Kurt Tucholsky
Schloß Gripsholm
Kurt Tucholsky

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Viertes Kapitel

Wennt unse Paster man nich süht, mit unsen Herrgott will ick woll färdig werden, sä de Bur – dor makt he sin Heu an Sünndag.

»Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen?« fragte die Prinzessin, als ich aus der Kerze seitlich umfiel.

Wir turnten. Lydia turnte, ich turnte – und hinten unter den Bäumen kugelte sich Billie umher. Billie war kein Mann, sondern hieß Sibylle und war eine Mädchenfrau. »Junge, ja...«, sagte die Prinzessin und ließ sich hochatmend zu Boden fallen, »wenn wir davon nicht klug und schön werden...« – »Und dünn«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Wie findest du sie?« fragte die Prinzessin und deutete mit dem Kopf nach den Bäumen hinüber.

»Gut«, sagte ich. »Das ist mal ein nettes Mädchen: lustig; verspielt; ernst, wenn sie will – komm an mein Herz!« – »Wer?« – »Sie.« – »Daddy, mit dem Herzen... diese Dame hat sich eben ierst von ihren Freund gietrennt, abers ganz akrat un edel und in alle Freundlichkeit.« – »Wer war das doch gleich?« – »Der Maler. Ein anständiger Junge – aber es ging nicht mehr. Frag sie nicht danach, sie mag nicht davon sprechen. Solche Suppen soll man allein auslöffeln.« – »Wie lange kennt ihr euch eigentlich?« – »Na, gut und gern zehn Jahre. Billie... das ist eben mein Karlchen, weißt du? Ich mag sie. Und zwischen uns hat noch nie ein Mann gestanden – das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Sieh mal, wie sie läuft! Se löpt, as wenn er de Büx brennt!«

Sibylle kam herüber.

Es war schön, sie laufen zu sehn; sie hatte lange Beine, einen gestrafften Oberkörper, und ihr dunkelblaues Schwimmkostüm leuchtete auf dem rasigen Grün.

»Na, ihr Affen«, sagte Billie und ließ sich neben uns nieder. »Wie war's?« – »Gedeihlich«, sagte die Prinzessin. »Der Dicke hat geturnt, gleich kommen ihm die Knie zum Halse heraus... er ist sehr brav. Wie lange springst du jetzt Seilchen?« – »Drei Minuten«, sagte ich und war furchtbar stolz. »Wie haben Sie geschlafen, Billie?«

»Ganz gut. Wir dachten doch erst, als uns die Frau das kleine Zimmer ausgeräumt hatte, es wäre zu heiß wegen der Sonne, die da den ganzen Tag drin ist... Aber so heiß ist das hier gar nicht. Nein, ich habe ganz gut geschlafen.« Wir sahen alle aufmerksam vor uns hin und wippten hin und her.

»Hübsch, daß du hergekommen bist«, sagte die Prinzessin und kitzelte Billie mit einem langen Halm am Nacken, ganz leise. »Wir hatten vor, hier wie die Einsiedler zu leben – aber dann war erst sein Freund Karlchen da, und jetzt du – aber es ist doch so schön still und friedlich... nein... wirklich...« – »Sie sind sehr gütig, mein Frollein«, sagte Billie und lachte. Ich liebte sie wegen dieses Lachens; manchmal war es silbern, aber manchmal kam es aus einer Taubenkehle – dann gurrte sie, wenn sie lachte. »Was haben Sie da für einen hübschen Ring, Billie«, sagte ich. »Nichts... das ist ein kleiner Vormittagsring...« – »Zeigen Sie mal... ein Opal? Der bringt... das wissen Sie doch... Opale bringen Unglück!« – »Mir nicht, Herr Peter, mir nicht. Soll ich vielleicht einen Diamanten tragen?« – »Natürlich. Und mit dem müssen Sie dann im Schambah Zepareh Ihren Namen in den Spiegel kratzen. Das tun die großen Kokotten alle.« – »Danke. Übrigens hat mir Walter erzählt: da ist er in Paris in einem cabinet particulier gewesen, und da hat auch eine etwas an den Spiegel gekratzt. Raten Sie, was da gestanden hat!« – »Na?« – »Vive l'anarchie! Ich fand das sehr schön.« Wir freuten uns. »Gymnastizieren wir noch ein bißchen?« fragte ich. »Nein, meine Herrschaften, was ich bün, ick hätt somit gienug«, sagte die Prinzessin und reckte sich. »Mein Pensum ist erledigt. Billie, deine Badehose geht auf!« Sie knöpfte ihr das Trikot zu.

Billies Körper war braun, von Natur oder von der Sonne der See, woher sie grade kam. Sie hatte zu dieser getönten Haut rehbraune Augen und merkwürdigerweise blondes Haar – echtes blondes Haar... es paßte eigentlich gar nicht zu ihr. Billies Mama war eine... eine was? Aus Pernambuco. Nein, so war das nicht. Die Mama war eine Deutsche, sie hatte lange mit ihrem deutschen Mann in Pernambuco gelebt, und da muß einmal irgend etwas gewesen sein... Billie war, vorsichtig geschätzt, ein Halbblut, ein Viertelblut... irgend so etwas war es. Eine fremde Süße ging von ihr aus; wenn sie so dasaß, die Beine angezogen, die Hände unter den Knien, dann war sie wie eine schöne Katze. Man konnte sie immerzu ansehn.

»Was war das gestern abend für ein Schnaps, den wir getrunken haben?« fragte Billie langsam und verwandte kein Auge von dem, was in einer nur ihrer erreichbaren Ferne vor sich ging. Die Frage war ganz in Ordnung – aber sie machte ein falsches Gesicht dazu, in leis verträumter Starre, und dann diese Erkundigung nach dem Schnaps... Wir lachten. Sie wachte auf. »Na...«, machte sie. »Es war der Schnaps Labommelschnaps«, sagte ich sehr ernsthaft. – »Nein, wirklich... was war das?« – »Es war schwedischer Kornbranntwein. Wenn man so wie wir nur ein Glas trinkt, erfrischt er und ist angenehm.« – »Ja, sehr angenehm...« Wir schwiegen wieder und ließen uns von der Sonne bescheinen. Der Wind atmete über uns her, fächelte die Haut und spülte durch die Poren, in denen das Blut sang. Ich war in der Minderheit, aber es war schön. Meist bildeten die beiden eine Einheit – nicht etwa gegen mich... aber ein bißchen ohne mich. Bei aller Zuneigung: wenn ich dann neben ihnen ging, fühlte ich plötzlich jenes ganz alte Kindergefühl, das die kleinen Jungen manchmal haben: Frauen sind fremde, andre Wesen, die du nie verstehen wirst. Was haben sie da alles, wie sind sie unter ihren Röcken... wie ist das mit ihnen! Meine Jugend fiel in eine Zeit, wo die Takelage der Frau eine sehr komplizierte Sache war – zu denken, was sie da alles zu haken und zu knöpfen hatten, wenn sie sich anzogen! Ein Ehebruch muß damals eine verwickelte Sache gewesen sein. Heute knöpfen die Männer weit mehr als die Damen; wenn die klug sind, können sie sich wie einen Reißverschluß aufmachen. Und manchmal, wenn ich Frauen miteinander sprechen höre, dann denke ich: sie wissen das »Das« voneinander; sie sind denselben Manipulationen und Schwankungen in ihrem Dasein unterworfen, sie bekommen Kinder auf dieselbe Weise... Man sagt immer: Frauen hassen einander. Vielleicht, weil sie sich so gut kennen? Sie wissen zu viel, eine von der andern – nämlich das Wesentliche. Und das ist bei vielen gleich. Wir andern haben es da wohl schwieriger.

Da saßen sie in der Sonne und schwatzten, und ich fühlte mich wohl. Es war so etwas wie ein Eunuchenwohlsein dabei; wäre ich stolz gewesen, hätte ich auch sagen können: Pascha – aber das war es gar nicht. Ich fühlte mich nur so geborgen bei ihnen. Nun war Billie vier Tage bei uns, und in diesen vier Tagen hatten wir miteinander keine schiefe Minute gehabt... es war alles so leicht und fröhlich.

»Wie war er?« hörte ich die Prinzessin fragen. »Er war ein Kavalier am Scheitel und an der Sohle«, sagte Sibylle, »dazwischen...« Ich wußte nicht, von wem sie sprachen – ich hatte es überhört. »Ach wat, Jüppel-Jappel!« sagte die Prinzessin. »Wenn einen nichts taugt, denn solln sofordsten von ihm aff gehn. Was diese Frau is, diese Frau ischa soo dumm, daß sie solange – na ja. Seht mal! Pst! Ganz stille sitzen – dann kommt er näher... Und wie er mit dem Schwänzchen wippt!« Ein kleiner Vogel hüpfte heran, legte den Kopf schief und flog dann auf, von etwas erschreckt, das in seinem Gehirn vor sich gegangen war – wir hatten uns nicht geregt. »Was mag das für einer gewesen sein?« fragte Billie. »Das war ein Amselbulle«, sagte die Prinzessin. »Ah – dumm – das war doch keine Amsel...«, sagte Billie. »Ich will euch was sagen«, sprach ich gelehrt, »bei solchen Antworten kommt es gar nicht darauf an, ob's auch stimmt. Nur stramm antworten! Jakopp hat mal erzählt, wenn sie mit ihrem Korps einen Ausflug gemacht haben, dann war da immer einer, das war der Auskunftshirsch. Der mußte es alles wissen. Und wenn er gefragt wurde: Was ist das für ein Gebäude? – dann sagte er a tempo: Das ist die Niedersächsische Kreis-Sparkasse! Er hatte keinen Schimmer, aber alle Welt war beruhigt: eine Lücke war ausgefüllt. So ist das.« Die Mädchen lächelten höflich, ich war auf einmal allein mit meinem Spaß. Nur ein Sekündlein, dann war es vorbei. Sie standen auf.

»Wir wollen noch laufen«, sagte Billie. »Einmal rund um die Wiese! Eins, zwei, drei – los!« Wir liefen. Billie führte, sie lief regelmäßig, gut geschult, der Körper funktionierte wie eine kleine exakte Maschine... es war eine Freude, mit ihr zu laufen. Hinter mir die Prinzessin japste zuweilen. »Ruhig laufen!« sagte ich vor mich hin, »du mußt durch die Nase atmen – mit dem ganzen Fuß auftreten – nicht zu sehr federn!« und dann liefen wir weiter. Mit einem langen Atemzug blieb Billie stehn; wir waren beinah einmal um die große Wiese herumgekommen. »Uffla!« – Wir waren ganz warm. »Ins Schloß unter die Brause!« Wir nahmen unsere Bademäntel und gingen langsam über die Wiese; ich trug meine Turnschuhe in der Hand, und das Gras kitzelte meine Füße. Das ist schön, mit den Mädchen zusammen zu sein, ohne Spannung. Ohne Spannung?

2

»Was nehmen wir denn dem Kind nun mit?«

»Bonbons«, schlug Billie vor. »Nein«, sagte ich, »das wird ihr die Alte verbieten – oder sie muß sie an die ganze Belegschaft austeilen.« – »Wir gehn Knöpfchen kaufen«, sagte die Prinzessin. »Ich werde schon was finden. Kommt – ach was, Hut! Aber Billie!« Wir gingen.

