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»Mutti, ich habe mir von Tante Leichner zehn Pfennig erbettelt, die habe ich der alten Frau drüben im Hinterhaus hingetragen. Ist das nicht schön von mir? Oh, Mutti, ich tue jetzt immerfort wohl.«
»Das ist sehr schön, Pommerle.«
»Ich habe es allen Schulfreundinnen erzählt.«
»Das ist nicht schön, Pommerle. Wenn man Gutes tut, muß man nicht gleich allen davon erzählen. So etwas muß man ganz im Geheimen machen; niemand braucht davon zu wissen. Sieh dir doch den Jule an, der hat keinem Menschen gesagt, daß er sein Erspartes für die armen Leute hergab. So mußt du es in Zukunft auch halten.«
»Es darf also keiner wissen, wenn ich armen Leuten was Gutes antun will?«
»Nein, mein Kind. Es gibt arme Leute, sogenannte verschämte Arme, denen ist es schrecklich, wenn andere erfahren, daß sie ein Almosen oder ein Geschenk erhielten. Es gibt auch ein schönes Wort: Laß die Rechte nicht wissen, was die Linke tut, das bedeutet: Wohltun muß ganz im Geheimen betrieben werden.«
Pommerle nickte nachdenklich. Es nahm sich vor, die Worte der Mutter zu beherzigen. Die Kleine kümmerte sich in letzter Zeit viel um alte oder kranke Leute in der Stadt. In der Schule wurde herumgefragt, wo noch irgendwo jemand lebe, der nichts zu essen habe. Und dann wurden oft die Frühstücksbrote aufbewahrt, damit man sie an die betreffende Stelle brachte. Die Klassenkameradinnen wollten Pommerle nicht nachstehen. Man hatte eine Kasse eingerichtet, in die pfennigweise die Spenden der Kinder gelegt wurden. Man hoffte, daß bis Weihnachten eine große Summe Geld zusammenkommen würde, um allen armen Leuten Freude zu machen.
In etwa vierzehn Tagen schloß die Schule, dann kamen nach Hirschberg eine Menge bedürftiger Kinder, die von verschiedenen Familien aufgenommen wurden. Pommerle freute sich auf die beiden Mädchen, die man erwartete. All seine sehnsuchtsvollen Gedanken an Pommern, an die geliebte Heimat, drängte das Kind tapfer zurück.
Eines Tages erschien Eva Graumann, die Erste der Klasse, erregt in der Schule und berichtete von Männern in langen Pelerinen, die auf der Straße gestanden hätten und eine Lotterie im Kasten umhertrügen. Die Mutter habe gesagt, daß diese Lotterie viel Geld einbringen solle, damit im Winter die Bedürftigen etwas zu essen hätten.
Pommerle schlug mit dem Buch, das es grade in der Hand hielt, knallend auf das Pult.
»'ne Lotterie! – Mutti hat auch mal 'ne Lotterie gemacht, in einem Frauenverein. Da haben die Leute schöne Kästchen mit Flaschen gewonnen, Schokolade und auch einen Blumentopf. Sie haben sich mächtig darüber gefreut. – Au fein, wir machen auch so 'ne Lotterie, dann bekommen wir viel Geld und können die kranke Frau Scholz ins Krankenhaus schicken, oder gar auf Reisen – an die Ostsee. Dort wird sie bestimmt wieder gesund.«
»Eine Lotterie!« jauchzten die Mädchen, und schon ging ein Überlegen und Beraten los, wie man am besten solch eine Lotterie einrichten könnte.
»Ich frage meine Tante Grete«, rief Lotte Mürsel, »die weiß es.«
»Nein«, wehrte Pommerle energisch ab, »die linke Hand darf nicht wissen was die rechte macht. Meine Mutti hat gesagt, man darf über so was nicht reden. Das alles muß ganz geheim gemacht werden.«
»Wie machen wir denn das?«
»Ich frage doch!« sagte Lotte. »Ich sage der Tante nicht, daß wir eine Lotterie machen, keiner braucht es zu wissen. Wir müssen auch solche kleine Papiere haben, mit Nummern darauf, und die müssen die Leute kaufen. Dann müssen sie was drauf gewinnen.«
»Ich habe einen alten Teddybär, mit dem spiele ich nicht mehr«, rief Eva Graumann.
»Und ich«, sagte Pommerle geheimnisvoll, »habe noch eine niedliche Schachtel, darin sind olle braune Kugeln, die habe ich nicht mehr zu nehmen brauchen, weil der Husten weg war. Die schenke ich in die Lotterie.«
Jedes Kind fand etwas, was als Gewinn für die Lotterie bestimmt wurde. Nun galt es nur noch zu erkunden, wie solch eine Lotterie angefaßt werden mußte. Lotte Mürsel versprach, schon am kommenden Tage Bescheid zu bringen.
Doch der heutige Tag brachte noch eine neue Überraschung. An Häusern und Bretterzäunen klebten bunte Bilder mit der Bekanntmachung, daß ein Zirkus in der nächsten Woche nach Hirschberg komme, um Vorstellungen zu geben.
Pommerle schrie vor Freude auf. »Ein Zirkus! Einer mit der rosa Fee und schönen weißen Pferden! Genau so, wie in Neuendorf auf dem Schießplatz. Einen grünen Wagen hatten sie und einen ganz kleinen Kochherd. Ich bin dort gewesen. Die rosa Fee ist auf einem weißen Pferd geritten. Und abends hat eine Frau an der Kasse gesessen und auf dem Teller vor ihr war soooo viel Geld!«
»Ich habe auch schon auf einem Maulesel gesessen«, sagte Eva.
»Mein Bruder Fritz hat auch mal zu Hause Zirkus gespielt. Sie haben im Garten ein Zelt aufgeschlagen und haben gespielt dummer August und Biene, Biene gib mir Honig. Eintritt haben sie genommen und sechzig Pfennig verdient.«
»Kann dein Bruder nicht noch mal einen Zirkus machen?«
»Ich reite dann auf dem Maulesel!«
»Und ich blase die Mundharmonika«, rief Pommerle.
