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5. Kapitel.
Allerlei vom W und vom Weh

Das Weihnachtsfest war verrauscht, aber seine Nachklänge lagen noch über dem Wagnerschen Hause. Noch immer stand der geschmückte Weihnachtsbaum in der Mitte des großen Zimmers, noch immer waren die Gabentische aufgebaut, zu denen die Kinder eilten, um bald dieses, bald jenes Geschenk einer neuen Würdigung zu unterziehen.

Selbst Kuno hatte sich mit seinem Gabentische abgefunden. Anfangs hatte er freilich seine Enttäuschung nicht völlig verbergen können, nur der Zigarrenabschneider, in Form eines Brownings, hatte ihn befriedigt. Mit diesem Browning bedrohte er alltäglich Emma, die Köchin, und Wanda, das langjährige Stubenmädchen, die, als Kuno zum ersten Male vor sie hintrat, die wahnsinnigsten Schreie ausgestoßen hatte und durch ihr Gebrüll: »Mord – Mord!« die Nachbarschaft alarmierte.

Jetzt liefen die Zwillinge beständig als Indianer durch das Haus, sie belästigten sogar die Spaziergänger, so daß von mürrischen Dillstädtern allerlei Beschwerden in der Apotheke einliefen.

Einer der Beglücktesten war Harald Wendelin. Die in Liebe gebotenen Geschenke waren es nicht, die dem jungen Studenten solch eine Wärme ins Herz strömen ließen, es war die ganze Umgebung, die herzliche Güte, die er in diesem Hause empfing, die ihn in den Tagen seines Hierseins zum wunschlos Glücklichen machten. Niemand im Wagnerschen Hause bereute es, den jungen angehenden Ingenieur eingeladen zu haben, denn jeden wußte er auf seine Art zu erfreuen. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter, Bärbel ließ sich von ihm, der so vortrefflich Klavier spielte, alle neuen Tänze und Lieder vorspielen, Harald Wendelin mußte sie so oft wiederholen, bis Bärbel alle genau kannte. Sie war durchaus damit zufrieden, daß ihr Harald die übermütigen und lustigen Sachen eindrillte.

Aber nicht nur Schlager durfte er spielen, immer wieder brachte sie den Liederzyklus »Frauenliebe und Leben« herbei und fand, daß jedes dieser Lieder auf einen anderen ihrer Freunde paßte. Goldköpfchen hatte zu Weihnachten verschiedene Briefe und Karten bekommen und war sehr stolz auf dieses Gedenken der jungen Herren. Sogar Karl Schilling, der einstige Eleve des Gutes Körtenau, hatte ihrer gedacht. Er schrieb ihr, daß er hoffe, bald eine Stelle als zweiter Inspektor zu finden, und daß er nach wie vor in zärtlicher Sehnsucht an Bärbel denke.

Dann war ein zweiter Brief gekommen von Gerhard Wiese aus Dresden. Er hatte auch diesmal wieder ein Gedicht beigelegt und ehrenwörtlich versichert, daß diese Zeilen aus seiner Brust stammten. Er schwur bei seiner Verehrung für Bärbel, daß er den Vers nicht abgeschrieben habe.

Bärbel las das kurze Gedicht mehrfach durch.

»Es kann schon sein, daß es von ihm stammt, es klingt nicht so schön wie die anderen Gedichte. Aber zur Sicherheit will ich doch Herrn Wendelin fragen, der ja auch so viele Gedichte kennt.«

Sie suchte den Studenten auf.

»Ich habe ein Anliegen an Sie, Herr Wendelin. Ich quäle mich da mit einem Gedicht herum, das mir zufällig in den Sinn kommt. Ich weiß aber nicht genau, ob es von Heine, Schiller oder gar von Longfellow ist. Vielleicht können Sie mir helfen.«

»Ich will's versuchen, Bärbel, aber ich kenne leider recht wenig Gedichte.«

»Es wird sicherlich wieder von Heine sein. – Also, hören Sie:

Nun ist das Weihnachtsfest endlich vorüber,
Nur einer, Holden, gelten meine Gedanken und Lieder,
Sie hat mich zwar ein Weilchen nicht mehr angeblickt,
Doch noch immer bin ich von ihr entzückt!
Sie ist meine holde Weihnachtsfee,
Oh, wäre ich in ihrer Näh'. – –«

»Nun, von Heine ist das Gedicht wohl nicht,« lächelte Wendelin, »auch Schiller hat derartiges nicht gedichtet.«

»Könnte es vielleicht von einem zukünftigen Autor sein?«

»Nun, vielleicht von einem Gymnasiasten.«

»Richtig,« sagte Bärbel strahlend, »Sie sind doch sehr klug, Herr Wendelin. – Ob dieser Mann wohl eine große Zukunft vor sich hat?«