Frau Collin hatte geschrieben. Sie wäre uns sehr dankbar, und wir möchten zu der Frau Adriani hingehn und mit ihr sprechen, und dann sollten wir sie anrufen. Die Auslagen würde sie gern...

»Nicht huddan! Ladi!« rief die Prinzessin. Billie sah sie entgeistert an, und ich mußte ihr erklären, daß das »rechts« und »links« bedeute – so trieb man in manchen plattdeutschen Ecken die Esel an. Gott weiß, woher diese alten Rufe stammen mochten.

Ja, das Kind, der »kleine Gegenstand...« Ich dachte mit Kraft daran, daß es geplagt und geschlagen würde, denn hier stand nun etwas bevor... Als Junge hatte ich immer an Portal-Angst gelitten, an jener rasenden Furcht, in ein fremdes, in ein ganz fremdes Haus hineinzugehn – geduckt ging ich dann schließlich und fiel natürlich auf die moralische Nase. Tiere wittern Furcht. Menschen wittern Furcht. Seitdem ich aber gelernt habe, daß sie alle sterben müssen, geht es schon besser. Zwanzig Jahre hat das gedauert. Der Plattdeutsche drückt die Sache kürzer und unpathetischer aus: »Wat is he denn? Sin Mors hat man ook bloß twee Hälften!« Ja, das ist wahr.

Und nun sollte ich da als fremder Mann zu einer bösen, fremden Frau gehn – ich spielte einen Augenblick alle Phasen: Hänsel bei der Knusperhexe, dann: ich geniere mich doch aber so... und dann war es vorbei. Es ging viel schneller vor sich, als man es schreiben kann. Vorbei. »Man muß«, hat ein kluger Inder gesagt, »den Tiger vor der Jagd in Gedanken töten – der Rest ist dann nur noch eine Formalität.« Die Frau Adriani...? Ich dachte an meinen Feldwebel, an das geprügelte, weinende Kind... in Ordnung.

»Sei still!« rief die Prinzessin in ein Fenster hinein, an dem ein Papagei in seinem Käfig krächzte. »Sei still! Sonst wirst du ausgestopft!« Das Tier mußte wohl deutsch verstehn – denn nun schwieg es. Billie lachte. »Ihr wolltet doch noch englische Sauce kaufen«, sagte sie in einer jener Ideenverbindungen, derer nur Frauen fähig sind. »Tun wir auch – komm, wir gehen in die Fruktaffär, die haben alles.« Die Schweden schreiben manche Fremdwörter phonetisch, das macht viel Spaß. Wir kauften also englische Sauce, die Prinzessin beroch mißtrauisch die verstöpselte Flasche und machte mit Händen und Füßen dem Verkäufer das Leben schwer; Billie warf ein Glas mit Senfgurken herunter, die solches aber gut überstanden, sie kamen mit dem Schreck davon und schäumten nur noch eine Weile in ihrem Essig... »Sieh mal, so viel Salz!« sagte ich. Die Prinzessin sah das Faß an: »Als Kind habe ich immer gedacht: wenn in ein Salzmagazin ein Tropfen Wasser fällt, dann verzehrt er das ganze Lager.« Darüber mußte ich scharf nachdenken und vergaß beinah, hinter den beiden herzugehn, sie standen schon auf der Straße und knabberten Rosinen. »Und dem Kind nehmen wir eine Puppe mit«, sagte die Prinzessin. »Komm mal rüber! Ach, bleibt da – ich werde schon... nein, Billie kommt mit!« Einen winzigen Augenblick lang tat mir das leid; ich hätte gern mit Billie allein auf der Straße gestanden. Was hätten wir uns dann erzählt? Nichts, natürlich.

»Habt ihr?« – »Wir haben«, rief Billie. »Zeigt mal«, bat ich. »Doch nicht hier auf der Straße!« sagte sie. »Meinst, die Puppe wird sich verkühlen?« sagte die Prinzessin und wickelte an dem Paket herum. Ich guckte hinein. Da lag ein Schwedenmädchen, in der Landestracht von Dalarne, bunt und lustig. Sie wurde wieder zugedeckt. »Einpacken ist seliger denn nehmen«, sagte die Prinzessin und band die Schnur zu. »Ja, dann wollen wir mal... Ob sie schießt, die liebe Dame?« – »Laß mich nur...!« – »Nein, Daddy, ich laß dich gar nicht. Du greifst erst zu, wenn sie frech wird und alles drunter und drüber geht. Sag du die Einleitung, und daß wir den Brief bekommen haben und alles, und dann werde ich mal mit ihr.« – »Und ich?« fragte Billie. »Du legst dich derweil in den Wald, Billie; wir können unmöglich zu der Frau wie ein rächender Heerhaufe geströmt kommen. Dann ist gleich alles verloren. Es ist schon dumm – hier geht's lang – schon dumm, daß wir zwei sind. Zwei gegen einen – da knurrt der ja schon von vornherein...« – »Na, mehr als die kann man nicht gut knurren. Ist das ein Deubel!« Ich hatte Billies Arm genommen. »Arbeiten Sie hier eigentlich?« fragte Billie. »Ich werde meiner Arbeit was blasen!« sagte ich. »Nein – hier legen wir eine schöpferische Pause ein... Billie, Sie sind ein netter Mann«, sagte ich ganz unvermittelt. »Na, junges Volk«, sagte die Prinzessin und machte ein Gesicht wie eine wohlmeinende Tante, die eine Verlobung in die Wege leitet, »das ist hübsch, wenn ihr euch gern habt!« Ich hörte die Untertöne, in diesem Augenblick fühlte ich, daß es echte Freundinnen waren – hier war keine Spur von Eifersucht; wir hatten uns übers Kreuz wirklich gern, alle drei. Jetzt kam mir der Weg bekannt vor, da war das Gatter, und da lag das Kinderheim.

Billie war langsam weitergegangen, wir kamen an die Tür. Keine Klingel. Hier sollte wohl nicht geklingelt werden. Wir klopften.

Nach langer Zeit näherten sich Schritte, ein Mädchen öffnete. »Kan Ni tala tyska?« fragte ich. »Guten Tag... ja, ja... was wollen Sie denn?« sagte sie lächelnd. Sie freute sich offenbar, mit uns deutsch sprechen zu können. »Wir möchten zu der Frau Adriani«, sagte ich. »Ja... ich weiß nicht, ob sie Zeit hat. Frau Adriani hält grade Appell ab, das heißt also... sie sieht den Kindern die Sachen nach. Ich werde... einen Augenblick mal...«

Wir standen in einer grau gekalkten Halle, die Fenster waren durch Holzleisten in kleine Vierecke abgeteilt; wie Gitter, dachte ich. An der Wand ein paar schwedische Königsbilder. Jemand kam die Treppe herunter. Die Frau. »Guten Tag«, sagten wir. »Guten Tag«, sagte sie, ruhig. »Wir kommen im Auftrag der Frau Collin in Zürich und möchten gern einmal mit Ihnen wegen der Kleinen sprechen.« – »Haben Sie... einen Brief?« fragte sie lauernd. »Jawohl.« – »Bitte.«

Sie ging voran und ließ uns in ein großes Zimmer, eine Art Saal, hier aßen wohl die Mädchen. Lange Tische und viele, viele Stühle. In einer Ecke ein kleinerer Tisch, an den setzten wir uns. Wir nannten unsere Namen. Sie sah uns fragend und kalt an.

»Da hat uns die Frau Collin geschrieben, wir möchten nach ihrem Kind sehn – sie könnte diesen Sommer leider nicht nach Schweden kommen, hätte es aber gern, wenn sich von Zeit zu Zeit jemand um das Kind kümmerte.« – »Um das Kind kümmere ich mich«, sagte Frau Adriani. »Sind Sie mit Frau Collin... bekannt?« – »Nun wäre es vielleicht vorteilhaft, wenn wir die Kleine sprechen könnten; da sind auch Grüße von der Mama zu bestellen und ein Auftrag auszurichten.« – »Was für ein Auftrag?« – »Ich werde ihn der Kleinen selber ausrichten – selbstverständlich in Ihrer Gegenwart. Dürfen wir sie sprechen?« – Frau Adriani stand auf, rief etwas auf schwedisch zur Tür hinaus und kam zurück.

»Ich finde Ihr Verhalten mehr als merkwürdig, das muß ich schon sagen. Neulich konspirieren Sie mit dem Kind, mischen sich in meine Erziehungsmethoden... Was ist das? Wer sind Sie eigentlich?« – »Unsre Namen haben wir Ihnen gesagt. Übrigens...« – »Frau Adriani«, sagte die Prinzessin, »niemand will Sie hier kontrollieren oder sich in Ihre Arbeit einmischen. Sie haben sicherlich viel Mühe mit den Kindern – das ist ja klar. Aber wir möchten doch die Mama in jeder Weise informieren...« – »Das besorge ich schon«, sagte Frau Adriani. – »Gewiß. Wir möchten ihr bestellen, daß wir die Kleine wohl und munter angetroffen haben... und wie es ihr geht, und... da kommt sie ja.«

Das Kind näherte sich schüchtern dem Tisch, an dem wir saßen; es ging unsicher und trippelnd und kam nicht ganz nah heran. Wir sahen es an; das Kind sah uns an...

»Na, Ada«, sagte die Prinzessin, »wie geht es dir denn?« – Die Stimme der Adriani: »Sag mal guten Tag!«, und das Kind zuckte zusammen und stotterte etwas wie guten Tag. »Wie geht's dir denn?« – Die Frau Adriani ließ kein Auge von dem Kind. Das kleine Mädchen sprach wie hinter einer Mauer. »Danke... gut...«

»Ich soll dir auch einen schönen Gruß von deiner Mama bestellen«, sagte die Prinzessin. »Sie läßt dich grüßen und dann fragt sie hier in diesem Brief« – die Prinzessin kramte in ihrem Täschchen – »ob das Grab von Will auch gut in Ordnung ist. Das war wohl dein kleiner Bruder?« – Das Kind wollte ja sagen – aber es kam nicht dazu. »Das Grab ist in Ordnung«, sagte Frau Adriani, »dafür sorge ich schon. Wir gehn alle paar Wochen auf den Friedhof, das ist Pflicht, natürlich. Und das Grab wird dort gut gepflegt, ich überwache das, ich trage die Verantwortung.« – »So, so...«, sagte die Prinzessin. »Und hier habe ich dir auch etwas mitgebracht, eine Puppe! Da! Spielst du denn auch schön mit den andern Mädchen?« Das Kind sah angstvoll hoch und nahm die Puppe; seine Augen verdunkelten sich; es schluckte, schluckte noch einmal, ließ dann plötzlich den Kopf sinken und fing an zu weinen. Es war so jämmerlich. Das Weinen warf alles um. Frau Adriani sprang auf und nahm das Kind bei der Hand.

