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Es war für Pucki ein schöner Augenblick, als Mister Wilmington bei seinem Abschied die beiden Mädchen, Mabel und Regine, an sich zog und sie fragte, ob sie vielleicht mit ihm nach Amerika kommen oder lieber bei Tante Pucki bleiben wollten. Der Amerikaner hatte die Frage im Beisein von Frau Doktor Gregor gestellt. Pucki aber sah die Kinder nicht an, sie machte sich an einer Vase zu schaffen, die mit Blumen gefüllt war. Diese Vase wäre beinahe zu Boden gefallen, denn die Mädchen stürmten von Mister Wilmington fort, hin zu Pucki, klammerten sich an sie und riefen leidenschaftlich:
»Wir bleiben bei Tante Pucki, wir bleiben immer bei Tante Pucki. Wir haben sie furchtbar lieb!«
Tränen waren Frau Doktor Gregor in die Augen getreten, aber auch Mister Wilmington verbarg nur mühsam seine Rührung. Keine seiner Befürchtungen hatte sich bewahrheitet. Die Enkelkinder seines Freundes hatten hier im Hause Doktor Gregors ihre zweite Heimat gefunden und würden einstmals auf glückliche, sonnige Kindheitstage zurückblicken können.
Die beiden Freiplätze für die Klinik waren notariell festgelegt worden. Für Claus war es eine große Freude, denn es gab doch mitunter Menschen, die nicht in der Lage waren, die Kosten eines Klinikaufenthaltes aufzubringen. Selbst wenn Doktor Gregor diesen Patienten nach Möglichkeit entgegenkam, so konnte er doch nicht alle Wünsche erfüllen, denn auch er hatte für seine Familie zu sorgen.
»Vergrößern, Herr Doktor – anbauen«, sagte der Amerikaner. Aber Claus schüttelte den Kopf.
»Kommt Zeit, kommt Rat«, erwiderte er. »Vorläufig soll mein Wohnhaus an die Reihe kommen. Meine Familie hat sich vergrößert und – –«
»Familie?« fragte Wilmington zurück.
»Ja«, klang es warm zurück, »zu meinen drei Jungen habe ich zwei Mädchen bekommen. Ich denke, daß es mir gelingen wird, alles unter einen Hut zu bringen und allen Fünfen der gleichbleibende Vater zu sein.«
»Sie haben einst von meinem Freunde Backer ein Darlehen angenommen. Darf ich Ihnen die gleiche Summe heute anbieten?«
Auch jetzt lehnte Doktor Gregor wieder ab.
»Wenn Sie es nicht für sich nehmen wollen, so nehmen Sie es für Ihre Familie. Darf ich denn gar nichts für die Enkelkinder meines Freundes tun?«
»Wir schaffen es allein, Mister Wilmington. Seien Sie versichert, daß für Mabel und Regine in Zukunft gut gesorgt werden wird. Daß beide nicht mehr in dem Luxus leben werden wie früher, ist bestimmt für die Kinder kein Verlust. Im Gegenteil, sie sollen, trotz ihres späteren Reichtums, zu tüchtigen und sparsamen Menschen erzogen werden, die für ihre Mitmenschen immer etwas übrig haben und nicht nur an das eigene Wohlergehen denken.«
Noch einmal wandte sich Mister Wilmington an Pucki und erbot sich, auf seine Kosten das Wohnhaus ausbauen zu lassen, als Geschenk für die beiden verwaisten Mädchen.
Aber auch Pucki lehnte ohne Schwanken ab. »Es macht uns stolz und glücklich, aus eigener Kraft langsam weiterzukommen. Unser Haus wird bald in Angriff genommen werden, und wenn Sie einmal wiederkommen, Mister Wilmington, werden Sie in ein hübsches Fremdenzimmer geführt werden, das neben den Räumen meiner beiden Mädchen liegt.«
So war Mister Wilmington aus Rahnsburg geschieden, doch noch lange sprach man von dem Fremden, der durch sein anfänglich geheimnisvolles Verhalten die Familie beunruhigt hatte.