»Einen Zirkus müssen wir machen«, rief Lotte, »und vorher 'ne Lotterie!«
»Aber so schön können wir es nicht, wie die hier.« Pommerle tippte auf die Voranzeige.
»Doch, doch, ich kann auf den Händen laufen und Purzelbaum schlagen. Wenn der Fritz mitmacht, gibt es eine feine Nummer.«
»Ich habe ein rosa Kleid – von damals, als ich in der Schulaufführung die Fee spielte.«
Wieder entstand lebhaftes Hin und Her. Es lockte die Kinder, in Hirschberg eine Vorstellung zu veranstalten, Eintrittsgeld zu nehmen und die große Summe, die man dabei verdiente, in die Sammelbüchse zu werfen. Dann konnte die alte Frau Scholz gewiß ins Krankenhaus.
»Wenn wir einen Zirkus machen«, meinte Pommerle, »müssen wir auch, wie in Neuendorf, vorher durch die Straßen gehen. In Neuendorf ging ein Mann mit 'ner Pauke voran, dann kam die rosa Fee auf dem weißen Pferd. Einer hat laut geschrien: ›Kommt alle zu uns, bei uns ist was los!‹ – Woher sollen denn sonst die Leute wissen, daß wir 'ne Vorstellung geben.«
»Wird gemacht«, meinte Eva begeistert. »Ich reite auf dem Maulesel, und du, Pommerle, bläst auf der Mundharmonika.«
»Und ich schrei durch die große Tüte, alle Leute sollen zu uns kommen, und eine Lotterie ist auch noch da.«
»Ich laß mir von meiner Mutti einen Schleier geben – – ach nein, vom Wohltun darf man ja nichts erzählen. Das muß man ganz geheim machen. – Oh, wird sich die Mutti freuen und der Vati – Der Vati fährt in vierzehn Tagen nach Schweden. Da müssen wir schnell vorher den Zirkus machen.«
»Den machen wir gleich morgen«, meinte Eva.
»Erst müssen wir uns doch was einüben.«
»Mein Bruder kann auf dem Kopf stehen. Er macht den Hanswurst.«
An diesem Tage kam Pommerle mit halbstündiger Verspätung zum Mittagessen. Die Augen des Kindes strahlten, die Wangen glühten.
»Nun, Pommerle, nachgesessen? Wo bist du denn so lange geblieben?«
»Ich möchte es dir ja gerne sagen, Vati, aber es handelt sich um ganz was Schönes. Du wirst's schon merken. – Vati, hast du nicht einen alten, ganz großen Hut, wie ihn der Rübezahl trägt? – Ich – ich mache nämlich den Rübezahl.«
»Was? – Wo machst du ihn?«
»Vati, auch große Leute sollen mal nicht neugierig sein. Es wird sehr schön. Du wirst riesige Freude haben. Nachher muß ich feste blasen.«
Frau Bender lachte. »Ihr scheint wieder einen netten Spaß zu planen.«
»Du kommst doch auch, Mutti, gibst uns doch auch fünf Pfennig?«
»Wenn es für etwas Nettes ist, wenn ihr das Geld für etwas Gutes braucht, gebe ich es dir gerne, mein Kind.«
»Mutti, ich muß heute den ganzen Nachmittag zu Lotte Mürsel. Wir haben entsetzlich viel zu überlegen.«
Pommerle bekam die Erlaubnis. Frau Bender ahnte, daß die Kinder wieder einmal einen Spaß vorhatten; sie forschte jedoch nicht weiter, weil sich Pommerle gar zu geheimnisvoll gab. Frau Mürsel würde aufpassen, daß die Kinder keine Dummheiten machten.
Und nun saßen sechs kleine Mädchen und vier Knaben zusammen und berieten, wie sie eine Zirkusvorstellung und eine Lotterie zusammenbekommen konnten. Einer mußte mit einem Kasten umhergehen, in dem die Lose lagen. Hin und wieder wurde eins der Lose mit einer Nummer beschrieben, und solch ein Los gewann. Die Knaben meinten, da es sich um eine wohltätige Sache handle, brauche man nicht viel Gewinne. Es sei genug, wenn jeder Tausendste etwas bekomme. Aber die ältere Schwester von Lotte Mürsel äußerte, tausend Menschen würden keine Lose kaufen, es sei schon richtiger, auf zwanzig leere Zettel einen Gewinn zu notieren.
Diese Gewinnbeschaffung machte natürlich auch große Schwierigkeiten, weil man die Eltern um Geschenke nicht angehen wollte. So mußten die Kinder aus eigenen Vorräten allerlei zusammenkramen. Einklebebilder, leere Zigarettenschachteln, ja sogar ein Puppenkind ohne Arme wurde herbeigebracht.
Erika, die zwölfjährige Schwester Lottes, schüttelte den Kopf.
»Es lohnt nicht, solche Sachen zu gewinnen. Aber die Leute wissen es ja nicht.«
»Was – es lohnt nicht?« rief Pommerle entrüstet. »Die schöne blaue Blechschachtel, die ich so lieb habe? Und ein feines Bild ist auch da. Ich wäre froh, wenn ich noch solch 'ne Blechschachtel hätte.«
Mit der Lotterie kamen die Kinder bald ins Reine, dagegen machten die Vorbereitungen für den Zirkus die größten Schwierigkeiten. Die Knaben waren allerdings gerne bereit, im Garten ein Zelt zu errichten und an den Gartenzaun Zettel zu hängen, die zum Eintritt aufforderten. Aber die Darbietungen erschienen allen recht dürftig. Ob der alte Lohse seinen Maulesel geben würde?
