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Ziehe durch, ziehe durch ...

Die sechsjährige Erna zertrat die Kuchen, die sie aus Sand gebacken hatte. Ihre blauen Augen glitten hinüber zu dem großen Rasenplatz, hin zu den vielen Leinen, auf denen im Sonnenschein die Wäsche flatterte.

Ein tiefer Seufzer kam über die Lippen des Kindes, dann begann Erna leise zu singen: »Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke – Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke.« Ein Weilchen war es still, dann begann Erna von neuem: »Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke – Ziehe durch, ziehe durch –«

»Wie oft willst du die Zeile noch singen?« rief ihr Bruder Jürgen zu.

»Ach, wäre es schön, wenn wir Durchkriechen spielen könnten.« Ernas ausgestreckter Finger wies auf die flatternde Wäsche.

Bruder Jürgen unterbrach den Bau seines Tunnels, der durch den Sandhaufen führen sollte. »Durchkriechen! – Ja, das wäre viel schöner als im Sande zu spielen.«

»Wir dürfen aber nicht«, sagte Erna kummervoll, »Mutti hat es verboten!«

»Ob wir mal ein bißchen durchkriechen?« mengte sich Bruder Stefan ein. »Wir kriechen auf dem Bauch, da machen wir die Wäsche nicht schmutzig. Platt auf dem Bauch!«

»Wir dürfen doch nicht«, seufzte Erna.

»Dort neben der Stange können wir auf dem Bauche durchkriechen. Dort machen wir die Wäsche nicht schmutzig.«

»Wir wollen durchkriechen«, rief die fünfjährige Marlene begeistert.

»Wir wollen schon, aber – wir dürfen nicht«, beharrte Erna.

»Oh«, meinte Marlene und legte den Blondkopf auf die Seite, »kleine Kinder wären sehr froh, wenn sie durchkriechen könnten.«

»Auf'm Bauch! Auf'm Bauch«, rief Jürgen.

Sechs Kinder stellten das Spielen im Sande ein und blickten unverwandt zu der frischgewaschenen Wäsche hinüber, die so lustig im Winde flatterte. Vorhin hatte die Mutti viele Wäschestücke aufgehängt, jetzt war sie ins Haus gegangen, weil Besuch gekommen war. Frau Lenß, die Waschfrau, war mit Ida im Hofe tätig, in dem großen Garten war also niemand zu sehen. Vielleicht konnte man rasch nur ein einziges Mal Durchkriechen spielen.

Die dreijährige Adele war die erste, die auf den Rasenplatz zuging. »Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke – – ist kaputt, woll'n sie wieder flicken«, sang sie mit lauter Stimme.

Zögernd folgten die anderen. »Wir dürfen nicht«, sagte Erna, trotzdem näherte sie sich der Wäsche. »Wenn wir ganz platt auf unserem Brustkorb liegen, dann dürfen wir. Aber wir dürfen nicht mit unserer Hinterbrust an die Wäsche stoßen.«

»Nee, immer nur auf'm Bauch, auf'm Bauch«, rief Stefan begeistert, und schon lag er auf der Erde und schob sich langsam den Kiesweg entlang, dem Rasenplatz entgegen.

»Ich schwimme, – ich schwimme wie ein Fisch!« rief Jürgen, spreizte die Beine, zog sie wieder an und arbeitete sich so auf dem Wege weiter, hin zum Rasen. Die anderen folgten seinem Beispiel. Sechs Kinder bewegten sich schwimmend und kriechend hin zum Rasenplatz. Von hellstem Gelächter unterbrochen, hielten sie mitunter inne; von Zeit zu Zeit rief Erna, wenn einer den Oberkörper hob:

»Nur mit dem Bauch und dem Brustkorb rutschen, sonst dürfen wir nicht!«

Jürgen und Stefan kamen ziemlich rasch vorwärts, Erna, Fritz, Marlene und Adele hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber alle lachten aus vollem Halse, winkte ihnen doch das schönste der Spiele: das Durchkriechen.

