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Goldköpfchen war heute nicht wie sonst abends, nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren, in ihre Wohnung zurückgekehrt. Sie saß im Wohnzimmer mit Frau Leuschner; ein Ausdruck der Sorge lag auf ihren Zügen.
»Morgen Mittag kehrt Herr Doktor Kirschner aus Dresden zurück.«
»Ich habe es den Kindern gesagt«, erwiderte Frau Leuschner.
»Ich auch. – Ich habe ihnen dabei zu verstehen gegeben, daß ich von übermorgen an nicht mehr den ganzen Tag über hierbleiben werde. – Liebe Frau Leuschner, wie denken Sie sich die nächste Zeit?«
»Herr Doktor Kirschner mag bestimmen. Auf jeden Fall müssen Sie, liebe Frau Wendelin, nun endlich nach Dillstadt zu Ihren lieben Eltern reisen. Sehr schwere Tage liegen hinter Ihnen. Nun brauchen Sie Ruhe.«
»Und Sie, liebe Frau Leuschner?«
»Wir haben noch keine Zusage von der Hausdame erhalten, an die Sie dachten. Auch ein Kinderfräulein ist noch nicht engagiert. Angebote liegen zwar genügend vor, doch mag Herr Doktor Kirschner nach seiner Rückkehr selbst darüber entscheiden. Ich habe gedacht, ich bleibe so lange hier, bis Ersatz gefunden ist.«
»Wird es Ihnen nicht zuviel werden?«
»Daran darf ich in dem Falle nicht denken. Sie denken ja auch nicht an sich. Schwer wird es freilich für Sie sein, von hier fortzukommen.«
Ein schwerer Seufzer hob Frau Wendelins Brust. »Ja, das weiß ich! Allein schon eine Andeutung, die ich machte, rief einen Tränenstrom hervor.«
»Die Kinder hängen an Ihnen wie an einer richtigen Mutter.«
»Vielleicht war es falsch von mir, daß ich Tag für Tag in diesem Hause weilte. – Anfangs machte es mich froh, daß mir die Kinder soviel Liebe entgegenbrachten, heute bedrückt es mich, wenn ich an die Zukunft denke.«
»Gebe der liebe Gott, daß ein nettes junges Mädchen ins Haus kommt und sich rasch die Zuneigung der Kinder erringt. Leicht wird sie es freilich nicht haben.«
»Mein Atelier kann ich natürlich noch für einige Zeit im Stich lassen, um zu meinen Kindern nach Dillstadt zu reisen. Ihnen will ich es verraten, liebe Frau Leuschner, daß ich große Sehnsucht nach meinen Lieben habe.«
»So fahren Sie in den nächsten Tagen ab.«
»Und diese Kinder?«
»Vielleicht gelingt es mir, sie zu trösten. Sobald Herr Doktor Kirschner die Wahl eines neuen Kinderfräuleins getroffen hat, reisen Sie ab.«
»Mir ist das Herz schwer.«
»Nur nicht so bange in die Zukunft sehen, liebe Frau Wendelin. Kinder gewöhnen sich rasch an anderes.«
»Ich habe stets auf meine innere Stimme gehört, liebe Frau Leuschner, das wissen Sie, und diese innere Stimme will nicht zum Schweigen kommen. Ich glaube, ich begehe an den Kinderseelen ein Unrecht, wenn ich von heute auf morgen abreise. Es ist vielleicht richtiger, ich warte, bis das neue Kinderfräulein hier ist und bin ihm behilflich, die Kinder an sich zu ziehen.«
»Wir wollen das alles morgen mit Herrn Doktor Kirschner besprechen.«
Ein Geräusch an der Tür ließ die beiden Frauen verstummen. Frau Leuschner horchte auf. Da wurde auch schon die Klinke niedergedrückt. Marlene stand im Nachtröckchen in der Tür. Als sie Goldköpfchens ansichtig wurde, eilte sie mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
»Aber, Marlene, warum schläfst du nicht?«
»Marlene hat große Angst, Tante Pottchen. Ein großes Tier ist gekommen und hat Tante Pottchen gefressen. – Du sollst nicht fortgehen, Tante Pottchen, du mußt immer hierbleiben!«
Goldköpfchen hob das kleine Mädchen empor. »Du sollst schlafen, Marlene. Ich bringe dich zurück in dein Bett.«
»Nein, im Bett ist das böse Tier. – Es kam, als ich schlief. Ach, ich habe mich so geängstigt.«
»Du hast geträumt, Kleinchen. Im Bett ist kein böses Tier. Ich bringe dich wieder hinüber und rufe den lieben Schutzengel an dein Bettchen, der wird dich beschützen. Dann schläfst du sanft.«
»Bleibst du immer hier?«
»Komm zu Bett, Marlene.«
»Der Stefan sagte, du gehst morgen weg, weil der Vater kommt. – Der Vater braucht nicht zu kommen – du sollst hierbleiben!«
Goldköpfchen gab dem kleinen Mädchen keine Antwort. Behutsam öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer. Der Mond erhellte den Raum nur spärlich. Im Scheine seines fahlen Lichtes erblickte Frau Wendelin Stefan, der in seinem Bett aufrecht saß.