»Sabine muß singen«, rief Pommerle, »oder der Harfenkarle!«
»Nee, ich singe!« sagte Martin Ferse, ich weiß ein schönes Lied, vom Räuberhauptmann, der in einem tiefen Tale wohnt.«
»Der Mann in Neuendorf mit der Tute hat die Leute auf der Straße eingeladen. Wir müssen auch einladen.«
»Wir müssen einen Vers machen«, rief Eva, »den müssen wir an jeder Straßenecke durch die Tute den Leuten zurufen.«
Während die vier Knaben über die Glanznummern verhandelten, hockten Eva, Lotte und Pommerle zusammen, um den Vers zu dichten, den man an jeder Straßenecke durch die Tute den Leuten zurufen wollte. Aber das Dichten machte den Kindern große Schwierigkeiten, sie kamen über den Anfang nicht heraus.
»Ihr Leute kommt in Haufen
Zu uns gelaufen.
Wir machen große Sachen – –«
Pommerle stöhnte und rieb mit der Hand die Stirn. »Verflixt schwer ist das, es muß sich doch reimen.«
Eva Graumann sprang plötzlich auf. »Ich hab's! Wir machen große Sachen, mit Pferd und Wagen.«
»Nein«, meinte Pommerle, »das ist doch kein richtiger Vers. – Wir machen große Sachen – ihr werdet euch totlachen.«
»Fein – so ist's fein! Und nun müssen wir auch noch sagen, daß wir die Vorstellung machen, daß Leute Arbeit kriegen oder die alte Frau Scholz ins Krankenhaus kommt.«
Wieder überlegten die Kinder. Schließlich stellte sich Pommerle hin, die Hände in die Hüften gestemmt, und begann:
»Ihr Leute kommt in Haufen
Zu uns gelaufen.
Wir machen große Sachen,
Ihr könnt im Zirkus toll lachen,
Damit die Leute Arbeit kriegen,
Und Kranke sollen im Krankenhaus liegen.«
Das herrliche Gedicht wurde laut bejubelt. Nun gab es noch einen Streit, wer den Vers an den Straßenecken durch die große Tüte ausrufen sollte.
»Ich muß es tun«, meinte Eva Graumann. »Die Tüte bringe ich mit. Meine Schwester hat sie zum Schulanfang bekommen. Sie ist rot und mit bunten Bildern bemalt.«
»Meinetwegen«, entschied Pommerle. »Zuerst blase ich kräftig auf der Mundharmonika, damit die Leute aufpassen, dann mußt du losschreien.«
»Und ich?« fragte Lotte Mürsel weinerlich.
»Du setzt dich im rosa Kleid auf den Maulesel. – Das wird fein, und viele Leute kommen zu uns!«
Während die Angelegenheit weiter beraten wurde, waren sich die Knaben über die Darbietungen des Zirkus einig geworden. Man brauchte die Mädchen gar nicht. Eine sollte an der Kasse sitzen, die zweite die Eintrittskarten abreißen und Plätze anweisen. Eine mußte beim Ankleiden helfen, und die beiden anderen sollten Erfrischungen umhertragen. Man würde der Mutter Himbeersaft abbetteln, vielleicht auch eine Zitrone, dann konnte man Getränke für teures Geld verkaufen.
»Ihr anderen zwei verkauft die Lose. Ihr sollt mal sehen, was das für 'ne Sache wird!«
Alle Anwesenden waren begeistert. Auf der großen Wiese, die zum Besitz des Sägemüllers Graumann gehörte, ließ sich der Zirkus prächtig errichten. Bretter gab es dort genug, die man auf Holzklötze legte. Das waren die Sitzgelegenheiten für die Zuschauer. Eva meinte, der Vater werde ihnen genügend Bretter geben. Zwischen den Bäumen ließ sich das Zelt spannen, in dem die Vorführungen stattfanden. Für den morgigen Tag war es freilich unmöglich, weil noch zu viele Vorbereitungen notwendig waren.
»Wir bauen das Zelt über unserem Barren auf. Dort machen wir Handstand und anderes.«
»Es wird immer großartiger«, meinte Pommerle strahlend, »und den Maulesel müssen wir auch kriegen.«
»Ich bringe auch unseren Bernhardiner mit«, rief eins der Mädchen, und schon war eine neue großartige Nummer ausgedacht.
Schließlich wurden Plakate entworfen. Leider konnte keines der Kinder zeichnen, sonst wären wohl gar zahlreiche unglaubliche Akrobatenkunststücke zu Papier gebracht worden. Doch die Kinder fanden, daß ihre Plakate trotzdem wunderbar wären.
»Zu schade«, meinte Pommerle, »daß wir von unserem Wohltun den Eltern nichts erzählen dürfen. Doch Mutti meinte, man muß ganz still dabei sein.«
»Nu freilich! Wenn wir vor unserem Hause stehen, mußt du ganz besonders laut schreien, Eva.«
Am Abend machte Pommerle daheim allerlei geheimnisvolle Andeutungen. Am nächsten Sonnabend werde man in Hirschberg etwas sehr Großartiges und Schönes erleben. Die eigenartigsten Wünsche richtete die Kleine an die Eltern. Eine lange bunte Schleife, eine Zitrone, einen großen Hut, einen Sattel um darauf zu reiten, goldene Armbänder, und schließlich eine Klapperbüchse.
»Nun sage mir nur noch, wozu du alles das gebrauchst?«
»Um ganz im Geheimen wohlzutun.«
Da Pommerle immer wieder zu Eva lief, hielt es Frau Bender für ratsam, einmal telephonisch dort anzufragen, was für eine große Sache am Sonnabend bei Graumanns geplant sei.
»Meine liebste Frau Bender«, antwortete Frau Graumann, »ich habe bis heute noch keine Ahnung, doch meine vier Kinder sind völlig aus dem Häuschen. Man baut bereits ein Zelt, macht Sitzplätze, anscheinend haben sich die Schulklassen einen Spaß vorgenommen. Es scheint, als wollten meine beiden Buben eine Vorstellung geben. Mir hat man auch nichts Genaues gesagt, doch lasse ich die Kinder gewähren.«
Am Sonnabendmittag war die Erregung Pommerles bis zum Siedepunkt gestiegen. Welch Glück, daß heute schon um zwölf Uhr die Schule schloß. Es war nicht mehr auszuhalten. Für fünf Uhr war die Vorstellung geplant, um zwei begann der Umzug durch Hirschberg, an dem sich nicht nur die drei Mädchen beteiligten, wie es anfangs geplant war, sondern auch die beiden Knaben von Graumanns wollten durch Trommeln die Aufmerksamkeit der Hirschberger erregen. Der große Bernhardinerhund war vor den Sportwagen gespannt, in dem Lotte Mürsel saß. Sie hatte das Feenkleid angezogen und sich noch mit allerlei bunten Ketten behängt. Leider war der Maulesel nicht geliehen worden. Als Ersatz diente ein Schaukelpferd, das man auf einen Wagen, der von zwei Knaben gezogen wurde, gestellt hatte. Auf diesem Schaukelpferd thronte, im Kostüm eines Indianers, einer der Mitwirkenden.