»Du kommst jetzt heraus und gehst nach oben... das ist nichts für dich! Den Gruß hast du ja nun gehört, und...« – »Einen Augenblick«, sagte ich. »Ada, wenn du einmal etwas Wichtiges an deine Mutti zu bestellen hast: Wir wohnen im Schloß Gripsholm!« – »Hier wird gar nichts Wichtiges bestellt«, sagte die Frau Adriani recht laut und ging mit der Kleinen schnell zur Tür. »Was hier – da geh doch schon! – was hier zu bestellen ist, das wird durch mich bestellt – und du merk dir das...« Sie sprach draußen weiter, wir hörten sie schelten, konnten aber nichts mehr verstehn. »Soll ich...« – »Keinen Krach«, sagte die Prinzessin. »Das hat nur das Kind auszubaden. Wir werden mit Zürich telephonieren und dann weiter sehn!« Wir standen auf.

Frau Adriani kam zurück, sehr rot im Gesicht.

»Nun will ich Ihnen mal was sagen«, rief sie. »Wenn Sie sich unterstehn, sich hier noch einmal blicken zu lassen, dann werde ich die Polizei benachrichtigen! Sie haben hier gar nichts zu suchen – verstehn Sie mich! Das ist unerhört! Auf der Stelle verlassen Sie mein Haus! Sie betreten mir nicht mehr meine Schwelle! Und probieren Sie es ja nicht noch einmal, hier herumzuspionieren – ich werde... Ich muß mir doch einen Hund anschaffen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ich werde der Frau Collin schreiben, wen sie sich da ausgesucht hat – wo ist überhaupt der Brief?«

Ich winkte der Prinzessin mit den Augen ab, niemand antwortete, wir gingen langsam auf die Haustür zu. Ich fühlte, wie die Frau eine Winzigkeit unsicher wurde. »Wo... wo der Brief ist?« – Wir sprachen nicht, wir verabschiedeten uns nicht, das hatte sie ja schon besorgt, wir gingen stumm hinaus. Drohen? Wer droht, ist schwach. Wir hatten noch nicht mit Zürich telephoniert.

Als die Frau sah, daß wir schon an der Haustür standen, verfiel sie in hemmungsloses Gebrüll; man hörte eilige Schritte auf dem Steinfußboden unten im Keller, also liefen dort die Hausmädchen zusammen und horchten. »Ich verbitte... ich verbitte mir ein für allemal Ihre Besuche! Scheren Sie sich raus! Und kommen Sie ja nicht wieder! Wer sind Sie überhaupt... zwei verschiedene Namen! – Heiraten Sie lieber!« schrie sie ganz laut. Und dann waren wir draußen. Die Tür schloß sich mit einem Knall. Bumm. Da standen wir.

»Hm –«, machte ich. »Das war ein großer Sieg.«

»Na, Daddy, da ist nichts zu machen. Das ist ja eine Megäre – was haben wir nun?« – »Jetzt haben wir ein bleiches Nein erhalten, wie wir Schweden sagen. Also werden wir telephonieren.« – »Sowie wir nach Hause kommen. Aber wenn du das der Frau Collin nicht richtig sagst, was hier los ist... wie der kleine Gegenstand ausgesehen hat! So vermiekert – und verprügelt! Sei schümpt un schümpt ümmerlos... De is aber steelhaarig! Gotts Blix, die müßt man ja in Öl kochen –!« Das fand ich zu teuer.

Wir gingen auf das Wäldchen zu, in dem Billie sein mußte. Und schimpften furchtbar auf die Frau Adriani. Und suchten Billie. »Billie! Billie!« Kein nichts und kein gar nichts. »Ob dieses rothaarige Luder glücklich ist?« – »Daddy, du stellst manchmal komische Fragen! Ob sie glücklich ist...! Das Kind ist unglücklich! Donnerhagel was machen wir denn da? Wir müssen dem Kind helfen! Das kann man ja nicht mit ansehn! Und nicht mit anfühlen! Herrgott von Bentheim! Billie!«

Wir stolperten beinah über sie.

Sie lag hinter einer kleinen moosigen Erhöhung, in einer Erdfalte; auf dem Bauch lag sie, die langen Beine nach oben gestreckt, sie las und schlug von Zeit zu Zeit ihre Füße zusammen. »Ja? Na, was habt ihr... was war?« Wir erzählten, beide zu gleicher Zeit, und nun war aus Frau Adriani bereits ein feuerspeiender Berg geworden, eine ganze Hölle von kleinen und großen Teufeln, die Vorsteherin einer Affentanz-Schule und ein Scheusal schlechthin. Nun, die Frau war ja wirklich eine starke Nummer.

Ich sah auf die beiden, während sie sich besprachen. Wie verschieden sie doch waren! Die Prinzessin Feuer und Flamme; das Kinderleid hatte sie aufgebracht, ihr Herz sprühte. Billie bedauerte das Kind, aber es war, wie wenn ein Fremder in der Untergrundbahn »Verzeihung!« sagte... sie bedauerte es artig und wohlerzogen und ganz unbeteiligt. Vielleicht, weil sie das alles nicht so mit erlebt hatte. Die Gleichgültigkeit so vieler Menschen beruht auf ihrem Mangel an Phantasie.

»Wir wollen noch ein wenig spazieras«, sagte die Prinzessin. – »Wohin?« – »Kommt ihr mit...? Ich möchte mir mal das Grab ansehen. So ein Scheusal...« Das Gewitter gegen die Rothaarige vergrollte langsam. Wir gingen und machten einen weiten Umweg um das Kinderheim. »Gleich, wenn wir nach Hause kommen – aber gleich«, sagte die Prinzessin, »melden wir Zürich an. Wir müssen un müssen dem Kind da rauskriegen! Die Frau Adriani entbehrt nicht einer gewissen Charmanz!« Billie pfiff leise vor sich hin. Ich starrte in eine dunkle Baumgruppe und las aus den Blättern ab: Ich hatte Billie haben wollen, ich fühlte, daß ich sie nicht bekommen würde, und jetzt hatte ich einen sittlichen Grund, sie niedriger zu stellen als Lydia. Billie hatte kein Herz. Hast du ihr Herz geliebt, du Lügner? Sie hat so lange Beine... Ja, aber sie hat kein Herz.

Wir gingen langsam durch den Wald, die beiden unterhielten sich – nun ruddelten sie. »Ruddeln«, das ist so ein Wort für: klatschen, über jemand herziehen. Man konnte gar nicht folgen, so schnell ging es. Hopphopphopp... schade, daß man nicht dabeisein kann, wenn die andern über uns sprechen – man bekäme dann einigermaßen die richtige Meinung von sich. Denn niemand glaubt, daß es möglich sei, so unfeierlich, so schnell, so gleichgültig-nichtachtend Etiketten auf Menschenflaschen zu kleben, wie es doch überall geschieht. Auf die andern vielleicht – aber auf uns selber?

Billie: »...hat er ihr versprochen, und wie es soweit war, nichts«. – »Ihre Dummheit«, sagte Lydia. »Bei Empfang: die Ware – das Geld, wie mein Papa immer sagt. Vertrauen! Vertrauen! Es gibt doch nur eine Sicherheit: Fußangeln. Wie?« Merkwürdig, woher sie das hatte. So schlechte Erfahrungen hatte sie doch gar nicht hinter sich...

Billie ging wie eine Tanzende: Es federte alles an ihr. Sie trug eigentümliche Kleiderstoffe – ich wußte nicht, wie das hieß; es war buntes und grob gewebtes Zeug, heute zum Beispiel sah sie aus wie eine Indianerin, die sich aus ihrem Hochzeitszelt einen Rock geschneidert hatte – und so viele Armbänder! Gleich, dachte ich, wird sie die Arme in die Luft werfen, die schöne Wilde, und mit einem Liebesruf in den Wald stürzen, zu den andern... Schade, daß sie kein Herz hat.

»Seht ihr, da hinten liegt der Friedhof! Doch, wir schaffen das noch bis zum Abendbrot – also!« Wir gingen rascher. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, dann wurden die Windstöße stärker, ein hauchzarter Regen fiel. Manchmal trug der Wind etwas wie Meeresatem herüber, von der See, von der Ostsee.

Nun waren wir angelangt, da war eine kleine Holztür, und über die niedrige Steinmauer ragten alte Bäume. Es war ein alter Friedhof; man sah das an den verwitterten, ein wenig zerfallenen Gräbern auf der einen Seite. Auf der andern standen die Gräber hübsch ordentlich in Reih und Glied... gut gepflegt. Es war ganz still; wir waren die einzigen, die die Toten heute nachmittag besuchten – die wen besuchten? Man besucht ja nur sich selber, wenn man zu den Toten geht.

»Welche Reihe...? Warte mal, das hat sie hier im Brief aufgeschrieben. Achtzehnte... nein, vierzehnte... eins, zwei... vier, fünf...« Wir suchten. »Hier«, sagte Billie.

Da war das Grab. So ein kleines Grab.

WILHELM COLLIN GEBOREN... GESTORBEN...

und ein paar windverwehte Blumen. Wir standen. Niemand sprach. Ob das nun der Auftritt von vorhin war oder die Tatsache, daß es so ein winzig kleines Grab war, dieser Gegensatz zwischen der Inschrift Wilhelm Collin und dem Hügelchen – das war doch in Wahrheit noch gar kein Wilhelm gewesen, sondern ein wehrloses Bündelchen Fleisch, das man hätte beschützen sollen... Eine Träne fing ich nicht mehr, sie rollte. »Heul nicht«, sagte die Prinzessin, die zwinkerte, »heul nicht! Die Sache ist viel zu ernst zum Weinen!« Ich schämte mich vor Billie, die uns mitleidsvoll ansah. Ihre Augen blickten warm. Sie sagte leise etwas zur Prinzessin, und als nun beide zu mir herübersahen, fühlte ich, daß es etwas Freundliches gewesen sein mußte. Ich vergaß, daß ich Billie begehrt hatte, und flüchtete zu der Prinzessin.

In Gripsholm meldeten wir Zürich an.

3

»Da liegt sozusagen die Sittlichkeit mit der Moral im Streite«, sagte die Prinzessin, und wir lachten noch, als wir uns an den großen Tisch in unserm Zimmer setzten. Die Schloßfrau hatte Billie auseinandergesetzt, es wäre gar nicht wahr, daß »alle Schweden immer nackt badeten«, wie man so oft sagen hörte. Gewiß, manchmal, in den Klippen, wenn sie unter sich wären... aber im übrigen wären es Leute wie alle andern auch, wenig wild nach irgendeiner Richtung, es sei denn, daß sie gern Geld ausgäben, wenn einer zusähe.

Draußen fiel der Regen in perlenden Schnüren.

»Das ist aber ein fröhlicher Regen«, sagte Billie. Das war er auch. Er rauschte kräftig, oben am Himmel zogen schwarz-braune Wolken rasch dahin, vielleicht waren nur wir es, die so fröhlich waren, trotz alledem. Das war schön, hier in der trockenen Stube zu sitzen und zu sprechen. Was hatte Billie für ein Parfüm? »Billie, was haben Sie für ein Parfüm?« Die Prinzessin schnupperte. »Sie hat sich etwas zusammengegossen«, sagte sie. Billie wurde eine Spur rot schien mir das nur so? »Ja, ich habe gepanscht. Ich mache mir da immer so etwas zurecht...«, aber sie sagte die Namen nicht.

