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Nie wieder ins »Maiglöckchen«

An einem Mittwochnachmittag, als Pucki die Schularbeiten beendet hatte und mit Carmen einen Bummel durch Rotenburg plante, erschien Claus Gregor. Pucki wäre dem ältesten Sohn des Oberförsters am liebsten um den Hals gefallen. Sie begnügte sich jedoch damit, ihn mit einem so gewaltigen Freudengeschrei zu begrüßen, daß Tante Grete und die Köchin herbeieilten, weil sie glaubten, es sei ein Unglück geschehen.

»Er ist wieder da, Tante Grete!«

Seit ihrer Kinderzeit hing Hedi Sandler mit zärtlicher Zuneigung an Claus Gregor. In all seinen Ferien hatte er niemals versäumt, nach dem Forsthaus Birkenhain zu kommen, um dort seine kleine Freundin zu begrüßen. Später, als Student, verbrachte er manche Stunde mit der kleinen Gymnasiastin, und als er sein Examen als Mediziner gemacht hatte und ihn der Beruf weit fortführte, wurden regelmäßig Briefe gewechselt.

Pucki stellte in einem Atem wohl ein Dutzend Fragen an Claus.

»Du bist doch in Hamburg als Arzt? Ist das ein großes Krankenhaus? Bist du dort wieder weg oder hast du Ferien? Bleibst du längere Zeit hier?«

Endlich vermochte Claus zu antworten. Er berichtete, daß er noch immer an einem Hamburger Krankenhaus als Assistenzarzt tätig sei, doch habe er zur Zeit Ferien. Er wolle sie daheim verbringen, um die Mutter, die in letzter Zeit kränklich sei, ein wenig zu beobachten. Den heutigen Nachmittag wolle er jedoch Tante Grete und seiner kleinen Freundin Pucki widmen.

»Das ist fein!« jubelte Pucki. »Ich wollte gerade mit Carmen ein wenig bummeln. Nun tue ich es mit dir. – Ach, Claus, wenn wir doch recht viele Mitschüler treffen würden. Na, die werden Augen machen, daß ich mit einem richtigen Doktor spazierengehe. Warte ein kleines bißchen, ich ziehe mich nur anders an, denn wenn ich mit einem richtigen Doktor ausgehe, der in einem großen Krankenhaus angestellt ist, muß ich doch fein aussehen.«

»Du brauchst dich nicht umzuziehen, Pucki, du gefällst mir auch so, wie du bist. – Nun sage, was wollen wir unternehmen?«

»Hast du ein bißchen Geld übrig?« fragte sie leise.

»Ja, ein bißchen.«

»Vor einigen Monaten hat sich in Rotenburg eine neue Konditorei aufgemacht. So was hast du gewiß noch nicht gesehen. In der Decke sind elektrische Lampen, und die Tische sind hinter richtigen Efeuwänden aufgestellt. Dort kann man sitzen, ohne lästige Zuschauer zu haben. – Es ist wirklich fabelhaft in der ›Maiglöckchen-Konditorei‹.«

»So, so – dann können wir ja einmal in die ›Maiglöckchen-Konditorei‹ gehen.«

»Auf dem Fußboden liegt ein Linoleumteppich, der ist immer so glatt, daß wir darauf schlittern. Auch das macht furchtbaren Spaß.«

»Was – ihr schlittert in der Konditorei? Gehört sich das für junge Damen?«

»Oh –«, sagte Pucki geschmeichelt, »Claus, das hast du wunderschön gesagt – junge Damen! – – Wie würden sich meine Freundinnen ärgern, wenn sie wüßten, was du soeben gesagt hast. Komm, Claus, wir gehen nun erst ein wenig durch Rotenburg, und wenn ich hungrig geworden bin, verschwinden wir ins ›Maiglöckchen‹.«

Die beiden gingen los. Puckis Blauaugen gingen von rechts nach links. Jedesmal, wenn sie einen Bekannten traf, kniff sie Claus vor Freude in den Arm und gab die notwendigen Erklärungen.

»Jetzt müßte Apoll kommen!«

»Wer ist denn das?«

»Ein Studienrat. – Nein, Claus, den Mann müßtest du sehen! Schön und edel ist sein Gang, er läuft nicht, o nein, er schreitet majestätisch. Kein Grieche kann so schreiten.«

»Also die Schwärmerei der ganzen Klasse?«

»Des ganzen Gymnasiums, Claus. Sieh mal – so hebt er den Arm – sieh mal – so! Dann wirft er den Kopf mit den Locken in den Nacken, genau so, wie ich es jetzt tue. – O weh, mein Hut!«

Doktor Claus Gregor hob den heruntergefallenen Hut wieder auf und reichte ihn Pucki. Er lachte über das ganze Gesicht. Pucki fuhr begeistert im Erzählen fort:

»Einmal stand er vor uns und sprach von Goethe. ›Ein Titan‹, so sagte er, ›ist Altmeister Goethe. Er steht hoch über allem‹ – –« Pucki streckte beide Arme zum Himmel. – –

»Aber Pucki, wir sind doch hier auf der Straße. Sieh mal hinüber, wie jener Herr lächelt.«

Das junge Mädchen ließ langsam die Arme wieder sinken, wandte den Blick nach der anderen Straßenseite und stieß einen leisen Schrei aus. »Das ist Apoll.«

»Pucki, benimm dich«, flüsterte der junge Arzt seiner erregten kleinen Freundin zu.