Punkt zwei Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Man war zu dem Entschluß gekommen, vor den drei großen Papierfabriken zu blasen und tüchtig zu trommeln. Ebenso wollte man hinaus zur Kammgarnweberei ziehen, schließlich noch einige Villenstraßen aufsuchen, um dort die heutige Vorstellung anzukünden. Ins Innere der Stadt trauten sich die Kinder nicht. Es würde sich schon herumsprechen, und um fünf Uhr würde sicherlich zahlreiches Publikum zum Zirkus der Wohltätigkeit geströmt kommen.
Die Leute auf den Straßen blieben stehen, als sie den Aufzug sahen. Voran zwei Knaben mit ihren Trommeln, es folgte der Hund mit dem Sportwagen, rechts davon das blasende Pommerle, links die tutende Eva. Nun wurde haltgemacht, denn die Kammgarnspinnerei Stadlers war erreicht. Aus Leibeskräften trommelten die Knaben, Pommerle blies so kräftig, daß es krebsrote Bäckchen bekam, und als man an den Fenstern die Gesichter der Arbeiter sah, die neugierig hinausschauten, erhob Eva Graumann ihre Stimme:
»Ihr Leute kommt in Haufen,
Zu uns gelaufen.
Wir machen große Sachen,
Es ist ganz toll zum Lachen,
Damit die Leute Arbeit kriegen,
Und Kranke sollen im Krankenhaus liegen!«
Noch ehe sich der kleine Zug wieder in Bewegung setzte, stand Fabrikbesitzer Stadler vor ihnen. Er war mit Professor Bender eng befreundet und hatte Pommerle sofort erkannt.
»Onkel Stadler, du mußt auch kommen«, rief Pommerle und blies ihm einen Tusch so heftig in die Ohren, daß Stadler hastig den Kopf umwandte. Die Kinder umringten ihn, schrien auf ihn ein, er möge seine Arbeiter zu ihnen schicken.
»Wenn alle kommen, ist es billiger«, rief Fritz, »wir geben Ermäßigung.«
»Wofür braucht ihr das Geld?«
»Eva, sag noch mal den Vers.«
Pommerle hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte in das Ohr des Fabrikbesitzers:
»Man darf es ja nicht sagen, denn die rechte Hand soll nichts von der linken wissen. Wir sind der Zirkus für die Wohltätigkeit, weil es viele gibt, die hungern. Da wollen wir eine Lotterie machen und Zirkus spielen. Dann schaffen wir die Not aus der Welt, und es geht allen Leuten in Hirschberg wieder gut.«
»Dann muß ich freilich kommen. Was kostet es?«
Über den Preis hatte man noch gar nicht gesprochen.
»Jeder recht viel«, meinte Pommerle. »Man muß so geben, daß man merkt, daß es ein Opfer ist. Sonst ist es nicht das Richtige. – Also komm, Onkel Stadler, und opfere. Doch nun müssen wir weiter.«
Lachend schaute der Fabrikbesitzer dem eigenartigen Zuge nach. Professor Bender würde ein merkwürdiges Gesicht machen, wenn er seine Kleine im Schlapphut, geschmückt mit einer großen Schleife, sehen würde. Die Idee stammte sicherlich von diesem gutherzigen Kinde, das so gerne helfen wollte.
An den Papierfabriken wurde wiederum haltgemacht. Wieder schauten viele neugierige Augen und lachende Gesichter auf die kleine Gesellschaft.
»Ihr müßt alle kommen«, schrie Fritz, »keiner darf fehlen. Kommt in Massen, denn es geht um's Ganze!«
Dann bog der Zug in die Villenvorstadt ein. Man kam aus den Häusern gelaufen, stand in den Vorgärten, lachte und lächelte über diesen sonderbaren Zug. Man hörte den Vers, und die Frau des Landgerichtsrat Wartenburg, die heute nachmittag einen Ausflug mit mehreren Damen geplant hatte, beschloß, anstatt nach dem Kreuzberg in den Zirkus zu gehen und die anderen Damen mitzubringen.
So kam man auch ans Haus Benders.
»Nu aber mal feste trommeln«, meinte Pommerle.
Es wurde haltgemacht. Eva schrie ihren Vers. Bender, der am Schreibtisch saß und arbeitete, erhob sich, schaute zum Fenster hinaus, erkannte sogleich seine Tochter und lachte laut auf. Doch plötzlich ging eine Unruhe durch die kleine Schar.
»Der Schupo!« rief Fritz leise. Im nächsten Augenblick huschte er durch den Vorgarten ins Bendersche Haus, Erich, der zweite Trommler, folgte ihm. Auch die beiden Knaben, die den Wagen mit dem Schaukelpferd zogen, nahmen Reißaus. Eva warf die rote Tüte im Bogen von sich und suchte gleichfalls Schutz im Hause des Professors, während die rosa Fee sich vergeblich bemühte, aus dem Sportwagen zu kommen. Man hatte das Kleid, um eine gute Wirkung zu erzielen, verschiedentlich festgebunden, damit es wie eine Wolke wirke. Auch der Indianer, der bisher so siegessicher auf dem Pferd gesessen hatte, sah ein, daß er nicht so rasch entfliehen konnte, rückte den Federschmuck recht tief ins Gesicht und schrumpfte mehr und mehr in sich zusammen. Nur Pommerle blies unentwegt auf der Mundharmonika, doch nicht aus Mut, sondern weil es dem herankommenden Polizeibeamten den Rücken zuwandte.