Wochen gingen ins Land. Das Weihnachtsfest rückte immer näher heran, und zum ersten Male lernten Mabel und Regine die süßen Heimlichkeiten kennen, die diesem Fest vorausgehen. In ihrem Elternhause war die Vorweihnachtszeit ganz anders gewesen. Mary hatte den Kindern Geld gegeben und ihnen gesagt, sie dürften sich nun alles das kaufen, was ihnen Freude mache. Dann war durch die Hausangestellten ein riesiger Weihnachtsbaum geschmückt worden, wobei die Kinder tatenlos zusahen. Hier, in Tante Puckis Hause, war alles ganz anders. Karl, Peter und Rudolf sorgten dafür, daß auch Mabel und Regine von der Geheimniskrämerei angesteckt wurden. Jeder machte eine Handarbeit, und immer wurde hinter verschlossenen Türen gearbeitet. Wenn dann Pucki einmal kam und ins Zimmer wollte, dann gab es ein Lachen und Gekicher oder den entsetzten Ruf: »Halt – hier wohnt der Weihnachtsmann!«
Ein herzliches Verhältnis hatte sich zwischen den drei Gregorschen Söhnen und den beiden Mädchen entwickelt. Peter war eigentlich der einzige, der hin und wieder grob wurde. Aber das beeinträchtigte die Freundschaft nicht. Mabel lachte ihn wegen seiner Heftigkeit aus, und Regine ahmte seine Zornesausbrüche so getreulich nach, daß Peter oftmals selbst darüber in lautes Lachen ausbrach und heimlich beschloß, in Zukunft etwas freundlicher zu sein. Leider besaß er nun einmal das hitzige Temperament, vielleicht ein Erbteil seiner Mutter, die ja in ihrer Jugend auch recht oft über das Ziel hinausgeschossen war.
So verging die Zeit bis zum Weihnachtsfest recht schnell. Pucki hatte wieder alle Hände voll zu tun, denn es galt doch in diesem Jahr, noch mehr zu beschenken und für jeden das herauszufinden, was ihn erfreute. Vor allem durfte in keinem Zimmer der Klinik am Weihnachtsabend Traurigkeit herrschen. Besonders der Bettlägrigen mußte man gedenken, die an diesem Tage besonders gedrückt waren. Es standen Pucki ja so viele Helfer zur Seite, denn auch Mabel und Regine freuten sich auf den gemeinsamen Rundgang durch des Onkels Klinik, bei dem jeder Kranke mit einem Geschenk bedacht werden sollte.
Eine große Freude bereitete Frau Doktor Gregor das Verhalten der beiden Mädchen. Wie war es möglich, daß sich die Ansichten der beiden Kinder innerhalb weniger Monate so wandeln konnten? Damals, als Mabel und Regine zu Besuch nach Rahnsburg kamen, sprachen sie nur von dem vielen Geld, das sie besäßen, und daß man sich mit Geld alles kaufen könne, was man zum eigenen Wohlbehagen brauche. Da wurde mit keinem Wort davon gesprochen, daß man auch andere beglücken könne. Und jetzt baten die beiden Mädchen beständig darum, von ihrem Gelde den Kranken Weihnachtsfreuden zu bereiten.
