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»Einen Augenblick … der Zauber ist verronnen –
Und Wirklichkeit erfüllt die Seele wieder.«
Afan. Schenschin.
Ich konnte lange Zeit nicht einschlafen und wälzte mich beständig von einer Seite auf die andere. »Hole der Teufel diesen Unsinn mit den tanzenden Tischen«, dachte ich, »das zerrüttet bloß die Nerven« … Endlich begann der Schlummer mich zu übermannen …
Plötzlich erklang, so deuchte mir, im Zimmer schwach und klagend eine Saite. Ich hob den Kopf. Der Mond stand tief am Himmel und schaute mir gerade in die Augen. Sein Schein lag weiß wie ein Kreidefleck auf dem Fußboden … Deutlich wiederholte sich der sonderbare Ton. Ich stützte mich auf den Ellenbogen auf. Das Herz ward von leichter Bangigkeit umfangen. – Eine Minute verging, noch eine … Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn; von noch weiter her antwortete ihm ein anderer.
Ich ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Dahin kann es mit einem kommen«, dachte ich dann; jetzt klingt es mir gar in den Ohren.
Kurze Zeit darauf schlief ich ein, – oder es kam mir wenigstens vor, als sei ich eingeschlafen. Ich hatte einen ungewöhnlichen Traum. Mir träumte, ich lag in meinem Schlafzimmer auf meinem Bette – doch schlief ich nicht, ja ich konnte nicht einmal die Augen schließen. Da ist der Laut wieder da … Ich drehe mich um … Ganz leicht hebt der Mondfleck am Boden an, sich aufzurichten, sich zu dehnen und sich nach oben sacht abzurunden … Vor mir steht, durchsichtig wie ein Nebel, unbeweglich eine weiße weibliche Gestalt.
»Wer bist du?« frage ich mit Anstrengung,
Wie wenn es im Laube säuselt, antwortete eine Stimme: »Das bin ich … ich … ich. Ich bin gekommen, dich zu holen.«
»Mich zu holen? Wer bist du denn?«
»Komm nachts an die Waldecke, wo die alte Eiche steht. Ich werde dort sein.«
Ich will mir die Gesichtszüge des geheimnisvollen Wesens näher betrachten – da schaudere ich unwillkürlich zusammen: ein kalter Hauch berührt mich. Und ich liege auch gar nicht mehr, sondern sitze auf meinem Bette – und dort, wo offenbar die Gestalt gestanden hatte, liegt ein langer, weißer Mondlichtstreifen auf dem Fußboden.
Der Tag verging, ich weiß nicht wie. Ich hatte, wie ich mich jetzt erinnere, etwas lesen, arbeiten wollen … es war aber nichts dabei herausgekommen. Es kam die Nacht. Das Herz klopfte in meiner Brust, als hätte es etwas erwartet. Ich legte mich hin und kehrte das Gesicht der Wand zu.
»Warum bist du denn nicht gekommen?« so ließ sich im Zimmer deutlich ein Flüstern vernehmen.
Rasch schaute ich mich um.
Wieder diese Gestalt … wieder das geheimnisvolle Wesen mit den starren Augen in dem starren Gesicht – und der Blick voller Trauer.
»Komm!« läßt es sich wieder leise vernehmen.
»Ich werde kommen«, antwortete ich mit unwillkürlichem Grausen. Die Erscheinung schwankte leicht nach vorn und verschwamm ganz unter leichtem Hinundherweben wie Rauch – und wieder lag das weiße Mondlicht ruhig auf dem glatten Boden.
Ich verbrachte den Tag in Aufregung. Beim Abendessen trank ich fast eine Flasche Wein; ich trat auf einen Augenblick ans Portal, kehrte dann um und warf mich aufs Bett. Das Blut rollte schwer durch meine Adern.
Wieder ließ sich der Ton hören … Ich zuckte zusammen, sah mich aber nicht um. Da fühlte ich plötzlich, daß mich jemand fest umschlang und mir ins Ohr flüsterte: »Komm, komm, komm!« … Zitternd vor Schreck stöhnte ich: »Ich werde kommen!« und richtete mich auf.
Die weibliche Gestalt stand dicht über das Kopfende meines Bettes gebeugt. Sie lächelte schwach und schwand dahin. Es war mir indessen Zeit gefunden, ihr Gesicht ins Auge zu fassen. Mir kam vor, das hatte ich früher schon gesehen; – wo aber? wann? Ich stand spät auf und schlenderte den ganzen Tag im Freien umher, ich ging zu der alten Eiche am Waldsaum und schaute mich aufmerksam um. Gegen Abend setzte ich mich an das geöffnete Fenster meines Kabinetts. Die alte Haushälterin stellte eine Tasse Tee vor mich hin – ich berührte sie jedoch nicht … Mich quälten Bedenken, und ich fragte mich selbst: werde ich etwa verrückt? Die Sonne war eben untergegangen – und nicht der Himmel bloß – die ganze Luft ward plötzlich von einem fast unnatürlichen Purpurlicht erfüllt: die Blätter und Kräuter, wie mit frischem Firnis überzogen, rührten sich nicht; etwas Eigentümliches, Rätselhaftes lag in der starren Regungslosigkeit, der ungewöhnlichen Schärfe ihrer Umrisse, in der Vereinigung von starkem Glanz und Totenstille. Ein ziemlich großer, grauer Vogel kam völlig geräuschlos herbeigeflogen und ließ sich auf dem Rande des Fensterbrettes nieder … Ich betrachtete ihn – und er betrachtete mich von der Seite mit seinen runden, dunkeln Augen. »Hat man dich etwa hergeschickt, um mich zu mahnen?« dachte ich.
Der Vogel schlug sogleich mit seinen weichen Flügeln und flog davon, geräuschlos, wie er gekommen. Ich blieb noch lange am Fenster sitzen – doch hatte ich jetzt keine Bedenken mehr: ich war gleichsam in einen Zauberkreis geraten – eine unwiderstehliche, wenn auch sanfte Nacht zog mich fort, geradeso wie das Boot schon lange vor dem Wasserfalle von der Strömung fortgerissen wird. Endlich raffte ich mich auf. Die Röte am Himmel war längst verschwunden, die Farben waren dunkler geworden, mit der zauberhaften Stille war es aus. Eine leichte Bewegung ging durch die Luft, immer heller stieg der Mond herauf am Himmel, der ganz blau geworden war – bald schimmerten im kalten Lichte seines Strahls die Blätter der Bäume silbrig und schwarz. Meine alte Aufwärterin trat mit einem angezündeten Lichte ins Kabinett, doch ein Windzug vom Fenster her löschte die Flamme. Ich hielt es nicht länger aus, ich stülpte mir den Hut auf den Kopf und ging nach der Waldecke zu der alten Eiche.
Diese Eiche war vor vielen Jahren vom Blitze getroffen worden; die Spitze war zersplittert und verdorrt, doch hatte der Baum noch für mehrere Jahrhunderte Lebenskraft behalten. Als ich mich ihm näherte, zog ein Wölkchen über den Mond: tiefes Dunkel lag unter den breiten Ästen. Anfangs fiel mir nichts Besonderes auf; doch als ich den Blick zur Seite richtete – erbebte mein Herz: zwischen der Eiche und dem Walde stand eine weiße Gestalt regungslos bei einem hohen Gebüsch. Das Haar sträubte sich mir; ich faßte mir jedoch ein Herz – und ging auf den Wald zu.
Ja, das war er, mein nächtlicher Gast. Als ich auf sie zukam, stand der Mond in vollem Glanze. Die ganze Gestalt schien wie aus einem halbdurchsichtigen, milchigen Nebel gewebt – durch ihr Gesicht schien ein vom Winde bewegtes Zweiglein hindurch – nur Haar und Augen zeigten eine etwas dunklere Färbung und an einem Finger der gefaltenen Hände schimmerte von mattem Golde ein enger Ring. Ich blieb vor ihr stehen und wollte sie anreden, doch die Stimme stockte mir in der Brust, wenn ich eigentlich auch keine Furcht mehr empfand. Ihr Blick richtete sich auf mich: in seinem Ausdruck lag nicht Gram, nicht Freude, wohl aber eine starre Spannung. Ich wartete, ob sie etwas sagen würde: doch sie verharrte unbeweglich und schweigsam und hielt beständig ihren totenhaft-stieren Blick auf mich gerichtet. Mir wurde wieder unheimlich zumute.
»Ich bin gekommen!« rief ich endlich, mir ein Herz fassend. Hohl und seltsam klang meine Stimme.
»Ich liebe dich«, ließ sich ein Flüstern vernehmen.
»Du liebst mich!« fragte ich befremdet.
»Gib dich mir«, tönte es ebenso zur Antwort zurück.
»Mich dir geben! Du bist ja ein Phantom – du hast ja keinen Körper.« Eine eigentümliche Erregung hat sich meiner bemächtigt, »Wer bist du? Rauch, Luft, Dunst? Mich dir geben! Antworte mir zuerst, wer bist du? Hast du auf der Erde gelebt? Von wannen bist du gekommen?«
»Gib dich mir. Ich werde dir kein Leid zufügen. Sage nur die beiden Worte: nimm mich.«
Ich sah sie an. »Was redet sie da?« dachte ich. »Was bedeutet dann das alles? Und wie will sie mich nehmen? Soll ich es versuchen?«
»Nun gut«, sagte ich, daß sie es hören konnte, unerwartet laut, als hätte mich jemand von hinten gestoßen: »Nimm mich!«
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da neigte sich die Gestalt mit einem inneren Lachen, das für einen Augenblick über ihr Gesicht zog, vor und streckte langsam die Arme aus … Ich wollte zurückspringen, befand mich aber bereits in ihrer Gewalt. Sie umschlang mich, mein Körper ward eine Elle hoch dem Boden entrückt – und leicht und nicht zu rasch schwebten wir beide über das regungslose feuchte Gras dahin.
Anfangs schwindelte mir der Kopf – unwillkürlich schloß ich die Augen … Eine Minute später schlug ich sie wieder auf. Wir schwebten noch immer. Der Wald war nicht mehr zu sehen: unten breitete sich eine Ebene, die mit dunklen Flecken besät war. Mit Entsetzen wurde ich gewahr, daß wir eine fürchterliche Höhe erreicht hatten.