Durch den frohen Lärm wurde der Besitzer des Nachbarhauses aufmerksam. Er saß im Pflaumenbaum, um Obst zu ernten. Ein Schmunzeln lief über sein Gesicht:

»Die Goldköpfchenkinder spielen Schnecke«, rief er seiner unten am Baume stehenden Frau zu.

»Ja, ja, ich höre sie lachen.«

»Du solltest nur sehen, wie sie sich vorwärtsschlängeln. Da wird Frau Goldköpfchen wieder manches Loch zu flicken, manchen Knopf anzunähen haben.«

Die Goldköpfchenkinder!

So hießen die acht Kinder der blonden Arztfrau in ganz Heidenau. Jedermann kannte das Schicksal der tapferen Frau, über die soviel Leid gekommen war. Trotzdem herrschte im Hause Doktor Kirschners Sonne und Frohsinn. Acht Kinder sorgten dafür, daß die Eltern nicht zur Ruhe kamen, schufen Mühe und Sorgen, aber auch viel Freude. Wer es nicht wußte, wollte es nicht glauben, daß fünf dieser Kinder Goldköpfchens Stiefkinder waren. Aber Bärbel Kirschner kannte keinen Unterschied, ihre Mutterliebe wurde gleichmäßig auf alle Kinder verteilt.

»Das ist eben Goldköpfchen«, sagten die Heidenauer, »das ist eine gute und pflichtgetreue Frau und Mutter. An ihr kann sich jeder ein Beispiel nehmen.«

Und doch war es Goldköpfchen nicht leicht geworden, eine zweite Ehe zu schließen. Gar zu sehr hatte sie ihren ersten Mann, den fleißigen Ingenieur, geliebt. Aus dieser Ehe mit Harald Wendelin stammten drei Kinder: Hermann, Jürgen und Erna. Nach dem Tode des Gatten, der sein Leben hingab, um andere zu retten, heiratete Goldköpfchen nach langem innerem Kampf den in Heidenau ansässigen verwitweten Arzt Doktor Ewald Kirschner, der fünf Kinder mit in die Ehe brachte. Und nun tobte die Schar durch Haus und Garten, behütet und betreut von den Eltern.

Hermann, der älteste, und die kleine Ulla fehlten bei den fröhlichen Spielen. Hermann kannte nichts Schöneres, als im Hause an seinen Maschinen zu basteln; er sägte, feilte, hämmerte. Ulla hingegen war noch zu klein, sie blieb in der Obhut der treuen Kinderfrau, der guten Frau Leuschner. Die sechs aber, die augenblicklich so herrlich spielten, setzten ihre Schwimmübungen fort und erreichten, ohne daß sie von der Mutter, der Waschfrau oder Ida bemerkt wurden, den Rasenplatz.

»Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke!« tönte es im Chor.

»Wir müssen uns auf die Hinterbrust legen«, rief Jürgen, »da können wir viel besser sehen, ob wir an die Wäsche stoßen. Das ganze Regiment: kehrt!«

Gehorsam legte sich die Schar auf den Rücken.

»Das Kriechen geht so aber schlecht«, sagte Erna, »ich kann viel besser auf'm Bauche kriechen!«

Ein Freudengeheul tönte aus Fritzchens Munde. »Ich hab' eben 's Maul weit aufgemacht, da is' mir was reingetrippelt.«

»Fein«, rief Jürgen, »ich laß mir auch was ins Maul reinlaufen!«

Stefan hatte eine Decke erblickt, von der tropfte unablässig das Wasser nieder. Sofort schlängelte er sich nach dort.

»Ich habe Durst«, rief Stefan, »jetzt trinke ich mich satt!«

»Ich will auch trinken«, rief Adele, erhob sich, rannte durch die Wäsche hindurch und legte sich neben Stefan unter die tropfende Decke.

Neidvoll spähte Fritz zu den beiden hinüber. Dann kam auch er und lachte glücklich, als auch ihm das Wasser aus der Decke auf die Stirn träufelte.