»Billie, hilf mir mal – kannst du das? Guck mal!« Die Prinzessin löste seit gestern an einem schweren Silbenrätsel herum. »Ich habe hier: Hochland in Asien... doch, das habe ich. Aber hier: Orientalischer Männername... Wendriner? Nein, das kann ja wohl nicht stimmen – Katzenellenbogen...? Auch nicht... Fritzchen! Sag du!« – »Wie heißt er denn nun eigentlich?« fragte Billie entrüstet. »Mal sagst du Peter zu ihm und mal Daddy und jetzt wieder Fritzchen...!« – »Er heißt Ku-ert...«, sagte die Prinzessin. »Ku-ert... Dascha gah kein Nomen – wenn hei noch Fänenand oder Ullrich heiten deer, as Bürgermeister sinen!« Verachtung auf der ganzen Linie. Aber nun war Billies Bildungsdrang gereizt; die beiden Köpfe beugten sich über das Zeitungsblatt. Ich saß faul daneben und sah zu. Und da, so vor den beiden... Kikeriki – machte es in mir ganz leise, Kikeriki... Sie tuschelten und kuderten vor Lachen. Ich zog an der neuen Pfeife, die nun schon ein wenig angeraucht war, und saß mit einer Miene da, die gutmütige Männerüberlegenheit andeuten sollte. Eben hatte Billie etwas gesagt, was man bei einigermaßen ausschweifender Phantasie auch sehr zweideutig nehmen konnte, die Prinzessin sandte mir blitzschnell einen Blick herüber: Es war wie Einverständnis zwischen Verschworenen. Nachtverschworene... Am Tage wurde fast nie von der Nacht gesprochen – aber die Nacht war im Tag, und der Tag war in der Nacht. »Liebst du mich noch?« steht in den alten Geschichten. Erst dann – erst dann!

Sie warfen das Rätsel hin. »Wir wollen es nach dem Abendbrot noch einmal versuchen«, sagte Billie. »Schlaft ihr hier eigentlich gut ein? Ich muß mich sonst immer in Schlaf lesen – aber hier geht es so schnell...« – »Du mußt es machen wie die Baronin Firks«, sagte die Prinzessin. »Die Baronin Firks war natürlich aus Kurland, und die Kurländer, das sind die Apotheker Europas –: sie haben alle einen leichten Klaps. Und wenn die alte Dame nachts nicht einschlafen konnte, dann setzte sie sich auf ein Schaukelpferd und schaukelte so lange, bis... Ja? Was ist?« Es hatte geklopft. Ein Kopf in der Tür. »Das Telephon? Zürich!« Wir liefen alle drei.

Kleiner Kampf am Apparat. »Laß mich ... kannste da nich mal weggehn... Harre Gott... Laß mich doch mal!« Ich.

»Hallo!« Nichts. Wie immer bei Ferngesprächen: erst nichts. Man hörte es in der Membrane leise surren. Diese Geräusche sind je nach den Ländern, in die man telephoniert, verschieden; aus Frankreich zum Beispiel läuft ein silberhelles Gewässer durch die Drähte, und man bekommt solche Sehnsucht nach Paris... Hier surrte es. Sie hatten wohl wegen der politischen Konferenzen neue Kupferdrähte nach der Schweiz... »Mariefred? Bitte melden Sie sich!« – Und dann deutlich, aber leise eine klagende Stimme. Frau Collin.

»Hier ist Frau Collin. Sie haben mir geschrieben? Wie geht es denn Ada?« – »Ich will Sie nicht beunruhigen – aber sie muß da heraus.« – »Ja, warum denn? Um Gottes –« – »Nein, mit der Gesundheit ist das Kind in Ordnung. Aber ich schreibe Ihnen heute abend noch einmal ausführlich – diese Frau Adriani ist eine unmögliche Erzieherin. Das Kind macht einen so verängstigten Eindruck, es...« Und ich packte aus. Ich schmetterte es alles aus mir heraus, die ganze Wut und das ganze Mitleid und die Ranküne wegen der Niederlage heute nachmittag und meinen Abscheu vor solchen Herrschweibern... alles packte ich aus. Und die Prinzessin wackelte wild hetzend mit der Faust. Frau Collin blieb einen Augenblick still. »Hallo?« – »Ja, was machen wir denn da...?« Die Prinzessin stieß mich und zischelte etwas. Ich wehrte mit dem Kopf ab: Laß!

»Ich schlage Ihnen vor, daß Sie uns einen Brief schreiben, mit dem wir das Kind abholen können. Schicken Sie uns bitte einen Scheck über das, was Sie dort mutmaßlich schuldig sind... wenn's mehr ist, will ich das gern auslegen. Und schreiben Sie es nicht der Frau: sonst wird sie das Kind nicht gleich entlassen, sondern sie wird es noch quälen – schreiben Sie also uns. Ihre Schrift kennt die Frau Adriani ja. Also, einverstanden?«

Pause der Unentschlossenheit. Ich gab eine Berliner Referenz. »Ja, wenn Sie meinen... Ach... aber wo soll ich denn dann mit dem Kind hin?« – »Ich habe in der Schweiz zu tun – ich bringe Ada zu Ihnen, und wir werden schon anderswo etwas für sie finden; aber da muß sie heraus. Wirklich – das geht nicht. Einverstanden?«

Die Stimme klagte, klang aber ein wenig fester. »Es ist so nett, wie Sie mir helfen. Sie kennen mich doch gar nicht!« – »Ich habe das da gesehen, wissen Sie... das geht nicht. Also gemacht?« – »Jawohl. Wir wollen das so machen.« Und noch einiges verbindliche Hin und Her. Knack. Abgehängt. Aus. Die beiden tanzten einen wilden Tanz, einmal ums ganze Zimmer. Ich behielt den Hörer noch einen Augenblick in der Hand. »Gott sei Dank...«, sagte ich. – »Ob sie es nun auch tut?« fragte die Prinzessin, noch ein wenig atemlos. »Was hat sie gesagt?« fragte Billie. Nun war sie schon etwas mehr bei der Sache – gar nicht mehr so höflich-teilnehmend wie heute nachmittag. Feldzugskamerad Billie... Ich berichtete. Und dann tanzten wir alle drei.

»Dascha wunnerbor!« sagte Lydia. »Wann kann ihr Brief hier sein? Heute ist Dienstag. Mittwoch... Donnerstag... In drei Tagen, wie?« Wir schrien alle durcheinander und waren so vergnügt. In mir war so etwas wie: Wohltun schmeckt süß, Rache trägt Zinsen, und liebe deinen Nächsten wie der Hammer den Amboß. »Darf ich die jungen Damen auf die Weide treiben?« Wir gingen zum Essen.

»Billie!« sagte ich, »wenn das der alte Geheimrat Goethe sähe! Wasser in den Wein! Wo haben Sie denn diese abscheuliche Angewohnheit her! sagte er zu Grillparzer, als der das tat. Oder hat er es zu einem andern gesagt? Aber gesagt hat er es.« – »Ich vertrage nichts«, sagte Billie, und ihre Stimme klang, wie wenn ein silberner Ring in einen Becher fällt... »Verträgt Margot vielleicht mehr?« fragte die Prinzessin. »Margot...«, sagte Billie und lachte. »Ich habe sie mal gefragt, was sie wohl täte, wenn sie beschwipst wäre. Sie war es nämlich noch nie. Sie hat gesagt: Wenn ich betrunken bin, das stelle ich mir so vor – ich liege unter dem Tisch, habe den Hut schief auf und sage immerzu Miau!« Das wurde mit einem sanften Rotwein begossen; Billie schluckte tapfer, die Prinzessin sah mich an, schmeckte und sprach: »Ich mache mir ja nichts aus Rotwein. Aber wenn das der selige Herr Bordeaux wüßte...«, und dann sprachen wir wieder von Zürich und von dem kleinen Gegenstand, und Billie wurde munter, wohl weil sie uns Rotwein trinken sah. Die Prinzessin blickte sie wohlgefällig von der Seite an.

Ich gähnte verstohlen. »Na, schickst all een to Bett?« fragte die Prinzessin.

»Ich schreibe noch den Brief an die Frau. Löst ihr nur euer Rätsel!« Sie lösten. Ich schrieb.

Was die Schreibmaschine heute nur hatte! Manchmal hat sie ihre Nücken und Tücken, das Luder; dann verheddern sich die Hebel, nichts klappt, das Farbband bleibt hocken, gleich schlage ich mit der Faust... »Hö-he-he!« rief die Prinzessin herüber. Sie kannte das, und ich schrieb beschämt und ruhiger weiter. So, das war fertig. Vielleicht ist der Brief zu schwer... Haben wir hier keine Briefschaukel? »Ich bringe ihn noch auf die Post!«

Es regnete. Schön ist das, durch so einen frischen Regen zu gehn... Wie heißt der alte Spruch? Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur gute Kleider. Nun, es gibt schon schlechtes Wetter; es gibt mißratenes Wetter, es gibt leeres Wetter, und manchmal ist überhaupt kein Wetter. Der Regen befeuchtete mir die Lippen; ich schmeckte ihn und atmete tief: Es ist doch hier weiter gar nichts. Ferien, Schweden, die Prinzessin und Billie – aber dies ist einer jener Augenblicke, an die du dich später einmal erinnern wirst: Ja, damals, damals warst du glücklich. Und ich war es und dankbar dazu.

Zurück.

»Na, habt ihr gelöst?« – Nein, sie lösten noch und waren grade in eine erbitterte Streiterei geraten. »Vater der Kirchengeschichte...«, sie mußten da irgendeinen Unsinn gemacht haben, denn für dieses eine Wort hatten sie noch acht Silben übrig, darunter: e-di-son, und obgleich der ja nun viel in seinem Leben getan und seine ganze Zeit umgestaltet hat: Kirchengeschichte hatte er doch wohl nicht... »Löst das nachher!« sagte ich. »Wann nachher?« fragte Billie. »Da schlafen wir.« – »Billie schläft überhaupt heute bei mir«, sagte die Prinzessin. »Du kannst nebenan in der Kemenate schlafen!« – »Hurra!« riefen die beiden. »Macht es Ihnen etwas?« fragte mich Billie. »Aber...!« Und sie lief davon und holte ihre Sachen, jene Kleinigkeiten, die jede Frau braucht, um glücklich zu sein. »Du gefällst ihr, mein Sohn«, sagte die Prinzessin. »Ich kenne sie. Ist sie nicht wirklich nett?« Und die Prinzessin begann umzuräumen und Billies Zimmer nachzusehn, und es gab eine furchtbare Aufregung. »Wohin soll ich die Blumen stellen?« – »Stell sie auf den Toilettentisch!«

Es war kein alter Bordeaux – aber es war ein schwerer Bordeaux. Das Zimmer lag im abgeblendeten Schein der Lampen, es war so warm und heimlich, und wir kuschelten uns.