»Ich bin verloren, ich bin in Satans Gewalt«, es zuckte wie ein Blitz durch mein Gehirn. Bis dahin war mir der Gedanke an teuflische Verblendung, an die Möglichkeit meines Unterganges, nicht in den Sinn gekommen. Wir wurden immer weiter fortgetragen und hoben uns in unserm Flug, wie es schien, immer höher und höher.
»Wohin trägst du mich?« stöhnte ich endlich.
»Wohin du willst«, erwiderte meine Gefährtin. Sie hatte sich fest an mich geschmiegt; ihr Gesicht berührte fast meins. Übrigens spürte ich die Berührung kaum.
»Trage mich zur Erde; mir schwindelt in solcher Höhe.«
»Gut; schließe nur die Augen und halte den Atem an.«
Ich folgte dem Rat – und empfand sogleich, daß ich wie ein Stein hinabsank … pfeifend strich der Wind durch mein Haar. Als ich zu mir gekommen war, schwebten wir wieder sanft dicht über dem Erdboden hin, so daß wir die Spitzen der höher emportreibenden Grashalme berührten.
»Stelle mich auf meine Füße,« sagte ich, »ich habe das Fliegen satt. Ich bin ja kein Vogel«.
»Ich glaubte, es würde dir angenehm sein. Einen anderen Beruf haben wir nicht«.
»Ihr? Wer seid Ihr denn?«
Keine Antwort.
»Darfst du mir das denn nicht sagen?«
Ein klagender Ton, ähnlich dem, der mich in jener ersten Nacht geweckt hatte erzitterte in meinem Ohre. Unterdessen schwebten wir kaum merkbar in der feuchten Nachtluft fort.
»So laß mich doch!« sagte ich. Meine Gefährtin wich sachte zur Seite – und ich stand nun auf meinen Füßen. Sie machte vor mir halt und faltete wieder die Hände. Ich hatte mich beruhigt und blickte ihr wieder ins Gesicht: wie früher lag in ihm der Ausdruck unterwürfiger Traurigkeit.
»Wo sind wir?« fragte ich. Ich erkannte die Umgebung nicht.
»Weit von deinem Hause entfernt, doch kannst du in einem Augenblick dort sein.«
»Wie denn? Soll ich mich dir wieder anvertrauen!«
»Ich habe dir kein Leid zugefügt und werde dir keines zufügen. Bis zur Morgenröte wollen wir fliegen, weiter nichts. Ich kann dich tragen, wohin du willst, an jeden Punkt der Welt. Uberlaß' dich mir! Sage wieder: nimm mich hin!«
»Nun … nimm mich an jeden Ort!«
Sie umschlang mich von neuem, ich ward abermals dem Erdboden entrückt, – und wir flogen dahin.
»Wohin?« fragte sie mich.
»Geradeaus, immer geradeaus«.
»Da ist doch aber Wald?«
»Hebe dich über den Wald, – nur sacht«.
Gleich einer Waldschnepfe, die auf eine Birke hinauffliegt, schwangen wir uns empor – und zogen wieder in gerader Richtung hin. Statt des Grases hatten wir die Gipfel der Bäume unter unseren Füßen. Einen eigenen Anblick gewährte der Wald mit seinem, vom Monde beleuchteten, stachlichten Rücken, von oben gesehen. Er war einem ungeheuren, schlafenden Tiere ähnlich und gab uns mit seinem breitschwellenden, stetigen Rauschen, das einem dumpfen Brummen glich, das Geleite. Hin und wieder kam eine kleine Waldwiese zum Vorscheine, an deren Saume ein hübscher, gezackter Schattenstreif lag … Zuweilen ließ sich von unten herauf der klägliche Schrei eines Hasen hören; etwas höher das Pfeifen einer Eule, das ebenfalls kläglich klang; die Luft war erfüllt von Pilzgeruch, Knospen- und Liebstöckelduft; nach allen Seiten hin lag starr und kalt das Mondlicht gebreitet; hoch oben glänzte das Siebengestirn. Bald hatten wir auch den Wald hinter uns gelassen; auf der Ebene ward ein Nebelstreif sichtbar: das war ein Fluß, wir zogen einem Ufer entlang über Strauchwerk hin, das von Feuchtigkeit schwer und regungslos war. Bald schimmerten die Wellen auf dem Flusse in bläulichen Glanze, bald zogen sie dunkel und gleichsam erzürnt vorüber. An einigen Stellen bewegte sich über dem Wasser ein feiner Dunst in einer wunderlichen weise, als hätte er Wille und Leben – und die Reiche der Wasserlilien entfalteten jungfräulich mächtig ihre weißen Blätter, als könne sie keines Menschen Hand erreichen. Es kam mir der Einfall, eine von ihnen zu brechen – und da war ich auch schon dicht an der Oberfläche des Wassers … Die Empfindung der Feuchtigkeit in meinem Gesichte war unangenehm, als ich den zähen Stengel einer großen Blume abriß. Wir flogen bald an einem, bald an dem anderen Ufer dahin, gleich den Strandläufern, die wir fortwährend aufscheuchten und zu verfolgen schienen. Einige Male stießen wir auf ganze Familien wilder Enten, die auf reinlichen Plätzen des Röhrichts im Rreise zusammenlagen, – sie rührten sich aber nicht: höchstens hob eine oder die andere hastig den Ropf unter dem Flügel hervor, schaute um sich und steckte den Schnabel eiligst wieder in den weichen Flaum oder ließ mit leichtem Zittern am ganzen Körper ein schwaches Schnattern hören. Einen Reiher scheuchten wir auf: er stieg aus einem Weidenbusche auf, zappelte mit den Beinen und schwang unbeholfen und mit Anstrengung die Flügel. Nirgends plätscherten Fische im Wasser, – sie schliefen wohl. Ich gewöhnte mich an die Empfindung des Fliegens und fand auch sogar Vergnügen, dies wird Jeder begreifen, der im Traume geflogen ist. Ich begann das sonderbare Wesen, dem ich die unglaublichen Ereignisse, die sich mit mir zutrugen, zu verdanken hatte, mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten.
Es war eine Frau mit einem kleinen, nichtrussischem Gesichte. Grau-weiß, halb durchsichtig, mit kaum merkbaren Schatten, erinnerte es mich an Figuren auf von innen erleuchteten Alabastervasen; wiederum kam es mir bekannt vor.
»Darf ich mit dir reden?« fragte ich.
»Sprich!«
»Ich sehe einen Ring an deinem Finger; du hast also auf der Welt gelebt, – warst du verheiratet?«
Ich redete nicht weiter … Antwort gab es nicht.
»Wie heißt du, – oder sage wenigstens, wie hießest du?«
»Nenne mich Ellis.«
»Ellis? Der Name ist englisch! Bist du eine Engländerin? Hast du mich früher gekannt?«
»Nein.«
»Weshalb bist du denn gerade mir erschienen?«
»Ich liebe dich.«
»Und bist zufrieden?«
»Ja; wir fliegen und kreisen zusammen im reinen Äther umher.«
»Ellis!« rief ich auf einmal, »vielleicht bist du eine gefallene, verdammte Seele?«
Meine Gefährtin senkte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht«, flüsterte sie.
»Ich beschwöre dich bei dem Namen Gottes, hub ich an …«
»Was redest du?« murmelte sie befremdet. »Ich verstehe dich nicht.« Mir kam vor, als ob der Arm, der mich gleich einem kühlen Gürtel umfing, sich leise bewegte …
»Fürchte dich nicht,« sagte Ellis, »fürchte dich nicht, mein Lieber!« Sie wandte ihr Gesicht um und näherte es meinem … Ich verspürte auf meinen Lippen eine sonderbare Empfindung, wie von der Berührung eines feinen, weichen Stachels. Unschädliche Blutegel machen es so.
Ich schaute hinab. Wiederum waren wir beträchtlich gestiegen und flogen eben über einer mir unbekannten Stadt, die am Abhange eines breiten Hügels gelegen. Aus einer dunklen Masse hölzerner Dächer und Obstgärten ragten Kirchtürme empor; an einer Biegung des Flusses überwölbte ihn dunkel eine Brücke; vom Schlaf überwältigt, lag alles in tiefes Schweigen versunken. Selbst Kuppeln und Kreuze schienen in ruhigem, trägem Glanze zu schimmern; schweigend ragten die hohen Stangen der Brunnen neben runden Kuppen der Weiden empor: der weiße Streifen einer Landstraße lief still und gerade wie ein Pfeil auf das eine Ende der Stadt zu – und still am anderen Ende in die dämmerige Ferne einförmiger Felder hinaus.
»Was für eine Stadt ist das?« fragte ich.
»…sow.«
»…sow liegt ja im …schen Gouvernement?«
»Ja.«
»Dann sind wir ja weit von meinem Haus!«
»Für uns gibt es keine Entfernung.«
»Wirklich?« Eine plötzliche Waghalsigkeit erwachte in mir. »So trage mich nach Südamerika!«
»Nach Amerika, das kann ich nicht. Dort ist jetzt Tag.«
»Wir sind also beide Nachtvögel. Nun denn, irgend wohin, wohin du kannst – nur recht weit.«
»Schließe die Augen und halte den Atem an«, erwiderte Ellis – und mit der Schnelligkeit des Sturmwindes flogen wir dahin. Die Luft drang mit erschütterndem Sausen an meine Ohren.
Wir hielten an, das Ohrensausen hörte aber nicht auf. Im Gegenteil: es ging in furchtbares Brausen, in Donnergerölle über …
»Jetzt kannst du die Augen öffnen«, sagte Ellis.