»Warum schläfst du nicht?« sagte sie leise, um Fritz, den dritten, der das Zimmer mit den beiden anderen teilte, nicht zu wecken. Blitzschnell richtete sich nun auch Fritz auf.
»Bist du doch noch hier?« rief er, und über sein verweintes Gesicht liefen neue Tränen. »Ich kann gar nicht einschlafen, weil mir der Stefan sagte, daß du nur noch morgen zu uns kommst und dann nie mehr.«
»Bleib doch hier!« klagte Stefan. »Ich will auch keinen mehr mit Steinen werfen, gehe nie mehr zur Brücke, aber bleib hier!«
»Bleib hier«, wisperte die kleine Marlene schlaftrunken.
Goldköpfchens Herz war zentnerschwer. Das Flehen der Kinder verursachte ihr unsägliche Pein.
»Sollst hierbleiben«, schluchzte Fritz erneut auf. »Erst ist die Mutter fortgegangen, jetzt war es so, als ob wieder eine Mutter hiergewesen ist, und nun gehst du auch wieder weg. – Ach, Tante Pottchen, bleib doch hier.«
Er stieg aus seinem Bett und drückte sich fest an Goldköpfchen.
»Ich tu' auch ganz bestimmt keinen Mostrich mehr in den Briefkasten, will immer lieb sein und alles machen, was du sagst, aber bleib hier!«
»Ich komme morgen wieder, Kinder.« Mehr wußte Goldköpfchen im Augenblick nicht zu sagen.
»Und wenn morgen vorbei ist, kommst du nicht mehr wieder?«
»O gewiß, ich werde oft nach euch sehen. Doch nun müßt ihr sehr lieb sein und schlafen.«
»Tante Pottchen«, bettelte die kleine Marlene, »setze dich an mein Bett, damit das böse Tier nicht wiederkommt.«
»Nein, komm an mein Bett, dann brauche ich nicht immerfort zu weinen«, bat Fritz.
»Tante Pottchen«, ertönte Stefans Stimme, »du bist viel mehr mit Marlene zusammen als mit mir. – Komm her, Tante Pottchen, ich habe, auch heute abend meine Schokolade nicht aufgegessen. Dabei esse ich sie so gerne. Die wollte ich dir morgen schenken, damit du hierbleibst. Aber jetzt schenke ich sie dir schon heute. – Komm, setz dich an mein Bett!«
»Ich werde mich in die Mitte der Stube setzen, damit ich alle eure Bettchen sehen kann. Dann schaue ich ringsum und gebe gut acht, wer am schnellsten die Äuglein zumacht. Wer mich am liebsten hat, der schläft zuerst ein.«
»Ich schlafe schon«, rief Marlene.
»Ich schlafe auch«, rief Fritz.
»Sie schwindeln ja, Tante Pottchen! Wenn man schläft, kann man nicht sprechen. Ich schlafe noch nicht, aber ich hab' dich doch am allerliebsten!«
»Ich schlaf' und sprech' doch«, sagte Fritz.
»Komm her, Tante Pottchen«, rief Marlene bittend. Doch Goldköpfchen blieb dabei, daß sie mitten im Zimmer sitzenbleiben wolle, um alle drei Betten zu sehen.