Das junge Mädchen griff nach dem Arm ihres Begleiters und zog ihn schnell weiter. »Himmel – was wird er denken!«

»Aber Pucki, du machst die Sache immer schlimmer. – Was hast du nur? War das euer Apoll, der herrliche Grieche?«

»Ja, Claus, er war es!«

»So, so! – Na, wir haben als Schüler auch für manchen Lehrer geschwärmt. Aber ein wenig theatralisch scheint mir euer herrlicher Grieche doch zu sein.«

»Du – –« rief Pucki mit blitzenden Augen, »kein Wort über ihn! Über Apoll darfst du kein schlimmes Wort sagen. – Ach, Claus, wenn du ihn kennen würdest, wenn du jemals seine melodische Stimme hören würdest! Es ist, als ob der Zephyr uns umsäuselt.«

»Das muß allerdings ein recht komischer Herr sein. Aber sage mal, Pucki, wie lange wollen wir noch durch die Straßen gehen. Ich denke, in der ›Maiglöckchen-Konditorei‹ gibt es gute Torten mit Schlagsahne.«

»Mokkatorte! – Komm, Claus, wir wollen gehen.«

Auf dem kürzesten Weg führte nun das junge Mädchen ihren Freund nach der Konditorei. Vor der Tür blieben sie stehen.

»Ist sie nicht herrlich?« fragte Pucki.

»Vorläufig sehe ich noch gar nichts.« Claus konnte wirklich nichts Herrliches an der kleinen Konditorei entdecken. Nun, vielleicht war sie innen recht stimmungsvoll eingerichtet. Er öffnete die Glastür.

Pucki reckte sich. Wahrscheinlich würden auch heute Bekannte hier sitzen. Man würde sie in Begleitung eines hübschen jungen Mannes sehen. – Was würden die Rotenburger wohl dazu sagen? Sie zog rasch das Kleid ein wenig herunter, dann betrat sie als erste, gefolgt von Claus, die Konditorei. Ihr Blick fiel auf einen Tisch, der dicht am Eingang stand. Dort saßen zwei Oberprimaner. Puckis Herz klopfte vor Freude schneller. – Sie machte eine Drehung mit dem Kopf und sagte nach rückwärts:

»Nun, Herr Doktor, habe ich zuviel gesagt? Ist es hier nicht – –« Weiter kam sie nicht. In ihrem Eifer übersah sie die letzte Stufe, glitt auf dem frisch gebohnerten Linoleum aus und fiel gerade neben dem Tisch hin, an dem die beiden Primaner saßen.

Die sprangen sofort auf; aber Pucki hatte sich schon wieder aufgerichtet. »Komm schnell«, flüsterte sie Claus zu, »wir setzen uns ganz nach hinten hin.«

»Hast du dir weh getan, Pucki?«

»Ach, komm doch!«

Noch einmal rutschte sie in ihrer grenzenlosen Aufregung aus, doch Claus hielt sie, so daß ein zweiter Fall verhindert wurde.

»So'n ekelhafter Teppich!« grollte sie.

»Er hat dir doch vorhin so sehr imponiert!«

Pucki sagte nichts mehr. Sie wählte einen Platz hinter zwei Efeuwänden.

»Nun geh und bestelle mal was, Claus. – Mokkatorte mit Sahne für mich, bitte.«

»Hat das ›Maiglöckchen‹ keine Bedienung?«

»Bitte, geh doch!«

»Aber Pucki, laß doch die Bedienung kommen.«

»Na, dann guck mal tüchtig zum Fenster hinaus, oder geh doch zum Büfett und frage, ob es – ob es – –.«

»Warum schickst du mich denn fort, Pucki?«

»Weil – – weil – –« klang es weinerlich, »ich glaube, mein Knie blutet. Der Strumpf klebt. – Nun geh schon!«

»Dann werde ich als Arzt die Sache gleich mal ansehen.«

»Nein, Claus; ich will es nur erst mal selber ansehen.«

Claus erhob sich und ging davon. Kaum war er hinter der Efeuwand verschwunden, als Pucki den Strumpf herunterzog und das zerschlagene Knie betrachtete. Sie nahm das Taschentuch und tupfte das Blut ab.

»Was darf ich bringen?« klang es plötzlich neben ihr. Ein junges Mädchen schaute verwundert auf das entblößte, hochgezogene Knie. – Sofort fuhr das Knie unter den Tisch.

»Warten Sie doch, bis der Herr wiederkommt, der Herr Doktor aus Hamburg.«

Das Mädchen verschwand. Pucki würgte rasch das Taschentuch um das Knie und wartete auf Claus.

»Ist es schlimm?« fragte er nach seiner Rückkehr.

»O nein, es ist nichts.«

Wieder kam die Bedienung. Claus bestellte Mokkatorte, einen Windbeutel und eine Schillerlocke. »Genügt das, Pucki?«

»Du –« flüsterte sie, »die Preise hier sind hoch. Bei Kulke ist alles um fünf Pfennige billiger. – Hast du so viel Geld bei dir?«

»Ja, es wird gerade reichen!«

»Ißt du nichts?«

»Nein, Pucki, ich rauche lieber eine Zigarette.« Dann winkte er erneut die Bedienung heran. Mit weit geöffneten Augen sah Pucki, daß Claus eine kleine Schachtel kaufte. Zehn Stück für sechzig Pfennige.

Puckis Augen hingen an der Banderole. »Tust du die Zigaretten nicht in ein Etui? – Hast du eins?«

»Freilich!«

»Dann mache es doch und schenke mir die leere Schachtel.«

»Sammelst du Zigarettenschachteln?«

»Nur diese – –. Claus, kann ich auch eine Zigarette haben?«

»Nein, Pucki, das ist noch nichts für dich. Mädchen von vierzehn Jahren –«

»Fünfzehn«, klang es empört zurück.

»Also, Mädchen von fünfzehn Jahren brauchen noch nicht zu rauchen, am wenigsten in einer Konditorei. Du kannst lieber nachher noch einen Windbeutel essen.«

Als Claus die Zigaretten in sein Etui getan hatte, steckte Pucki sorgsam die leere Schachtel in ihre kleine Handtasche.