Ich gehorchte … »Mein Gott, wo bin ich?«
Über mir hängen schwere, dunstige Wolken; sie drängen einander, sie fliehen gleich einer Herde erboster Ungeheuer … und dort unten, ein anderes Ungetüm, das in Wut entbrannte Meer … Weißer Gischt sprüht und siedet krampfhaft, gleich Hügelreihen steigen turmhohe Wogen empor und zerschellen mit wildem Getöse an einem riesigen, pechschwarzen Felsenriff. Überall Sturmesheulen, eisiger Hauch des empörten Elementes, dumpfes Brausen der Brandung, durch die hindurch man dann und wann etwas wie Klagelaute, ferne Kanonenschüsse, Glockenläuten vernehmen kann, – ohrenzerreißendes Knarren und Knirschen der Kiesel am Ufer, dazwischen der plötzliche Schrei einer unsichtbaren Möve, am grauen Horizonte das schwankende Gerippe eines Schiffes, – überall Verwirrung, Schrecken, Tod … Mir schwindelte der Kopf, – mit bebendem Herzen schloß ich von neuem die Augen …
»Was ist das und wo sind wir?«
»Auf dem Südufer der Insel Wight, vor dem Felsenriffe Blackgang, wo sie häufig Schiffe zerschellen«, sagte Ellis, diesmal besonders deutlich und wie mir deuchte, nicht ohne Schadenfreude …
»Trage mich fort, fort von hier … nach Hause! nach Hause!«
Ich duckte mich ganz zusammen und preßte die Hände ans Gesicht … Ich fühlte, daß wir noch rascher als vorhin dahingetragen wurden; schon heulte und pfiff der Wind nicht mehr, – er winselte gleichsam in meinem Haare, in meinem Anzuge … Der Atem wollte mir vergehen.
»Fasse nun Fuß«, ließ sich Ellis Stimme vernehmen.
Ich strengte mich an, meiner wieder Herr zu werden, wieder zur Besinnung zu kommen … Ich spürte den Boden unter meinen Sohlen, hörte aber nichts, wie wenn alles in der Runde erstorben wäre … nur an den Schläfen klopften die Adern ungleich, ich vernahm noch immer das leise, innere Klingen, und ich hatte noch immer Schwindelgefühl. Ich richtete mich empor und schlug die Augen auf.
Wir befanden uns auf dem Damme meines Teiches. Gerade vor mir konnte ich durch die spitzigen Blätter der Weidenbüsche die glatte Fläche des Wassers erblicken, die hin und wieder von flaumartigem Nebel bedeckt war. Rechts schimmerte matt ein Roggenfeld; links ragten hoch, unbeweglich und gleichsam von Feuchtigkeit bedeckt, die Bäume des Gartens empor … Der Morgen hatte sie bereits mit seinem Hauche berührt. Am reinen grauen Himmel standen schräg, gleich Rauchstreifen, ein paar Wölkchen; sie waren gelblich gefärbt, – der erste schwache Widerschein des Morgenrotes beleuchtete sie, Gott weiß, von wo: noch konnte das Auge die Stelle, wo das Tagesgestirn aufsteigen würde, am erhellten Horizonte nicht erkennen. Die Sterne waren verschwunden; noch rührte sich nichts, obgleich alles in der zauberhaften Stille des Frühlichtes bereits dem Erwachen entgegenging. »Der Morgen! der Morgen ist da!« rief dicht an meinem Ohre Ellis … »Lebewohl! bis morgen!«
Ich wandte mich um … Sie hob sich leicht von der Erde und schwebte vorüber – und hob auf einmal beide Arme über den Kopf. Kopf, Arme und Schultern nahmen plötzlich einen warmen, rötlichen Fleischton an; in den dunkeln Augen blitzte lebendiges Feuer; ein Lächeln geheimer Wonne umspielte die rotgewordenen Lippen … Ein reizendes Weib war unerwartet vor mir erstanden … Doch wie von einer Ohnmacht befallen sank es sogleich zurück und zerrann wie ein Nebel …
Regungslos blieb ich stehen.
Als ich zu mir gekommen war und mich umschaute, deuchte mir, jener halb-rosenfarbene Fleischton, der sich über die Gestalt meines Schattenbildes ergossen hatte, sei noch nicht verschwunden und umfange mich in der Luft verteilt von allen Seiten … Das war das Morgenrot. Ich fühlte mich auf einmal ungewöhnlich müde und begab mich nach Hause. Als ich am Hühnerhofe vorbeikam, vernahm mein Ohr das erste Morgengeschnatter der jungen Gänse (von allem Geflügel ist dieses am frühesten wach); den Dachrücken entlang saßen auf den Enden der Stangen Dohlen, geschäftig und still putzte sich eine jede, wobei sie sich scharf am milchweißen Himmel abzeichneten. Von Zeit zu Zeit flogen sie alle zugleich auf – und ließen sich, nach kurzem Fluge ohne Geschrei wieder nebeneinander nieder … Aus dem nahen Gehölze kam zweimal der heisere Morgenschrei des schwarzen Auerhahnes, der sich eben ins taugetränkte, von Beeren durchwachsene Gras herabgelassen haben mochte … Mit leichtem Frösteln in den Gliedern erreichte ich mein Bett; ich versank alsbald in festen Schlaf.
In der folgenden Nacht, schwebte mir, als ich mich der alten Eiche näherte, Ellis wie einem Bekannten entgegen. Ich empfand keine Scheu vor ihr, wie gestern, ich war fast erfreut, sie zu sehen; ich bemühte mich gar nicht zu ergründen, was mit mir vorging: mich verlangte nur irgendwohin, recht weit, nach merkwürdigen Orten zu fliegen.
Wiederum schlang Ellis ihren Arm um mich – und wir flogen von neuem dahin.
»Fliege mit mir nach Italien«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Wohin du willst, mein Lieber«, entgegnete sie in feierlichem Tone – leise – und feierlich und leise wandte sie mir ihr Gesicht zu. Es kam mir nicht so durchsichtig vor wie gestern nachts: frauenhafter und stattlicher erschien sie, erinnerte mich an jene herrliche Gestalt, die im Morgenrote so rasch vor mir zerronnen war.
»Diese Nacht – ist eine große Nacht«, fuhr Ellis fort. »Sie trifft nur selten ein, – wenn siebenmal dreizehn …«
Hier entgingen mir einige Worte.
»In dieser Nacht kann man sehen, was zu anderer Zeit verborgen ist!«
»Ellis«! flehte ich, »wer bist du? sag' es mir endlich!«
Schweigend hob sie ihren weißen Arm hoch empor.
Am dunkeln Himmel, dort, wohin ihr Finger wies, zwischen kleinen Sternen, schimmerte wie ein rötlicher Streif ein Komet.
»Wie soll ich dich verstehen?« begann ich. »Ziehst du, – gleich wie jener Komet zwischen Planeten und Sonnen, – etwa zwischen den Menschen … und einem anderen Geschlecht?«
Sogleich verdeckte mir Ellis die Augen mit der Hand … Es war mir, als hätte ein weißer Nebel aus feuchtem Tale mich umhüllt …
»Nach Italien! nach Italien«! flüsterte sie mir zu. »Diese Nacht – ist eine große Nacht!«
Der Nebel vor meinen Augen teilte sich, ich ward unter mir eine unbegrenzte Ebene gewahr. Schon an der warmen und weichen Luft, die meine Wangen fächelte, konnte ich merken, daß ich mich nicht in Rußland befand; überdies glich diese Ebene unseren russischen Ebenen nicht. Das war eine ungeheure, dunkele Fläche, dem Anscheine nach nicht mit Gras bewachsen und ganz öde; hie und da erglänzten auf ihr über ihre ganze Ausdehnung hin verstreut, kleinen Spiegelscherben gleich, stehende Wasser; in weiter Ferne war das stille, unbewegte Meer undeutlich zu erkennen. Zwischen breiten und schönen Wolken, glänzten große Sterne; ein unaufhörliches, tausendstimmiges und dabei doch nicht lautes Gesumme ertönte von allen Seiten – und dies durchdringende und einschläfernde Gesumme klang wundervoll, eine nächtliche Stimme der Wüste …
»Die Pontinischen Sümpfe«, bemerkte Ellis. – »Hörst du die Frösche? spürst du den Schwefelgeruch?«
»Die Pontinischen Sümpfe …« wiederholte ich, und ein Gefühl tiefer Schwermut überkam mich. »Weshalb hast du mich in diesen traurigen Winkel geführt? Nach Rom laß uns fliegen.«
»Rom ist nicht fern«, erwiderte Ellis »… mach' dich fertig!«
Wir ließen uns sinken und zogen längs der alten latinischen Straße entlang. Ein Büffel streckte träge seinen zottigen unförmigen Kopf mit den kurzen borstigen Haarbüscheln zwischen den seitwärts nach hinten zurückgebogenen Hörnern aus dem zähen Schlamme hervor. Er blickte mit seinen dumm-boshaften Augen umher und stieß aus den nassen Nüstern ein dumpfes Schnauben hervor, als witterte er unsere Nähe.
»Rom, Rom ist nahe …« flüsterte Ellis. »Blicke, blicke voraus …« Ich erhob die Augen.
»Was ist das Schwarze dort am Rande des nächtlichen Himmels? Sind es die hohen Bogen einer gigantischen Brücke? Wo ist der Fluß, über welchen sie führt? Warum ist sie stellenweise durchbrochen?« »Nein das ist keine Brücke, das ist eine antike Wasserleitung. Rund herum ist der geheiligte Boden der Campagna, dort in der Ferne sind die Berge von Albano – ihre Gipfel leuchten schwach und das graue Bett der Wasserleitung in dem Strahle des eben aufgehenden Mondes«.
Wir schwangen uns plötzlich hinauf und hielten in der Luft vor einer einsamen Ruine. Keiner hätte bestimmen können, was sie vor Zeiten gewesen sein mochte: Grabmal, Palast, Turm … Schwarzer Efeu umrankte sie von allen Seiten mit tödlicher Macht – und unten gähnte, einem Rachen ähnlich, ein halbeingestürztes Gewölbe. Ein modriger Kellergeruch wehte mir entgegen von diesem Haufen kleiner, dicht aneinander gefügter Steine, die Mauerbekleidung aus Puzzolane war schon längst abgefallen. – »Hier«, sagte Ellis und hielt die Hand erhoben, »hier! – Sprich mit lauter Stimme, dreimal hintereinander den Namen des großen Römers aus«.