»Nun macht rasch die Mäulchen zu, die Augen auch –«
»Erst noch 'nen süßen Kuß, Tante Pottchen«, bettelte Marlene.
Goldköpfchen neigte sich über die Kleine und wurde ungestüm abgeküßt. »Ich weiß, was ich mache! Alle Küsse, die in meinem Hals und in meinem Bauch stecken, gebe ich dir jetzt. Keiner braucht mehr in mir zu sein. Dann hast du alles, was ich an Küssen habe. Kein anderer kann mehr was bekommen, und du mußt hierbleiben, weil dich alle meine Küsse festhalten. – So, Tante Pottchen, nun ist alles in mir leer!«
»Ich schlaf' schon, Tante Pottchen«, rief Fritz, »und darum habe ich dich am liebsten!«
»Sing uns doch das Lied von dem Kräutlein, Tante Pottchen«, bat Stefan, »dann wollen wir alle drei schön einschlafen.«
»Nun gut, meine Kinderchen. Jetzt werden die Augen geschlossen, ihr legt euch brav auf die Seite, und dann singe ich.«
»Ja, Tante Pottchen, ich liege schon auf der braven Seite«, klang es wieder von Marlene herüber.
Bärbel wartete noch ein Weilchen, und als sie sah, daß die Kinder die Augen geschlossen hatten und ruhig lagen, begann sie zu singen:
»Es gibt ein Kräutlein wohlgemut,
Ist gegen alles Trauern gut,
Das wächst auf dürrer Heide,
Am Gartenzaun, im grünen Hag,
Zu Trost und Herzensfreude
Dem, der es suchen mag.
Wer Hand und Herz nicht sauber hat,
Der rühre nicht an Blum' und Blatt,
Sie würden beid' verderben.
Drum halt dich brav, denn Wunder tut
Im Leben und im Sterben
Das schöne Kräutlein Wohlgemut.«
Immer leiser war Bärbels Gesang geworden. Nun stand sie behutsam auf und ging von einem Bettchen zum anderen. Die Kinder schienen zu schlafen. Nur Marlenes Lippen bewegten sich leise. Bärbel neigte sich noch tiefer zu ihr.
»Bleib hier, Tante Pottchen«, sagte sie schlaftrunken. »Du bleibst hier, das ist schön.« – –
Bedrückt kehrte Goldköpfchen zu Frau Leuschner zurück.
»Ich fürchte, es geht nicht gut aus. Die Kinder haben sich mit übergroßer Liebe an mich gehängt. Ich kann sie unmöglich täglich bei mir haben. Ich darf meine Arbeit nicht vernachlässigen, kann das Atelier auch nicht aufgeben, um der Kinder willen. – Was soll ich tun?«
»Die Kinder müssen sich langsam wieder entwöhnen.«
»Und werden manche Tränen darüber vergießen. – Liebe Frau Leuschner, es gibt ein so wunderschönes Wort, das sagt, wir sollen es verhindern, daß auf die Knospe Regen fällt. Solch eine Knospe entfaltet sich selten zur herrlichen Blüte. Es war wohl überhaupt falsch, daß ich hierher kam. Nun muß ich den Kleinen einen großen Schmerz zufügen.«
»Sie machen sich zu viele Gedanken, Frau Wendelin. Warten wir erst ab, was morgen Herr Doktor Kirschner sagt. Doch nun gehen Sie heim, Sie brauchen Ruhe.«
Goldköpfchen schritt ihrem Heim zu. In der Stille ihres Zimmers glaubte sie das Weinen des sechsjährigen Fritz zu hören, das Bitten Stefans, die Angst Marlenes. Aus allen Ecken klang es ihr entgegen: »Tante Pottchen, bleibe hier!«
Ob sie sich doch von hier löste und für einige Tage nach Dillstadt zu den Eltern fuhr, um von ihnen Rat zu erbitten? Wenn sie das photographische Atelier an Rotmühl verpachtete, um ihren Kindern und den fünf Verwaisten zu leben? Ach nein, das war ein törichter Gedanke. Doktor Kirschner mußte sich doch bald wieder verheiraten, mußte seinen Kindern eine neue Mutter geben. Die Kleinen würden sich an eine neue Mutter gewöhnen. – Hoffentlich fand er die geeignete Frau, die ein Herz voller Liebe mitbrachte. Bis dahin das Atelier verpachten? – Undenkbar! Sie konnte von den Einnahmen mit ihren drei Kindern leben, doch zwei Familien fanden ihre Existenz nicht. Außerdem war die Kundschaft an sie gewöhnt. – Nein, an Verpachten konnte sie nicht denken.