»Uns bringt der Weihnachtsmann doch auch manches. Warum sollen wir da nicht den Weihnachtsmann spielen und den armen Kranken, die so viel leiden müssen, etwas kaufen?«
Pucki sprach darüber mit ihrem Gatten. »Claus, wie ist es möglich, daß die Kinder sich so bald derart wandeln konnten?«
»Du hast sie doch seit einem halben Jahr in Händen, Pucki. Mich nimmt das gar nicht wunder, wenn sie heute schon eine andere Lebensauffassung haben als früher.«
»Nein, Claus, das ist es nicht allein.«
»Ganz gewiß, Pucki! Sie brauchen nur auf dich zu sehen, um aus allen deinen Handlungen und Worten zu erkennen, daß Geben seliger ist als Nehmen! Kinder achten gar sehr auf die Erwachsenen, und Mabel und Regine sind für ihr Alter schon sehr reif. Sie haben in unserem Hause glückliche und zufriedene Menschen kennengelernt; jeder schafft rastlos und mühevoll, und jeder ist dabei zufrieden. Das hat Eindruck auf sie gemacht! Sieh dir doch ihre Wunschzettel an. Ist es nicht beglückend, daß die beiden Mädchen mit solchen bescheidenen Dingen zufrieden sind? Ich glaube, vor einem Jahre hätten sie andere Wünsche geäußert.«
»Sie möchten gerne schenken und deine Kranken beglücken. Du bist ihr Vormund, Claus, und ich glaube, es ist gut und richtig, wenn wir den Kindern einige Mittel zur Verfügung stellen. Ich werde mit ihnen einkaufen gehen.«
»Ja, Pucki, ich darf als Vormund der Kinder mit gutem Gewissen deinem Verlangen zustimmen. Unsere Mädelchen werden dadurch große Weihnachtsfreude haben, und dieses Schenken wird für ihr späteres Leben von Bedeutung sein.«
Doktor Gregor hatte sich nicht geirrt. Schon das Einkaufen der kleinen Geschenke für die Kranken der Klinik bereitete den Kindern große Freude. Es wurde nicht blind darauflosgekauft. Pucki riet, die Kinder sollten sich in die einzelnen Zimmer begeben, um die Kranken kennenzulernen und dann behutsam zu erforschen suchen, womit man jeden erfreuen könne.
»Bei jedem Kranken ist es anders«, sagte Pucki erklärend. »Einer braucht etwas für sein tägliches Leben, ein anderer hat Freude an Leckereien, ein dritter bekommt schon Süßigkeiten in Hülle und Fülle von daheim; da heißt es nachdenken, meine lieben Kinder. Auch das gehört zu den schwierigen Weihnachtsvorbereitungen.«
Auf diese Weise führte Pucki die beiden verwöhnten Kinder unauffällig dem Verständnis für die Wünsche der Kranken näher. Selbstverständlich sorgte sie peinlich genau dafür, daß nur jene Kranken besucht wurden, die ein Kinderbesuch nicht aufregte und deren Gesundheitszustand eine längere Unterhaltung zuließ.
So weilten die beiden Mädchen oftmals bei den Patienten, fragten und forschten, mitunter in recht ungeschickter Weise, aber niemand verübelte ihnen das. Man sah es den leuchtenden Kinderaugen an, daß hier nur der Wille galt, Freude zu spenden.
So kam das Weihnachtsfest heran. Pucki hatte befürchtet, daß die Erinnerung an die toten Eltern die Freude der Kinder stark beeinträchtigen würde, und wirklich gedachten beide Mädchen gerade in diesen Wochen mehr als sonst betrübt der vergangenen Zeiten. Aber das Glück, das herrliche Weihnachtsfest hier in Puckis Hause erleben zu können, überwog alles. So verlief der Abend in schönster Harmonie. Pucki hatte auf ihrem Gabentisch unter anderem ein Buch gefunden, den zweiten Band ihres Lebens, das den Titel trug: »Ein reiches Leben!«
Wieder hatte Doktor Gregor kleine Erlebnisse aus dem Leben seiner Frau zusammengetragen, aber diesmal waren keine tollen Streiche darin zu finden. Immer wieder wurde Puckis goldenes Herz gezeichnet, ihre offene Hand, ihr Verständnis für die Not der Mitmenschen und die große Gabe, in taktvoller Weise Tränen zu trocknen.
Karl wies auf das Motto des Buches und las halblaut die Zeilen:
»Doch arm und kalt wär' dein Leben,
wenn keiner dein Helfen empfand.«
»Ich wußte keinen besseren Vers für dich, Pucki«, sagte der Gatte.