»Schon?« fragte ich. Die Damen wollten schlafen gehn. »Aber wenn ihr im Bett seid«, sagte ich, »dann laßt die Tür noch offen – damit ich höre, was ihr euch da erzählt!« Ich ging und zog mich aus. Dann klopfte ich. »Willst du...!« sagte die Stimme der Prinzessin. »Wird hier ehrsame Damens bei der Toilette stören! Mädchenschänder! Wüstling! Blaubart! Ein albernes Geschlecht –!« Wo aber war mein Eau de Cologne? Mein Eau de Cologne war da drin – so ging das nicht! Man ist doch ein feiner Mann. Ich klopfte wieder. Geraschel. »Ja?« Ich trat ein. Sie lagen im Bett, Billie in meinem: sie hatte einen knallbunten Pyjama an, auf dem hundert Blumen blühten, jetzt sah sie aus, wie die wilde Lieblingsfrau eines Maharadschas... sie lächelte ruhig in ihr Rätselblatt. Sie war beinah schön. »Was willst du?« fragte die Prinzessin. »Mein Eau...« – »Haben wir all ausgebraucht!« sagte sie. »Nu wein man nicht – ich kauf dir morgen neues!« Ich brummte. »Habt ihr denn fertig gelöst?« – »Wenn wir dich brauchen, rufen wir dich... Gute Nacht darfst du auch sagen!« Ich ging an sie heran und sagte artig zu jeder gute Nacht, mit zwei tiefen Verbeugungen. »Billie, was haben Sie für ein schönes Parfüm!« Sie sagte nichts; ich wußte, was es war. Das Parfüm »arbeitete« auf ihrer Haut – es war nicht das Parfüm allein, es war sie. Und sie hatte für sich das richtige ausgewählt. Die Prinzessin bekam einen Kuß, einen ganz leise bedauernden Kuß. Dann ging ich. Die Tür blieb offen.

»Halbedelstein –«, hörte ich Billie sagen. »Halbedelstein... Laß mal: Saphir... nein. Rubin... nein. Opal... auch nicht. Lydia!« – »Topas!« rief ich aus meinem Zimmer. »Ja – Topas! Du bist ein kluges Kind!« sagte die Prinzessin. »Nun – nein, so geht das nicht – laß doch mal –« Jetzt rauften sie, die Betten rauschten, Papier knatterte... »Hiii –!« rief Billie in einem ganz hohen Ton. Etwas zerriß. »Du dumme Person!« sagte die Prinzessin. »Komm – jetzt schreiben wir das noch mal auf dies Papier... da stimmt doch was nicht! Wir haben eben falsch ausgestrichen...« – »Der Doktor Pergament kann Silbenrätsel ohne Bleistift lösen!« rief ich. Sie hörten gar nicht zu. Sie waren wohl sehr eifrig bei der Arbeit. Pause. Die Prinzessin: »Hauch... Hast du so was gesehn? Was ist Hauch?« – »Atem!« sagten Billie und ich gleichzeitig. Es war wie ein Einverständnis. Wieder raschelten sie. »Das ist ja ganz falsch! Der Inbegriff alles sinnlich Wahrnehmbaren – sinnlich Wahrnehmbaren...« Jetzt waren sie offenbar am Ende ihres Lateins, denn nun wurde es ganz still – man hörte gar nichts mehr. »Ich weiß nicht...«, sagte die Prinzessin. »Das ist bestimmt ein Druckfehler!« – »Druckfehler bei Silbenrätseln gibt es nicht!« rief ich. – »Du halt deinen Schnabel, du alte Unke!« – »Laß doch mal...« – »Gib mal her...« – »Weißt du Rats?« Beide: »Wir wissen nichts.« – »Es muß ein Erwachsener kommen«, sagte ich. »Da laßt mich mal ran.« Und ich stand auf und ging hinein. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich zur Prinzessin. Einen Augenblick lang hatte der Stuhl in meiner Hand geschwankt; er wollte zu Billie, der Stuhl. »Also – gebt mal her!« Ich las, warf das Papier herunter, hob es wieder auf und probierte mit dem Bleistift auf einem neuen Blatt. Die beiden sahen spöttisch zu. »Na?« – »So schnell geht das nicht!« – »Er weiß ja auch nicht!« sagte Billie. »Wir wollen erst mal alle in den Rotwein steigen!« sagte ich. Das geschah.

»Sehr hübsch«, sagte die Prinzessin. »Rotweinflecke haben Hausfrauen gern, besonders auf Bettwäsche. Du altes Ferkel!« Das galt mir. »Die gehn doch raus«, maulte ich. »Salzflecke werden gereinigt, indem man Rotwein darüber gießt«, lehrte die Prinzessin. Und dann lagen sie wieder beide bäuchlings an ihrem Blatt und lösten. Und es ging nicht vorwärts, Billie hatte die Haare aus der Stirn gestrichen und sah wie ein Baby aus. Wie ein Babybild von Billie. Wie rund ihr Gesicht war, wie rund. »Ge... Geweihe –!« schrie Billie. »Geweihe! Für Jagdtrophäen! Siehst du, das haben wir vorhin nicht gewußt! Aber wohin gehört chrys – chrys...« – »Ich auch!« Nun lag ich halb auf dem Bett, bei der Prinzessin, und starrte angestrengt auf die Bleistiftschreiberei. »Chrysopras!« sagte ich plötzlich. »Chrysopras! Gebt mal her!« Die beiden schwiegen bewundernd, und ich genoß meine lexikalische Bildung. Wir horchten. Ein Windstoß fuhr gegen die Scheiben, draußen trommelte der Nachtregen.

»Kalt ist das...«, sagte ich. »Komm zu mir!« sagte die Prinzessin. »Du erlaubst doch, Billie?« Billie erlaubte. Ganz still lag ich neben der Prinzessin.

»Gestalt aus Shakespeares Sturm...« Allmählich rann die Wärme Lydias zu mir herüber. Mir lief etwas leise den Rücken hinunter. Billie rauchte und sah an die Decke. Ich legte meine Hand hinüber – sie nahm sie und streichelte mich sanft. Ihr Ring blitzte matt. Noch lagen wir beieinander wie junge Tiere – wohlig im Zusammensein und froh, daß wir beisammen waren: ich in der Mitte, wie geborgen. Billie fing an, in der Kehle zu knurren. »Was knurrst du da?« sagte Lydia. »Ich knurre«, sagte Billie, Gestalt aus Shakespeares Sturm... War es das Wort? Das Wort Sturm? Wenn Bienen andre Bienen zornig summen hören, werden sie selber zornig. War es das Wort Sturm? Oben in den Schulterblättern begann es, ich dehnte mich ein ganz klein wenig, und die Prinzessin sah mich an. »Was hast du?« Niemand sagte etwas. Billie knackte mit meinen Nägeln. Wir hatten das Blatt sinken lassen. Es war ganz still.

»Gib mal Billie einen Kuß!« sagte die Prinzessin halblaut. Mein Zwerchfell hob sich – ist das der Sitz der Seele? Ich richtete mich auf und küßte Billie. Erst ließ sie mich nur gewähren, dann war es, wie wenn sie aus mir tränke. Lange, lange... Dann küßte ich die Prinzessin. Das war wie Heimkehr aus fremden Ländern.

Sturm!

Als Zephir begann es – wir waren »außer uns«, denn jeder war beim andern. Es war ein Spiel, kindliche Neugier, die Freude an einer fremden Brust... Ich war doppelt, und ich verglich; drei Augenpaare sahen. Sie entfalteten den Fächer: Frau. Und Billie war eine andre Billie. Ich sah es mit Staunen.

Ihre Züge, diese immer ein wenig fremdartigen Züge, lösten sich; die Augen waren feucht, ihre Gespanntheit wich, und sie dehnte sich... Der Pyjama erblühte bunt. Nichts war verabredet, alles war wie gewohnt – als müßte es so sein. Und da verloren wir uns.

Es war, wie wenn jemand lange mit seinem Bobsleigh am Start gestanden hatte, und nun wurde losgelassen – da sauste der Schlitten zu Tal! Wir gaben uns jenem, der die Menschen niederdrückt und aufhebt, zum tiefsten und höchsten Punkt zugleich... ich wußte nichts mehr. Lust steigerte sich an Lust, dann wurde der Traum klarer, und ich versank in ihnen, sie in mir – wir flüchteten aus der Einsamkeit der Welt zueinander. Ein Gran Böses war dabei, ein Löffelchen Ironie, nichts Schmachtendes, sehr viel Wille, sehr viel Erfahrung und sehr viel Unschuld. Wir flüsterten; wir sprachen erst übereinander, dann über das, was wir taten, dann nichts mehr. Und keinen Augenblick ließ die Kraft nach, die uns zueinander trieb; keinen Augenblick gab es einen Sprung, es hielt an, eine starke Süße erfüllte uns ganz, nun waren wir bewußt geworden, ganz und gar bewußt. Vieles habe ich von dieser Stunde vergessen – aber eins weiß ich noch heute: wir liebten uns am meisten mit den Augen.

»Mach das Licht aus!« sagte Lydia. Das Licht erlosch, erst die große Krone im Zimmer, dann das Lämpchen auf dem Nachttisch.

Wir lagen ganz still. Am Fenster war ein schwacher Schein. Billies Herz klopfte, sie atmete stark, die Prinzessin neben mir rührte sich nicht. Aus den Haaren der Frauen stieg ein Duft auf und mischte sich mit etwas Schwachem, was die Blumen sein mochten oder das Parfüm. Sanft löste sich Billies Hand aus der meinen. »Geh«, sagte die Prinzessin, fast unhörbar.

Da stand ich nebenan im Zimmer Billies und sah vor mich hin. Kikeriki – machte es ganz leise in mir, aber das war gleich vorbei, und ein starkes Gefühl der Zärtlichkeit wehte zu denen da hinüber. Ich legte mich nieder.

Sprachen sie? Ich konnte es nicht hören. Ich stand wieder auf und kroch unter die Dusche. Eine süße Müdigkeit befiel mich – und ein fast zwanghafter Trieb, hinzugehn und ihnen Rosen auf die Decke... wo bekommt man denn jetzt nachts Rosen her... das ist ja – Jemand war an der Tür.

»Du kannst gute Nacht sagen!« sagte die Prinzessin. Ich ging hinein.

Billie sah mich lächelnd an; das Lächeln war sauber. Die Prinzessin lag neben ihr, so still. Zu jeder ging ich, und jede küßte ich leise auf den Mund. »Gute Nacht...« und »Gute Nacht...« Kräftig rauschten draußen die Bäume. Eine Sekunde stand ich noch am Bett.

»Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen?« sagte die Prinzessin leise.

Fünftes Kapitel

Das war ein Wurf! sagte Hans – da warf er seine Frau zum Dachfenster hinaus.

Einer von den Tagen, wie sie sonst nur im Spätsommer vorkommen: bunt, gesättigt und windstill. Wir lagen am Seeufer.

Ein paar Meter vor uns schaukelte ein Boot, unser Badeboot – das Wasser gluckste leise gegen das Holz, auf und ab, auf und ab... Wenn man die Hand ins Wasser hielt, gab das ein winziges Kältegefühl, dann zog man sie wieder heraus, und dann trockneten die Tropfen in der Luft. Ich rauchte einen Grashalm, die Prinzessin hielt die Augen geschlossen. »Heute ist vorgestern«, sagte sie. Das war so ihre Art der Zeitrechnung; da wir übermorgen fortfahren wollten, so war heute vorgestern.

»Wo mag sie jetzt sein?« fragte ich. Die Prinzessin sah auf die Uhr: »Jetzt ist sie zwischen Malmö und Trälleborg«, sagte sie; »in einer Stunde steigt sie auf die Fähre.« Dann schwiegen wir wieder. Billie – dachte ich – Billie...

Sie war abgefahren: leise, heiter, froh – und es war nichts gewesen, es war nichts gewesen. Ich war glücklich; es hatte keinen Schatten gegeben. Gott sei Dank nein. Ich sah zur Prinzessin hinüber. Sie mußte den Blick gespürt haben; sie öffnete die Augen.