Die Torte schmeckte prachtvoll. Es war herrlich, mit Claus hier zu sitzen. Jetzt bedauerte Pucki, daß sie eine so abgelegene Ecke gewählt hatte. Wieviel schöner wäre es gewesen, wenn man sie hier mehr gesehen hätte. Aber das war nun unmöglich. Nicht einmal von der Straße aus konnte man einen Blick in die Konditorei werfen, da an den Fenstern Gardinen hingen. Immer wieder zog Pucki an der Gardine, ob es nicht möglich sei, sie etwas zurückzuschieben. Drüben ging soeben Hans Rogaten vorüber.

»Sieh mal, Claus, dort geht Hans Rogaten. Er ist im ›Goldenen Löwen‹ als Apothekergehilfe. Ich sehe ihn öfters.« Pucki hatte ein wenig an die Scheibe gepocht. Hans Rogaten wurde aufmerksam. Der Backfisch schob jetzt so energisch die Gardine zurück, daß die Schnur riß.

»O weh«, sagte sie verlegen. »Wir müssen uns nachher recht leise drücken.«

Rogaten, der Pucki erkannt hatte, grüßte freundlich und ging weiter.

»Den Hans habe ich sehr gern, Claus, er ist ein netter Junge. Er mag mich auch gern leiden. – Bis Ostern bleibt er noch in der Apotheke, dann studiert er. Er kann wunderschön zeichnen. Sein Vater ist der berühmte Maler Rogaten. Von ihm habe ich schon ein Autogramm. Ich sammle nämlich leidenschaftlich Autogramme. – Schade, daß so wenig berühmte Leute nach Rotenburg kommen. Keiner soll mir entgehen.«

»Ich soll dir noch Grüße bestellen«, sagte Doktor Gregor. »Ich traf kürzlich in Hamburg deine frühere Schulgefährtin Meta Zirl aus Rahnsburg. Sie ist ein sehr nettes junges Mädchen geworden.«

Pucki zog die Stirn kraus. »Die Meta Zirl? – Ja, ihr Vater hat das Kaufhaus in Rahnsburg. Sie wollte niemals mit Thusnelda spielen. Gefällt sie dir?«

»Ja, sie ist wirklich recht nett geworden.«

Pucki setzte die Kaffeetasse so energisch nieder, daß die Gefahr bestand, sie zu zerbrechen.

»Gehst du manchmal mit Meta konditern?«

Doktor Gregor lachte. »Nein, Pucki, mit Meta Zirl war ich noch nie konditern. Das mache ich nur mit dir.«

Die beiden plauderten noch eine volle Stunde. Pucki drängte schließlich zum Aufbruch.

»Mußt du heim? Ich wollte dir gerade noch ein Stück Kuchen bestellen.«

»Ach –« sagte Pucki bedauernd. »Willst du gehen und bestellen? Dann hätte ich noch Zeit.«

»Was ist denn schon wieder los?« lachte der Arzt. »Blutet das Knie?«

»Nein, nein – aber – –«

»Sage es mir doch ruhig. Wir sind doch zwei gute Freunde.«

»Na, – hörst du denn nicht, daß – daß – Borg mir doch rasch mal dein Taschentuch.«

»Ach so – – –«

»Du darfst aber nicht denken, daß ich ohne Taschentuch fortgegangen bin. Ich habe es nur ums Knie gewickelt und kann es jetzt nicht vorholen.«

Claus reichte dem jungen Mädchen lachend sein Taschentuch, das Pucki ausgiebig benutzte. Ihr Gesicht strahlte schon wieder.

»So, – nun können wir noch ein bißchen sitzen bleiben.«

Von alten Bekannten wurde gesprochen, besonders von Gutsbesitzer Niepel, dessen drei Söhne tüchtig lernen mußten. Paul, der einmal das väterliche Gut übernehmen sollte, war bereits Volontär auf einem anderen Gut; auch Walter, der zweite Sohn, wollte einmal Landwirt werden.

»Er hat nicht unrecht«, meinte Claus. »Das Landleben ist etwas Herrliches; es schenkt so viel Frieden und macht den Menschen so glücklich. Selbst wenn Walter später vielleicht niemals ein Gut sein Eigen nennen wird, kann er doch als Verwalter auf einem größeren Gut sein gutes Fortkommen finden.«

Fritz, der letzte der Niepelschen Drillinge, hatte sich den Forstberuf erwählt. Auch er wollte nicht nach der Stadt. Er liebte Wald und Feld und hatte es abgelehnt, den Beruf eines Beamten zu ergreifen, der alltäglich im Büro festgebannt war.

»Es wäre für Fritz auch nicht das Rechte gewesen«, fuhr Claus im Erzählen fort, »er ist auf dem Land groß geworden, ihm liegt das Stadtleben nicht.«

»Du bist doch auch im Walde groß geworden, Claus, und lebst nun in der großen Stadt.«

»Ich habe für später die Absicht, kleiner Puck, mich in einer Landstadt als Arzt niederzulassen. Doch darüber müssen noch mehrere Jahre vergehen.«

»Dann komm nach Rahnsburg! Unser Doktor Kolbe ist doch schon ein älterer Mann.«

Nachdem das junge Mädchen das Stück Kuchen aufgegessen hatte, folgte der Aufbruch.

»Ach, Claus, heute war es herrlich! Es war für mich ein genußreicher Nachmittag.«

»Trotz des blutenden Knies?«

»Das ist längst vergessen.«

Claus blieb über Nacht bei Tante Grete. Erst am nächsten Morgen fuhr er zurück zu seinen Eltern, nachdem er Pucki versprochen hatte, am Sonntag wiederzukommen.