»Was wird dann geschehen?«
»Du wirst es sehen.«
Ich dachte ein wenig nach. – » Divus Cajus Julius Caesar!« rief ich plötzlich; » Divus Cajus Julius Caesar«, wiederholte ich gedehnt; – » Caesar!«
Noch war der Nachhall meiner letzten Worte nicht erstorben, da vernahm ich …
Es fällt mir schwer zu sagen, was es war. Anfangs glaubte ich ein undeutliches, kaum zu unterscheidendes, aber unaufhörlich sich wiederholendes Trompetengeschmetter und Händeklatschen zu vernehmen. Es schien, als sei irgendwo, in ungeheurer Ferne, in bodenloser Tiefe, plötzlich eine zahllose Menschenmenge in Aufruhr geraten – sie wogt hin und her, sie wächst immer mehr und mehr an, und einer ruft dem anderen kaum hörbar zu, – wie im Traume, nach tiefem, tausendjährigem Schlafe. Dann hub die Luft an, sich zu bewegen, und es wurde dunkel über der Ruine … Nun deuchte mir, ich sähe Schatten, Myriaden Schatten, Millionen Gestalten, bald abgerundet wie Helme, bald langgestreckt wie Speere; wie blaue Funken glitzerten im Mondlichte diese Helme und Speere – und dieser ganze Heereshaufen, diese Menschenmasse rückte heran, näher und näher, wuchs und war in ungestümem Gedränge … Eine unbeschreibliche Kraft, stark genug, um die ganze Welt aus den Angeln zu heben, jagte diesen Haufen vorwärts; doch keine einzelne Gestalt trat deutlich hervor … Plötzlich schien es mir, als liefe ein Schauer durch die Menge, und gleich ungeheuren Wogen wich sie zurück und machte Platz … » Caesar, Caesar venit!« ließen sich Stimmen hören, gleich den Blättern des Waldes, die vom plötzlichen Sturme bewegt werden, … ein dumpfer Laut rollte dahin, und ein bleicher, ernster, mit einem Lorbeerkranz geschmückter Kopf, die Augenlider gesenkt, kam langsam hinter der Ruine zum Vorscheine, der Kopf des Imperators.
Die Sprache hat keine Worte, um das Entsetzen auszudrücken, das mir bei diesem Anblicke das Herz zusammenkrampfte. Mir war, als müßte ich auf dem Flecke sterben, wenn dieser Kopf die Augen aufschlug, die Lippen öffnete. – »Ellis!« stöhnte ich, »ich will nicht, kann nicht, – fort aus dem rohen, schrecklichen Rom … Fort von hier, fort!«
»Kleinmütiger!« flüsterte sie und – wir schwebten auf. Hinter mir vernahm ich noch einmal den ehernen und diesmal donnernden Ruf der Legionen … darauf verschwamm alles in Dunkel.
»Schau dich um«, sagte Ellis zu mir, »und beruhige dich.«
Ich gehorchte und – mein erster Eindruck war so wonnevoll, daß ich aufseufzen mußte. Ein graublaues, sanftes, weiches und silbriges Licht – oder war es ein Nebel, – umfloß mich von allen Seiten. Anfänglich unterschied ich nichts: es blendete mich dieser blaue Glanz, – doch allmählich begannen Umrisse schöner Gebirge und Wälder hervorzutreten; ein See breitete sich unter mir aus, es zitterten Sterne auf seinem Grunde, und kosend landeten die Wellen am Ufer. Pomeranzenduft kam mir entgegen – und zugleich mit ihm und dem Wellenschlag ähnlich, drangen die kräftigen reinen Töne einer jugendlichen, weiblichen Stimme an mein Ohr. Dieser Duft, diese Töne zogen mich hinab – und ich ließ mich sinken … hinab, zu einem prachtvollen Marmorpalast, der lieblich mitten aus einem Zypressenwäldchen weiß hervorschimmerte. Die Töne strömten aus seinen weit geöffneten Fenstern; die Wellen des Sees, übersät mit Blütenstaub, schlugen sanft an die Mauern des Palastes – und gerade gegenüber, völlig in das dunkle Grün der Pomeranzen- und Lorbeerbäume gehüllt, umflutet von strahlendem Glanze, geschmückt mit einer Menge Statuen, schlanken Säulen, Tempelhallen, ragte aus dem Schoße der Fluten eine hohe runde Insel empor …
» Isola Bella!« sagte Ellis … » Lago maggiore« …
Ein: Ach! war meine eine einzige Antwort, ich sank immer weiter hinab. Immer lauter, immer heller schallte die weibliche Stimme aus dem Palaste herüber; es zog mich unaufhaltsam hin … ich wünschte das Gesicht der Sängerin zu sehen, die mit solchen Tönen eine solche Nacht erfüllte. Wir machten vor einem Fenster halt.
In der Mitte eines im pompejanischen Stile ausgestatteten Zimmers, das mehr einem antiken Tempelraum als einem modernen Saale glich, saß mitten zwischen griechischen Bildwerken, etruskischen Vasen, seltenen Pflanzen, teuren Teppichen im milden Lichte zweier Lampen, die in kristallenen Glocken brannten, – eine junge Frau am Klaviere. Den Kopf leicht zurückgeneigt und die Augen halb geschlossen, sang sie eine italienische Arie; sie sang und lächelte dabei, und doch lag zu gleicher Zeit ein Ausdruck des Ernstes in der Strenge, – Kennzeichen des vollkommenen Genusses, in ihren Zügen! Sie lächelte … und es schien als lächelte ein gleich ihr jugendlicher, träger, verzärtelter, wollüstiger Faun, von Praxiteles gemeißelt, aus einer Ecke, hinter Oleanderbüschen hervor ihr entgegen, durch den dünnen Rauch, der von einem ehernen Rauchfasse auf antikem Dreifuße emporstieg. Die Schöne war allein. Bezaubert von den Tönen, von der Milde, der Pracht und dem Dufte der Nacht und bis aufs tiefste erschüttert durch den Anblick dieses jungen, ruhigen, hellen Glückes, hatte ich meine Gefährtin gänzlich vergessen, hatte vergessen, auf welche eigentümliche Weise ich Zeuge eines so fernen, mir so fremden Lebens geworden war – und ich wollte bereits auf das Fenster zutreten, den Mund öffnen …
Da erzitterte mein ganzer Körper von einem heftigen, wie elektrischen Schlage. Ich blickte mich um … Ellis' Gesicht war, – trotz seiner Durchsichtigkeit, – finster und drohend; in ihren Augen, die sie plötzlich aufschlug, glimmte das Feuer des Zornes …
»Fort!« flüsterte sie entrüstet und wieder ging's in Sturmeseile, Finsternis und Schwindel … Doch diesmal blieb nicht ein Ruf von Legionen, sondern der letzte Ton der Sängerin, den sie auf einer hohen Note abgebrochen hatte, in meinen Ohren zurück …
Wir hielten still. Der hohe Ton, derselbe Ton, klang immerfort in meinem Ohre und hörte nicht auf zu klingen, ob ich schon eine ganz andere Luft, einen ganz anderen Geruch spürte … Stärkende Frische, wie von einem großen Fluße, – Geruch von Heu, Rauch, Hanf strömten mir entgegen. Auf einem langausgehaltenen Ton folgte ein zweiter, dann ein dritter, und das hatte ein so unzweideutiges Gepräge, diese Modulation war so bekannt, so heimisch, daß ich mir auf der Stelle sagte: »Das ist einer von Rußlands Söhnen, der ein russisches Lied singt«, – und im gleichen Augenblicke wurde mir alles rund umher klar.
Wir befanden uns über einem flachen Ufer. Links lagen, ohne Ende, gemähte Wiesen, ungeheure Heuschober standen auf ihnen umher! rechts verlor sich die glatte Fläche eines großen, wasserreichen Stromes ebenso ins Endlose. In geringer Entfernung vom Ufer schaukelten sich dunkele, vor Anker liegende Barken, sie bewegten ihre spitzen Masten wie Zeigefinger leise hin und her. Von einer dieser Barken schlugen die Töne einer klangreichen Stimme an mein Ohr, auch brannte ein Feuer auf ihnen, dessen langer, roter Widerschein auf dem Wasser in Schlangenlinien zitterte. Hin und wieder, auf dem Flusse und den Feldern, – ob nah oder fern, das konnte das Auge schwer bestimmen, – flimmerten noch andere Feuer; bald wurden sie klein, bald flackerten sie zu großen strahlenden Gebilden auf: zahllose Grillen zirpten ohne Unterlaß und gaben den Fröschen der pontinischen Sümpfe im Lärmen nichts nach; – unter dem wolkenlosen, gewölbten, dunklen Himmel ließ sich von Zeit zu Zeit das geheimnisvolle Geschrei unbekannter Vögel hören.
»Sind wir in Rußland?« fragte ich Ellis.
»Das ist die Wolga«, entgegnete sie.
Wir flogen längs dem Ufer hin. – Warum hast du mich aus jener herrlichen Gegend entführt? redete ich sie an. – Mißgönnst du sie mir? Oder ist vielleicht Eifersucht in dir rege geworden?
Ellis' Lippen erbebten kaum merklich, und in den Augen flammte es abermals wie drohend auf … Doch gleich darauf nahm ihr Gesicht wiederum seinen starren Ausdruck an. –
»Ich will nach Hause«, sagte ich.
»Warte, warte noch«, erwiderte Ellis. – »Heute nacht – ist eine große Nacht. Sie kehrt nicht sobald wieder. Du kannst Zeuge werden … Warte!«
Und plötzlich nahmen wir unseren Flug in schräger Richtung über die Wolga hin, er ging ganz tief, dicht über dem Wasser hin und stoßweise, wie die Schwalben vor dem Gewitter fliegen. Breite Wellen rauschten unter uns, ein schneidender Wind schlug uns mit seinen kalten, mächtigen Fittigen, … bald begann das hohe rechte Ufer sich im Halbdunkel vor uns zu erheben. Es zeigten sich steile Abhänge mit großen Klüften. Wir näherten uns ihnen.
