast mir wahrhaftig schon genug angetan und brauchst dich nicht noch hinzustellen und dieser Hellum schönzutun – damit die Leute wieder was zu reden haben, als hätten sie nicht schon vorher genug zu reden gehabt –«

»Pah! So gefährlich war es doch nicht.«

Es läutete an der Flurtür. Die Abrahamsen ging hinaus und schloß auf.

»Fräulein Larsen.«

Olga stellte die Tasse weg und nahm ein geheftetes Kleid über den Arm.

»Niemals hat man Frieden –«

Die Abrahamsen beugte sich wieder über ihren Saum.

 

Den ganzen Sonntag über nähten Frau Martinsen und die Abrahamsen. Mit dem Mittagessen warteten sie, bis es zum Arbeiten zu dunkel wurde, dann zündete Olga die Lampe an, und sie schafften wieder weiter.

»Den Ausputz für Fräulein Olsen, Abrahamsen, haben Sie nicht gerade daran genäht?«

Die Abrahamsen rasselte auf der Maschine weiter.

»Ich hab' ihn auf den Tisch gelegt –«

Olga suchte – auch auf dem Boden.

»Svanhild – hast du nicht einen kleinen weißen Ausputz gesehen, aus Spitzen –«

»Nein,« sagte Svanhild drüben im Fensterwinkel. Und sie kam herbei und half suchen – aber zuerst legte sie die Puppe in den umgedrehten Schemel, der das Bett darstellte, und deckte sie gut zu.

»Astri schläft – sie hat Diphtherie und Scharlach,« protestierte Svanhild –, die Mutter suchte unter den Puppensachen. Aber Olga hob unbarmherzig die Patientin aus dem Schemel heraus. Die Puppe war in weißen gefältelten Spitzenstoff gehüllt, der sorgfältig mit Sicherheitsnadeln festgesteckt war.

»Das Kind ist ja ganz verrückt! Und sogar Löcher hast du mit der Nadel hineingestochen – so ein Fratz –,« klatsch, Svanhild bekam eine Ohrfeige – »mein Gott, was soll ich jetzt tun, der teure Spitzenstoff von Fräulein Olsen und –«

Svanhild heulte.

»Ich hab' geglaubt, es sei ein Rest, Mutter –«

»Hab' ich dir nicht gesagt, du darfst nichts nehmen, was auf dem Boden liegt –? Ach, es ist zum Verzweifeln mit dir –«

Fräulein Abrahamsen untersuchte das Stück Stoff.

»Man kann die Falten auftrennen – und sie bügeln und wieder neu legen, so daß der Riß in eine Falte kommt – ich glaube nicht, daß man es sehen wird –«

Svanhild schrie aus Leibeskräften. Simonsen guckte zur Tür herein.

»Nein aber, Svanhild, was ist denn das – so zu schreien, wenn du weißt, daß der Vater seinen Mittagsschlaf –?«

Olga legte los und gab Bescheid.

»Pfui, wie schlimm du bist, Svanhild – wer wird der Mutter solche Streiche spielen – pfui, so etwas tut doch meine Svanhild nicht!«

»Wie wäre es, wenn du sie mit hinausnähmst, Anton – es tut dir auch nicht gut, so den ganzen Tag zu liegen und zu schlafen –«

Simonsen redete eifrig auf das Kind ein, während er es mit sich zog. Als sie jedoch auf den Gang hinausgekommen waren, tröstete er es und zog ihm den Mantel an.

»Schrei doch jetzt nicht mehr – pfui, wer wird so häßlich schreien –! Wir wollen in den Schloßpark gehen und rodeln – du weißt aber ganz gut, daß es nicht recht von dir war – so, putz dir jetzt die Nase, der Vater und du, wir wollen jetzt rodeln gehen, ja, komm jetzt, kleine Svanhild –«

Olga konnte aber bisweilen auch wirklich zu streng mit Svanhild sein. Jaja, natürlich sollten die Kinder ihre Strafe haben, wenn sie etwas Unrechtes getan hatten – aber Svanhild nahm es sich zu sehr zu Herzen – da saß sie nun hinter ihm auf der Rodel und schluchzte laut – armes Wurm.

Dunkellila stand der Abendhimmel hoch über den Türmen und Spitzen der Terrasse. Das Wetter hatte sich aufgeklärt – nur noch ein dünner, rußiger Frostnebel stand unten auf der Straße rings um die Laternen, während Simonsen dahinging und seine Tochter hinter sich auf der Rodel herzog.

Es war so schön oben im Schloßpark. Auf Bäumen und Büschen lag so dicker Reif, daß im Lichterschein die Funken von ihnen sprühten. Und was für eine Masse von Kindern überall – von jedem kleinsten Hügel rutschten sie herunter, auf Skiern oder mit dem Schlitten, es wimmelte in der großen Allee – gefährliche große Buben, fünf bis sechs auf einer Fischerrodel, brüllten und schrien, während sie über den glatten Weg heruntersausten, mit einem dünnen, langen Rattenschwanz von einer Steuerstange Man lenkt die Fischerrodel mit einer langen dünnen Stange, deren freies Ende hinter der Rodel über den Boden gleitet und dabei wie ein Steuerruder wirkt. hinter sich. Aber Simonsen wußte einen schönen, ruhigen kleinen Hügel auf einer Wiese, er und Svanhild hatten schon früher an den Abenden dort gerodelt. Und für Svanhild war es nun wirklich großartig – der Vater stand oben und gab der Rodel einen Stoß, so daß sie in Schuß kam, und Svanhild schrie »Achtung«, daß ihr fast die kleine dünne Stimme zerbarst, und Simonsen brüllte »Aufgepaßt« tief unten aus der Brust heraus, obwohl auf dem ganzen Hügel außer ihnen nur noch zwei winzig kleine Buben mit Lauparstiefeln und Zipfelmützen waren. Simonsen leitete die Bekanntschaft mit ihnen ein, sie hießen Alf und Johannes Hauge, und ihr Vater war Bürochef und wohnte im Parkweg. Simonsen schob sie alle drei an – sie sollten sehen, wessen Rodel am schnellsten lief –, aber er gab Svanhild den kräftigsten Stoß, und sie gewann. Und er trippelte hinter den Kindern her und führte Svanhild hinauf, denn sonst blieb sie stecken, wenn ihr der Fuß in dem tiefen hartgefrorenen Schnee einbrach.

Aber nach einiger Zeit begann Svanhild zu jammern.

»Vater, ich friere so an den Beinen –«

»Du mußt herumlaufen, Svanhild – komm, wir wollen auf den Weg gehen und laufen –«

Svanhild lief und weinte – die Zehen taten ihr so weh.

»Oh, oh! Du mußt viel, viel rascher springen, Svanhild – paß auf, ob du mich fangen kannst –«

Simonsen hüpfte mit kleinen Schritten davon wie ein Gummiball. Und Svanhild lief ihm aus allen Kräften nach und fing ihn ein, bis sie warm und zufrieden war und lachte.

Aber nun konnten sie die Rodel nicht wiederfinden. Simonsen suchte überall – auf dem Hügel und unterhalb des Hügels und zwischen den Büschen –, weg war sie. Alf und Johannes hatten sie noch vor kurzem bei dem großen Baum am Weg stehen sehen, mehr wußten sie nicht. Ja, und dann waren ein paar große, garstige Jungen vorbeigegangen – daran erinnerte sich auch Simonsen. Sicher hatten sie den Schlitten genommen.

Svanhild weinte herzzerreißend. Simonsen dachte an Olga – uff, sie würde nicht sanft sein, so gereizt, wie sie zur Zeit war. – Solche böse, freche Buben, einem kleinen armen Mädchen den Schlitten zu stehlen – daß Kinder so schlimm sein konnten!