»Ich habe auch Wasser«, rief Erna von der anderen Seite her. »Hier hängt Frau Leuschners dicker Wollrock, der trippelt auch! Oh, ich bin schon ganz naß!«

Marlene leistete ihr Gesellschaft, denn auch sie wollte betrippelt werden. Sie schob das Kleiderröckchen hoch und ließ das Wasser auf Knie und Oberschenkel tropfen.

»Jetzt hab' ich 'nen Tropfen auf den Blinddarm gekriegt«, sagte Erna.

»Bei mir kitzelt es auf den Knien!«

Stefan, der noch nicht genug Wasser bekam, hob die Hände, drehte die hängende Decke zusammen und hielt den Zipfel über den Mund: »Ich trinke, – ich trinke immerzu!«

Das Lachen wollte nicht enden. Die dicke Decke tropfte stark, ebenso der Rock der alten Kinderfrau.

»Ich kriege nicht genug«, meinte Fritz weinerlich, »ich suche, wo noch was trippelt!« Er ging durch die Wäsche hindurch, faßte bald dieses, bald jenes Stück an und blieb schließlich unter der Leine stehen, auf der Strümpfe hingen. Hier tropfte es noch recht nett. So legte er sich zufrieden auf den Rücken und fing die herunterfallenden Tropfen geschickt auf. Er mußte freilich seinen Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite wenden, doch das machte viel Spaß.

»Mein Blinddarm ist schon ganz naß«, jubelte Erna.

»In meinen Kehlkopf ist schon viel Wasser gelaufen«, rief Stefan.

Adele hatte das Kleidchen so hoch geschoben, daß die Tropfen an den nackten Oberschenkeln hinabliefen. Sie jubelte hell auf, weil es so schön kitzelte.

In diesem Augenblick kamen Frau Lenß und Ida aus dem Waschhaus; sie brachten die Stärkwäsche, um sie aufzuhängen.

»Was ist denn hier los?« Frau Lenß schlug die Hände zusammen. »Sollt ihr unter der nassen Wäsche liegen? Marsch fort, ihr Rasselbande!«

Die Kinder erhoben sich und rannten im Galoppschritt davon. Die nasse Wäsche schlug ihnen ins Gesicht, an die Schultern, denn keiner dachte mehr daran, daß sie die Wäsche nicht berühren durften. Nur schnell zurück zum Sandplatz, denn Jürgen und Stefan erinnerten sich noch zu genau des Strafgerichts der Waschfrau bei der letzten Wäsche. Da hatte die handfeste Frau ein nasses Handtuch genommen und den beiden Knaben damit einige kräftige Schläge auf die sogenannte Hinterbrust verabfolgt.

Am Sandhaufen hockten die sechs und lauschten den Scheltworten der beiden Frauen. Wenn nur die Mutti nichts hörte!

»Ich bin ganz naß und dreckig«, sagte Marlene. »Guck mal her.«

»Bei mir war 'ne große Pfütze«, prahlte Jürgen. »Meine Rippen sind ganz durchnäßt!«

»Mein Blinddarm ist auch naß«, meinte Erna, »aber er braucht deswegen nicht operiert zu werden. Ich lasse ihn trocknen, dann ist er wieder gesund.«

Stefan war der einzige, der sich langsam wieder ein wenig vorwagte. Als ihn Frau Lenß erblickte, drohte sie mit der feuchten Küchenschürze, die sie gerade in den Händen hielt.

Da sang Stefan, indem er die Zunge weit hinausstreckte: »Der Lenz ist da, – der Lenz ist da!« Er hatte sich den Schluß des Liedes gemerkt, das öfters im Hause der Eltern von einer Bekannten gesungen worden war.

»Jawohl«, rief die schlagfertige Waschfrau zu ihm hinüber, »die Lenß wird gleich da sein, sie wird zu dir kommen!«

Endlich waren die letzten Schürzen aufgehängt, die beiden Aufpasser wieder im Waschhause verschwunden.