»Vielleicht, wenn er das Dichten läßt!«

»So meinen Sie, daß es wertlos ist?«

»Wenn es Ihnen Freude gemacht hat, liebes Bärbel, so hat das Gedicht seinen Zweck erfüllt.«

»Also schön ist es nicht? Ich glaube, man wird sich den Namen Gerhard Wiese merken müssen. Es ist jedenfalls sehr nett von ihm, daß er mir geschrieben hat.«

Für den Silvesterabend hatten Herr und Frau Wagner beschlossen, der Jugend eine kleine Festlichkeit zu geben. Da man zwei Studenten im Hause hatte, und da Joachim in Dillstadt auch noch einige Freunde besaß, war in der Apotheke ein Tanzvergnügen vorgesehen worden, zu dem man auch Bärbels einstige Schulfreundinnen geladen hatte.

Unter dem jungen Volke herrschte natürlich große Aufregung, und besonders Maria Koch, Bärbels einstige liebste Mitschülerin aus der Gregerschen Schule, kam alltäglich auf einen Augenblick ins Wagnersche Haus, um in aller Heimlichkeit zu berichten, was sie sich für ein Maskenkleid nähe, denn man war überein gekommen, aus dem Tanzvergnügen ein Maskenfest zu machen.

»Eigentlich wollte ich als ›Königin der Nacht‹ gehen. Ich kann augenblicklich helle Farben nicht sehen, nur Schwarz, immer nur Schwarz. Ich bin nämlich unglücklich verliebt, Bärbel.«

»Du auch?«

»Ja, – mir hat es das W angetan.«

»Herr Wendelin?«

»Nein, – – – dein Bruder.«

Bärbel wurde nachdenklich. »Ich bin ja auch in ein W unglücklich verliebt, aber nicht in Herrn Wendelin. Weißt du, ich erkenne immer mehr, daß Gerhard Wiese in Dresden mein Schicksal ist.«

»Der diebische Dichter?«

»Er hat alles wieder wettgemacht, Maria. Und dann müßtest du einmal in seine treuen Hundeaugen sehen. Ach, liebe Maria, man hat doch sein Weh mit dem W.«

»Dann können wir ja zusammen weinen,« sagte Maria und schmiegte sich an Bärbel.

»Nun ja, – aber zuerst will ich dir mein Maskenkostüm zeigen.«

»Habt ihr denn auch genügend Tänzer? Hat jede junge Dame einen Herrn?«

»Vati hat gesagt, er hilft aus, er tanzt alle jungen Damen tot. Dann kommt noch Vatis Provisor mit. Es sind nur zwei Herren zu wenig.«

»Nun, dann mag es ja gehen.«

»Vati hat schon überlegt, wen wir noch einladen könnten, damit bei der Polonäse jede Dame ihren Herrn hat. – Ja, wenn mein Gerhard Wiese hier wäre, – ach, es wäre zu schön! Er könnte dann den Eröffnungsprolog dichten und auch den Damentoast in Versen ausbringen.«

»Schade, daß zwei Herren zu wenig sind. – Dann müssen zwei Damen zusammen tanzen. Ach, Bärbel, wenn ich nur nicht Mauerblümchen bin!«

»Kuno hat gesagt, er will aushelfen, aber Kuno ist noch ein dummer Junge. Es ist doch keine Kindergesellschaft!«

»Habt ihr denn gar niemanden mehr zum Einladen?«

»Nein, – außerdem tanzt Herr Wendelin schrecklich schlecht. Es wird sehr schlimm sein, Maria. Nun, vielleicht kommt eine Dame als Herr kostümiert.«

Beim Abendessen berichtete Bärbel den Eltern von Marias Sorgen.

»Wenn wir nun schon einmal solch ein großes Fest geben, Vati, müßte doch jede Dame einen Herrn haben.«

»Hexe mir ein paar junge Leute herbei, Goldköpfchen! Wo soll ich sie denn hernehmen?«

»Ja, ja,« sagte Bärbel nachdenklich, »da sieht man wieder, daß die Statistik recht hat. Der Männermangel macht sich bis in die kleinsten Orte hinein bemerkbar. Was soll aus den vier Millionen überschüssiger Frauen nur werden?«

»Deswegen mache dir nur keine Sorgen, kleines Bärbel, unser Abend wird auch ohne diese zwei fehlenden Herren recht nett werden. Vielleicht fügt es der Zufall, daß noch ein einstiger Freund hier eintrifft. Wir haben noch vier Tage Zeit.«

Am Abend schrieb Bärbel in das Tagebuch, daß der Buchstabe »W« ihr Schicksal sei. Sie fühle sich zwar zu Wendelin hingezogen, doch werde er ausgestochen durch Gerhard Wiese. Es sei ja gut, daß sie selbst diesen Anfangsbuchstaben trage, aber daß nun auch noch Maria Koch durch das »W« unglücklich werde, bereite ihr Pein und Weh.