»Nicht weinen, Svanhild – wir werden die Rodel schon wiederfinden, wir –«

Simonsen wanderte von Hügel zu Hügel und fragte nach einem blau gestrichenen kleinen Schlitten. Svanhild ging weinend an seiner Hand, und Alf und Johannes folgten mit und hielten beide krampfhaft ihre Schlittenschnur fest, während sie mit weit offenen Augen Simonsen alle die Übeltaten erzählten, die sie von den großen Buben gehört hatten: wie sie Schlitten stahlen und kleine Kinder überfuhren und mit Eisbrocken schmissen.

Der Schlitten war nicht zu erfragen. Und oben auf dem großen Weg trafen sie eine feine, zornige Dame, die sich als Kinderfräulein von Alf und Johannes herausstellte. Sie zankte, weil die Kinder nicht schon vor einer halben Stunde heimgekommen waren, und drohte, daß sie von Vater und Mutter ... Und es lag ihr nicht die Spur daran, zu hören, daß das kleine Mädchen Svanhild hieß und ihren Schlitten verloren hatte – wie sie sich gebärdete, während sie sich davonmachte, mit eisenhartem Kindermädchengriff an jeder Hand einen Knaben! – Und Simonsen hätte bei einem Haar eine Steuerstange ins Auge und eine Schlittenkufe ans Schienbein bekommen.

»Jaja, sie haben dir deinen Schlitten genommen, Svanhild – ich glaube nicht, daß wir den je wieder zu sehen bekommen,« seufzte Simonsen entmutigt. »Still, wein doch nicht so, Kleines. Du sollst zu Weihnachten einen neuen Schlitten bekommen, du – komm jetzt, wir wollen in die Karl-Johann-Straße gehen und die Läden anschauen, da gibt es heute abend so schöne Sachen – vielleicht sehen wir auch einen neuen Schlitten für dich –,« munterte er sie auf.

So gingen Svanhild und ihr Vater dahin und schauten die Läden an. Und wenn sie an ein Schaufenster kamen, wo der Menschenstrom sich zu einem großen schwarzen Klumpen zusammengeballt hatte, der still und zusammengepreßt dastand, hob Simonsen sie auf den Arm und schob und drückte so lange, bis sie ganz vorn an die strahlende Scheibe gelangt waren, und dort blieben sie stehen, solange es nur noch irgendein Ding gab, über das sie nicht gesprochen und bei dem sie nicht gefragt hatten, was es wohl kosten würde. – In einigen Läden stand ein geschmückter Weihnachtsbaum mit elektrischen Lichtern auf den Zweigen – und auch Svanhild sollte am Weihnachtsabend einen Christbaum haben. In einem Fenster war eine ganze Weihnachtsgesellschaft – Puppendamen, so fein, so fein, wie Svanhild einmal werden sollte, wenn sie groß wäre. Und in einem Laden, wo Koffer verkauft wurden, schwamm ein kleines, kleines Krokodil in einem kleinen, kleinen Wasserbassin – hier mußten sie lange stehenbleiben. Ob es wirklich lebend war? Aber endlich bewegte es ganz leicht das eine Lid – ja wirklich, es war lebendig! Und so ein kleines Krokodil war, wenn es erwachsen war, so groß, daß es eine ganze Svanhild mit einem einzigen Schnapper verschlingen konnte – »aber das hier kann doch nicht beißen, nicht wahr?«

»Nein, das kann wohl kein Unheil anrichten.«

In einem Fenster droben auf dem Marktplatz lief ein Kinematograph zwischen Reklamelichtbildern. Und Svanhild war mit dem Vater im Kino gewesen – dreimal –, und sie mußten alles wieder aufzählen, was sie damals gesehen hatten – die beiden kleinen Mädchen, die von den Räubern in einem Automobil entführt wurden – und alles andere. Vergessen war der Schlitten, den sie verloren hatten, und die Mutter, die daheim saß und den Mund über der Näharbeit zusammenpreßte, bis sie müde und böse wurde – vergessen war alles andere, nur das nicht, daß Svanhild ihrem Vater gehörte und daß in siebzehn Tagen Weihnachten war.

Und nun kamen sie an ein Sportgeschäft – mit vielen Schlitten, großen und kleinen, aber den schönsten von allen, einen feuerroten mit darauf gemalten Blumen und einer Rückenlehne aus Eisen, die mit Bronze vergoldet war, den sollte Svanhild von ihrem Vater zu Weihnachten bekommen.

Aber nach allen diesen Erlebnissen mußte man doch etwas Warmes in den Magen bekommen. Simonsen wußte ein kleines gemütliches Abstinenzlercafé, dorthin gingen sie. Es waren keine Leute da, und das Fräulein hinter dem Schanktisch zeigte sich Simonsens schmeichelhafter Unterhaltung nicht abgeneigt, während er Kaffee und Butterbrot aß und Svanhild eine Kremschnitte bekam und ab und zu aus Vaters Tasse einen Schluck trinken durfte.

»Aber nichts der Mutter sagen,« warnte Simonsen und blinzelte ihr mit einem Auge zu. Doch Svanhild wußte etwas Besseres, als es der Mutter daheim zu erzählen, wenn sie und der Vater bei ihren Spaziergängen an den Abenden da und dort so einkehrten. Und Svanhild bekam eine Zuckerstange, von der die Mutter glaubte, daß die kleinen Mädchen davon schlechte Zähne bekämen – und der Vater bekam etwas zu trinken, von dem die Mutter glaubte, daß er davon einen schlechten Magen bekäme. Aber die Mutter hatte immer so viel zu tun, und dadurch wurde sie so verdrossen – und der Vater hatte auch so viel zu tun, wenn er im Lager war, und Henry im Geschäft – wenn man groß war, dann mußte man so schrecklich viel arbeiten, das wußte Svanhild.

Aber nach dem Sonntag kam der Montag und kamen fünf andere graue Werktage. Svanhild saß in der Nähstube auf dem Boden und spielte, denn der Vater kam jetzt so spät abends heim, daß er keine Zeit mehr hatte, mit ihr danach spazierenzugehen. Auch der Vater war jetzt verdrossen, das merkte Svanhild – ob das nun daher kam, weil er im Lager so viel zu tun hatte, oder weil die Mutter so viel zu tun hatte, daß sie oft kaum Zeit fand, das Mittagessen oder das Abendessen zu bereiten. Und Henry war auch verdrossen, denn in die Stube, in der er schlief, kamen die Damen und probierten an bis tief in die Nacht hinein, so daß sein Bett nicht abgedeckt war und er sich nicht schlafen legen konnte –. Aber Svanhild tröstete sich – denn sie sollte ja zu Weihnachten einen so schönen Schlitten bekommen.

– Am Fünfzehnten schrieb Anton Simonsen an seinen Sohn. Er war es müde, herumzurennen und eine Stellung zu suchen, die er doch nicht bekam. Und nun sah er der Zukunft wieder ruhig entgegen und hatte wieder Zeit, mit Svanhild abends fortzugehen und sie mit ihren Skiern in den Park zu führen, und sie sprachen von dem schönen Schlitten, den sie bekommen sollte.

Aber am Achtzehnten vormittags, gerade als Simonsen eine Kiste mit Maschinenteilen zunagelte, kam der Lagerchef und sagte, er solle ans Telephon kommen. Es war Sigurd, der in der Stadt war und seinen Vater bat, er möchte ins »Augustin« kommen und mit ihm Kaffee trinken – er solle sich nachmittags ein paar Stunden freigeben lassen, damit sie miteinander reden könnten.