»Ach, Tante Pucki«, rief Mabel begeistert, »immer machst du Freude! Wenn du kommst, lacht jedes Gesicht. Onkel Claus, war das schön, als wir vorhin zu deinen Kranken gingen und jedem etwas schenken konnten. Ich möchte immerfort schenken! Ich möchte wie Tante Pucki sein, damit sich jeder freut, wenn ich komme. – Oh, ich habe wohl gesehen, wie glücklich die Menschen waren, als wir eintraten.«
»›Ihr Weihnachtsengelchen‹, hat einer gesagt«, rief Regine. »Er hatte einen Verband um den Kopf und lag ganz still im Bett und sah uns mit seinen Augen ganz groß an. – Im nächsten Jahre sind wir wieder Weihnachtsengel!«
»Seid ihr denn mit euren Geschenken zufrieden?« fragte Pucki.
»Oh, es ist alles so schön«, rief Regine. »Jetzt säge ich mit meiner Laubsäge einen schönen Stall mit Fenstern. – Und so schöne Tapete habt ihr mir geschenkt für eine neue Puppenstube.«
»Wir bauen einen feinen Stall mit einer Futterkrippe. Die Tiere kommen an Ketten, wie es bei Niepels auf dem Gute ist.«
Niepels! – Ein glückliches Lächeln verschönte Puckis Gesicht. Auch bei Niepels war es anders geworden seit jenen schlimmen Tagen, in denen Hellas Leben nur noch an einem Faden hing. Kurz vor Weihnachten war Walter ins Doktorhaus gekommen, um Pucki nochmals innigsten Dank zu sagen für alles, was sie an Agnes getan hatte.
»Ich habe jetzt ein glückliches Heim, liebe Pucki. Das verdanke ich dir!«
Claus ahnte, womit sich die Gedanken seiner Frau beschäftigten. Zärtlich zog er sie an sich. »Auch dort hast du Glück gespendet, Pucki! Du bist eine seltene Frau!«
In den Weihnachtsfeiertagen wurde im Doktorhause mächtig gebastelt. Auch Karl und Peter hatten Interesse an dem großen Stall, der von Rudolf ausgesägt wurde. Da gab es Boxen für die jungen Kälber und Fohlen, während ein besonderer Anbau für die Schafe bestimmt war. Es gab einen Futtermeister und sogar Heugabeln aus Holz. Karl versorgte schließlich den Stall mit elektrischem Licht. Er legte mit einer Batterie eine kleine Lichtanlage an. Nun waren die Kinder restlos begeistert und dauernd wurde an den kleinen Lämpchen geknipst. Die Basen und Vettern kamen zu Besuch und bewunderten das Entstandene. Oskar, Waltrauts Ältester, wollte durchaus im nächsten Jahr auch solch einen Stall haben. Schließlich gab es ein Einweihungsfest, zu dem noch Mabels und Regines Freundinnen geladen wurden. So konnte Pucki mit innerer Freude feststellen, daß ihre beiden Schützlinge nur noch selten an ihr einstiges Heim zurückdachten. Freilich sorgte sie auch dafür, daß die toten Eltern nicht vergessen wurden. Aber die Trauer um die Verlorenen hatte sich in stille Wehmut gewandelt, die von Puckis Liebe übersonnt wurde.
Der letzte Tag des Jahres!