»Rufe: › Sarin Nakitschku! Das Geschrei der alten Piraten auf der Wolga beim Angriffe eines Schiffes.‹« flüsterte Ellis mir zu.
Ich gedachte des Entsetzens, das ich bei der Erscheinung der römischen Legionen empfunden hatte, Ermüdung und eine gewisse eigentümliche Schwermut, als ginge das Herz mir über, erfüllten mich, – ich sträubte mich, die verhängnisvollen Worte auszusprechen, wußte ich ja doch zum voraus, als Erwiderung auf sie würde, wie in der Wolfsschluchtszene des Freischützes etwas Ungeheuerliches erscheinen, – doch gegen meinen Willen taten sich meine Lippen auf, und ich rief, gleichfalls unwillkürlich, mit schwacher angestrengter Stimme: » Sarin Nakitschku!«
Anfänglich blieb alles ruhig, ganz so wie vor der römischen Ruine, – doch plötzlich erschallte, hart an meinem Ohre, ein rohes, burlakisches Burlak, d. i. Arbeiter auf Flußfahrzeugen, vornehmlich auf der Wolga. Gelächter – es fiel etwas stöhnend ins Wasser, und es hub an zu schlucken … Ich sah mich um: nirgends war jemand zu sehen, – doch vom Ufer hallte das Echo deutlich zurück, – und auf einmal erhob sich von allen Seiten ein betäubender Lärm. Was kam da alles in diesem Chaos von Tönen vor! Geschrei und Gewinsel, wütendes Geschimpfe und Gelächter, alles übertönendes Gekreisch, Ruder- und Axtschläge, ein Gekrach wie von aufgebrochenen Türen und Truhen, Knarren von Takelwerk und Rädern, Pferdegetrampel, Sturmläuten und Kettengerassel, dumpfes Brausen und Geknister wie bei einer Feuersbrunst, Gesang Betrunkener, verworrene Reden, untröstliches Weinen, klägliches, verzweifeltes Flehen –, gebieterische Ausrufe, Todesröcheln –, keckes Pfeifen, Kreischen und Getrampel von Tanzenden … »Schlag' zu! häng' ihn auf! ersäuf' ihn! schlag ihm den Kopf ab! so recht! so recht! keinen Pardon!« – das konnte man deutlich vernehmen, – ja, man hörte sogar das ununterbrochene Luftholen der außer Atem Herbeieilenden, – trotzdem zeigte sich rings, soweit das Auge reichte, nichts, und blieb alles, wie es gewesen: geheimnisvoll, melancholisch zogen die Wogen des Stromes vorüber; das Ufer selbst schien öder und wilder als zuvor – das war alles!
Ich wandte mich zu Ellis, doch die legte den Finger an die Lippen …
»Stepan Timopheitsch! Stepan Timopheitsch kommt!« Stenka Rasin, berüchtigter Räuberhauptmann zur Zeit Alexei Michailowitsch'. ertönte es rings, »da kommt er, unser Herzensväterchen, unser Hauptmann, unser Wohltäter!« Auch jetzt wurde ich noch immer nichts gewahr, doch plötzlich schien es mir, als käme ein riesiger Körper gerade auf mich zu … »Frolka! wo bist du, Hund?« donnerte eine schreckliche Stimme … »Leg' von allen Seiten Feuer an, und mit der Axt drauf los, auf diese Weichlinge!«
Ich empfand die Hitze von einem nahen Feuer und widerlichen Brand- und Rauchgeruch – und zu gleicher Zeit spritzte mir etwas Warmes, wie Blut, auf Gesicht und Hände … Eine wilde Lache erdröhnte rings …
Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, strichen wir, Ellis und ich, still, den bekannten Saum meines Waldes entlang, gerade der alten Eiche zu …
»Siehst du jenen Pfad?« sagte Ellis zu mir … »Dort, wo er matt von dem Mondlicht erleuchtet ist und zwei Birkenbäumchen ihre Zweige herabhangen lassen? … Willst du dorthin?«
Doch fühlte ich mich so zerschlagen und erschöpft, daß ich nichts weiter als: »Nach Hause … nach Hause …« antworten konnte.
»Du bist zu Hause«, entgegnete Ellis.
Ich stand in der Tat hart vor der Tür meines Hauses, – allein. Ellis war verschwunden. Der Hofhund näherte sich mir, betrachtete mich mißtrauisch – und lief dann heulend wieder davon.
Mit Mühe schleppte ich mich bis zu meinem Bette und schlief ein, ohne mich auszukleiden.
Den ganzen folgenden Morgen hatte ich Kopfweh und konnte kaum die Beine rühren; ich achtete jedoch auf mein körperliches Befinden nicht: Reue nagte an mir. Ärger schnürte mir den Hals zu.
Ich war aufs äußerste gegen mich erbittert. »Kleinmütiger Mensch!« wiederholte ich unaufhörlich, »ja – Ellis hat recht. Wovor habe ich denn Furcht gekriegt? Warum habe ich die Gelegenheit ungenützt vorbeigehen lassen? … Ich hätte den Cäsar selbst sehen können – und ward halbtot vor Schreck, ich habe gekreischt und das Gesicht abgewendet, wie ein Kind vor der Rute. Stenka Rasin, – das war allerdings etwas anderes. Als Edelmann und Grundbesitzer … Aber auch hier, lohnte sich's denn wohl da zu erschrecken? Kleinmütiger Mensch, kleinmütiger!«
»Sollte ich das alles vielleicht im Traume gesehen haben?« fragte ich mich zuletzt. Ich rief meine Haushälterin herbei.
»Marfa, wann bin ich gestern zu Bett gegangen – erinnerst du dich nicht?«
»Ja wer kann das wissen, mein Wohltäter … Es wird gewiß spät gewesen sein. In der Dämmerung hast du das Haus verlassen; und im Schlafzimmer hast du mit deinen Absätzen nach Mitternacht umhergetrampelt. Es wird bestimmt schon gegen Morgen gewesen sein, – ganz bestimmt. So war's auch vorgestern. Es muß dich wohl irgendeine Sorge drücken!«
»So!« dachte ich. »Diese Ausflüge unterliegen also keinem Zweifel. Nun, und wie findest du mein Aussehen heute?« setzte ich mit lauter Stimme hinzu.
»Das Aussehen! Na, laß sehen. Etwas mitgenommen. Und auch bleich bist du, mein Wohltäter; nicht den kleinsten Blutstropfen hast du im Gesichte.«
Ich zuckte ein wenig zusammen … Ich schickte Marfa fort.
»Davon kann man sich den Tod holen oder gar wahnsinnig werden«, sagte ich, am Fenster, zu mir selbst. »Man muß sich das alles vom Halse schaffen. Das Ding ist gefährlich. Und da fühle ich, mein Herz klopft mir auf ganz eigene Weise. Wenn ich fliege, kommt es mir immer vor, als sauge jemand an ihm, als träufele etwas aus ihm hervor, – ganz so, wie zur Frühlingszeit der Saft aus dem Birkenbaum sickert, wenn man mit der Axt hineinschlägt. Und doch ist es schade. Und dann Ellis … Sie spielt mit mir, wie die Katze mit der Maus … übrigens wünscht sie mir schwerlich Böses. Ich will mich ihr noch ein letztes Mal hingeben, – mich recht satt sehen, – und dann … Aber, wenn sie mir etwa das Blut aussaugt? Das ist furchtbar. Auch kann eine so rasche Fortbewegung unmöglich unschädlich sein; man erzählt ja, in England, auf den Eisenbahnen, sei es verboten, mehr als hundertundzwanzig Werst in der Stunde zu fahren …«
In dieser Weise sprach ich mit mir selbst, – doch als es neun Uhr vorbei war, stand ich schon vor der alten Eiche.
Die Nacht war kalt, düster und grau; die Luft roch nach Regen. Zu meinem Erstaunen traf ich niemand bei der Eiche; einige Male ging ich um sie herum, kam bis an den Saum des Waldes, kehrte wieder zurück und sandte prüfende Blicke in das Dunkel … Niemand war da. Ich wartete etwas, rief dann einige Male hintereinander Ellis beim Namen, lauter und immer lauter … Jedoch sie zeigte sich noch immer nicht. Mich überfiel Trauer, ja Schmerz; meine früheren Bedenken verschwanden: ich konnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß meine Gefährtin nicht mehr wiederkehren könnte.
»Ellis! Ellis! so komm doch! Wirst du denn nicht kommen?« rief ich zum letzten Male.
Ein Rabe, von meiner Stimme aus dem Schlafe geweckt, begann unerwartet in dem Wipfel eines nahen Baumes sein Wesen zu treiben, er verstrickte sich in den Zweigen und schlug mit seinen Flügeln … Doch Ellis zeigte sich nicht.
Gesenkten Kopfes schlich ich nach Hause. Vor mir ragten bereits die schwärzlichen Weidenbüsche auf dem Damme des Teiches, und das Licht im Fenster meines Zimmers flimmerte durch die Zweige der Apfelbäume des Gartens, flimmerte für einen Augenblick und verschwand, wie das Auge eines Menschen, der mich hatte belauschen wollen, – als ich plötzlich hinter mir ein leises Geräusch wie von rasch durchschnittener Luft hören ließ, und jemand mich auf einmal umfing und emporhob … Auf diese Weise »stößt« oder packt der kleine Rotfalke die Wachtel … Es war Ellis, die an mich angeflogen war. Ich fühlte ihre Wange an meiner, ihr Arm hatte sich gleich einem Ringe um meinen Leib geschlungen – und wie ein scharfes, kaltes Lüftchen drang ihr Flüstern in mein Ohr: »Da bin ich.« Ich war erschrocken und doch erfreut zugleich … Wir schwebten nicht hoch über der Erde hin.
»Du hast heute nicht kommen wollen?« sagte ich.
»Und hast du dich nach mir gesehnt? Liebst du mich? O du bist mein!«
Ellis' letzte Worte verwirrten mich … Ich wußte nicht, was ich ihr erwidern sollte.