»Und wie geht es Mossa – und den Kleinen?«

Den Kindern ginge es gut, danke. Und Mossa, die sei mit in der Stadt, wolle allerlei zu Weihnachten einkaufen.

»Ich fürchte, mein Junge – daß es wohl kaum möglich sein wird, jetzt in der Weihnachtszeit auch nur eine Stunde freizubekommen,« sagte Simonsen.

Sigurd wollte selbst mit dem Direktor darüber sprechen.

Jaja, da würde er ihm dankbar sein. Grüße an Mossa.

Ja, das sah ihr gleich. Ihn zum Mittagessen einladen – o nein, das tat sie nicht. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich nicht ein Glas Bier und einen gehörigen Schnaps leistete, bevor er diesen Kampf aufnahm, fluchte Simonsen.

 

»Findest du, daß das notwendig ist?« sagte Frau Mossa Carling Es ist in Norwegen nichts Ungewöhnliches, daß die Leute einen neuen Namen annehmen. zu ihrem Mann, der gerade im Begriff war, eine Flasche Punsch zu öffnen.

»Ich finde doch, daß wir unserem Vater ein Glas Punsch anbieten müssen.«

»Jaja – mach, was du willst, mein Junge.« Frau Mossa schob alle Doppelkinne vor, über die sie verfügte. Schön war sie nicht – die Augenlider waren gegen die Schläfen hin verdickt, so daß die kleinen grauen Augen gleichsam stechend an den Nasenrücken her ankrochen; das Gesicht hatte eine fette und frische Farbe, doch der Mund war klein und verkniffen, mit dünnen Lippen – und der Brustkorb eng und schmal, der Unterkörper jedoch behäbig und breit.

Sie saß mitten auf dem Plüschsofa unter dem elektrischen Kronleuchter, dessen Birnen die beiden eisernen Betten des Hotelzimmers, zwei Waschtische aus Mahagoni, zwei Nachttische, den Schrank mit dem Spiegel und die beiden Lehnstühle beim Tisch prachtvoll beleuchteten. Auf dem Tisch lag eine Chenillendecke, darauf eine Serviette, in deren Mitte ein Aschenbecher stand.

Es klopfte vorsichtig an der Tür, und Simonsen trat behutsam über die Schwelle. Er gab die Hand.

»Guten Tag, Sigurd – nett, dich wieder zu sehen, mein Junge – guten Tag, guten Tag, Mossa – wie schön, daß man auch dich wieder einmal sieht – und immer noch gleich hübsch und jung –«

Mossa klingelte nach dem Kaffee, schenkte dann ein, während Sigurd die Gläser füllte.

Simonsen schielte zu seiner Schwiegertochter hinüber, die stumm mit dem verkniffenen Mund dasaß, während er mit Sigurd sprach – langsam und gewunden schleppte sich das Gespräch weiter, bis es zur Hauptsache kam.

»Wir dürfen doch rauchen, Mossa? – Hier, Vater, eine Zigarre – ja, nun also zu der Sache, von der du geschrieben hast, Vater. Ich war heute oben im Kontor und habe mit deinem Chef gesprochen. Der Direktor war der gleichen Meinung wie ich. Du bist hier in der Stadt nicht am rechten Platz – die Arbeit ist zu schwer für einen Mann in deinem Alter, das meinte auch er. Auch kann ich dir hier nichts Neues verschaffen –«

Simonsen erwiderte nichts. Mossa ergriff das Wort:

»Sigurd ist ja selbst in einer abhängigen Stellung – bis zu einem gewissen Grad wenigstens –, willst du das bitte bedenken. Die Direktion würde es wohl kaum gerne sehen, daß er immer wieder die Verbindungen der Firma belästigt, um seinem Vater eine Stellung zu verschaffen. Er hat das jetzt dreimal getan – und überall mußtest du wieder gehen. Ich kann dir nur sagen, daß Sigurd wirklich sehr ernsthafte Unannehmlichkeiten gehabt hat, nachdem er dir diese letzte Stellung verschafft hatte, wo dir nun also gekündigt worden ist –«

»Ja, das ist wahr. Nein, wie gesagt, die Stadt ist für dich nicht das richtige, Vater. Du bist auch zu alt, um in einer neuen Branche anzufangen. Darum kann ich dir nur auf eine einzige Weise helfen. Ich kann dir eine Stellung unter dem Verwalter oben im Menstad-Werk in Öimark verschaffen – das ist eine leichte, schöne Arbeit – der Lohn ist nicht groß – sechzig Kronen am Anfang, soviel ich weiß. Aber wie gesagt, diese Stellung kann ich dir verschaffen.«

Simonsen schwieg.

»Ja – das ist also die einzige Möglichkeit, die ich weiß,« sagte Sigurd Carling.

»Willst du also, daß ich dir die verschaffe, Vater?« fragte er nach einer Weile.

Der Vater räusperte sich ein paarmal.

»Ja. Die Sache ist nur die, Sigurd – ich weiß nicht, ob du davon gehört hast –, ich bin nämlich verlobt – mit der Dame, bei der ich seit den letzten sechs Jahren wohne. Ich muß also sozusagen mich erst ein wenig mit Olga besprechen – was sie dazu meint. Sie heißt Olga,« erklärte er, »Witwe Olga Martinsen, ja.«

Es entstand eine ungemütlich lange Pause. Simonsen spielte mit den Quasten am Lehnstuhl.

»Sie ist eine in jeder Beziehung reelle, ordentliche und tüchtige Person, die Olga – und sie hat eine große, gut gehende Schneiderei hier in der Stadt –, so daß es wohl fraglich sein wird, ob sie gerne in dieses schwarze Hinterland ziehen mag. Ihr Junge ist außerdem hier in der Stadt in einem Kontor angestellt.«

»Ist das die Dame« – Sigurd sprach sehr langsam –, »mit der du – ein Kind hast – soviel ich gehört habe –«

»Wir haben ein kleines Mädchen, ja – Svanhild heißt sie – im April wird sie fünf Jahre.«

»So.« Es war Mossa. »Du hast also eine Tochter mit der Frau, bei der du wohnst – die in jeder Beziehung eine so ordentliche, tüchtige Person ist –«

»Das ist Olga auch wirklich. Tüchtig und ordentlich – und fleißig und strebsam ist sie. Und gut obendrein.«

»Es ist doch eigentlich merkwürdig, Schwiegervater« – Frau Mossas Stimme klang ungeheuer sanft und süß –, »daß du diese ausgezeichnete Frau Martinsen nicht früher geheiratet hast – dazu hättest du eigentlich schon seit langer Zeit guten Grund gehabt.«

»Ich will dir etwas sagen, Mossa –« Simonsen wurde ganz froh und aufgeräumt über das, was er jetzt sofort zu sagen wußte: »Ich hatte keine Lust zu sehen, wie meine Frau so hart und schwer arbeiten und sich abplagen muß – darum wartete ich, bis ich ihr etwas Besseres bieten könnte. Aber daß ich Olga heiraten will, das habe ich oft und fest versprochen, und das werde ich auch halten, so wahr ich Anton Simonsen heiße.«

»Ja–a –« Mossas Stimme wurde süßer und süßer. – »Sechzig Kronen im Monat ist ja nicht gerade viel, um zu heiraten – um mit Frau und Kind davon zu leben. Und Frau Olga wird kaum erwarten dürfen, daß sie da oben in Öimark eine größere Schneiderei errichten kann.«

»Das schlimmste ist natürlich, Vater, daß du dieses Kind hast,« äußerte Sigurd. »Aber – es muß doch immerhin möglich sein, Frau Martinsen ein Verständnis für die Lage beizubringen – so daß man unter Umständen eine Ordnung mit ihr treffen könnte.«