Pfannkuchen waren gebacken worden. Bei einem Glase Punsch wollte man das neue Jahr erwarten. Pucki hatte heute ausnahmsweise erlaubt, daß auch Mabel und Regine dabei sein dürften, unter der Voraussetzung, daß beide Mädchen sogleich nach dem Mittagessen mehrere Stunden zu Bett gingen. Willig fügten sich die Kinder. Mabel behauptete zwar, sie hätte daheim alle Jahre um Mitternacht ein großes Feuerwerk abgebrannt und wäre dann noch lange mit vielen Gästen zusammengewesen; so könne sie gut eine ganze Nacht durchwachen. Sie verstummte aber sehr rasch, als sie in Tante Puckis liebe Augen sah und meinte kleinlaut:
»Liebe Tante, ich tue schon alles, was du willst. Ich bin ja nicht mehr bei Mary, sondern bei Mütterchen Pucki.«
Pucki zog die kleine Mabel an ihr Herz. Zum ersten Male war von den Lippen des Kindes dieses Wort gefallen.
»Die Jungen nennen dich alle Mutti, sie sprechen immer nur von ihrem lieben Mütterchen. Da habe ich manchmal auch Sehnsucht, Mutti zu sagen.«
»So sage es doch, mein kleiner Liebling!«
»Pucki-Mütterchen – Pucki-Mutti! Mutti-Pucki! Das klingt aber schön.«
Auch Regine kam herbei. »Mutti, Mutti – Mutti«, rief sie jubelnd und umarmte die Tante stürmisch.
»Ja, das klingt wirklich schön. Damit habt ihr mir noch nachträglich eine sehr große Weihnachtsfreude gemacht.«
»Wir wollen dir immer nur Freude machen. Im neuen Jahr noch viel mehr als bisher!«
Der Abend kam. Das Nachtmahl war eingenommen; im Wohnzimmer saßen alle bei der dampfenden Bowle und sprachen den Pfannkuchen tüchtig zu. Auch Walter und Agnes hatten sich eingefunden; sie wußten ihre Kinder in der treuen Hut der Großeltern, die seit dem Weihnachtsfest als Gäste auf dem Gute weilten. Es waren ja Frieden und Freude im Niepelschen Hause eingekehrt, da kam man gern zu Besuch.
Wie viele Gedanken gingen durch Puckis Kopf! Was hatte ihr das letzte Jahr gebracht? Claus trat zu ihr und legte seinen Arm um die Schulter der treuen Lebensgefährtin.
»In einer knappen halben Stunde kommt das neue Jahr«, sagte er leise, »was wird es uns bringen? Vielleicht neues Leid? Das eine aber weiß ich, meine liebe Frau, daß uns beide auch eine schwere Prüfung nicht niederwerfen kann. Ich habe dich, du hast mich! Von unseren drei Söhnen wird uns wahrscheinlich kein Kummer kommen, und auch der Familienzuwachs hat uns bereits viel Freude gebracht. – Du bist meine starke, meine tapfere Frau, die mit mir alles freudig trägt, die mit mir alle Sorgen teilt, die mich sehr glücklich gemacht hat.«
»Ach, Claus, warum redest du davon? Was ich tue, tue ich aus Liebe zu dir und den Kindern. Ich finde, ich erfülle nur meine Pflichten und weiter nichts!«
»Wenn jeder es mit seinen Pflichten so ernst nehmen würde wie du, liebe Pucki, wäre es sehr gut um die Menschheit bestellt. Dein warmes Herz, deine offene Hand werden dir immer Liebe und Dank einbringen.«
»Claus, helfen dürfen, überall Beistand leisten, das ist doch das, was den Menschen wahrhaft glücklich macht! Wenn ich das kann, so verdanke ich es eigentlich dir.«
»Helfen, immer für andere dasein, das ist Pucki! So warst du immer. Denken wir einmal an deine Kindheit, an deine Jugend. Schon das Kind lud zahlreiche Schulkameradinnen ein, und die arme Mutter mußte Waffeln in Mengen backen, weil du nicht wolltest, daß eine leer ausginge. Immer hast du gern gegeben. Nicht nur deine Freundinnen haben dir viel zu danken, auch Erwachsene, die älter waren als du, hängen noch heute mit zärtlicher Liebe an dir. Das haben dir die vielen Briefe bewiesen, die zum Weihnachtsfest und heute bei uns eingingen. Wer denkt nicht alles an dich? Da ist der gute Hans Rogaten, da ist Prell mit seinen Jungen, dein Maler Lars Alsen, deine Freundin Carmen sehnt sich nach dir, und so geht es fort. Mit jedem dieser Briefschreiber verbindet dich eine liebe oder wohl auch manche unangenehme Erinnerung. Dennoch schreiben alle, weil sie dich trotz deiner mancherlei Streiche herzlich lieben lernten. Und meine Pucki, der einstige Puck, der auf den Bäumen saß und die Vorübergehenden mit Kienäpfeln bewarf, um sie zu ärgern, ist längst meine Frau, die überall beliebte und geschätzte Frau des Arztes Doktor Gregor.«
»Vati, darf ich der Mutti am Ende des Jahres auch etwas sagen?« fragte Karl.