»Man hat mich zurückgehalten,« fuhr sie fort, »man hat mich bewacht.«
»Wer hat dich aufhalten können?«
»Wohin wünschest du?« fragte Ellis, und beantwortete ihrer Gewohnheit nach meine Frage nicht.
»Trage mich nach Italien, nach jenem See, – erinnerst du dich?«
Ellis neigte sich etwas zur Seite und schüttelte, sich weigernd, den Kopf. Da erst wurde ich gewahr, wie sie aufgehört hatte durchsichtig zu sein. Auch ihr Gesicht hatte jetzt eine Färbung: über sein Nebelweiß war ein Anflug von Hellrosenrot gebreitet. Ich blickte ihr in die Augen, und mir wurde unheimlich zumute: in diesen Augen regte sich etwas, – es glich den langsamen, stetigen und unheilverkündenden Bewegungen einer erstarrten Schlange, die an den erwärmenden Strahlen der Sonne wieder aufzuleben beginnt.
»Ellis!« rief ich, »wer bist du? So sage mir doch, wer du bist?«
Ellis zuckte nur mit den Achseln.
Es verdroß mich, – ich wollte sie es entgelten lassen, – da kam mir plötzlich der Gedanke, mich von ihr nach Paris tragen zu lassen. »Dort sollst du schon vollauf Gelegenheit haben, eifersüchtig auf mich zu werden«, dachte ich. »Ellis!« sagte ich laut, »dich schrecken große Städte nicht ab, Paris zum Beispiel?«
»Nein.«
»Nicht? Selbst solche Orte nicht, wo es hell ist, wie auf den Boulevards?«
»Das ist ja nicht das Tageslicht.«
»Vortrefflich; so trage mich denn sogleich auf den Boulevard des Italiens.«
Ellis warf mir das Ende ihres lang herabhängenden Ärmels über den Kopf. Mich umfing sofort ein eigentümlicher weißer Dunst von einschläferndem Mohngeruch. Alles war auf einmal verschwunden: Licht, Schall – ja fast das Bewußtsein. Die einzige Empfindung war mir geblieben, daß ich lebte – und es lag nichts Unangenehmes in ihr.
Plötzlich verschwand der Dunst; Ellis befreite meinen Kopf von dem Ärmel, und ich sah unter mir einen ungeheuren Haufen aneinander gedrängter Gebäude, hellen Glanz, Bewegung und Lärm … Es war Paris, was ich sah.
Ich war schon früher einmal in Paris, und darum erkannte ich sogleich den Ort, wohin Ellis ihren Flug nahm. Das war der Garten der Tuilerien mit seinen alten Kastanienbäumen, Eisengittern, Festungsgräben und den Zuaven auf Wachposten, die die Erinnerung an gewisse Tiere weckten. Vorüber am Palaste, an der Kirche von St. Roche, auf deren Stufen der erste Napoleon zum ersten Male französisches Blut vergoß, gelangten wir zu dem Boulevard des Italiens, wo wir haltmachten. Dort tat der dritte Napoleon dasselbe und mit demselben Erfolge. Haufen Volkes, alte und junge Gecken, Blusenmänner, Frauen in prächtigen Kleidern, drängten sich vor den Ladenfenstern; Restaurants und Kaffeehäuser waren in Goldprunk glänzend erleuchtet, Omnibusse, Wagen von jeder Art und jedem Aussehen rollten dem Boulevard entlang; überall reges Leben und Glanz, wohin das Auge sah … Und doch, sonderbar! mich wandelte nicht die Lust an, meine reine, dunkele, luftige Höhe zu verlassen und mich diesem menschlichen Ameisenhaufen zu nähern. Wie ein heißer, schwerer, rotglühender Dampf schien es von unten heraufzusteigen, bald aromatisch, bald übelriechend: es war dort doch gar zu viel Leben in einen Haufen zusammengeworfen … Ich war unschlüssig … Da schlug plötzlich, wie Geklirr von Eisenstäben schneidend die Stimme einer Straßenlorette an mein Ohr; gleich einer frechen Zunge streckte sich diese Stimme vor; sie stach mich wie der Stachel eines ekelhaften Ungeziefers. Sogleich stellte ich mir ein steinernes, knochiges, gieriges, flaches, französisches Gesicht vor, mit lüsternen Augen, bedeckt mit weißer und roter Schminke; sie hatte verwühltes Haar und ein Bukett grellfarbiger, falscher Blumen unter dem spitzen Hute, Nägel, hohlgekratzt wie Krallen, einer unförmlichen Krinoline … Dann vergegenwärtigte ich mir meinen Landsmann den Krautjunker, wie er in tölpelhaften Bocksprüngen jener feilen Dirne nachläuft … Ich stelle mir vor: den konfusen Grobian, wie er gezwungen und beim Sprechen schnarrend, sich abmüht, in seinen Manieren den Kellnern Véfours gleichzukommen, wie er zischelt, sucht sich einzuschmeicheln, herumscharwänzelt, und ich wurde von Ekel ergriffen … »Nein«, dachte ich, »hier wird sich Ellis keine Gelegenheit darbietcn, eifersüchtig zu werden …«
Inzwischen merkte ich, wie wir allmählich hinabsanken … Paris kam uns mit all seinem Lärm und Qualm entgegen …
»Halt!« wandte ich mich zu Ellis. »Wird dir hier denn nicht schwül und beklommen zumute?«
»Du hast mich selbst gebeten, dich hierher zu tragen.«
»Ich tat etwas Falsches, ich nehme mein Wort zurück. Trage mich fort, Ellis, ich bitte dich. Richtig: da ist ja Fürst Kulmametow, da schlendert er auf dem Boulevard dahin, und sein Freund Serge Waraxin winkt ihm mit den Händchen zu und ruft: Iwan Stepanitsch, » allons souper, schnell, j'ai engagé Rigolboche in Person! Trage mich fort von diesen Mabille, diesen Maisons dorées, fort von den Gandins und den Biches, fort von diesem Jockey-Klub und Figaro, von den glattrasierten Soldatenschädeln und den glattgetünchten Kasernen von den sergeantes de ville mit ihren Zwickelbärten, fort von den Gläsern mit trübem Wermut, fort von den Dominospielern in den Kaffeehäusern und den Spielern an der Börse, fort von den roten Bandfetzen im Knopfloch der Röcke und des Paletots, von Herrn de Foy, dem Erfinder › de la spécialité de mariage‹ und den Gratis-Konsultationen des Dr. Charles Albert, von den liberalen Vorlesungen und den offiziellen Broschüren, von der französischen Komödie und der französischen Oper, den französischen Witzen und der französischen Unwissenheit … Fort! fort! fort!«
»Blick' hin,« entgegnete Ellis, »du bist nicht mehr über Paris.«
Ich senkte den Blick … Richtig, eine dunkle Ebene, hin und wieder von weißlichen Wegstreifen durchzogen, flog rasch unter uns dahin und fern hinter uns am Horizonte, rot wie eine ungeheure Feuersbrunst glänzte der breite Widerschein der unzähligen Lichter der Weltstadt.
Wiederum deckte Flor meine Augen … Wiederum verlor ich die Besinnung. Endlich zerteilte sich der Nebel.
Was ist das, dort unten? Was ist das für ein Park, diese Alleen beschnittener Lindenbäume, einzelnstehende, an Fächer erinnernde Tannen, Säulenhallen und Tempel, im Geschmacke der Pompadour, Statuen von Satyrn und Nymphen aus der Schule Berninis, Tritonen im Rokokostil, inmitten gewundener Teiche, die von niedrigem Geländer aus verwittertem Marmor umfaßt sind? Ist das nicht Versailles? Nein, Versailles ist das nicht. Ein kleiner Palast, gleichfalls im Rokokostil, schimmert hinter einer Gruppe dichtbelaubter Eichen hervor. Der Mond, in Nebel gehüllt, scheint düster herab, und ein ganz feiner Dunst scheint über die Erde gebreitet. Das Auge kann nicht unterscheiden, was es ist: Mondlicht oder Nebel? Dort auf einem der Teiche schlummert ein Schwan: sein langer Rücken glänzt weiß wie der gefrorene Schnee der Steppe, und dort wiederum flimmern Leuchtwürmer gleich Diamanten im bläulichen Schatten an den Sockeln der Statuen.
»Wir sind bei Mannheim,« sagte Ellis, »das ist der Park von Schwetzingen.«
Wir sind also in Deutschland? dachte ich und horchte auf. Alles war still, nur irgendwo, einsam und unsichtbar, plätscherte und rieselte ein fallender Wasserstrahl. Es schien, als wiederholte er immer denselben Laut: »Ja, ja, ja, immer ja.« Auf einmal glaubte ich, mitten in einer der Alleen, zwischen beschnittenen Laubwänden einen Kavalier auf roten Absätzen einherschreiten zu sehen; er trug einen goldverbrämten Rock, Spitzenmanschetten, einen leichten Stahldegen an der Seite und führte geziert eine Dame in gepudertem Kopfputze und buntem Reifrocke am Arme … Sonderbare, bleiche Gesichter … Ich will sie genauer betrachten … Da ist alles wieder verschwunden, und nur das Wasser plätschert wie zuvor.
»Das sind Traumbilder, die umherwandeln«, flüsterte Ellis. »Gestern konnte man deren viel … recht viel sehen. Heute fliehen auch Träume das menschliche Auge. Vorwärts! Vorwärts!«
Wir stiegen hinauf und flogen weiter. So leicht und gleichmäßig war unser Flug, daß es mir so vorkam, als bewegten wir uns nicht fort, sondern als käme alles uns entgegengeflogen. Dunkle, in Wellen geformte, bewaldete Berge wurden sichtbar; vor uns stiegen sie auf und schwebten uns entgegen … Da ziehen sie auch schon, mit allen ihren Krümmungen, Schluchten, engen Talwiesen, Feuerpünktchen in den schlafenden Dorfschaften und mit reißenden Bächen in den Talgründen, unter uns vorüber; und vor uns tauchen wieder andere Berge auf und schweben heran … Wir befinden uns mitten im Schwarzwald.