»Was ist denn das für ein Aufzug?«
Die Harmonika verstummte, Pommerle kniff die Augen zusammen, dann lächelte es treuherzig den Beamten an.
»Heute ist der große Zirkus, das sagen wir den Leuten.«
»Habt ihr Erlaubnis?«
Das Kind schaute fragend auf Lotte, die rosa Fee. Die machte ein sehr ängstliches Gesicht.
»Wir haben uns das allein erlaubt, wir wollen den Leuten, die keine Arbeit haben, Geld geben. Du tust uns doch nichts?«
»Und wenn ich euch nun aufschreibe?«
Nun wurde es Pommerle doch recht ängstlich. Es schaute sorgenvoll zu den Fenstern der Wohnung herauf. Doch da kam schon die Rettung in Gestalt des Vaters. Er verhandelte mit dem Polizisten. Währenddessen liefen die beiden Trommler hastig davon, auch die Fee hatte sich endlich aus dem Wagen befreit und fegte in dem langen rosa Gewand durch die Straßen. Und als nach einer Viertelstunde der Polizist Pommerle erklärte, daß der Zug sich nun hinaus zur Sägemühle begeben möge, sah sich die Kleine mit all dem Kram allein auf der Straße. Da stand der Wagen mit dem Schaukelpferd, dahinter der Bernhardiner mit dem Sportwagen, dort lag die rote Tüte, doch von den Kindern keine Spur.
»Nanu, los, los«, mahnte der Polizist. »Der Wagen muß weg von der Straße.«
»Vati, die Pferde sind doch weg – die Fee ist auch weg – die Trommler auch – so ein Reinfall! Aber die Jungens, ich hab's ja immer gesagt, die Jungens sind Kneifer! Die sollen's kriegen!«
So half schließlich Professor Bender seiner kleinen Tochter. Der Wagen und das Schaukelpferd wurde in den Garten gezogen, den Bernhardiner nebst Sportwagen sollte Pommerle zu den Eltern Friedas bringen.
»Wir sind doch noch nicht fertig«, meinte Pommerle kläglich. »Nu werden es die Leute in den anderen Straßen nicht wissen, daß wir heute 'ne Vorstellung haben. Doch daran sind nur die dummen Jungens schuld.«
»Sei versichert, Pommerle, daß man bis fünf Uhr in ganz Hirschberg weiß was ihr angestellt habt.«
Während Pommerle mit dem Bernhardiner durch die Straßen zog, hier und dort angehalten wurde, was der eigenartige Aufzug zu bedeuten habe, denn die Kleine hatte den großen Hut noch nicht abgelegt, sprach Landgerichtsrat Wartenburg bereits lachend zu seinen Beamten davon, daß man heute wohl den Wohltätigkeitszirkus beim Sägemühlenbesitzer Graumann aufsuchen müsse. Und auch Bürgermeister Glove rief seine Beamten zusammen.
»Meine Herren, da hat sich eine kleine Schar bereitgefunden, der großen Not zu steuern. Gehen wir auf den kindlichen Spaß ein. Ich bitte Sie, sich möglichst alle heute nachmittag in dem Wohltätigkeitszirkus zu zeigen.«
So sprach sich der Zirkus wie ein Lauffeuer in Hirschberg herum.
Bereits gegen halb fünf Uhr strömte es zur Wiese hinter der Sägemühle. Herr und Frau Graumann waren fassungslos. Das waren Hunderte und Aberhunderte, die sich einfanden. Noch fassungsloser aber war Pommerle, das mit einem Teller auf einem Holzklotz am Eingang der Sägemühle saß und kassierte. Lotte stand daneben und gab die Eintrittskarten aus. Anfangs strahlte Pommerle, aber allmählich konnte es die Arbeit nicht mehr bewältigen. Aufgeregt rief es nach Hilfe, doch niemand eilte herbei, denn auch Lotte, deren Eintrittskarten aufgebraucht waren, hatte das Weite gesucht, um den mitwirkenden Knaben zu künden, daß sich Menschenmassen heranwälzten. Die Wangen Pommerles glühten, die Aufregung stieg von Minute zu Minute, und schließlich stieß sich das Kind selbst den Teller um, daß die Münzen ins Gras rollten.
»Hoppla – nicht weinen«, tröstete Fabrikbesitzer Stadler, der die kleine Kassiererin schon ein Weilchen lächelnd beobachtete.
Pommerle blickte auf, in den blauen Augen standen tatsächlich Tränen.
»Ich helfe mit, ich kassiere für den Wohltätigkeitszirkus. Wir beide werden es schaffen. Nur nicht drängeln, meine Herrschaften, Sie haben noch viel Zeit. Die Künstler warten, bis Sie alle auf Ihren Plätzen sitzen. Ah – Sie, Herr Professor! Stellen Sie sich doch an die andere Seite des Eingangs und eröffnen Sie die zweite Kasse. Dann geht es schneller.«
Pommerle atmete erleichtert auf. Jetzt hatte es tatkräftige Hilfe. Es konnte die Münzen aus dem Grase sammeln, während der Vater und Herr Stadler Gelder einkassierten. Markstücke und Groschen wurden gereicht, wie eben jeder zahlen konnte. Dann suchte man die Plätze, doch bald waren die vorhandenen Bretter besetzt. Graumann mußte mit seinen Leuten Klötze heranschleppen, denn immer neue Zuschauer stellten sich ein. Es herrschte die fröhlichste Stimmung. Allerlei Vermutungen wurden laut über das, was die Kinder wohl bieten würden.
In dem kleinen Nebenzelt, das als Garderobe der Künstler aufgestellt war, herrschte große Erregung. Emil und Erich streikten. Sie erklärten, sie hätten nicht den Mut ihre Künste zu zeigen, es wären zu viele Menschen draußen. Außerdem säße in der ersten Reihe der Klassenlehrer und der Bürgermeister.