So schlief Goldköpfchen an diesem Abend mit schweren Sorgen ein. Sie ersehnte vom neuen Tag eine Klärung und wußte schon jetzt, daß sie nicht kommen würde.
Am anderen Morgen, als Bärbel sich zum Fortgehen rüstete, dachte sie daran, daß ihr treues Hausmädchen, die große, schlanke Grete, zunächst keine Ferien haben würde. Grete mußte das Atelier in Ordnung halten und in der Wohnung nach dem Rechten sehen. Es gab Wege zu machen, doch niemals verfinsterte sich das Gesicht des jungen Mädchens.
»Sie können ohne Sorgen drüben bei Kirschners bleiben, Frau Wendelin. Hier ist alles in Ordnung. Wegen meines Urlaubs machen Sie sich nur keine Gedanken! Ich bin jung und kräftig, da geht es auch ein Jahr ohne Ferien. Ich habe es bei Ihnen so gut; ich freue mich, daß Sie mich jetzt doppelt brauchen.«
»Gäbe es nicht so viele liebe Menschen auf der Erde, Grete, könnte ich alles das, was ich übernommen habe, nicht ausführen. – Doch nun will ich wieder hinübergehen. Ich hoffe, daß ich von morgen ab nicht mehr den ganzen Tag fort sein muß. Herr Doktor Kirschner wird sich noch eine Weile schonen müssen, kann seine Praxis noch nicht aufnehmen und dürfte sich mehr seinen Kindern widmen können. Da werde ich überflüssig.«
An diesem Vormittag hörte Goldköpfchen zu Hunderten von Malen die gleiche Frage: »Bleibst du hier, auch wenn der Vater zurückkommt?«
Am Nachmittag fuhr das Auto vor, das den Arzt zurück in seine Wohnung brachte. Goldköpfchen hatte täglich mit ihm telephoniert und Bericht erstattet. So wußte er, daß daheim alles in bester Ordnung war, daß seine Kinder keine bessere Betreuerin haben konnten, als Frau Goldköpfchen.
Wohl war die Begrüßung mit seinen Kleinen eine herzliche, doch sofort wurde die Frage gestellt:
»Nicht wahr, Vater, du läßt Tante Pottchen nicht mehr fort, auch wenn du hier bist?«
»Tante Pottchen, Tante Pottchen«, so klang es von aller Lippen. Tante Pottchen wurde in allen Tonarten gepriesen, um Tante Pottchen drehte sich das Denken der Kinder, Dr. Kirschner staunte, was die junge Witwe in der kurzen Zeit seines Fernseins aus seinen Kindern gemacht hatte. Es genügte ein einziger liebevoller Blick, um Stefan, den wilden, im Zaum zu halten. Und wenn Goldköpfchen gar einmal warnend den Finger hob, kam dieser oder jener gelaufen und sagte schmeichelnd:
»Bist doch nicht böse, liebes Tante Pottchen? Ich bin schon wieder lieb.«
Daß auch Frau Leuschner seine Adele so liebevoll betreute und ein wachsames Auge auf Klein-Ulla hatte, rührte ihn tief. Mit welcher Liebe, mit welcher Treue sorgten diese beiden Frauen für sein Haus, für seine mutterlosen Kinder.
»Es gibt keinen Dank für Sie, liebe Frau Goldköpfchen. Ich stehe vor Ihnen, und weiß nicht, was ich sagen soll. Worte des Dankes klingen hohl und leer. Ich glaube aber, Ihnen genügt es, wenn Sie in die strahlenden Augen der Kinder sehen, denen Sie die Sonne zurückgaben.«
Goldköpfchen blickte zur Seite. Gewiß, sie wußte, daß sie das große Leid der Kleinen um die Mutter ein wenig eingedämmt hatte. Würde es erneut hervorbrechen, wenn sie von hier schied?
»Und was soll nun werden?« das war eine der nächsten Fragen, die Dr. Kirschner an die junge Witwe richtete.