»Kriechen wir noch mal?« fragte Jürgen.

»Nein«, sagte Erna energisch, »wir dürfen nicht. Jetzt spielen wir mit Sand. – Seht mal her, der ganze Sand klebt an mir, weil ich so naß bin.«

»Du bist ein Sandaal«, schrie Jürgen und bewarf das nasse Kleid der Schwester kräftig mit Sand. Auch das machte tollen Spaß, denn die Kinder stellten fest, daß der Sand an ihnen allen klebte. Besonders Stefans und Jürgens Rücken, die stark durchnäßt waren, hielten ihn gut fest.

»Wie es tropft«, sagte Fritz sehnsuchtsvoll und schaute zu den eben aufgehängten Schürzen hinüber. Da war er auch schon weg und lag im nächsten Augenblick unter den gestärkten Schürzen. Erna erhob warnend den Zeigefinger und drohte ihm.

»Wir wollen doch artige Kinder sein!«

»Hu, wie das schmeckt«, rief Fritz.

»Nu, wie Wasser eben schmeckt«, meinte Stefan.

»Nee, das ist Kleisterwasser.«

Nun schlichen Stefan und Jürgen hin; da aber hier nur selten ein Tropfen kam, nahm jeder ein Schürzenband in den Mund, um daran zu lecken.

»Ja, – Kleisterwasser«, sagte Stefan.

»Was macht ihr denn schon wieder hier?« Ida stand vor den Knaben. Sie brachte noch eine Schürze. »Was sucht ihr unter der Stärkwäsche?«

»Es schmeckt nicht«, sagte Fritz treuherzig, »es ist oller Kleister!«

»Lieber Himmel, jetzt lecken die Bengel an der Stärkwäsche. Marsch fort, – schämt euch! – Wie kann man Stärke lecken!«

»Sind wir nu stark?« fragte Fritz.

»Unartig seid ihr!«

»Wir haben Stärke geleckt«, rief Fritz und eilte zu den Schwestern zurück. »Jetzt bin ich stark.« Im nächsten Augenblick erhielten Erna und Marlene einen solchen Stoß, daß sie vom Sandhaufen herunterkollerten. »Ich bin jetzt stark! Ich bin der Riese Goliath!«

Adele begann zu weinen, denn der Sand war ihr in den Mund gekommen. Ida kam gelaufen und schalt die Kinder gründlich aus, denn sie sahen nicht gerade sauber aus.

»Marsch ins Haus, ihr beiden Kleinen könntet euch erkälten! Ihr seid ohnehin kaum gesund geworden. Da sollt ihr nun in der Sonne spielen und seid pudelnaß! Kommt sofort mit.«

Ida nahm Marlene an der einen, Adele an der anderen Hand und wandte sich an die großen Knaben: »Konntet ihr nicht aufpassen? Ihr wißt doch, wie krank eure Schwestern waren. Die beiden Fipse haben doch noch keinen Verstand. Aber ihr seid alt genug, um achtzugeben! Sollen die Kleinen wieder krank werden? Schämt euch!«

»Die Fipse! – Die Fipse!« lachte Stefan aus vollem Halse. »Ihr seid Fipse!«

Marlene drehte sich um: »Ich bin kein Fips, – du bist ein Fips!«

»Adele ist ein Fips«, sagte Adele, »Adele ist ein lieblicher Fips! Ich bin eine schöne Lieblichkeit, – ich bin ein schöner Fips!«

»Ein nasser, ein unartiger Fips bist du«, schalt Ida. Es war ihr gar nicht recht, daß sie von der Wäsche weglaufen mußte. Aber es ging nicht an, die beiden kürzlich erst genesenen Kinder mit durchnäßten Kleidern im Garten zu lassen. Hinter beiden lag eine schwere Krankheit, die den Eltern viele Sorgen gemacht hatte.

»Ätsch, – die beiden Fipse müssen ins Haus«, rief Stefan.

»Fipse – Fipse – Fipse«, tönte es im Chor hinter den beiden kleinen Mädchen her, »sie sind Fipse!«

»Fipse ist was Dummes«, sagte Jürgen wichtig.