»Du mußt nur eines bedenken, Sigurd – und das ist deine kleine Schwester, Svanhild. Ich will nicht, daß es ihr einmal schlecht geht, weil sie ein uneheliches Kind ist. Ich finde, du nimmst eine große Verantwortung auf dich, Sigurd, wenn du dich in diese Dinge einmischst.«

Mossa fiel ihm ins Wort – und jetzt war kein Schatten von Sanftmut mehr in ihrer Stimme:

»Wenn du von Verantwortung redest, Schwiegervater – für dein uneheliches Kind –, dann finde ich das wirklich witzig. Sigurd erbietet sich, dir eine neue Stellung zu verschaffen – zum vierten Male – in Öimark – hier ist es ihm nicht möglich. Mein Lieber, wenn du meinst, daß du wegen deiner privaten Verhältnisse die Stadt nicht verlassen kannst, so steht es dir wirklich frei, zu bleiben. Gelingt es dir, eine Stellung zu finden, in der du heiraten kannst – so werden wir uns wahrhaftig nicht darein mischen. Aber Sigurd kann dir selbstverständlich auf keine andere Art helfen – vor allem anderen hat er doch wohl zuerst die Verantwortung für seine Frau und seine eigenen Kinder –.«

 

Frau Mossa hatte sich mit ihrem seidenen Unterrock ausgerüstet und ihren neuen Pelz umgetan, als sie am Vormittag darauf die Treppe zu Frau Martinsens Schneiderei im Hinterhof in der Ruselökstraße hinaufstieg. Sie drückte mit festem Zeigefinger auf die Klingel unter Simonsens schmutziger Karte.

Die Dame, die öffnete, war klein, voll und dunkel. Sie hatte schöne, blaue Augen in einem stubenblassen, verwischten Gesicht.

»Sind Sie Frau Martinsen – ich bin Frau Kontorchef Carling – ich möchte mit Ihnen sprechen.«

 

Etwas zögernd öffnete Olga die Tür zum nächsten Zimmer.

»Bitte schön. Sie müssen entschuldigen, daß hier nicht geheizt ist. Aber wir nähen in den anderen Zimmern.«

Frau Mossa segelte hinein und nahm in dem einzigen Lehnstuhl des Raumes Platz. Das Zimmer war eingerichtet, wie Zimmer zum Vermieten eingerichtet zu sein pflegen. Auf der weißen Kommodendecke standen gewissenhaft aufgestellte Photographien der verstorbenen Frau Simonsen, von Sigurd und ihr selbst – die Verlobungsbilder und zwei Gruppenbilder von den Enkelkindern.

»Ja, beste Frau Martinsen« – Olga stand bei der Kommode und beobachtete den Besuch –, »es gibt da verschiedenes, über das ich gerne mit Ihnen gesprochen hätte – wollen Sie sich nicht setzen?«

»Danke, ich habe etwas wenig Zeit. Was wünschen Sie?«

»Ja – dann will ich Sie nicht aufhalten. Simonsen – der Vater meines Mannes – hat ja, wenn wir ihn gestern richtig verstanden haben –, Ihnen gegenüber gewisse Verpflichtungen. Nun weiß ich nicht, ob er Ihnen die Sachlage mitgeteilt hat –?«

»Daß er in Öimark eine Stelle annehmen soll? Doch, ja.«

»Nun also. Ja, Sie wissen, daß es eine ganz kleine Stellung ist. Er wird dadurch vorläufig nicht imstande sein, seinen Pflichten gegen das Kind, das er mit Ihnen hat, nachzukommen. Infolgedessen haben mein Mann, der Kontorchef, und ich gedacht, Ihnen anzubieten –«

»Vielen Dank –.« Olga sprach rasch und kurz. »Mit diesen Dingen sollen Sie sich keine Mühe machen, gnädige Frau. Wir sind darüber einig geworden, mein Bräutigam und ich, wir sind darüber einig geworden, daß wir heiraten, sowie –«

»Ja, Frau Martinsen – da muß ich Sie aber auf eines aufmerksam machen: von meinem Mann kann Simonsen sich keinerlei Unterstützung erwarten – auf keinen Fall. Mein Mann hat selbst eine große Familie. Und zu viert von sechzig Kronen im Monat leben – außer dem kleinen Mädchen, das also die Tochter meines Schwiegervaters sein soll, haben Sie ja noch ein Kind –«

»Mein Junge, der bleibt hier – ich habe eine Schwester hier in der Stadt, bei der er wohnen kann. Und dann haben wir eigentlich die Absicht, nach Frederiksstad zu ziehen, Simonsen würde dann am Samstag heimkommen, auf diese Weise könnte ich meine Schneiderei in der Stadt dort betreiben –«

»So. Ja – das hört sich ja ganz vernünftig an. Die Sache ist nur die, sehen Sie – es sind bereits mehr als genug Schneiderinnen in Frederiksstad – und es ist eine große Frage, ob es sich für Sie lohnt, Ihr Geschäft hier aufzugeben und dort von neuem anzufangen – Fräulein Martinsen.«

Olga zuckte zusammen.

» Frau Martinsen, Verzeihung. So nennen Sie sich ja. Ja, mein Mann und ich haben ein wenig nachforschen lassen, es wird Sie ja nicht wundern – daß wir gerne wissen wollten, was für eine Frau es ist, mit der Simonsen sich zusammengetan hat.«

Olga fauchte:

»Ja, das ist mir ganz gleich, Frau Simonsen – nein, Verzeihung, Frau Carling, wollte ich sagen. Aber wie die Dinge einmal liegen, so findet Simonsen, ich sei nicht schlechter, wenn mich auch mein Bräutigam hat sitzen lassen und nach Amerika gegangen ist, so daß ich dann für mich und für meinen Jungen allein sorgen mußte, so gut es eben ging. Und das hat Simonsen mir versprochen, und er hat es auch oft und immer wieder gesagt: Von mir sollst du nicht betrogen werden, Olga. Und da meine ich eben, daß es Ihnen gleichgültig sein kann, Frau Carling – wir werden Sie nicht belästigen oder Ihnen das Haus einrennen –, und da Ihr Mann nicht einmal den Namen seines Vaters behalten hat –«

»Liebe Frau Martinsen« – Mossa wehrte mit der Hand ab und schob alle ihre Doppelkinne vor –, »nur nicht so hitzig, meine Liebe. Ich habe durchaus nicht vor, mich in Ihre Verhältnisse einzumischen. Im Gegenteil – ich bin mit der besten Absicht der Welt hierhergekommen. Ich will ja weiter nichts, als Ihnen erklären – sollten Sie etwa gedacht haben, daß Simonsen eine Art gute Partie sei –, dann werden Sie, das muß ich Ihnen gestehen, kaum etwas anderes davon haben als das Vergnügen, sowohl ihn als das Kind zu versorgen. Denken Sie doch nur daran, daß mein lieber Schwiegervater ja doch nie ein Mann der Ordnung gewesen ist. Wir haben ja keinerlei Gewähr dafür, daß ihm nicht wieder wie gewöhnlich gekündigt wird. Ja –. Glauben Sie etwa, daß es für einen Mann in seinem Alter – mit Familie – so leicht sein wird, immer wieder eine neue Stellung zu finden?