Berge und immer nur Berge … und Wald; schöner, alter, kräftiger Wald. Der nächtliche Himmel ist hell: ich kann jede einzelne Baumgattung unterscheiden; besonders schön nehmen sich die Silbertannen mit ihren weißen, geraden Stämmen aus. Hin und wieder am Waldessaume zeigen sich Rehe; schlank und aufmerksam stehen sie da auf ihren dünnen Beinen und lauschen, spitzen die röhrenförmigen Ohren und wenden die Köpfe lieblich nach allen Seiten. Auf dem Gipfel eines nackten Felsens streckt die Ruine eines Turmes traurig und stumm ihre halbverfallenen Zacken empor; über dem alten, öden Gesteine flimmert ruhig ein goldenes Sternchen. Aus einem kleinen, fast schwarzen See kommt, wie geheimnisvolle Klage, das Stöhnen kleiner Unken herauf. Mir deucht, ich höre auch andere, langgedehnte, schmachtende Töne, wie von einer Äolsharfe … Das ist es, das Land der Legenden! Der gleiche feine, an Mondlicht erinnernde Dunst, den ich in Schwetzingen getroffen, war auch hier überallhin gebreitet, und je weiter sich die Berge dehnen, desto dichter wird dieser Dunst. Ich kann fünf, sechs, ja bis zehn verschiedene Schattenabstufungen, verschiedene Schattenschichten an den Abhängen der Berge unterscheiden, und über all dieser stummen Mannigfaltigkeit herrscht schwermütig der Mond. Sanft und leicht streicht der Wind vorüber. Mir selbst ist leicht ums Herz, ich habe ein Gefühl von Erhabenheit, ja Schwermut …
»Ellis, diese Gegend muß dir lieb sein!«
»Nichts ist mir lieb.«
»Wieso? Und ich?«
»Du … ja!« gibt sie gleichgültig zur Antwort.
Mir dünkt, ihr Arm umschlänge enger als früher meinen Leib.
»Vorwärts! Vorwärts!« sagt Ellis mit einer gewissen Kälte und Aufregung.
»Vorwärts!« wiederhole ich.
Starke, helle Töne in Trillern ließen sich auf einmal über uns vernehmen und gleich darauf abermals, etwas weiter mehr vorn.
»Das sind verspätete Kraniche, die zu euch nach dem Norden ziehen,« sagte Ellis, »willst du dich ihnen anschließen?«
»Ja! trage mich hinauf zu ihnen.«
Wir strebten empor; in einem Augenblick befanden wir uns neben dem vorüberziehenden Zuge.
Große, schöne Vögel (dreizehn an der Zahl) waren es, sie zogen in einem Dreieck, scharf und gemessen die bauchigen Flügel schwingend, dahin. Kopf und Beine straff ausgestreckt, die Brust stark vorgeschoben, schossen sie fort, unaufhaltsam und so rasch, daß es ein Pfeifen rundherum in der Luft hervorbrachte! Ein eigentümlicher Anblick war es, in solcher Höhe, in solcher Entfernung von allem, was atmet, dieses warme, kräftige Leben, diesen unbeugsamen Willen zu betrachten. Siegreich und ohne innezuhalten, zerteilten die Kraniche den Äther, dann und wann mit ihrem Gefährten an der Spitze, ihrem Anführer, Laute tauschend, und es lag etwas Stolzes, Wichtiges, ja ein gewisses unerschütterliches Selbstvertrauen in diesen lauten Zurufen, in dieser Unterredung in der Wolkenregion: »Wir werden doch, wenn auch mit Anstrengung, unser Ziel erreichen«, schienen sie zu gegenseitiger Aufmunterung einander zuzurufen. Und da stieg in mir der Gedanke auf, daß es solche Leute, die mit diesen Vögeln zu vergleichen wären, – in Rußland, – doch, was sage ich in Rußland – in der ganzen Welt nur wenige gibt.
»Jetzt fliegen wir nach Rußland«, flüsterte Ellis … Es war nicht das erstemal, daß ich die Bemerkung machte, sie wisse fast immer zum voraus, woran ich denke. – »Willst du umkehren?«
»Gut, kehren wir um … oder nein. In Paris bin ich gewesen; trage mich nach Petersburg.«
»Gleich!«
»Gleich … Bedecke mir aber den Kopf mit deinem Flor, sonst wird mir übel.«
Ellis streckte die Hand aus … doch bevor mich der Nebel einhüllte, verspürte ich auf meinen Lippen die Berührung jenes weichen, stumpfen Stachels …
»A–a–a–achtung!« Dieser gedehnte Ruf schlug an mein Ohr. »A–a–a–achtung!« erwiderte in der Ferne wie in Verzweiflung ein anderer. »A–a–a–achtung!« erstarb ein dritter irgendwo am Ende der Welt. Ich schüttelte mich. Eine hohe vergoldete Spitze fiel mir in die Augen: ich erkannte die Festung Petropawlowsk.
Weiße, nordische Nacht! Ist das denn wirklich die Nacht? Ist das nicht ein matter, siecher Tag? Ich habe die Petersburger Nächte niemals geliebt; diesmal aber bekam ich's sogar mit der Furcht: Ellis' Gesichtszüge verschwanden gänzlich, lösten sich auf wie Morgennebel in der Julisonne, und ich sah deutlich, wie mein Körper mit seinem vollen Gewichte einsam in gleicher Höhe mit der Alexandersäule in der Luft schwebte. Das war also Petersburg! Ja, das war es, wahrhaftig. Diese öden, breiten, grauen Gassen; diese weiß- und gelblich-grauen, grau-blauen Häuser, mit oder ohne Kalkbewurf oder mit ihren zurückgetretenen Fenstern, grellen Aushängeschildern, mit ihren Wetterdächern aus Eisenblech über den Eingangstüren und ihren erbärmlichen Gemüsebuden; diese Giebel, Aufschriften, Wächterhäuschen, Futterkasten; die goldene Kuppel der Isaakskirche; die überflüssige, bunte Börse; die Granitwälle der Festung und das aufgebrochene Holzpflaster; diese Boote mit Heu und Brennholz; dieser Geruch von Staub, Kohlköpfen, Bast und Stall, diese versteinerten Hausknechte in ihren Schafspelzen an den Haustoren, diese von tiefem Schlafe zusammengebogenen Mietkutscher auf ihren durchgesessenen Droschken, jawohl, das ist es, unser nordisches Palmyra. Alles rings ist genau zu erkennen; alles ist hell, schauerlich deutlich und klar, und alles ist in einen traurigen Schlaf versunken, auf sonderbare Weise auf- und aneinandergehäuft und sticht grell aus der dämmerigen, durchsichtigen Luft. Die Abendröte, – eine schwindsüchtige Röte – ist noch nicht verschwunden und wird auch nicht vor dem Morgen von dem weißen, sternenlosen Himmel verschwinden; hingestreckt in Streifen liegt sie auf der spiegelhellen Fläche der Newa; sie bewegt sich kaum und schnellt fast ohne Geräusch ihr kaltes, blaues Wasser fort.
»Fliegen wir fort,« bat Ellis flehend.
Und ohne meine Antwort abzuwarten, trug sie mich über die Newa, den Schloßplatz, nach der Liteinaja. Unten ließen sich Schritte und Stimmen vernehmen: die Gasse herauf kam eine kleine Schar junger Leute mit hageren Gesichtern; sie unterhielten sich vom Tanzboden. »Sekondeleutnant Stolpakow, Nummer sieben!« rief plötzlich schlaftrunken ein Soldat, der bei einer kleinen Pyramide verrosteter Kanonenkugeln Wache stand, und etwas weiter an dem offenen Fenster eines Hauses wurde ich ein Fräulein gewahr; sie trug ein zerknittertes, seidenes Kleid ohne Ärmel, ein Perlennetz auf dem Haar und hatte eine Zigarette im Munde. Sie war in ein Buch vertieft: es handelte sich um ein Erzeugnis eines unserer neuesten Juvenale.
»Wir wollen fort!« sagte ich zu Ellis.
Einen Augenblick später zogen unter uns die kümmerlichen, winzigen Tannenwäldchen und Moossümpfe vorüber, die Petersburg umgeben. Wir richteten unseren Flug gerade nach Süden. Himmel und Erde, alles nahm allmählich eine immer dunklere Färbung an. Die sieche Nacht, der sieche Tag, die sieche Stadt, – alles das ließen wir hinter uns.
Wir flogen langsamer als gewöhnlich und es wurde mir möglich, mit den Augen zu verfolgen, wie nach und nach vor mir, gleich einem unendlichen Panorama, der heimatliche Boden in ungeheurer Ausdehnung sich entfaltete. Wälder, Gestrüpp, Felder, Schluchten, Flüsse, – dann und wann Dorfschaften, Kirchen, – dann wieder Felder, Wälder, Gestrüpp und Schluchten … Ich wurde traurig und gewissermaßen gleichgültig, ich war gelangweilt, und nicht etwa, weil es eben Rußland war, über das hinweg ich meinen Flug nahm. Nein! Die Erde an und für sich, diese flache Ebene, die sich unter mir ausbreitete, der ganze Erdball mit seiner kurzdauernden, hilflosen, von Not, Gram, Krankheiten gedrückten, an eine Scholle verächtlichen Staubes geketteten Bevölkerung; diese zerbrechliche, rauhe Kruste, diese Schlacke, gebildet auf dem winzigen Feuerkern unseres Planeten, an den sich Schimmel angesetzt hat, dem wir den hochtrabenden Namen eines organischen Pflanzenreiches beilegen; diese Fliegenmenschen, tausendmal nichtiger als die Fliegen selbst, mit ihren aus Lehm zusammengeklebten Wohnungen und den verschwindenden Spuren ihres kleinlichen, einförmigen Treibens, ihrem kümmerlichen Kampfe gegen das Unabwendbare und Unabänderliche, wie widerte mich dies alles auf einmal an! Das Herz drehte sich mir langsam im Leibe herum, die Lust war mir vergangen, noch länger diese nichtssagenden Bilder, dies abgeschmackte Schauspiel anzugaffen … Ja, mir war langweilig – ja mir war noch ärger zumute. Nicht einmal Mitleid empfand ich für meine Mitmenschen; alle Gefühle in mir waren in eins aufgegangen, das ich zu nennen kaum wage: das Gefühl des Abscheues, und den heftigsten, größten Abscheu empfand ich – vor mir selbst.