»Eine Bitte habe ich noch, Claus. Du bist doch Arzt an einem großen Krankenhaus. – Könntest du mir nicht etwas verschreiben?«

»Fehlt dir etwas?«

»Nein, – aber – es geht allen bei uns sehr gut, kein einziger ist leidend oder gar krank geworden. Im vorigen Jahre mußte ich öfters in die Apotheke gehen, um für Melitta etwas zu holen, doch jetzt ist sie wieder gesund.«

»Darüber solltest du dich freuen.«

»Gewiß – aber ich gehe so rasend gern in die Apotheke.«

»Zu Hans Rogaten?«

»Ja – – und darum möchte ich dich bitten, mir was zu verschreiben. Es darf natürlich nicht teuer sein. Ich finde, es macht sich besser, wenn man ein Rezept übergibt. – Bitte, verschreibe mir was.«

»Heftpflaster, das ist für zerschundene Knie sehr gut.«

»Heftpflaster ist das billigste, davon habe ich schon sehr viel. Das hole ich jede Woche.«

»Nur weil du Hans Rogaten sehen willst?«

»Nun ja, – – aber – – Heftpflaster kann ich nicht mehr kaufen. Der andere Apotheker, der immer dabei ist, hat vorige Woche, als ich auch wieder Heftpflaster holte, so eklig gelacht und gesagt: ›Wieder Heftpflaster gefällig?‹ Ach, Claus, ich muß diesmal was anderes holen. Weißt du nicht etwas, was in der Apotheke zehn Pfennige kostet?«

»Kamillentee«, sagte Doktor Gregor lachend.

»Meinetwegen«, sagte Pucki ergeben, »so werde ich von nun an Kamillentee kaufen.« – –

Nun war Doktor Claus Gregor schon zwei Tage fort, und Pucki hatte ihren Bekannten strahlend von dem Besuch in der Konditorei »Maiglöckchen« berichtet. Daß sie vor den beiden Primanern einen Fußfall gemacht hatte, wurde natürlich verschwiegen.

»Der Kuchen, den ich gegessen habe, hat fast eine Mark gekostet.«

»Oh, ich bekomme den Kuchen im ›Maiglöckchen‹ viel billiger«, sagte Vera Klingler, eine Obertertianerin.

»Billiger?« forschte Pucki aufmerksam werdend.

»Die Inhaberin ist meine Tante. Sie sagte mir, wenn ich komme, rechnet sie mir alles billiger.«

»Ach, du Glückliche! Gehst du oft ins ›Maiglöckchen‹?«

»Natürlich!«

»Wollen wir nicht mal zusammen hingehen?«

»Freilich, das können wir machen.«

Daheim berichtete Pucki ihrer Freundin Carmen, daß sie von Vera Klingler aufgefordert worden sei, mit ihr ins »Maiglöckchen« zu gehen. Wahrscheinlich bekäme sie dann auch den Kuchen billiger.

»Denke dir, Carmen, die Inhaberin ist Veras Tante.«

»Ich weiß, der Hotelier Klingler, Veras Vater, hat seine Schwester hierher kommen lassen und ihr gesagt, daß sie hier eine Konditorei aufmachen könnte. Hier sei ein Gymnasium, da wäre ein gutes Geschäft zu machen. – Darum ist Frau Rupp hergekommen und hat die Konditorei aufgemacht.«

»Ach, die Vera hat es gut! Ihr Vater hat hier in Rotenburg das schöne Hotel, das allerbeste. Immerfort kommen Gäste dorthin, manchmal schenken sie Vera etwas. Ich möchte auch die Tochter vom Besitzer des Hotels ›Deutsches Haus‹ sein.«

»Aber Pucki, – würdest du dein Elternhaus dafür eintauschen?«

»O nein«, klang es erschrocken, »das habe ich nur so hingeredet. Forsthaus Birkenhain ist das schönste Elternhaus, das es überhaupt gibt.«

Bereits am anderen Tage forderte Vera Klingler Pucki auf, mit ihr ins »Maiglöckchen« zu gehen. Heute saß man nicht so versteckt, heute saßen die Freundinnen mitten im Raum. Plötzlich betraten zwei Herren die Konditorei. Vera puffte Pucki kräftig in die Seite.

»Das sind Gäste aus unserem Hotel. Gestern abend sind sie gekommen. Der eine ist ein ganz berühmter Mann, der soll in der ganzen Welt bekannt sein.«

»Oh«, sagte Pucki interessiert, »wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum ist er berühmt?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Wieso weißt du dann, daß er berühmt ist?«

»Mein Vater erzählte gestern, daß das ›Deutsche Haus‹ stolz darauf sein kann, diesen berühmten Mann zu beherbergen. Ich habe gestern abend nochmals durch die Tür gesehen. Da saßen die beiden Herren.«

»Du weißt doch, daß ich leidenschaftlich Autogramme sammle. Könnte ich von dem berühmten Manne kein Autogramm haben? – Welcher ist es denn?«

Vera zuckte die Schultern. »Das weiß ich doch nicht.«

»Dann lasse ich mir zur Sicherheit von jedem ein Autogramm geben.«

»Pucki, du bist unsinnig! Du kannst doch nicht an den Tisch gehen und um eine Unterschrift bitten? Der berühmte Mann würde dir schön ins Gesicht lachen.«

»Ich muß aber sein Autogramm haben. Es kommen so selten berühmte Leute nach Rotenburg. – Ich muß es haben, Vera. – Wie fangen wir es nur an?«

Die beiden Backfische steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Immer wieder hörte man Veras Stimme: »Nein, so geht es nicht!«

Das Tuscheln ging weiter. Plötzlich strahlten Puckis Augen hellauf. »Ja – so geht es! Das ist ein feiner Gedanke!«

»Meinst du wirklich?«

»Ja, Vera – wir müssen die Aufmerksamkeit der berühmten Leute erregen. Zwei Backfische, wie wir, sind natürlich für diese berühmten Männer nichts. Aber wenn wir Ausländerinnen wären! Wir werden uns als Ausländerinnen ausgeben. Alles andere überlasse mir.«

Die flüsternden Stimmen der Backfische wurden lauter. Pucki wies auffällig mit dem ausgestreckten Arm zur Decke: »Gnä kutschi sta septo muschi?«

»Tepp tippka uro«, antwortete Vera.