»Meine treue Frau Leuschner hat sich bereit erklärt, noch ein Weilchen in Ihrem Hause zu bleiben, falls es Ihnen recht ist, Herr Doktor.«
»Die gute, treue Seele!«
»Ja, Herr Doktor, das ist sie. Unter dem Schutz meiner treuen Alten sind Ihre Kinder gut aufgehoben. Wohl wird ihr das Amt mit ihren fünfundsechzig Jahren schon recht schwer, doch daran mag sie nicht denken. Sie will Ihnen nach Möglichkeit helfen, bis Sie passenden Ersatz gefunden haben.«
»Vielleicht finde ich Ersatz für Frau Leuschner. – Gewiß, es gibt viele treue Seelen – aber wo finde ich Ersatz – für Sie?«
»Schicken Sie mir die Kinder recht oft hinüber. Ich will allerdings demnächst für einige Tage zu meinen Eltern fahren – –«
»Ich habe Ihnen nur zu danken, tausendfach zu danken, Frau Wendelin, und komme trotzdem mit einer neuen Bitte. – Verschieben Sie Ihre Reise noch für einige Tage. Ich glaube, die Kinder gingen zugrunde, wenn sie so plötzlich ihre geliebte Tante Pottchen nicht sehen sollten. Ich muß auch heute wieder sagen: Erbarmen Sie sich meiner Kinder! Kommen Sie wenigstens in den nächsten Tagen noch für Stunden her.«
»Ich habe Ihnen Adressen von jungen Mädchen herausgelegt, Herr Doktor, die ich als Kinderpflegerinnen für geeignet halte. Es wäre gut, wenn heute noch an einige geschrieben würde. Die eine wohnt sogar in Dresden. Soll ich sie mir ansehen? Soll ich morgen einmal hinfahren?«
»Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Bitte, bitte, wählen Sie, Frau Goldköpfchen. Sie haben den rechten Blick für Menschen.«
»Es ist alltäglich Angebot in der Zeitung. Ich werde mich morgen umtun, Herr Doktor.«
Obwohl Dr. Kirschner in herzlichster Weise mit seinen Kindern sprach, sogar mit ihnen spielte, liefen sie doch immer wieder zur Tante Pottchen. Von ihr wollten sie angeleitet werden, wollten an ihrer Seite sitzen. Sie sollte ihnen das Spiel erklären. So hockte die kleine Schar auf ihrem Schoß, auf der Lehne des Sessels, in dem sie saß, und die kleine Adele stammelte beständig: »Mama – Mama!«
Marlene lachte laut dazu. »Fein, jetzt bist du die Mama! Die Mutter ist tot, sie kommt nicht wieder. Nun bist du die Mama! Stefan, Fritz, jetzt haben wir eine Mama! Und weil wir eine Mama haben, darf Tante Pottchen nicht mehr weggehen. – Eine Mama bleibt immer bei den Kindern.«
»Ja«, jubelte Fritz, »eine Mama bleibt immer bei den Kindern. – Ätsch! – Nun mußt du hierbleiben.«
Stefan schleuderte die Würfel, die er in der Hand hielt, an die Decke und schrie laut: »Hurra, wir haben jetzt eine Mama!«
Goldköpfchen war blaß geworden. Sie wagte den Kopf nicht emporzuheben, weil sie fürchtete, in die Augen des Arztes sehen zu müssen. Sie hörte nur, daß Dr. Kirschner aufstand und das Zimmer verließ. Er wollte ihr wohl alles Peinliche ersparen.
Im Kinderzimmer tobte es durcheinander. »Wir haben eine Mama!« Einer lief zu Ida, ein anderer zu Frau Leuschner, damit auch sie die Neuigkeit hörten.
»Ätsch«, meinte Fritz, »es gibt kein Tante Pottchen mehr. Tante Pottchen will weggehen, da ist sie eine Mama geworden. Nun muß sie hierbleiben. – Nun geht sie auch abends nicht mehr fort. Jetzt schläft sie auch hier – bei uns! Wir haben eine Mama!«
»Komm, Mama«, sagte die kleine Marlene. »Jetzt gehen wir fix zum Grabe der Mutter und sagen ihr, daß sie ruhig im Himmel bleiben kann, denn wir haben eine Mama.«
Goldköpfchen vermochte nichts darauf zu antworten. Was sollte sie auch sagen? Hilfesuchend schaute sie auf Frau Leuschner.