»Höre auf,« flüsterte Ellis, »höre auf, sonst wird mir's unmöglich, dich zu tragen. Du wirst zu schwer.
»Nach Hause!« rief ich ihr zu, ganz so, wie ich es jedesmal meinem Kutscher zuzurufen pflegte, wenn ich morgens gegen vier Uhr von meinen Moskauer Freunden schied, mit denen ich seit Mittag über Rußlands Zukunft und die Bedeutung des Gemeinwesens disputiert hatte. – »Nach Hause«, wiederholte ich noch einmal und schloß die Augen.
Ich schlug sie indessen bald wieder auf. Ellis begann auf eine sonderbare Weise sich an mich zu schmiegen; sie stieß mich dabei beinahe. Ich sah sie an, und das Blut erstarrte in meinen Adern. Jeder wird mich verstehen, der Gelegenheit gehabt hat, auf fremdem Gesicht den Ausdruck plötzlichen tiefen Entsetzens zu gewahren, ohne seinen Grund zu ahnen. Entsetzen, qualvolles Entsetzen verzog und verzerrte Ellis' bleiche, verwischten Züge. Nie hatte ich Ähnliches gesehen, selbst an lebenden, menschlichen Gesichtern nicht. Ein Nebelgespenst ohne Leben, ein Schatten … und ein solch starres Entsetzen! …
»Ellis, was ist dir?« fragte ich endlich.
»Er … Er …« brachte sie mit Mühe hervor … Er!«
»Er? Wer ist Er?«
»Nenne ihn nicht, nenne ihn nicht«, stammelte Ellis hastig. »Rettung müssen wir suchen, sonst hat alles ein Ende – und für immer … Siehe hin, dort!«
Ich drehte den Kopf nach der Seite, auf die sie mit zitternder Hand wies – und wurde etwas gewahr, etwas, das in der Tat entsetzlich zu schauen war.
Dieses Etwas war um so schrecklicher, da es keine bestimmte Gestalt hatte. Ein schwerfälliges, unheimliches, schwarzgelbes und geflecktes Etwas, – nicht Wolke, nicht Rauch, dem Bauche einer Eidechse ähnlich, schob sich langsam, schlangenartig auf der Erde dahin, in gemessenem, breitausladenden, wogendem Schwung, von unten nach oben und von oben nach unten, dem unheilverkündenden Flügelschlage eines Raubvogels ähnlich, der nach seiner Beute späht; von Zeit zu Zeit drückte es sich in unbeschreiblich widerlicher Weise an den Erdboden an, – so schmiegt sich die Spinne an die gefangene Fliege … Wer bist du, was bist du, gräßliche Ungestalt? In seiner Nähe, – ich sah, ich empfand es, – wurde alles vernichtet, erstarrte alles … Eine faule, pestilenzialische Kälte verbreitete sich ringsumher – mir wurde übel von dieser Kälte, mein Blick umwölkte sich, mein Haar sträubte sich. Eine Macht war es, die uns hier entgegentrat, eine Macht, die keinen Widerstand kannte, der alles unterworfen ist, die selbst blind, gestalt- und sinnlos – alles sieht, alles kennt und die gleich einem Raubvogel ihre Opfer auswählt, sie wie eine Schlange erdrückt und mit ihrer frostigen Zunge begeistert.
»Ellis! Ellis!« schrie ich wie wahnsinnig auf. »Das ist der Tod! der leibhaftige Tod!«
Ein klagender Laut, wie ich ihn schon früher gehört hatte, entfuhr Ellis' Lippen, doch war er diesmal mehr einem menschlichen, verzweiflungsvollen Wehgeschrei zu vergleichen. – Wir flogen dahin. Unser Flug war ungleich, das war sonderbar und schauerlich. Ellis überschlug sich in der Luft, stürzte, warf sich bald hierhin, bald dorthin, gleich einer Feldhenne, die tödlich angeschossen, den Hund von ihrer Brut wegzulocken strebt. Unterdessen aber hatten sich von jenem unbeschreiblich schaudererregenden Klumpen lange Enden abgelöst, ausgestreckten Armen oder Krallen ähnlich, und waren uns in wogender Bewegung nachgerollt … Die riesige Masse einer verhüllten Gestalt auf fahlem Roß erhob sich plötzlich und schwang sich hoch gegen den Himmel hinan … Noch unruhiger, noch verzweifelter wurden Ellis' Bewegungen. »Er hat mich gesehen! Es ist alles vorbei! Ich bin verloren! …« ließ sich ihr Flüstern abgebrochen hören. »O ich Unglückliche! Ich hätte die Gelegenheit benützen können, hätte mir Lebensgeist verschaffen können … und jetzt … Das Nichts! das Nichts!« Ich ertrug es nicht länger … ich verlor die Besinnung.
Als ich zu mir kam, – lag ich auf dem Rücken im Grase und fühlte im ganzen Körper einen dumpfen Schmerz, wie nach einem heftigen Stoß. Am Himmel dämmerte der Morgen herauf: ich vermochte deutlich die Dinge am meisten zu unterscheiden. Nicht weit von mir, längs einem Birkenwäldchen, zog sich ein mit Weidengebüschen besetzter Weg hin: die Gegend schien mir bekannt. Ich begann das, was sich mit mir zugetragen hatte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen – und wurde von Schauder ergriffen, als ich des letzten, entsetzlichen Gesichtes gedachte …
»Was mochte Ellis erschreckt haben darüber?« dachte ich nach. »Wäre denn auch sie seiner Macht unterworfen? Ist sie denn nicht unsterblich? Ist denn auch sie dem Nichts, der Auflösung verfallen? Wie wäre das möglich?«
Ein leises Stöhnen ließ sich in der Nähe vernehmen. Ich wandte den Kopf nach jener Seite. Zwei Schritte von mir lag bewegungslos ein junges Weib in weißem Kleide, mit aufgelöstem, dichtem Haar und entblößter Schulter ausgestreckt da. Ein Arm war unter den Kopf geschoben, der andere über die Brust gefallen; die Augenlider waren geschlossen, und auf den zusammengepreßten Lippen zeigte sich rotgefärbter Schaum. War das Ellis? Aber Ellis, – ist ein Gespenst, und ich sah ein wirkliches Weib vor mir. Ich kroch zu ihr heran, beugte mich über sie … »Ellis! bist du es?« Da erzitterten plötzlich die breiten Augenlider und taten sich langsam auf; dunkle Augen richteten sich durchdringend und bohrend auf mich – und in demselben Augenblicke drückten sich warme, feuchte, blutdünstende Lippen auf meine, weiche Arme schlangen sich um meinen Hals und ein heißer, voller Busen schmiegte sich krampfhaft an meine Brust. »Lebe wohl! lebe wohl auf ewig!« sprach die ersterbende Stimme – und alles verschwand.
Ich erhob mich; ich schwankte wie trunken auf meinen Füßen, – fuhr mir einige Male mit der Hand über das Gesicht und schaute aufmerksam umher. Ich befand mich an der … schen Landstraße, zwei Werst von meinem Landhause. Die Sonne war bereits aufgegangen, als ich mein Haus erreichte.
Die folgenden Nächte wartete ich – und ich muß es gestehen, nicht ohne Angst – auf die Wiederkehr meines Gespenstes; doch es kam nicht mehr. Eines Abends, in der Dämmerung, ging ich zu der alten Eiche, doch auch dort gab es nichts Ungewöhnliches. Ich bedauerte übrigens nicht sehr, daß eine so sonderbare Bekanntschaft abgebrochen war. Ich habe viel und lange über diesen unbegreiflichen, fast unerklärlichen Vorfall nachgedacht – und bin zu der Überzeugung gelangt: nicht nur die Wissenschaft kann ihn nicht erklären, sondern nicht einmal in Märchen und Sagen kommt Ähnliches vor. In der Tat, was war Ellis? Ein Gespenst, eine umherirrende Seele, ein böser Geist, eine Sylphide, ein Vampir vielleicht? Zuweilen kam es mir wieder vor, Ellis sei ein – Weib gewesen, das ich einstmals gekannt – und ich zerbrach mir den Kopf, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wo ich sie früher mochte gesehen haben … Halt, halt, – gleich, diesen Augenblick, wird es mir beifallen … dachte ich ein und das andere Mal … Nichts! Alles zerrann wieder wie ein Traum. Ja; viel habe ich darüber nachgedacht und, wie es ja gewöhnlich der Fall ist, ich habe Nichts herausgebracht. Andere Leute um Rat zu bitten oder um ihre Meinung zu befragen – dazu mochte ich mich nicht entschließen, aus Furcht, für einen verrückten Menschen gehalten zu werden. Zuletzt gab ich alle meine Grübeleien auf: die Wahrheit zu sagen, ich hatte an andere Dinge zu denken. Da war die Freilassung der Bauern, die der gleichmäßigen Verteilung der Ländereien usw. usw. dazwischengekommen; da war mein Gesundheitszustand, der einen Stoß erlitten hatte: Brustweh, Schlaflosigkeit, Husten. Ich werde zusehends mager. Mein Gesicht ist gelb, wie das eines Toten. Der Arzt versichert, ich litte an Blutmangel, nennt meine Krankheit mit dem griechischen Namen Anämie – und meint, ich müßte nach Gastein. Der Schiedsrichter dagegen schwört hoch und teuer, er könnte ohne mich zu keiner »Kombination« mit den Bauern gelangen …
Da soll ich mir nun einen Vers daraus machen!
Was bedeuten indessen jene durchdringend reinen und scharfen Töne, jene Orgeltöne, die in meinen Ohren erklingen, jedesmal, wenn in meinem Beisein vom Tode irgendeines Menschen gesprochen wird? Sie nehmen immer mehr an Stärke und Schärfe zu … Und warum muß ich bei dem bloßen Gedanken an das Nichts, in so peinvollem Schrecken zusammenfahren?