»Klipp totamrumba?«

»Piko bello tamtamto.«

So ging es ein Weilchen hin und her. Pucki wurde immer erregter. Sie glaubte ihre Rolle als Ausländerin sehr gut zu spielen, und tatsächlich richteten sich die Augen der beiden Herren auf die jungen Mädchen. Da zog Pucki ein kleines Notizbuch aus der Handtasche, erhob sich und trat freundlich lächelnd an den Tisch heran, an dem die Berühmtheit saß.

»Oh – bütä – sagen Sie mich – – ich weiß nicht – – wo Bahnhof. – Weg – zu – Bahnhof.«

»Er ist nicht weit von hier. Sie gehen über den Markt, biegen in die Breite Straße, links um die Ecke, und schon haben Sie die Bahnhofstraße erreicht.«

»Oh – bütä – ich haben – – keine Würt – verstande. – Schreiben – büta, auf – diese Papür.«

Der eine der Herren zeichnete die Straßen auf.

»Büte – schreibe – –«

Er schrieb: »Breitestraße, links um die Ecke, dann Bahnhofstraße.«

»Oh – bütä – – dankä – – und nun – die andere Mann.«

»Was soll ich denn noch schreiben?«

»Von – die – Bahnhof – zurück – – zu die – Kirche.«

»Immer die Bahnhofstraße geradeaus.«

»Büte – schreibe auf.«

Der ältere Herr schüttelte den Kopf, schrieb aber auf ein anderes Blatt, das ihm Pucki hinschob: »Bahnhofstraße immer geradeaus bis zur Kirche.«

»Bütä – – Name.«

»Meinen Namen? Wozu das?«

»Bütä – –«

Der Wunsch wurde erfüllt. Pucki verfolgte mit brennenden Augen jeden Buchstaben.

»Fritz Müller, Viehhändler.«

»Bütä«, sagte sie beklommen zu dem anderen Herrn, »Sie auch.«

»Merkwürdiger kleiner Käfer«, sagte er. Dann schrieb er: »Fritz Rote, Reisender«.

»Ich danke sehr.« Pucki vergaß, daß sie eine Ausländerin spielte und kehrte betreten zu Vera zurück. In demselben Augenblick ertönte die Stimme der Inhaberin:

»Vera, schau mal schnell zum Fenster hinaus. Dort geht euer berühmter Gast, der bekannte Rennfahrer Ingo Ikonda. Schade, er ist schon um die Straßenecke.«

Pucki saß wie erstarrt.

»O je«, rief Vera, »ich hatte gedacht, es wäre einer von den beiden dort drüben.«

»Du Schaf!« rief Pucki ziemlich laut.

»Bütä«, klang es vom Nebentisch, »nicht diese häßlichen Ausdrücke, kleines Fräulein!«

Schon in der nächsten Minute hatten sich die beiden jungen Mädchen erhoben. »Komm rasch fort«, flüsterte Pucki, »das sage ich dir, nie wieder betrete ich die Konditorei ›Maiglöckchen‹! Nie wieder, denn schon einmal habe ich hier Pech gehabt. – Nun komm!«

»Erst bezahlen«, mahnte Vera.

Pucki zahlte in größter Eile. Es kränkte sie, daß sie keine Ermäßigung bekam.

»Nie wieder betrete ich auch nur mit einem halben Fuß das ›Maiglöckchen‹. Das schwöre ich! – Nie wieder! Komm rasch, wir wollen ins ›Deutsche Haus‹. Jetzt will ich wenigstens von dem berühmten Rennfahrer ein Autogramm.«

Als die beiden ins »Deutsche Haus« kamen, wurde ihnen der Bescheid, daß Herr Ikonda eben abgefahren sei.

»Schwöre mir«, sagte Pucki, »schwöre mir, daß du zu keinem Menschen etwas von unserem Reinfall erzählst.«

»Ich schwöre es«, sagte Vera dramatisch.

»Schwöre mir, daß du auch in der Klasse nichts sagen wirst, denn dann bist du genau so blamiert wie ich.«

Mit Grabesstimme sagte Vera: »Ich schwöre auch das.«

Damit war das Försterkind beruhigt. Es wiederholte nur noch mehrmals: »Ins ›Maiglöckchen‹ gehe ich nicht mehr – nein, nicht mehr!«

Am Sonntag kam Claus noch einmal nach Rotenburg. Als er Pucki fragte, ob man gemeinsam konditern gehen wollte, schüttelte sie energisch den Kopf.

»Ich gehe überall mit dir hin, nur nicht ins ›Maiglöckchen‹.«

»Warum denn nicht? Es ist doch dort so schön.«

»Laß nur«, entgegnete das junge Mädchen, »wir gehen lieber in die kleine Konditorei in der Bahnhofstraße. Dort kostet die Torte fünf Pfennige weniger, und im Windbeutel ist viel mehr Sahne als im ›Maiglöckchen‹.«

»Wollen wir Carmen mitnehmen?«

»Ich wollte dich eigentlich allein etwas fragen, doch das kann ich jetzt gleich tun.«

»So sprich.«

»Ich möchte dich bitten, Claus, sei nicht zu nett zu Meta, wenn du wieder nach Hamburg kommst. Denke auch hin und wieder an mich.«

»Eifersüchtig, kleines Mädchen?« fragte Doktor Gregor.