Ich bin hierhergekommen, um Ihnen in aller Freundschaft ein Angebot meines Mannes zu machen. Sie sind ja bisher recht gut ohne Mann ausgekommen – hm. Der Kontorchef bietet Ihnen eine Summe – fünfhundert Kronen hatten wir gedacht – zur Deckung der Verluste, die Sie dadurch erleiden, daß Ihr Untermieter so plötzlich von Ihnen fortgeht – ohne Bedingungen. Sie verstehen – sollte mein Schwiegervater später eine Stellung finden, in der er heiraten kann, so werden wir uns nicht darein mischen –, das geht uns nichts an, wie Sie ganz richtig bemerkten. Und was Ihr kleines Mädchen anbetrifft – so sind der Kontorchef und ich uns darüber einig geworden, ihr bei uns selbst ein Heim anzubieten –«

»Niemals im Leben!« Olga sprühte. »Svanhild fortgeben – nein, das tue ich nicht, darauf können Sie sich verlassen.«

»Nein, nein –. Wie Sie wollen, natürlich. Und mein Schwiegervater und Sie tun natürlich auch ganz, wie Sie beide wollen. Wollen Sie auf ein Gehalt von sechzig Kronen im Monat hin heiraten – Ihren Broterwerb hier aufgeben und in Frederiksstad eine Schneiderei zu eröffnen versuchen, von der ich Ihnen von vornherein sagen kann, daß sie nicht gehen wird? – Es ist mir nur so vollkommen unfaßlich, was Sie mit Simonsen wollen. Herrgott, verheiratet sein – Sie nennen sich ja Frau –, in Ihren Kreisen nimmt man es doch nicht so genau, ob Sie mit einem Ihrer Untermieter eine kleine Geschichte gehabt haben. Daß Sie sich mit Simonsen einlassen konnten – Sie müssen wirklich entschuldigen, wenn ich es sage, aber in meinen Augen spricht das nicht zu Ihren Gunsten –, offen gestanden, er ist doch ein altes Schwein –«

Olga unterbrach sie:

»So, nun hören Sie aber auf, Frau Carling! Aber was ich mit dem Anton Simonsen will, das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Es gibt freilich allerhand an ihm auszusetzen, aber ich merkte doch gleich, daß er im Grunde ein guter Mensch ist. Und deren gibt es nicht allzu viele. Und sowie er merkte, daß ich es für ihn nett und gemütlich machte, fühlte er sich wohl bei mir und wurde anständig und ordentlich, und er wäre es wohl schon früher geworden, das ist nun meine Meinung, hätte er es auch dort, von wo er herkam, gemütlich gehabt. Jaja, freundlich und dankbar, das war er, der Anton. Und wie gern er Svanhild hat! – Es ist ja ganz übertrieben, wie gern er die Kleine hat – er verwöhnt sie richtig. Ich habe Simonsen lieb, will ich Ihnen nur sagen, Frau Carling.«

Mossa stand auf und schob die behandschuhten Fingerspitzen in den Muff:

»Tja – wenn Sie Simonsen lieben – dann ist das ja eine andere Sache.«

Sie segelte hinaus.

Es verhielt sich tatsächlich so, daß Kontorchef Sigurd Carling große Stücke auf die Klugheit seiner Frau hielt – er hatte es so oft gehört, daß er es selber glaubte –, Fräulein Mossa Myhre hatte »ihn in Schwung gebracht« und den Kontoristen Sigurd Simonsen zu dem Mann gemacht, der er war. Trotzdem aber hegte er seine Zweifel, ob sie geeignet dazu sei, mit Frau Martinsen eine Einigung zu erreichen. Denn sie hatte ja sehr strenge Ansichten, und diese Olga hatte nun eben zwei Kinder auf eine etwas unregelmäßige Art bekommen – und Mossa konnte ziemlich scharf und unangenehm sein. Nachträglich tat es ihm leid; es war dumm, daß er sie hatte gehen lassen. Denn eine Ordnung mußte ja gefunden werden – wenn der Vater mit Frau und Kindern, die er nicht versorgen konnte, nach Frederiksstad kam, so war es ja sonnenklar, wozu das führen würde. Man konnte dann nie vor unvorhergesehenen Forderungen sicher sein – und dann außerdem noch die anderen Unannehmlichkeiten, die der Vater stets mit sich brachte. Und die ewigen Auseinandersetzungen mit Mossa.

Die Sache mußte geordnet werden, und zwar sofort, so daß der Alte keine Zeit hatte, ihnen vorher einen Streich zu spielen. Carling war im Maschinengeschäft Herkules gewesen und hatte die beiden neuen Turbinen bestellt und war zugleich gewissermaßen im Vorübergehen ein wenig auf den Vater zu sprechen gekommen – Simonsen sollte am Tag vor Weihnachten aufhören dürfen, so daß er zu ihnen kommen und das Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie zubringen konnte.

Danach machte er sich selbst auf den Weg zu Frau Martinsen.

Als Simonsen mittags nach Hause kam, war Olga ganz verweint. Carling war da gewesen. Er sei übrigens sehr nett gewesen, sagte sie – habe Svanhild sehen wollen und habe sie auf den Schoß genommen; sie würde zu Weihnachten etwas Schönes von ihm bekommen, hatte er gesagt. Danach hatte er mit ihr selbst geredet. Und nun hatte sie doch diese Schuld – sie war doch die Wohnungsmiete schuldig und war auch bei verschiedenen Krämern etwas schuldig –, sie hatte das Geld angenommen. Er hatte ihr fünfzehn Kronen im Monat für Svanhild versprochen – das war doch wenigstens etwas Festes, sie hatte ja auch noch Henry, der noch einige Zeit nicht allein zurechtkommen konnte – fünfzehn Kronen im Monat hatte er gesagt, vorläufig – bis mein Vater es so weit gebracht hat, daß er Sie heiraten kann. – Olga saß auf Simonsens Knien, in seinem kalten Zimmer, in dem Lehnstuhl vor der Kommode mit den Familienbildern, und sie weinte, und er streichelte sie.

»Ich weiß nicht, Anton – was ich sonst tun soll, was sagst du –? Wenn nicht einmal er dir helfen will, dann weiß ich mir ja keinen Rat mehr. Und ich merkte es ihm an – auf andere Weise tut er's nicht. Wenn diese beiden gegen uns sind, können wir in Frederiksstad nichts machen, verstehst du –«

Sie putzte die Nase und trocknete die Augen. Und brach von neuem in Weinen aus:

»Man muß es wohl annehmen – man muß ja doch so vieles annehmen, wenn man arm ist.«

 

Aber daß Simonsen zum Weihnachtsabend zu ihnen kommen würde, nein, das konnten Sigurd und Mossa von ihm nicht erreichen. Sie lockten mit Christbaum und Enkelkindern und Gänsebraten und Bier und Schnaps und Sülze für die ganzen Weihnachtstage. Aber der Alte blieb darauf bestehen, er wollte das Fest mit Olga und den Kindern feiern. Alles, wozu sie ihn bewegen konnten, war, daß Simonsen versprach, am zweiten Feiertag zu ihnen zu reisen. Sigurd hatte ihm fünfundzwanzig Kronen als Weihnachtsgeschenk gegeben, es war also am besten, ihn aus der Stadt zu locken – damit er nicht in der Weihnachtszeit mit dem Geld in der Tasche müßig umherging. Es war schon besser, wenn der Alte seine Weihnachtsschnäpse bei ihnen trank – unter Aufsicht.

Als er am Weihnachtsabend nach Hause kam, trug er die Rodel unter dem Arm. Und er summte tief aus der Kehle vor sich hin, während er in seinem Zimmer die Lampe anzündete und seine Pakete auspackte.