»Nein«, sagte Erna energisch, »Fipse ist was Schönes! Adele ist immer schön, und Marlene ist niedlich. Fipse ist doch was Schönes!«

Währenddessen begab sich Ida mit den beiden Kindern ins Haus, um deren nasse Beine und Gesichter trocken zu reiben und sie umzuziehen. Dabei schalt sie die Kleinen gehörig aus.

»Wollt ihr wieder krank werden?«

»Adele will nicht krank werden!«

»Hab nur keine Sorge, Ida«, meinte Marlene altklug, »wir waren genug krank, wir wollen mit der Mutti fortfahren, um noch ganz gesund zu werden. Das hat die Mutti gesagt.«

»Mit unartigen Kindern fährt sie aber nicht.«

Marlene nickte Ida lächelnd zu. »Du – sie fährt schon«, meinte sie pfiffig, »der große braune Kasten steht schon in der Stube.«

»Nicht so rubbeln«, rief Adele unwillig, als Ida mit einem Tuch die nassen Beine trockenrieb. »Alle schöne weiße Haut von der Adele wird schrumplig.«

»Du bist ein kleiner eitler Affe!«

»Ich bin ein Fips, – ein lieblicher Fips!«

Dann waren die Kinder umgekleidet, und Ida führte sie wieder zurück zum Sandplatz. »Wenn ihr jetzt nicht artig spielt, rufe ich den Vater aus der Sprechstunde. Wer noch einmal auf den Rasenplatz geht, wird in den Keller gesperrt!« Dann verließ Ida die schweigsam gewordene Schar.

Durchkriechen durfte man nun nicht wieder spielen, man fürchtete den Zorn von Frau Lenß oder Ida. Außerdem konnte jeden Augenblick Fräulein Rettich zurückkommen, die wegen Besorgungen in die Stadt gegangen war. Auch die Mutti würde bald wieder im Garten erscheinen, wenn der Besuch wegging. Da war es am ratsamsten, man blieb artig beim Spiel mit dem Sande.

»Na, – wie ist es mit Pflaumen?« ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Nachbargarten. Die Kinder sprangen empor. Sie hatten längst Herrn Hartmann im Pflaumenbaume gesehen. Es war ihnen jedoch bei strengster Strafe verboten worden, den gutherzigen Mann anzubetteln. Er gab ganz von selbst den Kindern genug ab; außerdem hatten sich die Kinder in jedem Jahre den Magen verdorben, weil sie mit Bitten und Betteln nicht nachließen. Nun bot Herr Hartmann von selbst die schönen süßen Pflaumen an, und alle eilten an die Gartenmauer, um das Obst in Empfang zu nehmen.

Hartmann warf den Kindern mehrere Hände herrlicher Pflaumen hinüber, wodurch eine wilde Balgerei entstand. Trotzdem erwischte Erna die meisten Pflaumen. Das schlanke, behende Mädchen griff blitzschnell durch die Beine der älteren Brüder und nahm ihnen die Früchte weg, während Stefan und Jürgen mit den Köpfen zusammenstießen und sich daraufhin erst einmal gehörig puffen mußten. Adele begann zu weinen, sie war getreten worden.

»Nicht weinen, kleiner Fips«, sagte der Nachbar, »du bekommst jetzt allein welche. Paß auf, die Pflaumen sind für dich.« Dabei warf er der Kleinen drei schöne große Pflaumen zu.

»Bitte, ich bin auch ein Fips«, sagte Marlene, »ich möchte auch noch ein bißchen Pflaumen.«

»Du bist kein Fips mehr!«

»O doch, sie ist ein Fips«, rief Fritz, »und ich bin auch ein Fips.«

»Das stimmt nicht«, meinte Herr Hartmann. »Paßt mal auf.« Dann spreizte er die Hand, tippte den Daumen an und sagte: »Das ist der Daumen«, dann wies er auf den Zeigefinger: »der schüttelt die Pflaumen.«

»Nee, die Pflaumen schütteln Sie«, meinte Stefan.