Man hatte Pommerle die Nachricht hinterbracht. Erregt stürzte die Kleine ins Zelt und machte den Knaben Vorwürfe.
»Du hast das alles angezettelt, Pommerle, nu mach du den Kram allein.«
Immer wieder bat die Kleine. Wenn Fritz auf den Händen liefe oder am Barren turnte, würde das gewiß viel Freude machen.
»Auslachen werden sie mich. Im Zirkus wird ganz was anderes verlangt. Ich werde doch nicht auf den Händen laufen, wenn draußen der Bürgermeister sitzt!«
Die Zeit verstrich; draußen klatschte man bereits in die Hände und rief, man möge anfangen.
»Laßt die Lotterie los! Und die Erfrischungen!«
Mit den Erfrischungen war es freilich sehr dürftig bestellt. Die verschiedensten Gläser waren zusammengetragen worden, auch Krüge mit Wasser standen da, doch die kleine Flasche mit Himbeersaft und die vier Zitronen langten natürlich nicht, um dem Wasser etwas Geschmack zu geben. Die Zitronen wurden in ganz kleine Stückchen zerschnitten, die Himbeerlimonade war kaum rosig, trotzdem liefen die Mädchen umher, um Erfrischungen zu verkaufen. Auch das nahm man mit fröhlichem Gelächter auf, die Limonade wurde erstanden, neue verlangt, aber es gab nur noch wundervolles frisches, klares Wasser, das nach Wohltätigkeit schmeckte.
Mit den Losen ging es nicht so glatt. Man wollte wissen, was man gewinne. Paula machte ein geheimnisvolles Gesicht, sagte, sie könne nichts verraten, die Gewinne würden später von der Direktion des Wohltätigkeitszirkusses herangeschleppt werden. So brachte schließlich auch die Lotterie eine nette Summe ein.
Pommerle war in Todesangst. Noch einmal lief es ins Zelt, man mußte doch endlich anfangen, die Knaben sollten sich anziehen, das Eintrittsgeld war bezahlt.
»Fritz – Fritz!«
Pommerle stand wie erstarrt. Das Zelt war leer. Der Clownanzug lag auf der Erde, die vier Knaben waren geflohen.
»Was mache ich nun?« Pommerle rief nach Eva, nach Lotte, aber auch die Mädchen wußten keinen Rat. Man versuchte die Knaben zu finden, doch alles Suchen war erfolglos.
»Was machen wir denn – was machen wir denn? Ich frage die Mutti.«
Pommerle stürmte davon und entdeckte schließlich Frau Bender, die ziemlich weit hinten auf den Brettern saß.
»Da wollen sie nun was Gutes tun, und das viele Geld ist da, doch die Jungens sind ausgerückt. Ich habe keinen mehr, der Zirkus macht, und den Maulesel habe ich auch nicht bekommen. Auch nicht den Hund. Mutti, sie sagten, sie brauchen das nicht, sie machten alles alleine. Nu sind sie ganz weg!«
Dicke Tränen liefen dem Kinde übers Gesicht. »Nu müssen wir das viele Geld wieder zurückgeben.«
Einige Damen, die in der Nähe saßen, versuchten Pommerle zu trösten.
»Wenn die Knaben nicht wollen, mußt du uns etwas vorsingen. Vielleicht kannst du etwas.«
»Die Eva kann singen, mit der Eva werde ich was singen, aber – das ist doch kein Zirkus.«
»Das macht uns auch Freude, Pommerle. Vielleicht könnt ihr auch ein hübsches Gedichtchen sagen, etwas recht nettes.«
»Die Eva hat uns doch vorhin solch hübsches Gedicht gesagt.«
Man wurde aufmerksam, von Mund zu Mund pflanzte sich das Mißgeschick Pommerles fort. Das kleine reizende Mädchen tat allen Anwesenden leid. Und plötzlich schallte es durch die Reihen:
»Pommerle und Eva sollen uns etwas singen oder ein Gedicht sagen. Das ist viel schöner als der Zirkus.«
Pommerles Augen leuchteten auf. Singen, oh, das wollte sie gern. Wenn die Leute all das schöne Geld nicht wiederhaben wollten, würde sie immerfort singen, und Gedichte konnte sie auch.
»Anfangen – anfangen, Pommerle soll singen und ein Gedicht sagen.«
Pommerle lief ins Zelt zurück, verständigte sich rasch mit Eva, und bald klang es aus dem Innern des Zeltes heraus, mit kleinen, feinen Stimmchen, doch unendlich innig gesungen:
»O Schlesien, o Schlesien, du geliebtes Land,
Teure Heimat, wo die Wiege unserer Kindheit stand.
Überall auf Gottes Erden, mag es schön und herrlich sein,
Doch am schönsten ist es immer, in der Heimat nur allein.«
Brausender Beifall brach los. Pommerle war geradezu erschrocken, als die Leute klatschten.
»Bravo, bravo«, klang es von allen Seiten. »Nun noch ein Gedicht. Aber den Vorhang aufziehen. Wir wollen die kleinen Sängerinnen sehen.«
Pommerle stürzte von innen an die Zeltbahn heran, hielt sie mit beiden Händen fest. Ach nein, nicht vor der großen Menschenmenge singen. Wenn man all die vielen Leute sah, kam ihnen kein Ton aus der Kehle.
Draußen klatschte man immer lauter. Die beiden Kinder sahen sich an, strahlendes Glück stand in ihren Augen. Von draußen versuchte man die Zeltbahn zurückzuschlagen.
»Wir wollen Pommerle und Eva sehen!«
Schließlich drangen einige Leute ins Innere des Zeltes. Wie mit Blut übergossen standen die beiden Mädchen vor den Zuschauern. Auch jetzt wieder klang ihnen lauter Beifall entgegen.
»Singt noch ein Liedchen oder sagt uns ein Gedicht.«
»Die Sibylle soll singen«, stotterte Pommerle.
Ein großer Herr mit weißem Schnurrbart stand neben den Kindern. Pommerle erkannte den guten alten Onkel nicht, es hatte entsetzliche Angst, klammerte sich immer fester an die Zeltbahn und schickte die Blicke suchend zu den Eltern.