Es war ein bißchen was zu trinken – Aquavit und Punsch und Kognak und süßer Portwein für Olga –, wenn man jetzt noch etwas Bier holte, konnte man es schon aushalten. – Eine Pfeife für Henry – sie hatte ja nicht viel gekostet, aber der Junge sollte doch wenigstens sehen, daß man auch an ihn dachte – und es war ja auch etwas Männliches, Erwachsenes, was er da bekam. Im übrigen war alles fast lauter Tand – der Blusenstoff für Olga kostete nur 1,45, aber außerdem hatte er noch eine Brosche gekauft für 3,75, und die sah wirklich aus, als wäre sie ihre 10 Kronen wert. Simonsen nahm sie aus der Schachtel heraus – Olga würde sich sicher freuen –. Ja, für die Abrahamsen wollte er übrigens auch eine Kleinigkeit kaufen – zur Erinnerung. Nur eine Kleinigkeit – dazu würde es schon noch reichen.

Und dann die Rodel. Simonsen nahm die Decke vom Tisch, packte die Rodel aus und stellte sie auf.

»Du, schau doch ein wenig herein zu mir, Olga,« rief er in die Nähstube hinüber.

»Ja, was gibt es? Ich habe so wenig Zeit –«

Simonsen stellte die Lampe auf den Tisch:

»Was meinst du wohl, daß Svanhild dazu sagen wird, Olga?«

»Nein, die Politur, Anton –,« sagte Olga und legte Zeitungen unter die Rodel und die Lampe. »Ja – das ist fein – eine schöne Rodel –«

»Schau her –« Simonsen schnallte das Kissen ab, so daß Olga die gemalten Blumen sehen konnte. »Ja, das Kissen habe ich eigens gekauft, weißt du.«

»Hm. Das war wohl alles teuer?«

»Fünf Kronen und fünfundzwanzig Öre mit dem Kissen,« sagte Simonsen stolz.

»Ja. Das ist aber viel Geld für so etwas, Anton. Sie ist ja noch so klein und hätte sich sicher über jede Rodel gefreut, wenn sie auch nicht so schön gewesen wäre.« Olga seufzte.

»Ach – jetzt haben wir gerade etwas Geld. – Es macht doch Spaß, ein wenig flott zu sein, meine ich. – Na, und du wirst deine Schulden los –. Und ich habe auch etwas für meine Liebste –,« er puffte sie in die Seite. »Ach, geh und hol doch gleich zwei Gläser, Olga – ich habe eine Flasche Portwein gekauft – ich möchte sehen, ob er dir schmeckt –, ich hab' ihn hauptsächlich für dich gekauft, weißt du.«

Olga schielte zu den vielen Flaschen auf der Kommode hinüber. Sie seufzte ein wenig, dann holte sie die Gläser.

 

Es war schon spät am Weihnachtsabend, als man bei Frau Martinsen endlich fertig wurde. Aber schließlich war doch alles in Ordnung. Henry hatte das letzte fertig gewordene Kleid fortgetragen, und alles übrige hatte Olga und die Abrahamsen zusammengeräumt und in Bündeln auf die Stühle und den Tisch in der Nähstube gelegt. Und die Abrahamsen hatte Kaffee und Backwerk und von Simonsen eine Flasche Kölnisches Wasser bekommen, ehe sie fortgegangen war.

Dann ging Olga ins Wohnzimmer. Sie räumte die Modezeitungen vom Tisch weg und die Stoffe und Spitzen von den Stühlen und las Stecknadeln und Knöpfe auf und legte sie in die Glasschalen auf der Spiegelkonsole. Und sie zündete den Christbaum an, den sie in der Nacht vorher geputzt hatte. –

Und Svanhild und Henry und Simonsen kamen herein, und die Erwachsenen setzten sich auf die Plüschstühle, aber Svanhild sprang und tanzte herum und jubelte über alle Lichter, dann sah sie die Rodel – und schrie vor Wonne auf – und lief zurück zum Baum und wußte nicht, was sie vor lauter Begeisterung anstellen sollte. Simonsen strahlte, und Olga lächelte – obwohl ihre Augen verdächtig rot gerändert waren –, Simonsen hatte sie im Lauf des Nachmittags mehrmals heimlich betrachtet, uff, das fehlte gerade noch, daß sie heute abend weinen würde, wo sie es doch ein bißchen gemütlich haben sollten.

Er holte seine Geschenke herein. Und er lächelte pfiffig – sie fand zwar, daß der Blusenstoff nichts Großartiges sei. Dann rückte er mit dem Kölnischen Wasser heraus – er hatte seiner Lust, flott zu sein, nachgegeben, als er in dem Fünfzig-Öre-Basar war, um für die Abrahamsen etwas zu finden, und nun brachte er einen Knäuelbecher für Olga hervor und eine kleine Zündholzschachtel, die wie Silber aussah, für Henry. Der Junge gab ihm die Hand und legte die Pfeife und die Schachtel auf das Fensterbrett, wo er sich seinen Stuhl hingestellt hatte. – Doch dann kam die Brosche.

»Ja – das war nun gewissermaßen das Nützliche –, jetzt sollst du auch etwas haben, was dir Freude macht, Olga –«

Olga nahm die Brosche heraus. Und die Augen wurden ihr ein wenig naß:

»Das ist ja doch viel zuviel, Anton.«

Simonsen schlug großartig mit der Hand aus:

»Du mußt an mich denken, wenn du sie anlegst, nicht wahr, Olga?«

»Das werde ich freilich, Anton.«

»Und die Schachtel, die heute abend für Svanhild kam?«

Olga holte sie herein.

»An das kleine Fräulein Svanhild
p. Adr. Frau Martinsen, Damenschneiderei«

stand da.

Olga machte sie auf. Auf der Visitenkarte, die obenauf lag, stand geschrieben »Fröhliche Weihnachten«; das kam von Kontorchef Sigurd Carling. Und es war eine Puppe – aber was für eine Puppe!

Goldenes gelocktes Haar hatte sie und Augen, die sie öffnen und schließen konnte, und sie war in einen weißen Mantel gekleidet, mit weißer Pelzmütze und Muff, und über dem Arm hingen ihr zwei kleine Schlittschuhe – das war das Allerschönste. Svanhild verstummte ganz – aber Simonsen schwätzte darauflos; er und das Kind waren gleichermaßen entzückt über diese Puppe.

»Ja, die muß wohl die Mutter für dich aufheben, mit der darfst du nur an den Sonntagen spielen –«

»Er ist doch gut, der Sigurd,« sagte er zu Olga, die mit den Gläsern und einem Krug mit heißem Wasser hereinkam, »es ist, wie ich sage, der Sigurd ist im Grunde ein guter Mensch; nur dieses verdammte Weib hetzt ihn auf, denn er selbst ist gutmütig –«

Simonsen braute sich seinen Grog, und Olga bekam Portwein; auch Svanhild durfte einen kleinen Tropfen von dem süßen Wein aus einem eigenen Glas trinken, während sie auf den Knien ihres Vaters saß.

»Komm du auch her, Henry, und braue dir einen Grog – du bist ja jetzt ein großer Bursche.«

Henry erhob sich ein wenig widerwillig. Er schaute Simonsen nicht an. Er hatte harte, helle Augen in einem blassen und sommersprossigen Gesicht – klein und schmächtig sah er in seinen verwachsenen Kleidern aus.

»Ja, euer Wohl, ihr alle miteinander. – Jetzt haben wir's aber richtig gemütlich, finde ich. – Haben wir's nicht gemütlich, Olga –?«

»Ja freilich.« Sie saß da und biß sich auf die Lippe. Sofort stiegen ihr die Tränen auf. »Wenn man nur wüßte, wie das nächste Weihnachten sein wird.«

Simonsen zündete seine Zigarre an. Er sah gekränkt aus.

»Willst du nicht deine Pfeife probieren, Henry? Tabak findest du in meiner Kommode, wenn du selbst keinen hast.«

»Nein, danke,« sagte Henry.