»Wo bleibt die Frau Collin? Watt seggst to det Ei? Hett de Katt leggt!«

Die Frau Collin hatte nicht geschrieben – und wir wollten doch fort. Wir mußten fort; unser Urlaub war abgelaufen. Noch einmal telephonieren? Schließlich und endlich... »Diese dämliche Person«, schimpfte ich vor mich hin. »Man muß doch das Gör da herauskriegen! Himmelhergottdonner...« – »Daddy, du repräsentierst ein Volk!« sagte die Prinzessin würdevoll, als ob uns die schwedischen Bäume hören könnten. »Du sollst des Anstands gedenk sein!« Ich sagte ein zweisilbiges Wort. Woraufhin mich die Prinzessin mit etwas Mälarsee anspritzte. Und da wollte ich sie in den See werfen. Und da lag ich drin.

Ich pustete sie mit Wasser voll wie ein Elefant, sie warf mir Hölzchen an den Kopf... dann legte sich das alles. Ich kroch heran, und wieder saßen wir friedlich zusammen.

»Was machen wir aber wirklich?« fragte ich triefend. »Warten? Wir können nun nicht mehr warten! Du mußt am Dienstag zu Hause sein, und auf mich lauern sie auch. Mal muß der Mensch doch wieder arbeiten! Hier vertue ich meine kostbare Zeit mit dir...« Sie hob drohend den Arm. Ich rückte ein Stückchen weg. »Ich meinte nur. Aber wollen wir telephonieren? Ja?«

»Nun wollen wir erst mal zu Ende baden«, sagte die Prinzessin. »Wenn wir nachher nach Gripsholm kommen, werde ich dir alles sagen. Holla – hopp!«

Und wir schwammen.

»Paß auf –«, pustete ich dazwischen, »sie wird es nicht tun, die Frau Collin. Wahrscheinlich hat sie sich das überlegt – ich hatte so den Eindruck, daß sie den kleinen Gegenstand gar nicht bei sich haben will – vielleicht führt sie ein uhrenhaftes Leben...« Die Prinzessin kniff mich ins Bein. »Oder sie traut uns nicht und denkt, wir werden das Kind entführen. Aber der Frau Adriani hat sie getraut. Na, du wirst es sehen! Diese Weiber! Aber das sage ich dir, Alte: wenn sie heute nicht schreibt! Nie wieder in meinem Leben kümmere ich mich um fremde Kinder. Um fremde nicht! Um deine auch nicht! Um meine auch nicht! Himmelkreuzund...« – »Daddy«, sagte die Prinzessin. »Solang äs ich dir kenn, hältst du ümme weise Redens über das, wasse tun wirst, und mehrstenteils kommt nachher allens ganz anners. Aber dascha so bei die Männers. Bischa mallrig!« – »Ich werde...« – »Ja, du wirst. Wenn sie dir das Futurum wegnehmen, dann bleibt da aber nicht viel.« – »Person!« – »Selber!« Huburr der ganze See fing an zu schaukeln, weil wir eine wilde Seeschlacht veranstalteten. Dann schwammen wir ans Ufer.

Auf dem Wege zum Schloß: »Mein Alter hat gar nicht geschrieben... sie werden ihn doch nicht in Abbazia an ein öffentliches Haus verkauft haben?« – »Na, ob da Bedarf für ist...« – »Daddy, wo ist eigentlich der Dackel?« – »Dein Kofferdackel?« – »Ja.« – »Der steht doch... der steht unter meinem Bett. Nachts bellt er.« Wir gingen ins Haus.

Die Prinzessin pfiff wie ein Lockvogel. Was gab's?

Der Brief war da – ein dicker Brief. Sie riß ihn auf, und ich nahm ihn ihr fort, dann flatterten die Bogen auf den Boden, wir sammelten sie auf und brachen in ein fröhliches Geschrei aus. Da war alles, alles, was wir brauchten.

»Das ist fein. Na – aber nun! Wie nun?«

»Das beste is«, sagte die Prinzessin, »wir gehn gliks mal eins hin un holen uns dem Kinde her von diese alte Giftnudel. Auf was wolln wi nu noch warten?«

»Jetzt essen wir erst mal Mittag, und dann gleich nach Tisch... Krach ist gut für die Verdauung.«

Wir saßen grade bei den Preiselbeeren, diesem mild brennenden Kompott, da hörten wir draußen vor der Tür ein Getöse, das Ungewöhnliches anzeigte. Wir ließen die Löffel sinken und horchten. Nun –?

Die Schloßfrau kam herein; sie sah aus wie ein Extrablatt.

»Da ist ein Kind draußen«, sagte sie und sah uns ganz leicht mißtrauisch an, »ein kleines Mädchen – sie weiß nicht, was Sie heißen, aber sie sagt, sie will zu den Mann und der Frau, die ihr eine Puppe gegeben hat, und sie weinten die ganze Zeit und sie bin so rot im Gesicht... Kennen Sie das Kind?« Wir standen gleich auf. »O ja – das Kind kennen wir schon.« Hinaus.

Da stand der kleine Gegenstand.

Sie sah recht zerrupft aus, verweint, die Haare hingen ihr ins Gesicht, vielleicht war sie schnell gelaufen. Das Kind war nicht recht bei sich. Als es Lydia sah, lief es rasch auf sie zu und versteckte sein Gesicht an ihrem Kleid. »Was hast du denn? Was ist denn?« Die Prinzessin beugte sich nieder und verwandelte sich aus dem Sportmädchen von heute morgen in eine Mama; nein, sie war beides. Die Schloßfrau stand dabei, ein Schwamm der Neugierde – sie saugte es alles auf. Also?

Das rote Weib hatte das Kind geprügelt und geknufft und so laut geschrien; das Kind war fortgelaufen. Es war wohl nicht mehr auszuhalten gewesen. Und nun zitterte das Kind und zitterte und sah nach der Tür. Kam sie –? Frau Adriani würde sie holen. Frau Adriani würde sie holen. Es war nur bruchstückweise aus ihr herauszubekommen, was es gegeben hatte. Schließlich wußten wir alles.

Wir standen herum. »Ich gebe sie nicht mehr heraus«, sagte ich. »Nein... natürlich nicht«, sagte die Prinzessin. Die Schloßfrau: »Senden Sie nicht das Kind zurück?« Der kleine Gegenstand begann laut zu weinen: »Ich will nicht zurück. Ich will zu meiner Mutti!« – »Noch einen schwarzen Kaffee«, sagte ich zur Prinzessin, »und dann geht's los.« Wir nahmen das Kind mit hinein und bauten vor ihm Cakes auf. Es nahm keine Cakes. Wir tranken still; wenn es wild zugeht, soll man immer erst einmal bis hundert zählen oder einen Kaffee trinken.

»So, Lydia – jetzt wisch mal dem Kind das Geheul ab und beruhige es ein bißchen, und ich werde mit dem süßen Schatz telephonieren! Würden Sie mich bitte mit dem Kinderheim verbinden?« Die Schloßfrau stellte viele Fragen, ich beantwortete sie sehr kursorisch, sie sagte etwas Schwedisches in das Telephon, und dann saß ich da und wartete.

Jemand meldete sich, auf schwedisch. Ich sprach aufs Geratewohl deutsch. »Kann ich Frau Adriani sprechen?« Lange Pause. Dann eine harte, gelbe Stimme. »Hier Frau Direktor Adriani!« Ich meldete mich. Und da brach es drüben los.

»Das Kind ist wohl bei Ihnen? Ja?« – »Ja.« – »Sie geben es sofort... Sie schicken mir sofort das Kind! Ich werde es abholen lassen – nein: Sie schicken es mir sofort... Sie bringen mir auf der Stelle das Kind zurück! Ich zeige Sie an! Wegen Kindesentführung! Das haben Sie dem Kind in den Kopf gesetzt! Sie! Was? Wenn das Kind nicht in einer halben Stunde... nicht in einer halben Stunde bei mir... Haben Sie mich verstanden?« In mir schnappte das Regulativ ein, das die Feder zurückhält. Ich hatte mich fest an der Leine. »Wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen!« Ein Knack – es wurde abgehängt.

»Lydia«, sagte ich. »Was nun? Ich werde mit der Alten schon reden – diesmal ist sie dran. Aber die Sachen von dem Kind... Es hilft nichts: wir müssen das Kind mitnehmen, sonst bekommen wir nicht alles!« – »Hm.« – »Und wenn wir es hier in Gripsholm lassen, dann ist die Alte imstande und nimmt es von hier fort, und das ganze Theater fängt von vorn an. Erklär das mal dem kleinen Gegenstand!« Das dauerte zehn lange Minuten; ich hörte die Kleine nebenan weinen und immer wieder weinen, dann wurde sie ruhiger, und als nun auch die Schloßfrau auf sie einsprach, wurde sie still. »Nehmen Sie mich auch gewiß... nehmen Sie mich auch ganz gewiß wieder mit?« fragte sie immer wieder. Wir redeten ihr gut zu. »Sie weinete, Er tröstete den Trost aus voller Brust -«, sagte die Prinzessin leise. Und dann gingen wir.

Wir sprachen, damit das Kind uns nicht verstände, französisch. »Du springst ihr doch hoffentlich gleich mit dem Brief und mit dem Scheck ins Gesicht?« – »Lydia«, sagte ich. »Lassen wir sie ein kleines Weilchen toben. Ein Hälmchen... Ich möchte noch mal sehn, wie das ist. Nur ein Weilchen!« Die Prinzessin fiel murrend aus dem Französischen in ihr geliebtes Plattdeutsch. »Ick schall mi von Schap Beeten laten, wenn ick 'n Hund in de Tasch hebb?« Und nun wandten wir uns wieder zu der Kleinen, die unruhiger wurde mit jedem Schritt, der uns dem Kinderheim näher brachte. »Darf ich auch wieder heraus? Aber sie läßt mich ja nicht – sie läßt mich ja nicht!« – »Wir müssen doch deine Sachen holen, und du brauchst keine Angst zu haben...« Als wir das Kinderheim sahen, sagten wir gar nichts mehr. Ich legte der Kleinen leise meinen Arm um die Schultern. »Komm – das geht gut aus!« Sie ließ sich ein bißchen ziehen, aber sie ging still mit. Wir brauchten nicht zu klopfen – die Tür war offen.

Frau Adriani stand unten in der Halle, sie war über eine Truhe gebeugt und wandte uns den Rücken zu. Als sie unsre Schritte hörte, drehte sie sich blitzschnell um. »Ah – da sind Sie ja! Na, das ist Ihr Glück! Sind Sie meinem Mädchen nicht begegnet? Nein? Na, es ist schon jemand unterwegs, falls Sie nicht gekommen wären... Wo bist du hingelaufen, du Teufelsbraten!« schrie sie das Kind an: »Wir sprechen uns nachher! Nachher sprechen wir uns! Los jetzt!« Das Kind verkroch sich hinter die Prinzessin. »Einen Augenblick«, sagte ich. »So schnell geht das nicht. Warum ist das Kind von Ihnen fortgelaufen?« – »Das geht Sie gar nichts an!« schrie Frau Adriani. »Gar nichts geht Sie das an! – Komm her, mein Kind!« Sie ging auf das Kind zu, das ängstlich zusammenzuckte. Sie legte der Kleinen die Hand auf den Kopf. »Was sind denn das für Dummheiten! Wozu läufst du denn vor mir fort? Hast du Angst vor mir? Du mußt vor mir keine Angst haben! Ich will doch dein Bestes! Da läufst du nun zu fremden Leuten... stehen dir denn diese fremden Menschen näher als ich? Ich habe dir doch erzählt: die sind nicht mal richtig verheiratet...« Sie sprach so falsch-eindringlich in das Kind hinein, aber ihre Stimme wußte sich gehört; sie sprach gewissermaßen im Profil. »Läufst hier fort...!« Das Kind schauerte zusammen.