Professor Bender kam näher, er merkte die große Unruhe seines Töchterchens.
»Du wirst schon noch ein Lied singen müssen, Pommerle. All die Leute haben bezahlt und wollen etwas hören. Nur Mut, ihr kleinen Mädchen, ihr wollt doch den Armen und Kranken helfen. Beschämt nun einmal die Jungens, die euch fortgelaufen sind.«
»Ein Gedicht, ein Gedicht«, klang es von allen Seiten.
»Vati, was soll ich denn sagen? Vom Doktor Eisenbart oder vom Räuberhauptmann oder – oder – –«
»Etwas recht Schönes. Der liebe Gott wird dir das Richtige eingeben.«
Zwei Kinderhände falteten sich, zwei blaue Augen richteten sich nach oben. Dann begann Pommerle:
»Gott, du hast bei Tag und Nacht
Deine Kinder treu bewacht,
Höre drum auch unser Fleh'n,
Die wir betend vor dir stehn.
Gib uns Hoffnung, Glauben wieder,
Deutsche Schwestern, deutsche Brüder,
Nimm in deine treue Hand
Unser liebes Vaterland.
Hilf uns, daß aus Not und Weh
Unser Deutschland neu ersteh!«
Einige Augenblicke war es mäuschenstill. Pommerle ließ seine Blicke über die vielen Menschen schweifen und dachte daran, daß alle die Leute gekommen waren, um die Kasse für die Armen und Kranken zu füllen. Wenn nur die Leute ihr Eintrittsgeld nicht zurückhaben wollten, das auf dem Teller lag. Dieser Gedanke verursachte der Kleinen geradezu Pein. Angstgequält rief Pommerle plötzlich mit lauter Stimme:
»Lieber Gott, hilf auch denen, die krank sind und hungern, und allen denen, die in finsteren Kellern wohnen. Laß alle Leute recht viel geben, auch wenn wir keinen Zirkus machen konnten, dann braucht keiner mehr vor Angst zu sterben.«
Mit diesen Worten lief das Kind davon und verkroch sich hinter dem Zelt. Der Riesenmut, der es soeben noch erfüllt hatte, war ganz plötzlich zusammengebrochen. Es schämte sich entsetzlich, daß es all das gesagt hatte.
Draußen rief und klatschte man. Pommerle steckte sich die Finger in die Ohren, es wollte nichts davon hören. Man würde es schelten, daß es gesprochen hatte. Es sollte nicht reden, wenn Erwachsene anwesend waren. Die Mutti hatte gesagt, Kinder müßten bescheiden sein. Auch ein anderes Gedicht hätte es sagen sollen. Vom Barbarossa oder vom Frühling. Doch nun war es geschehen, um keinen Preis der Welt würde Pommerle nochmals das Zelt betreten.
In dem Zirkuszelt aber stand ein anderer. Nachdem sich der Beifall gelegt hatte, ergriff Bürgermeister Glove das Wort. Noch merkte man ihm an, daß er stark bewegt war.
Er sprach von der Not des Volkes, von der Hilfe, die allen Leidenden werden sollte. Man plane ein gewaltiges Winterhilfswerk, denn die Arbeitslosigkeit sei groß, und nicht noch tiefer dürfe ein Volk, das so Großes geleistet habe, ins Elend sinken.
»Ein Kind, ein echtes deutsches Mädchen, hat uns heute gezeigt, wie die wahre Nächstenliebe aussieht, hat uns allen ein leuchtendes Vorbild gegeben. Kinder haben sich ein Hilfswerk erdacht, das goldene Früchte tragen wird. Wollen wir hinter unseren Kleinen zurückstehen? ›Hilf uns, daß aus Not und Weh unser Deutschland neu ersteh‹, klang es soeben an unsere Ohren; es ist unsere heilige Pflicht, nicht länger fernzustehen, alle für einen, einer für alle!«
In bewegten Worten schilderte er die Schwere der Zeit und beglückwünschte alle Eltern, deren Kinder sich bereitgefunden hatten, dieses kindliche, aber doch große Hilfswerk vorzunehmen. Dann wies er mit humoristischen Worten darauf hin, daß die Knaben sich heute nicht gerade tapfer gezeigt hätten, der Damenwelt gehöre die Krone, und den Mädchen besonders. Pommerle und Eva wollte man in erster Linie Dank abstatten, ihnen eine besondere Freude bereiten, denn sie hätten dafür gesorgt, daß man nicht vergeblich hergekommen sei, daß der Zirkus der Wohltätigkeit seinem Namen Ehre gemacht habe.
Der Bürgermeister rief nach den beiden Kindern, doch nur Eva Graumann kam schüchtern herbei. Pommerle war nirgends zu finden, obwohl verschiedene Damen Umschau nach ihm hielten.
Endlich fand man die Kleine doch. Sie hatte sich hinter einem Stoß Bretter verborgen und glühte noch vor Erregung. Pommerle wagte nicht aufzusehen, als es schließlich an der Seite des Bürgermeisters stand und dessen freundliche Worte hörte.
»Du sollst uns einen Wunsch sagen, liebes Pommerle, den wir dir erfüllen möchten. Eva hat sich bereits einen Rodelschlitten gewünscht, weil der gehabte in Trümmer ging. – Also Mut, kleines Pommerle, was möchtest du wohl gern?«
Pommerle verkrampfte die Hände, wollte sprechen, hielt sich aber schnell die kleine Hand vor den Mund.
»Sprich nur, Pommerle, du bist es gewesen, die zuerst daran dachte, daß man für die Armen und Notleidenden Opfer bringen muß.«
»Nein«, sagte das Kind leise, »das war der Jule. Wenn ich mir was wünschen dürfte, weil ich den Zirkus gemacht habe, – muß es der Jule kriegen, denn der Jule hat alles hergegeben, was er hat. Und wenn ich doch was kriegen sollte, möchte ich recht viele Zigaretten.«
In einer der Reihen entstand eine Bewegung. Ein hoch aufgeschossener Junge mit rotem Haar drängte sich gewaltsam heraus, stieß dabei ziemlich unsanft an seine Nachbarn. Er schien die allergrößte Eile zu haben, von hier fortzukommen.