»Aber Claus.«

»Ich fürchte, daß dein griechischer Gott Apoll und Hans Rogaten dir viel lieber sind als ich und dein Herz vollkommen ausgefüllt haben.«

»O nein«, beteuerte Pucki, »ein Herz ist wie eine Kommodenschublade. Zu unterst legt man das, was man am liebsten hat und was man vor anderen versteckt. Du warst zuerst in meinem Herzen, du liegst ganz zu unterst. Ich habe in meinem Kommodenschub auch noch dein Himmelkästchen, das für meine schwarzen Taten bestimmt war, und das kleine goldene Herz, das du mir schenktest, als ich ein kleines Mädchen war.«

»Und wer liegt noch in dem Kommodenschub? Liegt der Rogaten oder der griechische Gott auf mir?«

»Du weißt doch als Arzt, daß im Herzen mehrere Kammern sind. In der einen großen bist du, in der kleinen sitzt Rogaten.«

»Nun, da bin ich ja zufrieden. Doch jetzt wollen wir Carmen fragen, ob sie mit uns kommt.«

Zu dritt ging man in die Konditorei und verlebte einen schönen Nachmittag.

»Ich finde es hier viel stimmungsvoller als im ›Maiglöckchen‹«, sagte Pucki.

* * *

Der August neigte sich seinem Ende zu. Pucki erwartete sehnsüchtig ihr Taschengeld von daheim. Noch niemals war sie so knapp gewesen wie in diesem Monat. Das kam daher, weil sie für Heftpflaster und Kamillentee fast drei ganze Mark ausgegeben hatte. Trotz aller Bemühungen nahm man ihr im Schiller-Gymnasium weder das eine noch das andere ab, obwohl sie das Lob des Kamillentees in allen Tonarten sang. Klagte eine Schulkameradin über Schmerzen, dann zog Pucki aus der Mappe ein Papierbeutelchen hervor und sagte:

»Das hier hilft sofort und kostet nur zwanzig Pfennige. Soll ich es dir verkaufen?«

Aber Heftpflaster und Kamillentee trugen nicht allein die Schuld an der Geldknappheit. Der hinter ihr sitzende achtzehnjährige Obertertianer Rudolf Lastig hatte ihre schmale Geldbörse mit auf dem Gewissen. Lastig galt als der faulste Schüler des Schiller-Gymnasiums. Seit zwei Jahren saß er in der Obertertia, und es war fraglich, ob er Ostern versetzt werden konnte. Das bedeutete dann den Abschied vom Gymnasium. Aber reich war er, sehr reich. In seinen Westentaschen klimperten immer Zwei- und Fünfmarkstücke. Einmal, als man in der Schule eine Sammlung veranstaltete, erklärte Pucki in schöner Ehrlichkeit:

»Ich habe nur noch zwölf Pfennige, doch die gebe ich gern.«

Seit jenem Tage wurde sie von Lastig mit ihrem großen Vermögen geneckt. Anfangs war es ihr gleichgültig, aber eines Tages, als das Necken nicht nachließ, ergrimmte sie.

»Nur ein Protz trägt sein Vermögen mit sich herum. Ich lasse es daheim in einer Kassette liegen.«

Nun ging das Necken erst recht los. Rudolf Lastig wollte durchaus das Vermögen sehen, und Pucki wußte keinen anderen Rat, als von dem neuen Taschengeld mehrere Schokoladengeldstücke zu kaufen. Die blanken Mark- und Fünfmarkstücke ließ sie eines Tages, mitten in der Unterrichtsstunde, durch die Finger gleiten, so, daß es Rudolf Lastig sehen konnte. Aus der Entfernung mußte er sicherlich glauben, daß auch sie mit Fünfmarkstücken aufwarten konnte.

Das Necken ließ nun wirklich nach. Aber das Taschengeld war auch durch den Kauf des Schokoladengeldes beträchtlich zusammengeschmolzen.

Ohne einen Pfennig in der Tasche, nur ausgerüstet mit einigen Schokoladenmünzen, schlenderte Pucki an einem Nachmittag durch die Straßen von Rotenburg und besah die Schaufenster. Irgendeine der Schulkameradinnen würde ihr schon begegnen. Dann blieb man irgendwo stehen und konnte sich über die Auslagen unterhalten. Vorgestern, als gerade zwei Primaner an ihr vorübergingen, hatte sie vor dem schönen Pelzgeschäft von Lehmann gestanden und mit lauter Stimme zu ihrer Begleiterin gesagt: »Welchen Mantel soll ich mir wohl kaufen?«

Pucki glaubte bestimmt, daß diese Frage einen gewaltigen Eindruck auf die beiden Primaner machen würde. Vielleicht fand sich heute wieder eine gute Gelegenheit, irgendeinem Vorübergehenden zu imponieren.

Am Marktplatz traf sie mit Melitta Diesel zusammen. Auch sie bummelte allein durch die Stadt.

»Wollen wir gemeinsam Schaufenster ansehen, Melitta?« fragte Pucki.

Die Sekundanerin nickte huldvoll, dann schritten die beiden Mädchen über den Marktplatz und kamen an der Konditorei ›Maiglöckchen‹ vorüber. Es war ein wunderschöner Tag, so daß die Fenster der Konditorei weit geöffnet waren.

»Dort sitzt er«, flüsterte Melitta ihrer Begleiterin zu und drückte unauffällig die Hände aufs Herz.

»Wer? – Wo?«

»Apollo!«

»Wo sitzt er?«

Die beiden waren weitergegangen. Melitta atmete erregt. »Im ›Maiglöckchen‹! Er liest in der Zeitung!«

»Im ›Maiglöckchen‹?« wiederholte Pucki gedehnt.

»Wollen wir auch hineingehen, Hedi? Es fällt nicht auf, wenn wir einmal konditern gehen. – Prächtig, daß du dabei bist, denn allein würde ich es nicht riskieren, es sähe nicht gut aus. Wenn aber zwei Pensionärinnen von Frau Perler in die Konditorei gehen, hat das nichts auf sich!«

»Ins ›Maiglöckchen‹? – Ich weiß nicht, – – ich habe auch kein Geld.«

»Ich borge dir was.«

»Ja – – aber – – ich wollte eigentlich nicht mehr – – –« Nein, sie durfte Melitta nicht sagen, was sich hier vor Tagen ereignet hatte.