»Freilich, mein Junge.«
Claus trat zur Seite und ließ seinen Ältesten mit der Mutter allein im Erker stehen.
»Für mich ist das neue Jahr von ganz besonderer Bedeutung, Mutti. Ich werde mein Examen machen und dann das Elternhaus verlassen. Ich werde aber zu keiner Stunde vergessen, was es mir war und was ihr mir seid. Mag mich das neue Jahr hart anfassen, ich halte stand! Ich hoffe, daß ich dir und dem Vater einmal alles das vergelten kann, was ihr an uns Kindern getan habt. Und ich erinnere mich heute an den schönen Traum, den du einst hattest. Ihr fandet im Walde den Weg nicht, ich aber ging mit der Axt voran und fällte die Bäume. – Ach, daß ich euch euer Leben später verschönen dürfte!«
»So sollst du es auch halten, mein Junge! Du sagst, das kommende Jahr werde dich vielleicht hart anfassen. Nein, Karl, es wird dir nur viel Neues bringen, es führt dich in einen anderen Kreis von Kameraden. Du sollst mit ihnen fröhlich und glücklich sein. Und wenn du meinst, daß Helfen glücklich macht, so tue es auch. Es ist ja so leicht!«
»Ja, Mutti, so steht es in dem Gedicht, daß dir der Vater über den zweiten Teil deines Lebensbuches schrieb: ›Es kostet uns wenig zu geben, Wort, Lächeln und helfende Hand.‹ So will ich es immer bei den Kameraden halten!«
»Der Vati schrieb mir einen wunderschönen Spruch über mein Lebensbuch. Ebenso möchte ich dir für deinen neuen Lebensabschnitt einige Zeilen mitgeben, mein lieber Karl. Gleich werden die Glocken das neue Jahr einläuten. Möge es uns allen zum Segen werden! Du aber gedenke, wenn du inmitten deiner neuen Kameraden stehst, an die Worte, die Herybert Menzel, ein Dichter der jungen Generation, auch für dich geschrieben hat:
»Wenn einer von uns müde wird,
Der andre für ihn wacht.
Wenn einer von uns zweifeln will,
Der andre gläubig lacht.
Wenn einer von uns fallen sollt',
Der andre steht für zwei.
Denn jedem Kämpfer gibt ein Gott
Den Kameraden bei.«
Die Glocken begannen zu läuten. Ein neues Jahr zog herauf. Claus und Pucki wurden von ihren Kindern umringt, herzliche Glückwünsche gewechselt. Es wurde aber auch manch ein stummes Gelöbnis getan. Walter und Agnes blickten sich wortlos in die Augen.
Pucki ergriff die Hände ihrer Kinder. Eins nach dem andern zog sie zärtlich an sich, schaute sie alle an, und das Herz war ihr übervoll von Glück. Von einer Ernte hatte ihr Ältester gesprochen, einer Ernte, die sie im Sommer ihres Lebens schon halten dürfe. Ja, sie hatte gesät, und die Saat war herrlich aufgegangen.
»Bist du zufrieden, Pucki?« fragte Claus.
»Glücklich bin ich, Claus, glücklich über alle Maßen!«