»Nächstes Weihnachten, ja –,« sagte Olga und kämpfte mit den Tränen.

»Man kann nicht wissen, was man nicht weiß,« sagte Simonsen und lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Diese Zigarre ist gut. Trink doch, Olga. Ja – vielleicht sitzen wir alle miteinander da oben im Hinterland und feiern Weihnachten. Sie sollen es gut verstehen, Weihnachten zu feiern, die in Öimark, habe ich gehört. Dir würde es sehr gut auf dem Land gefallen, Olga, glaube ich. Das wäre gar nicht so übel – nur einfach so vor die Tür gehen und sich einen Christbaum holen. Das würde dir gefallen, Svanhild, mit deinem Vater in den Wald gehen und den Christbaum holen – und ihn dann auf deiner Rodel heimziehen.«

Svanhild nickte strahlend.

»Dann müßte der Henry sich auf dem Kontor frei geben lassen und zu uns kommen und mit uns Weihnachten feiern.«

Henry lächelte ein wenig – höhnisch.

»Das wäre ein Leben, Svanhild – du, so auf die Station gehen und Henry am Zug abholen? Denk, wenn wir, du und der Vater und die Mutter, auf einem großen Hof auf dem Lande wohnen würden, wo es Kühe und Pferde und Schweine und Hühner und alles Mögliche gibt? Und dann der gute Sigurd, der dir die Puppe geschenkt hat, der hat ein kleines Mädchen in deinem Alter – und einen Buben, der ein bißchen größer ist, und dann noch ein ganz, ganz kleines Kind –, zu denen allen könntest du in die Stadt fahren und mit ihnen spielen.«

»Und dann fahre ich nach Frederiksstad hinein und geh in die Tee-Einladungen deiner feinen Schwiegertochter – meinst du nicht auch, Anton –«

»Oh, das wäre wohl nicht gerade notwendig –«

»Wie du nur so dasitzen und so reden kannst –« Olga lachte – und dann brach das Weinen aus ihr heraus.

»Nein, aber Olga – was ist denn, warum weinst du denn, Kind? – Warum nimmst du es denn so?«

»Ja, wie willst denn du, daß ich es aufnehmen soll? – Ich soll mich wohl freuen, vielleicht – wenn mir die feine Schwiegertochter ins Gesicht wirft, daß ich von Henrys Vater betrogen worden bin, und wenn du jetzt von mir fortreist. Dann sitzen wir hier mit der Schande – die Kinder und ich – meine Bankerte. Du findest wohl auch, so wie sie, daß ich gerade gut genug dazu bin, für diese Frauenzimmer zu nähen, mit denen du deinen Spaß treibst. Mir glaubt wohl jeder alles bieten zu können. – Jaja, für mich ist alles gut genug – ich hätte es ja wissen sollen, wie ihr seid. – Wenn ihr das bekommen habt, was ihr wollt von einem armen Ding, dann leb wohl und schönen Dank, dann kannst du dasitzen und nachschauen!«

»Nein, aber Olga!«

»Jaja, für dich ist es leicht. Du kannst ja nach Öimark hinauffahren – und kannst dich wieder mit Frauenzimmern und Saufbrüdern und all dem abgeben und mit all dem Dreck, in dem du dich herumgewälzt hast, als ich dich kennenlernte – mein Gott, wie gut und dumm ich war, die ich dir glaubte, und dich mit mir umspringen ließ, wie du nur wolltest.«

»Olga – aber! – Du mußt doch wenigstens an die Kinder denken!«

»Ha! – Die hören es ja ohnehin, darauf kannst du dich verlassen – im Hof und auf der Treppe. Da können sie es genau so gut auch von mir hören.«

»Aber heute ist Weihnachtsabend, Olga – denke doch wenigstens daran,« sagte Simonsen würdig.

Olga weinte still, den Kopf auf der Tischplatte. Simonsen legte die Hand auf ihre Schulter:

Olga, du – du weißt doch wohl – du weißt doch wohl, daß ich dich gern habe. Und die Svanhild – denkst du vielleicht, daß ich mein unschuldiges Kind vergessen werde. Da kannst du ganz ruhig sein, Olga – ich hab' dich nicht zum Narren, und ich betrüge dich auch nicht –, ich werde das schon halten, was ich dir versprochen habe.«

»Ach, du armer Teufel –« Olga setzte sich auf und putzte die Nase. »Das hast wohl nicht du zu bestimmen, Anton.«

»Du mußt nur eines bedenken, Olga–« Simonsen legte einen Arm um ihren Hals und umfaßte Svanhild mit dem anderen. Und er straffte sich auf und streckte den Bauch vor: »Es gibt einen, der größer ist als Sigurd und größer als Mossa, und der hat über die Dinge zu bestimmen – und über uns alle.

Ich finde, wir sollten jetzt ein Weihnachtslied singen,« sagte er nach einiger Zeit. Er nahm einen Schluck aus dem Grogglas und machte den Hals frei. »Mein Herz ist froh an jedem Weihnachtsabend – wollen wir das singen –, das kann die kleine Svanhild, soviel ich weiß. Sing du, kleine Svanhild.«

Svanhild sang sehr vergnügt, Simonsen knurrte mit, setzte aus, sooft der Ton hinaufging, fing aber bei jedem Vers immer wieder von neuem an. Nach einiger Zeit fiel auch Olga mit tränenheiserer Stimme ein – nur Henry sang nicht.

Und als Olga hinausging, um nach dem Brei und dem Schweinebraten zu sehen, sangen Simonsen und Svanhild allein weiter. »Hier kommen deine Arme klein,« sang Svanhild.

»Nein, nein, es heißt nicht Arme klein,« verbesserte sie der Vater. »Es sind nicht Arme – arme Kleinen, heißt es. Das ist Bibelsprache, verstehst du. Armselige Kleine bedeutet es – nicht solche Arme,« sagte er und umfaßte ihre Arme und kitzelte sie, so daß sie laut aufschrie und auf seinen Knien mit den Beinen strampelte.

 

Und dann kam der letzte Morgen heran. Der Wecker bei Olga rasselte ab, aber Simonsen blieb liegen und schlief in der Dunkelheit weiter – es war so kalt zum Aufstehen. Und alles so traurig und ungemütlich. Daß er nun in der Kälte aufstehen und hinaus mußte – und fort von allem!

Ein so gutes Bett mit Federbett oben und unten hatte er nirgends gehabt, wo er auch sonst gewohnt hatte.

Olga öffnete die Tür. Und in dem Licht, das aus ihrem Zimmer herüberdrang, stellte sie die guten Dinge ab, die sie brachte, zündete die Lampe an und trug das Brett hinüber ans Bett – es war Kaffee und Backwerk.

»Du mußt wohl ein bißchen schnell machen, Anton.«

»Ach ja, leider.«

Simonsen seufzte. Er zog sie aufs Bett herunter und streichelte sie – ihre Wange, den Arm, Brust und Hüften, während er seinen Kaffee trank und die Kuchen eintunkte.

»Einen guten Kaffee hast du mir heute gekocht, Olga – willst du nicht auch einen Tropfen haben?«

»Oh – ich muß wohl hinausgehen und dir ein kleines Frühstück richten.«

Simonsen kroch aus dem Bett und schlüpfte in die Kleider. Legte die letzten Sachen oben in den Handkoffer. Schloß beide Koffer. Und ging dann zu Olga hinüber.

Er trat an das Bett, in dem Svanhild schlief. Simonsen stand eine Weile da, die Hände in den Hosentaschen, und betrachtete sie. Jaja, meine Svanhild, ja.