»Komm doch mit, Pucki. Wir geben uns den Anschein, als sähen wir Apoll nicht und nehmen in seiner Nähe Platz.«

»Melitta, das wäre schön!«

»Hast du gar kein Geld bei dir?«

»Nein, ich könnte dir jedoch etwas Kamillentee verkaufen.«

Melitta trat an eines der Schaufenster und zog die Geldtasche hervor. »Eine Mark und vierzig Pfennige habe ich noch. Wir wollen mal rechnen, was wir essen können. Du müßtest sagen, natürlich so laut, daß man es hört, du hättest einen verdorbenen Magen und wolltest nur eine Tasse Kaffee, sonst reicht es nicht für zwei. Weißt du genau, daß ein Stück Torte mit Sahne vierzig Pfennig kostet?«

»Ja.«

»Zwei Tassen Kaffee sind sechzig Pfennige, ein Stück Torte mit Sahne sind vierzig Pfennige – –«

»Bleiben noch vierzig Pfennige«, rief Pucki, »ich brauche also keinen verdorbenen Magen zu haben.«

»Kostet die Torte auch ganz bestimmt vierzig Pfennige?«

»Ja –«

»Nun gut, dann darfst du auch ein Stück Torte mit Sahne essen.« Und wieder ließ Melitta die Münzen durch die Finger gleiten. Dann machten die jungen Mädchen kehrt und schritten dem ›Maiglöckchen‹ zu.

Beider Herzen pochten stürmisch, als sie den Raum betraten. Pucki erinnerte sich mit leisem Schauer daran, daß sie hier einmal auf den Knien gelegen hatte. – Dort drüben saß er! – Er, ihr Apoll! Er hatte die Zeitung auseinandergefaltet und las darin.

Pucki spähte unterdessen nach einem geeigneten Platz. Direkt an dem Nebentisch wollten sie sich nicht niederlassen; doch dort, jenes Plätzchen, war das rechte! – Natürlich setzten sich die beiden Mädchen so, daß sie den Studienrat sehen konnten.

Sie legten die Mäntel ab und hängten sie an einen Kleiderhaken.

Studienrat Regelius erblickte die beiden Gymnasiastinnen. Er grüßte zu ihnen hinüber, und errötend vor Glück dankten beide. Bald darauf vertiefte sich der griechische Gott Apoll wieder in die Zeitung und nahm keine Notiz mehr von ihnen. Doch die Mädchen waren zufrieden; sie sahen ihn ja. Sie warteten, bis er die Tasse an den Mund setzte, dann tranken auch sie.

»Beinahe hätte ich vergessen, ihm zu imponieren«, sagte Pucki plötzlich. Aus der Handtasche kam eine leere Zigarettenschachtel zum Vorschein. Sie wurde auf den Tisch gelegt, recht sichtbar. Die Banderole, die besagte, daß jedes Stück sechs Pfennige kostete, kam sorgsam nach oben.

»Rauchst du immer so teure Zigaretten?« flüsterte Melitta der Freundin zu.

»Frage lauter«, flüsterte Pucki zurück.

»Warum denn?«

»Frage lauter!«

»Rauchst du immer so teure Zigaretten«, klang es von Melittas Lippen laut und deutlich.

Pucki nahm mit graziöser Lässigkeit das leere Kästchen zur Hand. »Teuer? – – Das Stück nur sechs Pfennige? Ich habe sie außerdem von meinem Freund, Herrn Doktor Gregor, bekommen. Er ist an ein Hamburger Krankenhaus berufen worden; dort macht er die schwierigsten Operationen. Du kennst ihn doch auch? Ein fabelhaft eleganter Mann, – einfach fabelhaft. Er raucht Zigaretten, die sind noch einmal so teuer.«

Melitta sagte darauf nichts. Sie hatte einen Blick des Lehrers aufgefangen, der sie bedrückte. Pucki aber, die diesen Blick nicht gesehen hatte, fuhr lebhaft fort:

»Ich habe kürzlich mit dem Arzt vom Hamburger Krankenhaus hier im ›Maiglöckchen‹ gesessen. Er hat immer neuen Kuchen und neue Torte bestellt. Schließlich mochte ich nicht mehr. Doch immer wieder fragte er, ob er mir etwas bestellen solle. Endlich dankte ich. Ich habe sogar das letzte Stück Mokkatorte halb stehen lassen, weil ich nicht mehr essen konnte.«

Pucki bekam unter dem Tisch einen Stoß von Melitta. Mit diesem albernen Geschwätz würde sie nur den Spott Apolls erregen.

»Was hast du denn?« fragte Pucki halblaut. »Wir müssen ihm doch imponieren. Er wird natürlich für Zigaretten viel mehr ausgeben, doch ich gönne es ihm.«

Melitta aß schweigend die Torte. Wieder griff Pucki in ihr Handtäschchen und entnahm ihm zwei Fünfmarkstücke aus Schokolade.

»Kannst du mir wechseln?« Flüsternd setzte sie hinzu: »Ich tu' nur so, Melitta, er soll sehen, daß wir reichlich Geld haben.«

»Schade, ich habe nur einen Zehnmarkschein«, klang es zurück, »ich hoffe, die Bedienung wird wechseln können.«

»Ich nehme ungern Papierscheine«, sagte Pucki, »ich habe Silbergeld lieber. Behalte deinen Zehnmarkschein.« Sie hatte bemerkt, daß Doktor Regelius einen Blick zu ihnen hinüberwarf. Er mußte die beiden blitzenden Geldstücke gesehen haben. Eben wollte sie Pucki wieder zurück in die Handtasche stecken, als eines zur Erde fiel und fortrollte, hin zum Tisch, an dem der Studienrat saß.

»Den Ausreißer müssen wir fangen«, klang es freundlich von seinen Lippen, und schon hatte er den Fuß auf das rollende Geldstück gesetzt. Pucki glaubte in die Erde sinken zu müssen, als Doktor Regelius die zerbrochene Schokoladenmünze aufhob, aufstand, an ihren Tisch trat und lächelnd sagte: »Hier ist der Ausreißer.«

Von nun an wurde nicht mehr viel gesprochen. Pucki dachte an ihren Schwur. Die ›Maiglöckchen-Konditorei‹ war verhext, denn hier hatte sie immer Pech.