»Es ist doch wohl das Beste«, flüsterte ihr die treue Alte zu, »wenn Sie möglichst rasch nach Dillstadt fahren. Ich werde die Kinder hinhalten mit irgendeinem Trost; auch das neue Kinderfräulein muß das möglichste tun, damit Sie, liebe Frau Wendelin, ein wenig vergessen werden.«
Obwohl die Worte herzensgut gemeint waren, glaubte Goldköpfchen doch nicht, daß Frau Leuschner Recht behalten würde.
Am anderen Morgen fuhr sie nach Dresden, um Rücksprache mit dem jungen Mädchen zu nehmen, das sich dem Arzt angeboten hatte. Fräulein Retting machte auf Frau Wendelin einen recht guten Eindruck. Sie war allerdings noch recht jung, gerade erst achtzehn Jahre.
»Vier Kinder sind Ihnen anvertraut. – Werden Sie das schaffen? Kinder sind es, die ihre Mutter verloren haben und voller Sehnsucht nach Liebe sind.«
»Ich habe Kinder sehr lieb und hoffe, es wird gehen.«
Obwohl Goldköpfchen das junge Mädchen auf alle Schwierigkeiten aufmerksam machte, die sich in den Weg stellen würden, erklärte Gertrud Retting, daß sie bereit sei, in aller Kürze ihren neuen Wirkungskreis anzutreten. Und da Goldköpfchen von Dr. Kirschner die Genehmigung erhalten hatte, einen Vertrag abzuschließen, wurde noch in derselben Stunde vereinbart, daß Fräulein Retting schon in drei Tagen, also am nächsten Montag, ihre Stelle in Heidenau antreten solle.
Als Goldköpfchen gegen mittag in der Wohnung des Arztes eintraf, sah sie nur verweinte Gesichter. Kein gütiger Zuspruch des Vaters, keine Strenge, kein herzliches Wort von Frau Leuschner hatten genützt, um die Kleinen zu überzeugen, daß Bärbel in wenigen Stunden wieder hier sein würde. – Als sie dann kam, kannte der Jubel keine Grenzen.
»Wenn du nicht wiedergekommen wärst«, sagte Fritz, »wäre ich zu meiner Mutter gelaufen und dort geblieben, bis ich auch tot bin.«
Nun benutzte Goldköpfchen die nächsten Stunden, um ihren Schützlingen von Fräulein Retting zu erzählen. Sie schilderte das junge Mädchen mit den hellen Haaren, das wie eine Märchenfee aussehe, auf das vorteilhafteste.
»So schöne Märchen kann euch Tante Pottchen nicht erzählen. Fräulein Retting macht das viel besser.«
»Tante Pottchen ist ja nicht mehr hier«, sagte Stefan, »du bist doch unsere Mama!«
Am nächsten Tage kam Goldköpfchen wieder. Es war ihr nicht möglich, dem Hause fernzubleiben; sie fühlte die Sehnsucht der Kinder. Auch begann Dr. Kirschner wieder langsam mit seiner ärztlichen Tätigkeit. Er war öfters fort. Wenn nur der Montag erst herankäme! Vielleicht war es möglich, daß sie Ende der Woche zu den Eltern reiste. Bis dahin war es Fräulein Retting vielleicht möglich, die Kinder ein wenig an sich zu ziehen. Was in Bärbels Kräften stand, ihr diese Aufgabe zu erleichtern, würde geschehen.
Frau Leuschner schüttelte immer sorgenvoller den Kopf. »Wenn es so weitergeht, liebe Frau Wendelin, kommen Sie hier nicht mehr los. Sie müssen energisch handeln.«
»Ich warte nur noch auf Fräulein Retting.«
Der Sonntag verging, der Montag kam: das junge Mädchen traf im Hause des Arztes ein. Sehr kritisch betrachteten die beiden Knaben die Fremde. Marlene drängte sich immer dichter an Goldköpfchen heran und sagte finster:
»Was soll sie hier? Ich habe doch eine Mama, ich brauche kein Fräulein!«