»Kann ich Sie wohl mal sprechen?« sagte ich sanft. – »Was... wir haben uns nichts zu sagen!« – »Vielleicht doch.« Wir gingen alle in den Eßsaal. »Also das Kind ist zu Ihnen gelaufen! Das ist ja reizend! Ihr Glück, daß Sie es auf meine Weisung sofort wiedergebracht haben! Sie wird nicht mehr weglaufen – das kann ich Ihnen versprechen. So ein Geschöpf! Na warte...« – »Das Kind muß doch einen Grund gehabt haben, wegzulaufen!« sagte ich. »Nein. Das hat es gar nicht gehabt. Es hat keinen Grund gehabt.« – »Hm. Und was werden Sie nun mit ihm machen?« – »Ich werde es bestrafen«, sagte Frau Adriani satt und hungrig zugleich. Sie reckte sich in ihrem Stuhl. »Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Wie werden Sie es bestrafen?« – »Ich brauchte Ihnen darauf keine Antwort zu geben – ich muß das nicht. Aber ich sage es Ihnen, denn es ist im Sinne von Frau Collin, im Sinne von Frau Collin, daß das Kind streng gehalten wird. Sie wird also Zimmerarrest bekommen, die kleinen Hausstrafen, Arbeiten, es darf nicht mit den andern spazierengehn – so wird das hier gemacht.« – »Und wenn wir Sie bitten, dem Kind die Strafe zu erlassen... täten Sie das?« – »Nein. Dazu könnte ich mich nicht entschließen. Da könnten Sie bitten... Das wollten Sie mir sagen?« fügte sie höhnisch hinzu. »Nun ... Behandeln Sie denn alle Kinder so? Man muß manchmal streng sein, gewiß, aber die Kinder so zur Verzweiflung treiben...« – »Wer treibt hier die Kinder zur Verzweiflung! Erziehen Sie Ihre Kinder, verstehn Sie! Wenn Sie mit der Dame da welche haben! Dieses hier erziehe ich!« – »Ga hen und fleut die Hühner und verget den Hahn nich!« murmelte die Prinzessin. »Was sagten Sie?« fragte Frau Adriani. – »Nichts.« – »Ich habe meine Grundsätze. Solange ich die Macht über das Kind habe...«

Ich sah ihr fest in die Augen... einen Augenblick lang noch ließ ich sie zappeln in ihrer wahnwitzigen und ungeduldigen Wut. Immer liefen ihre flinken Augen von uns zu dem Kind und wieder zurück, sie wartete auf das Kind. Ich überlegte, wieviel Menschen auf der Welt in der Gewalt solcher da sein mochten, und wie das nun wäre, wenn wir ihr das Kind wirklich überlassen müßten, und was die andern Kinder hier auszustehen hätten... »Also – jetzt werde ich das Nötige in die Wege leiten...« Frau Adriani stand auf. Da packte ich zu.

»Das Kind wird nicht bei Ihnen bleiben«, sagte ich.

»Waaas –?« brüllte sie und stemmte die Arme in die Seite. »Wir nehmen das Kind zu seiner Mutter zurück. Hier ist ein Brief von Frau Collin, hier ist ein Scheck... wir werden gleich bezahlen...« Über das Gesicht der Frau lief wie eine Welle überkochende Milch ein Schreck; man sah, wie es in ihr dachte; man hörte sie denken, sie glaubte nicht. »Das ist nicht wahr!« – »Doch, das ist wahr. Nun kommen Sie nur – setzen Sie sich wieder hin... ich werde Ihnen das alles hübsch der Reihe nach übergeben.« – »Du gehst nach oben!« herrschte sie das Kind an. »Das Kind bleibt hier«, sagte ich. »Das ist der Brief. Die Unterschrift ist beglaubigt.« Frau Adriani riß ihn mir aus der Hand.

Dann warf sie ihn der Prinzessin vor die Füße. »Das ist der Dank!« schrie sie. »Das ist der Dank! Dafür habe ich mich um diesen verwahrlosten Balg gekümmert! Dafür habe ich für sie gesorgt! Aber das... das haben Sie der Frau Collin eingeredet! Sie haben sie aufgehetzt! Sie haben mich verleumdet! Das werde ich... Raus! Sie...!« – »Wir nehmen also das Kind gleich mit. Sie werden augenblicklich die Sachen packen lassen und mir die Rechnung übergeben. Dafür bekommen Sie gegen Quittung diesen Scheck. Er ist auf Stockholm ausgestellt.« Geld! Geld war im Spiel! Die Frau blendete über und wechselte sofort die Tonlage. Sie sprach viel ruhiger, kälter – sehr fest.

»Die Rechnung kann ich Ihnen im Augenblick nicht machen. Das Kind hat mir vieles zerbrochen, da sind Schadenersatzansprüche. Selbstverständlich muß bis zum Quartalsende gezahlt werden – das ist so ausgemacht. Selbstverständlich. Und dann muß ich erst zusammenstellen lassen, was hier alles im Haus durch die Schuld dieses Mädchens entzweigegangen ist. Das dauert mindestens eine Woche.« – »Sie schreiben mir jetzt eine Quittung über den Scheck aus; er deckt die Kosten bis zum Vierteljahrsschluß, dann bleiben noch zweiundfünfzig Kronen übrig... über den Rest werden Sie sich mit Frau Collin einigen. Das Kind kommt mit uns mit.« Das Kind hatte aufgehört zu weinen, es sah fortwährend von einem zum andern und ließ die Prinzessin keinen Augenblick los, keinen Augenblick.

Frau Adriani sah auf den Scheck, den ich in der Hand hielt. »Mit Geld allein ist die Sache nicht abgetan!« sagte sie. »Immerhin... Warten Sie.« Sie ging. Die Prinzessin nickte befriedigt. Die Frau kam wieder.

»Sie hat einen Schrank ruiniert... sie hat ein Fenster kaputtgemacht; das Fenster war von innen abgeriegelt, sie muß da etwas hinausgeworfen haben... das macht... ich habe auch noch eine Wäscherechnung...« – »Nun ist es genug«, sagte ich. »Sie bekommen nun gar nichts, und dann nehmen wir das Kind mit, auch ohne seine Sachen oder aber Sie schreiben mir eine Quittung über den Scheck aus, und dann liefern Sie uns alle Sachen aus, die dem Kind gehören« – Frau Adriani machte eine Bewegung –, »alle Sachen, und dann bekommen Sie ihr Geld. Nun?«

Sie ringelte sich; man fühlte, wie es in ihr gärte und wallte... aber da war der Scheck! Da war der Scheck! Psychologie ist manchmal sehr einfach. Nein, so einfach war sie doch nicht. Wieviel Stimmlagen hatte diese Frau! Nun legte sie die letzte Platte auf.

Sie begann zu weinen. Die Prinzessin starrte sie an, als hätte sie ein exotisches Fabeltier vor sich.

Frau Adriani weinte. Es klang, wie wenn jemand auf einer kleinen Kindertrompete blies, es war mehr eine Art Quäken, was da herauskam, ganz leise, bei völlig trockenen Augen – so machen die kleinen Gummischweinchen, wenn sie die Luft von sich geben und verrunzelnd zusammenfallen. Großaufnahme: »Ich bin eine Frau, die sich ihr Leben erarbeitet hat«, sang die Kindertrompete. »Ich habe viele Reisen gemacht und mir Bildung erworben. Ich habe einen kranken Mann; ich habe niemanden, der mir hilft. Ich stehe diesem Hause seit acht Jahren vor – ich bin den Kindern wie eine Mutter, wie eine Mutter ... das Kind ist mir ans Herz gewachsen ... ich habe für dieses Kind ... Scheißbande!« brüllte sie plötzlich.

Es war wie eine Erlösung. Die Vorstellung des Stücks »Das gerührte Mutterherz« war so dumm gewesen, es waren die gangbaren Mittel einer Provinz-Hysterika ... daß wir wie von einem Alpdruck befreit waren, als sie mit dem Kraftwort abschloß und in die Realität zurückkehrte, in ihre Wirklichkeit. »So«, sagte ich. »Nun gehn wir und packen ein!« Ihr letzter Widerstand flackerte auf. »Ich packe nicht. Gehn Sie selber nach oben und suchen Sie sich ihre Lumpen zusammen. Liegt wahrscheinlich alles durcheinander. Ich suche nicht.« Sie knallte auf einen Stuhl. Und sprang gleich wieder auf. »Natürlich lasse ich Sie nicht allein hinaufgehn! Senta! Anna!« Es erschienen zwei Mädchen. Sie sagte zu ihnen etwas auf schwedisch, das wir nicht verstanden. Wir gingen hinauf.

Aus allen Türen sahen Mädchenköpfe, verängstigte, neugierige, aufgeregte Gesichter. Keines sprach; ein Mädchen knickste verlegen, dann andre. Wir standen oben im Schlafzimmer Adas; die vier kleinen Mädchen, die darin waren, drückten sich scheu in einer Ecke zusammen. Wir öffneten den Schrank, und die Prinzessin fragte nach einem Koffer. Ja, das Kind hatte einen mitgebracht, aber der stände auf dem Boden. »Wollen Sie ihn bitte...« Ein Mädchen ging. Die Prinzessin räumte den Schrank aus. »Das? Das auch?« Mit einem Schwung öffnete sich die Tür, Frau Adriani preschte ins Zimmer. »Ich will genau sehn, was sie mitnimmt! Am Ende eignen Sie sich noch fremde Sachen an!« Eine schlechte Verliererin war sie – wer bleibt anständig, wenn er seine Partie verloren hat? »Sie können alles genau sehn, und im übrigen – Holla!« Sie war auf das Kind zugegangen, das sich duckte. Ich trat mit einem raschen Satz dazwischen. Wir sahen uns einen Augenblick an, die Frau Adriani und ich; in diesem Blick war so viel körperliche Intimität, daß mir graute. Dieser Kampf war der Gegenpol der Liebe – wie jeder Kampf. Und in diesem Blick der Augen öffnete sich mir eine tiefe Schlucht: diese Frau war niemals befriedigt worden, niemals. Durch mein Gehirn flitzte jenes zynische Rezept:

Rp.
Penis normalis
dosim
Repetatur!

Aber das allein konnte es nicht sein. Hier tobte der Urdrang der Menschheit: der nach Macht, Macht, Macht. Und nichts trifft solch ein Wesen mehr als ein unerwarteter Aufstand. Dann stürzt eine Welt ein. Spartakus ... So viele Kinder litten hier. Ich hätte geschlagen. Sie wich zurück.