Er warf auch einen Blick in die Stube. Dort war es leer, dunkel und eiskalt. Henry war am Morgen des ersten Feiertages mit einem Kameraden auf eine Skitour gegangen. Simonsen tastete einige Zeit drinnen herum, stieß im Dunkeln an Svanhilds Christbaum, so daß die kleinen Glaskugeln klirrten. Ach, ja, ach ja – ob er wohl jemals wieder hierherkam?

Dann ging er wieder in Olgas Zimmer zurück. Dort war es so behaglich und warm. Und am untersten Ende des langen Tisches war gedeckt, dort, wo Olga und die Abrahamsen tagsüber saßen und nähten, ein weißes Tuch war aufgelegt, und Sülze und Bier und Schnaps und alles war da, und die Lampe stand dabei und leuchtete friedlich und brannte mit leisem Summen. Und es fiel ein wenig Licht auf Svanhild, die in ihrem kleinen Bett lag und schlief, das schöne Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Sein kleines, kleines Mädchen.

Olgas Bett, das noch ungemacht und aufgeschlagen dastand, mit einer Mulde dort, wo sie gelegen hatte, sah so warm und behaglich aus. Ja, wie gut hatte er es hier gehabt – mit ihr, Olga – und Svanhild. Seine Augen füllten sich mit Tränen – er ließ sie rinnen und wischte sie nicht weg, damit Olga sie sehen sollte. Seine blauroten Hängebacken waren ganz naß, als sie mit dem Kaffee hereinkam.

»Ja, nun müssen wir aber essen,« sagte sie.

»Ja, wir müssen wohl – und die Svanhild – glaubst du nicht, es hätte ihr Spaß gemacht, mit an den Zug zu kommen – im Schlitten mitzufahren?«

»Ich habe schon daran gedacht, Anton – aber es ist so dunkel und kalt draußen –, aber vielleicht soll ich sie jetzt wecken – dann kann sie einen Schluck Kaffee mit uns trinken.«

Sie trat ans Bett – weckte behutsam das Kind.

»Svanhild – magst du aufstehen und mit Vater und Mutter Kaffee trinken?«

Svanhild blinzelte mit den Augen, als sie im Nachthemd auf Simonsens Knien saß. Der Kaffee machte sie ein wenig munterer, aber sie war ziemlich still und schüchtern – da ja die Erwachsenen es auch waren.

»Wo fährst du denn hin, Vater?«

»Nach Frederiksstad, weißt du.«

»Ja aber, wann kommst du denn dann wieder?«

»Ja – da werdet wohl ihr zuerst zu mir kommen, denke ich.«

»Ist das dort auf dem Land, wie du uns erzählt hast?«

»Ja, ja, o ja –«

» Dort wirst du wieder mit mir rodeln, Vater – nicht wahr, das wirst du?«

»Ja, dort werde ich mit dir rodeln – das ist wahr.«

Die Flurglocke schellte. Olga sah hinaus – der Schlitten war gekommen. Der Fuhrmann nahm Simonsens Koffer und ging.

Simonsen küßte Svanhild und erhob sich – stand eine Weile mit ihr auf dem Arm da.

»Ja, jetzt mußt du ein liebes, braves Mädchen sein, Svanhild – während der Vater fort ist, willst du?«

»Ja,« sagte Svanhild.

Olga ging in die Küche hinaus, um alles auszulöschen – da Svanhild allein zu Hause bleiben sollte –, und kam wieder herein und stand dann da, die Hand an der Lampe, um sie abzudrehen:

»Ja, ja, Anton –«

Er küßte Svanhild, daß es schmatzte, legte sie ins Bett und deckte sie zu.

»Nun leb wohl, meine kleine Svanhild.«

Olga löschte aus. Und sie gingen hinaus. Im Gang umarmte er sie noch einmal, drückte sie an sich. Und sie küßten einander.

 

Sie saßen schweigend im Schlitten, während sie in der dunklen Morgenstunde dahinfuhren. Und sie wußten einander nichts zu sagen, als sie sich in der kalten, häßlichen Bahnhofshalle umhertrieben. Aber sie folgte ihm dicht auf den Fersen, während er die Karte löste und seinen Koffer aufgab – stand hinter ihm, klein und schwarz gekleidet und viereckig vor lauter Überzeug.

Dann gingen sie in den Wartesaal, saßen da und schauten immer wieder nach der Uhr.

»Wir sind doch frühzeitig dran,« sagte Olga.

»Das sind wir, ja – es ist auch am besten so, wenn man abreisen soll. Schade, Olga, daß du so früh hast aufstehen müssen – jetzt in den Feiertagen.«

»Ach –,« meinte Olga. »Ja, vielleicht ist es am besten, wir gehen jetzt zum Zug und suchen einen Platz.«

Simonsen brachte sich und seine Sachen in einem Raucherabteil unter. Und dann stand er am Fenster, und sie stand unten auf dem Bahnsteig.

»Ja, und sei jetzt gut und schreib mir fleißig, Olga – wie es euch geht.«

»Ja – du aber auch, Anton.«

Jetzt wurden am Zug entlang die Wagentüren zugeschlagen. Olga stand auf dem Trittbrett, und sie küßten einander noch einmal.

»Ja – hab' nun also Dank, liebe Olga.«

»Ja – du auch, Anton. Und glückliche Reise!«

Die Lokomotive pfiff – es ging ein Ruck durch den Zug – dann begann er hinauszugleiten. Olga und Simonsen zogen die Taschentücher heraus und winkten einander zu – solange noch etwas zu sehen war.

Der Zug sauste in der ersten bleichen Tagesdämmerung dahin – vorbei an den Villen bei Baekkelaget–Nordstrand–Ljan. Da und dort war Licht hinter den Fenstern. Der Fjord lag eisgrau unter der Eisenbahnlinie mit schwarzen Inseln weiter draußen.

Scheußlich. Simonsen saß allein im Abteil, sog an der Zigarre und sah zum Fenster hinaus. Höfe und Wälder schwammen vorüber – graubraune Äcker mit weißen Schneestreifen in den Furchen, schwarze Wälder.

Ja, jetzt war die Olga daheim. Was sie wohl tat? Svanhild anziehen, wahrscheinlich, sie wollte auch heute nähen, die Olga, hatte sie gesagt. Dann saß Svanhild wohl auf dem Boden beim Fenster und spielte mit den Puppenflecken, die abgefallen waren. Ja, jetzt war kein Vater mehr da, der mit ihr zum Rodeln in den Schloßpark ging.

Das behagliche Zimmer mit den beiden weißen, warmen Betten – und die Lampe und die Näharbeit überall und die Stoffreste auf dem Boden, durch die man beim Gehen watete – Svanhild am Fenster – sein liebes gottgesegnetes Kind.

Er sah sie sitzen, wie sie so still mit ihren Sachen beschäftigt war. Dann und wann kam dann ein Fräulein Helium oder ein anderes Fräulein und gab ihr eine kleine Näscherei. – Sie würde den Vater schon vermissen, die Kleine.

Es war nicht richtig so – nein, nein, es war nicht richtig.

– Einen Augenblick lang wollte es in ihm aufblitzen – wie wenig richtig das alles war. So, daß es durch alles, was das Leben von Anton Simonsens Herzen übriggelassen hatte, brannte und schmerzte. Svanhild, o meine kleine Svanhild – er seufzte es vor sich hin.

Aber er schob die Gedanken weg.

Das kleine, unschuldige Kind – das so lieb war, so lieb –, ihm würde es doch sicher gut gehen im Leben.

Er trocknete die Augen. Es gab wohl noch einen Höheren, der über dieses Kind bestimmte. Man mußte sich damit trösten, daß es ja doch einen Höheren gab, der alles bestimmte.

 

*

 


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