»Nie wieder – bestimmt nie wieder!« murmelte sie. »Melitta, wir wollen gehen, mich würgt jeder Bissen im Halse.«

Doktor Regelius hatte eine andere Zeitung vorgenommen, eine Zeitung großen Formates. Sein Kopf, sein herrlicher Lockenkopf, war nicht mehr zu sehen. Pucki blickte ungeduldig auf Melitta.

»Was machst du denn da?«

Melitta schrieb mit großen, verstellten Buchstaben auf ein vor ihr liegendes Stück Papier: »Ich liebe dich!«

Dann faltete sie das Blatt zusammen. »Pucki, ich will heute alles für dich bezahlen, du brauchst es mir auch nicht wiederzugeben, doch mußt du mir dafür einen Liebesdienst erweisen. Du holst jetzt die Mäntel drüben vom Kleiderhaken, und dabei steckst du Apoll diesen Zettel in die Manteltasche. Das ist nicht schwer. – Siehst du seinen Mantel? Er hängt daneben.«

»Ja, ich sehe ihn.«

»Er wird nichts merken. – Du läßt den kleinen Zettel geschickt in die Tasche gleiten.«

»Ich liebe ihn doch auch«, sagte Pucki leise.

»Ach, was macht er sich aus deiner Liebe.«

»Dann stecke den Zettel selber in den Mantel.«

»Pucki, sei vernünftig. Du bist geschickter als ich.«

»Gut«, sagte Pucki, »ich will es tun, doch unter zwei Bedingungen: Einmal zahlst du alles, was ich verzehrt habe, und zweitens läßt du mich auf den Zettel auch etwas schreiben.«

»Was willst du schreiben?«

»Ich schreibe nur hinter deine Worte: ›In alle Ewigkeit‹.«

»Nun meinetwegen.«

Pucki faltete den Zettel auseinander. »Gib mir mal deinen Füllfederhalter.«

Melitta reichte ihn hin. Pucki schraubte den Halter umständlich auf, überlegte noch ein Weilchen und malte mit steilen Buchstaben die Worte darauf: »Bis in alle Ewigkeit.«

Dann rief Melitta nach der Bedienung.

»Eine Mark und fünfundfünfzig«, sagte das junge Mädchen freundlich.

Melitta erblaßte. Die Rechnung konnte unmöglich stimmen, oder Pucki hatte sich im Preise geirrt. »Wie kommt das?« hauchte sie.

An fünfzehn Pfennig Bedienung hatten die beiden Gymnasiastinnen nicht gedacht. Melitta blickte hilfesuchend auf Pucki. Die schüttelte den Kopf. Wartend stand die Bedienung am Tisch.

»Wieviel macht es?« fragte Melitta noch einmal, nur um etwas zu sagen.

»Eine Mark fünfundfünfzig«, erwiderte die Gefragte laut.

In größter Verlegenheit zählte Melitta eine Mark und vierzig Pfennig auf den Tisch. Sie hob die Augen und bemerkte, daß Apoll zu ihnen hinüberblickte. Sie dachte an den Zehnmarkschein, von dem sie vorhin so laut gesprochen hatte. Ihre Stimme wurde ganz leise.

»Wir haben nicht so viel Geld mit. Ich bringe es morgen her.«

»Vielleicht kann das andere Fräulein aushelfen«, sagte die Bedienung, ein wenig unfreundlich werdend.

Da hatte sich Pucki rasch erhoben, denn sie wollte nicht Zeugin dieses neuen Reinfalls sein. Trotzdem zitterte sie vor Erregung, denn Apoll mußte alles mit angehört haben. Sie ging zum Kleiderständer, ließ den Zettel rasch in die Manteltasche ihres griechischen Gottes gleiten und sah, daß sich Doktor Regelius erhob. Er sagte etwas zu Melitta und bot ihr wohl an, auszuhelfen.

Pucki hörte nichts mehr. Sie hatte ihren Mantel ergriffen und verließ eiligst die Konditorei. Sie erinnerte sich zwar im letzten Augenblick daran, daß die leere Zigarettenschachtel auf dem Tisch liegengeblieben war, doch ging sie nicht zurück. Dann stand sie endlich draußen auf der Straße. Hinter einer Säule wartete sie auf Melitta.

Endlich kam sie; sie sah aus wie eine dunkelrote Rose.

»Diese Blamage – diese entsetzliche Blamage! Was muß er von uns denken. – Warum hast du keinen Pfennig Geld? Nie wieder gehe ich mit dir aus.« –

»Du hast mich doch eingeladen«, klang es ärgerlich zurück, »ich wollte nicht ins ›Maiglöckchen‹.«

»Gib mir meinen Füllfederhalter zurück.«

»Den – – Füll – feder – halter?«

»Ja, du hast doch zuletzt damit geschrieben.«

»Himmel!« Pucki suchte in der Handtasche. »Ich hatte ihn in der Hand, als ich den Zettel – in seine Manteltasche steckte. – Der Füllfederhalter – –«

»Wo hast du ihn denn? Wenn du ihn liegen ließest, geh hinein und hole ihn.«

»Dort hinein?« rief Pucki entsetzt. »Nie wieder!«

»Ich will den Füllfederhalter zurückhaben.«

»Ich glaube – – ich glaube – –, den habe ich Apoll mit dem Zettel – in die Manteltasche gesteckt.«

»Pucki!!«

Der blonde Mädchenkopf sank tief auf die Brust. »Ja – das habe ich getan, jetzt weiß ich es genau. – Oh – – nun ist alles aus – ich wußte es ja, das ›Maiglöckchen‹ ist verhext!«


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