Das Mädchen kam mit dem Koffer; wir packten, schweigend. Einmal riß die Frau ein Hemdchen an sich und warf es wieder hin. Das Kind hielt die Hand der Prinzessin. Die Mädchen in ihrer Ecke atmeten kaum. Frau Adriani sah zu ihnen hinüber und ruckte mit dem Kopf, da gingen sie schlurfend zur Tür hinaus. Der Koffer wurde geschlossen. Wir trugen ihn hinunter. Ein Mädchen wollte uns helfen – Frau Adriani verbot es mit einer Handbewegung. Der Koffer war nicht schwer. Das Kind ging eilig mit; es weinte nicht mehr. Ich hörte es einmal tief aufatmen.

»Die Quittung?« Frau Adriani ging auf ihren Tisch zu, schrieb etwas auf ein Blatt und reichte es mir, wie mit der Feuerzange. Um ein Haar hätte sie mir leid getan, aber ich wußte, wie gefährlich dieses Mitleid war und wie verschwendet. Es hätte ihr nicht einmal gut getan, denn von diesem Seelenhonorar kauft sie sich neue Kulissen, und alles fängt wieder von vorn an. Ich gab ihr den Scheck. Ich sah auf ihr Gesicht. Der Vorhang war heruntergelassen – jetzt wurde nicht mehr gespielt. Das Stück war aus.

Langsam gingen wir aus dem Hause, in dem das Kind so viel gelitten hatte.

Keiner von uns sah mehr zurück. Die Haustür wurde geschlossen.

2

Der letzte Urlaubstag...

Ich bin schon für die Reise angezogen, zwischen mir und dem Mälarsee ist eine leise Fremdheit, wir sagen wieder Sie zueinander.

Die langen Stunden, in denen nichts geschah; nur der Wind fächelte über meinen Körper – die Sonne beschien mich ... Die langen Stunden, in denen der verschleierte Blick ins Wasser sah, die Blätter zischelten, und der See plitschte ans Ufer; leere Stunden, in denen sich Energie, Verstand, Kraft und Gesundheit aus dem Reservoir des Nichts, aus jenem geheimnisvollen Lager ergänzten, das eines Tages leer sein wird. »Ja«, wird dann der Lagermeister sagen, »nun haben wir gar nichts mehr...« Und dann werde ich mich wohl hinlegen müssen.

Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.

Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen. »Schön habt ihr es hier«, sagte einst Karl der Fünfte zu einem Prior, dessen Kloster er besuchte. »Transeuntibus!« erwiderte der Prior. »Schön? Ja, für die Vorübergehenden.«

Letzter Tag. So erfrischend ist das Bad in allen den Wochen nicht gewesen. So lau hat der Wind nie geweht. So hell hat die Sonne nie geschienen. Nicht wie an diesem letzten Tag. Letzter Tag des Urlaubs – letzter Tag in der Sommerfrische! Letzter Schluck vom roten Wein, letzter Tag der Liebe! Noch einen Tag, noch einen Schluck, noch eine Stunde! Noch eine halbe...! Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören.

»Heute ist heute«, sagte die Prinzessin – denn nun stand alles zur Abfahrt bereit: Koffer, Handtaschen, der Dackel, der kleine Gegenstand und wir. »Du siehst aus!« sagte Lydia, während wir gingen, um uns von der Schloßfrau zu verabschieden, »du hast dir je woll mitn Reibeisen rasiert? Keinen Momang kann man den Jung allein lassen!« Ich rieb verschämt mein Kinn, zog den Spiegel und steckte ihn schnell wieder weg.

Großes Palaver mit der Schloßfrau. »Tack ... danke...« und: »Herzlichen Dank! ... Tack so mycket...« und »Alles Gute!« – es war ein bewegtes und freundliches Hin und Her. Und dann nahmen wir Ada an die Hand, jeder griff nach einer Tasche, da stand der kleine Motorwagen ... Ab.

»Urlaub jok«, sagte ich. Jok ist türkisch und heißt: weg. »Du merkst auch alles«, sagte die Prinzessin und kämmte das Kind. »Lydia, ich hätte nie geglaubt, daß du so eine nette Kindermama abgeben kannst! Sieh mal an – was alles in dir steckt!« – »Ich bin Sie nämlich eine Zwiebel!« sagte die Prinzessin und enthüllte damit, vielleicht ohne es zu wissen, das Wesen aller ihrer Geschlechtsgenossinnen.

Und dann fing das Kind langsam, ganz langsam und stockend, an zu erzählen – wir drängten es nicht, erst wollte es überhaupt nicht sprechen, dann aber sprach es sich frei, man merkte, es wollte erzählen, es wollte alles sagen, und es sagte alles: Den Krach mit Lisa Wedigen und das Blatt vom Kalender; die dauernden Strafen und die Glockenblumen unter dem Kopfkissen und sein Spitzname »Das Kind«; der kleine Will und Mutti und was der Teufelsbraten sich alles ausgedacht hatte, um die Mädchen zu tyrannisieren, und Hanne und Gertie und das Essen im Schrank und alles.

Es ging ein bißchen durcheinander, aber man verstand doch, worauf es ankam. Und ich nannte den kleinen Gegenstand nunmehr Ada Durcheinander, und die Prinzessin bemutterte und bevaterte das Kind zu gleicher Zeit, und ich schlug vor, sie solle dem Kind die Brust geben, und dann brach ein wilder Streit darüber aus, welche: die linke oder die rechte. Und so kamen wir nach Stockholm.

Und fuhren zurück nach Deutschland.

Berlin streckte die Riesenarme und langte über die See... »Wir müssen der Frau Kremser telegraphieren«, sagte die Prinzessin, »sicher ist sicher. Junge, haben wir uns gut erholt! Was möchtest du denn?« Das Kind hatte ein paarmal vor sich hingedruckst, hatte angesetzt und wieder abgesetzt. »Na?« – Nein, aufs Töpfchen mußte sie nicht. Sie wollte etwas fragen. Und tat es.

»Sind Sie Landstreicher?« Wir sahen uns entgeistert an. »Die Frau Adriani hat gesagt...« Es stellte sich heraus, daß die Frau Adriani uns dem Kind als passionierte, ja als professionelle Landstreicher hingestellt hatte – »diese Landstreicher da draußen, die nicht mal verheiratet sind!« –, und das Kind, das jetzt völlig aufgetaut war, wollte nun alles wissen: ob wir Landstreicher wären, und was wir denn da anstrichen ... und ob wir schon mal verheiratet gewesen wären und warum nun nicht mehr, und dann mußte es aufs Töpfchen, und dann brachten wir es zu Bett. Ich ertappte mich dabei, ein wenig eifersüchtig auf das Kind gewesen zu sein. Wer war hier Kind? Ich war hier Kind. Nun aber schlief es, und Lydia gehörte mir wieder allein.

»Bist du verheiratet?« fragte die Prinzessin. »Na, das hat noch gefehlt!« – »Alte«, sagte ich. »Nein, wir Landstreicher, wir sind ja nicht verheiratet. Und wenn wir es wären ... Fünf Wochen, das ginge gut, wie? Ohne ein Wölkchen. Kein Krach, keine Proppleme, keine Geschichten. Fünf Wochen sind nicht fünf Jahre. Wo sind unsre Kümmernisse?« – »Wir haben sie in der Gepäckaufbewahrungsstelle abgegeben ... das kann man machen«, sagte die Prinzessin. »Für fünf Wochen«, sagte ich. »Für fünf Wochen geht manches gut, da geht alles gut.« Ja... vertraut, aber nicht gelangweilt; neu und doch nicht zu neu frisch und doch nicht ungewohnt: Scheinbar unverändert lief das Leben dahin ... Die Hitze der ersten Tage war vorbei, und die Lauheit der langen Jahre war noch nicht da. Haben wir Angst vor dem Gefühl? Manchmal, vor seiner Form. Kurzes Glück kann jeder. Und kurzes Glück: es ist wohl kein andres denkbar hienieden.

Wir rollten in Trelleborg ein. Es war spät abends; die weißen Bogenlampen schaukelten im Winde, und wir sahen zu, wie der Wagen auf die Fähre geschoben wurde. Das Kind schlief schon.

Ein großer Passagierdampfer rauschte durch das Wasser in den Hafen. Alle Lichter funkelten: vorn die Schiffslaternen, oben an den Masten kleine Pünktchen, alle Kammern, alle Kajüten waren hellerleuchtet. Er fuhr dahin. Musik wehte herüber.

Whatever you do –
my heart will still belong to you –

Eine Welle Sehnsucht schlug in unsre Herzen. Fremdes erleuchtetes Glück – da fuhr es hin. Und wir wußten: säßen wir auf jenem Dampfer und sähen den erleuchteten Zug auf der Fähre, wir dächten wiederum – da fährt es hin, das Glück. Bunt und glitzernd fuhr das große Schiff an uns vorüber, mit den Lichtpünktchen an seinen Masten. Die schwitzenden Stewards sahen wir nicht, nicht die Reeder in ihren Büros, nicht den zänkischen Kapitän und den magenkranken Zahlmeister ... natürlich wußten wir, daß es so etwas gibt – aber wir wollten es jetzt, in diesem einen Augenblick, nicht wissen.

Whatever you do –
my heart will still belong to you –

Unsre Herzen fuhren ein Stückchen mit.

Dann stand unser Wagen auf der Fähre. Das Schiff erzitterte leise. Die Lichter an der Küste wurden immer kleiner und kleiner, dann versanken sie in der blauen Nachtluft.

Wir standen an Deck. Die Prinzessin sog den salzigen Atem des Meeres ein. »Daddy – ich bedanke mich auch schön für diesen Sommer!« – »Nein, Alte – ich bedanke mich bei dir!« Sie sah über die dunkle See. »Das Meer...«, sagte sie leise, »das Meer...« Hinter uns lag Schweden, Schweden und ein Sommer.

Später saßen wir im Speisesaal in einer Ecke und aßen und tranken. »Auf den Urlaub, Alte!« – »Auf was noch?«

»Auf Karlchen!« – »Hoch!«

»Auf Billie!« – »Hoch!«

»Auf die Adriani!« – »Nieder!«

»Auf deinen Generalkonsul!« – »Mittelhoch!«

»Das sind alles keine Trinksprüche, Daddy. Weißt du keinen andern? Du weißt einen andern. Na?«

Ich wußte, was sie meinte.

»Martje Flor«, sagte ich. »Martje Flor!«

Das war jene friesische Bauerntochter gewesen, die im Dreißigjährigen Kriege von den Landsknechten an den Tisch gezerrt wurde; sie hatten alles ausgeräubert, den Weinkeller und die Räucherkammer, die Obstbretter und den Wäscheschrank, und der Bauer stand daneben und rang die Hände. Roh hatten sie das Mädchen herbeigeholt – he! da stand sie, trotzig und gar nicht verängstigt. Sie sollte einen Trinkspruch ausbringen! Und warfen dem Bauern eine Flasche an den Kopf und drückten ihr ein volles Glas in die Hand.

Da hob Martje Flor Stimme und Glas, und es wurde ganz still in dem kleinen Zimmer, als sie ihre Worte sagte, und alle Niederdeutschen kennen sie.

»Up dat et uns wohl goh up unsre ohlen Dage –!« sagte sie.


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