»Bengel, was fällt dir ein?« sagte ein Herr, der gar zu stürmisch zur Seite gestoßen wurde.
Jule Kretschmar achtete nicht auf die Vorwürfe, – nur fort von hier. Pommerle hatte soeben seinen Namen genannt, Pommerle hatte sein Geheimnis verraten. Heiß stieg es ihm ins Gesicht. Er hätte die Spielgefährtin mit Steinen werfen mögen, so ergrimmt war er im Augenblick auf die Kleine.
Im Dauerlauf ging es nach der Werkstatt. »Komm du nur her, dir will ich's anstreichen!«
Allmählich war das Lachen verstummt, das Pommerles Wunsch hervorgerufen hatte.
»Zigaretten?« sagte der Bürgermeister. »Willst du schon rauchen?«
»Neulich hat der Mann, der die Straße kehrte, gesagt, mit Dampf geht alles besser. Und der Jule hat doch sein ganzes Geld hergegeben. Nun kann er keine Zigarette rauchen, und er raucht doch so gern. Und wenn ein Kranker mal recht schwer krank ist, schenke ich ihm auch 'ne Zigarette, dann wird er wieder gesund. So hat der Paul gesagt. Mit einer Zigarette kann man ihn aus dem Grabe herausholen. – Wenn ich also ergebenst um was bitten dürfte, so bitte ich um recht viele Zigaretten.«
»Ich weiß etwas Besseres für das Pommerle«, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen.
Aller Augen richteten sich auf Fabrikbesitzer Stadler, der auf eine der Bänke gestiegen war.
»Ich habe vorhin gehört, daß unser liebes kleines Pommerle auf eine Reise in sein liebes Pommernland verzichtet hat, weil dafür zwei arme Kinder ins Haus Professor Benders aufgenommen werden. Die Ferien beginnen am ersten Juli, ich muß an diesem Tage geschäftlich mit dem Auto nach Stettin. Ich will auf zwei bis drei Tage das Pommerle mit mir nehmen und hinauf zur Ostsee fahren. Am fünften Juli, wenn die beiden armen Kinder kommen, sind wir wieder zurück. Nun, Pommerle, was sagst du dazu?«
»An die Ostsee, – – an die Ostsee?« tönte es bebend.
»Deine Eltern erlauben, daß du mit mir und Tante Marie fährst.«
»An die Ostsee, – – an die Ostsee!«
»Nur drei Tage, Pommerle, länger Zeit habe ich nicht.«
»Mutti, Mutti!« Pommerle riß sich von der Hand des Bürgermeisters los und stürmte zu Frau Bender, sprang auf ihren Schoß und preßte sie stürmisch. »Mutti! – Leiden dann die beiden Kinder, die zu uns kommen, keine Not, wenn ich an die Ostsee fahre?«
»Nein, mein Kleines, die beiden Mädchen kommen trotzdem.«
»An die Ostsee, – – – an die Ostsee!«
»Ich glaube«, sagte lachend der Bürgermeister, »Sie haben das Rechte getroffen, Herr Stadler. Und Zigaretten sollst du auch noch haben, kleines Mädchen.«
»Nein, nein«, rief Pommerle, »das wird ein bißchen zuviel. – Ich kann an die Ostsee, an die liebe, liebe Ostsee. – Aber – wenn ich doch noch Zigaretten haben sollte, muß der Jule auch welche haben.«
»Vielleicht können wir den Jule mit an die Ostsee nehmen.«
Pommerle starrte den Fabrikbesitzer an. Über das Kindergesicht lief ein stürmisches Zucken.
»Der Jule – – –« Die Stimme wollte Pommerle kaum gehorchen.
»Nun ja, der Meister wird nichts dagegen haben, denn dem Jule steht auch Urlaub zu. – Wollen wir den Jule mitnehmen, Pommerle? Wenn der Jule all sein Geld für die Armen gibt, können wir ihm auch eine Freude machen.«
»Mutti, – Mutti, – der Jule – – die Ostsee, – – Mutti –«
Pommerle wühlte das erhitzte Gesicht in Frau Benders Kleid.
»Ich glaube, wir freuen uns alle mit dem Kinde«, sagte der Bürgermeister. »Wir wissen nun, daß wir Pommerle keine größere Freude bereiten konnten, als diese kurze Reise an die Ostsee mit seinem lieben Spielgefährten. Ich sehe Meister Reichart schmunzeln, der seinem Lehrling den Urlaub gewiß gern gewährt. Ist's nicht so, Meister Reichart?«
»Natürlich, aber natürlich«, klang es zurück. »Ich freue mich selbst darüber, daß mein tüchtiger Lehrling einmal die Ostsee kennenlernt, von der ihm Pommerle ständig erzählt. Herzlichen Dank im Namen meines Lehrlings, Herr Stadler.«
»Und nun wollen wir die Zirkusvorstellung schließen und uns daran erinnern, daß uns brave deutsche Kinder den Weg wiesen, den wir weitergehen wollen. Es ergeht in Kürze an uns alle, von oben herab der Ruf, mitzutun! So stehe keiner, kein einziger zurück. Auch die kleinste Gabe ist willkommen, keiner schließe sich aus, ob er auch noch so bescheiden lebt. Kinder wollten uns durch ihre Pfennige beweisen, daß Wenig ein Viel machen kann. Diese Zirkusvorstellung hat einen Betrag von fast zweihundert Mark ergeben. Dank, herzlichen Dank unserer deutschen Jugend!«
»Hörst du es, mein Pommerle«, sagte Frau Bender leise, »fast zweihundert Mark.«
Doch Pommerle hielt noch immer den Arm der Mutter fest umklammert, auch jetzt wieder flüsterten die roten Kinderlippen: »Der Jule kommt an die Ostsee und ich auch!«