»Nein«, sagte der Nachbar und wies auf seinen Mittelfinger: »Der hebt sie auf, der hier trägt sie heim, und der kleine Fips, mein fünfter Finger, ißt sie alle auf!«

»Bitte, ich bin doch ein Fips«, sagte Marlene, »ich esse Pflaumen furchtbar gerne!«

»Ich möchte auch ein Fips sein«, meinte Fritz flehend, »denn ich esse Pflaumen furchtbar gerne!«

»Große Jungen sind keine Fipse mehr, nur kleine Mädchen sind Fipse!«

»Du weißt ja nicht, ob ich nicht ein kleines Mädchen bin, ich esse doch so gerne Pflaumen.«

Goldköpfchen, die den Besuch bis zur Haustür geleitet hatte, kam in den Garten, um nach den Kindern zu sehen. Sie hörte die letzten Worte ihres Sohnes.

»Fritz, – Fritz, – wer darf nicht um Obst betteln?«

»Die Mutti, – die Mutti!« Sechs Kinder umringten Goldköpfchen. Sie mußte abwehren, denn Adele hielt gerade eine zerquetschte Pflaume in der Hand, die ihre Spuren an Goldköpfchens Rock hinterließ.

»Mutti, – ich bin ein Fips!«

»Bist du auch, kleiner Fips!«

»Muttilein, ich bin doch auch ein Fips«, rief Marlene kläglich, »ich bin nicht so ein richtiger kleiner Fips, wie die Adele, aber ich bin doch ein Fips! – Ach, sag doch, daß ich ein Fips bin!«

»Ja, du bist auch ein Fips!«

»Nee, Mutti«, sagte Jürgen, »an einer Hand ist immer nur ein Fips.«

»Ich habe aber zwei Hände, Jürgen, und darum hat die Mutti auch zwei Fipse.«

Jürgen überlegte ein Weilchen, dann nickte er mit dem Kopf. »Ja, das stimmt, du hast zwei Fipse. – Aber, was bin ich denn dann?«

»Ihr seid meine lieben Kinder.«

»Mutti, ist Fips was Schöneres als liebe Kinder?«

»Es ist genau dasselbe, Marlene.«

»Na, dann ist es gut, dann bin ich dein Fips.«

Goldköpfchen betrachtete ihre Ältesten. »Ihr seid wohl naß geworden? Was habt ihr denn gemacht?«

»Wir sind schon wieder fast trocken«, rief Stefan, »nur die Hinterbrust ist noch naß.«

»Mein Blinddarm ist auch wieder trocken«, meinte Erna.

»Und Lunge und Leber, Herz und Nieren auch«, rief Jürgen, »der Pulsschlag geht normal, und die Herztätigkeit macht uns keine Sorgen.«

Da mußte Goldköpfchen lachen. Man merkte sofort, daß der Vater Arzt war und daß die Kinder manche Bemerkung von ihm aufgriffen. Es wurde im Hause oft Arzt gespielt, bald schnitt Jürgen dem Stefan, bald Stefan dem Jürgen das Herz heraus, untersuchte es, setzte es wieder ein. Man mußte bei diesem Spiele nur aufpassen, daß die Kinder keine Schere in die Hände bekamen, denn einmal hatte es Jürgen fertiggebracht, die Bluse des Bruders zu zerschneiden. Es machte viel Spaß, wenn der Trichter aus der Küche geholt, auf Brust oder Leib gesetzt wurde und der »Arzt« horchte.

»Mutti, – packst du nu' bald den großen Koffer? Fahren wir bald weit fort?« forschte Marlene.

»Ja, mein Mädchen, am Sonnabend.«

»Mutti, sag doch jetzt immer Fips zu mir.«

»Marlene ist doch ein sehr hübscher Name.«

»Aber Fips gefällt mir viel besser! Der kleine Fips darf nämlich alle Pflaumen alleine essen!«


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