Als Maria Koch am nächsten Tage wieder in der Apotheke erschien, besprach man dieses eigenartige Zusammentreffen noch lange.

»Es ist eben mein Schicksal,« sagte Maria, »das hat mir Kati auch gesagt.«

»Wer ist denn Kati?«

»Unser neues Mädchen. Sie kommt aus dem Polnischen und kann Karten legen.«

Die Blauaugen Bärbels wurden groß und weit.

»Hat sie sie dir gelegt, Maria?«

»Ja, – darum bin ich ja so traurig.«

»Was hat sie denn gesagt?« Brennende Neugier klang durch Bärbels Worte.

»Kommt sich Herzensweh von die Buchstabe W, – ist kein Glück in die Haus, – in die Herz. Ist sich serr schlimm mit Fräulein Maria.«

»Ob sie mir wohl auch mal Karten legt?«

»Natürlich macht sie das,« rief Maria Koch voller Begeisterung, »komm gleich mit, wir wollen sie fragen. Am Nachmittage hat sie am besten Zeit.«

Im Sturmschritt ging es nach dem Hause des Arztes. Frau Koch wurde von Bärbel heute nur flüchtig begrüßt, und da die beiden jungen Mädchen sehr geheimnisvoll taten, glaubte Frau Koch nichts anderes, als daß es sich hier um die letzten Vorbereitungen für den Maskenball handle. So ließ sie die beiden jungen Mädchen ruhig gewähren, die gleich den Weg in die Küche nahmen.

Hier saß das neue polnische Mädchen und putzte Silberzeug.

»Lassen Sie alles liegen, Kati,« flüsterte Maria, »hier ist eine junge Dame, die von Ihnen die Karten gelegt haben will.«

Kati machte zwar in ihrem gebrochenen Deutsch einige Einwendungen, die aber von Maria entkräftet wurden. Alle drei begaben sich schließlich in Katis Kammer, und dort begann das Prophezeien.

Gespannt lauschte Bärbel. – Auf dem Bett breitete Kati die Karten aus; es waren unsaubere Blätter, die von dem jungen Mädchen nur mit Widerwillen gezogen und abgehoben wurden.

»Je schmutziger, um so besser,« flüsterte Maria der Freundin zu, »mit sauberen Karten ist gar nichts zu ergründen.«

Dann begann das monotone Plappern.

»Serr viele Freunde, – – und hier – – der goldene Ring. Schon morgen Braut. – – Und Geld, viel Geld! – – Ein feiner, schöner Herr, – – oh, welch ein Glück! – – über den ganz kurzen Weg serr feiner Herr! – – Nicht verscherzen großes Glück – – schwarze Augen, serr, serr großes Glück!«

Dann kam der übliche Brief, eine Krankheit, eine Freude, eine Reise, aber immer wieder kam die Kati darauf zurück, daß das große Glück durch eine Bekanntschaft käme, die Bärbel in aller Kürze machen werde.

Dann rief Frau Koch nach dem Mädchen, die Karten wurden eiligst zusammengeworfen, und das Geplauder über die Zukunft hatte ein jähes Ende.

Aber für Bärbel war das Gehörte genug. Kati hielt dem jungen Mädchen nochmals schnell die Karten hin, Bärbel möge drei davon ziehen.

Sie tat es auch.

»Schöner Herr – – aber auch großes Weh, – – Glück und Geld!«

»Bärbel, du bist zu beneiden,« sagte Maria seufzend, »bald wirst du ihn kennenlernen, der dein Leben ausfüllt, der dein ganzes Glück bedeutet.«

»Ich schreibe es dir; sobald ich nach Dresden zurückkomme, wird er mir ja begegnen.«

Ein wenig verträumt kehrte Bärbel nach Hause zurück. Sie erhielt von der Mutter den Auftrag, rasch noch in die Konditorei Michel zu springen, um dort einige Torten zu bestellen.

Bärbel eilte nach der ziemlich entfernt gelegenen Adresse. Sie richtete die Bestellungen aus, die sorgsam notiert wurden. Der ausgelegte Kuchen lockte das junge Mädchen, so ließ sich Bärbel schnell einen Windbeutel einpacken. Aber als sie ihr Geldtäschchen zog, merkte sie, daß ihr fünf Pfennige an der geforderten Summe fehlten.

»Das tut nichts, Bärbel,« sagte die Inhaberin, »der fehlende Betrag kommt mit auf die Rechnung.«

»Ach nein,« sagte sie zögernd.

»Darf ich dem gnädigen Fräulein mit der fehlenden Summe aushelfen?«

Bärbel blickte auf. Ein schlanker Herr stand neben ihr, dessen schwarze Augen freundlich lächelnd auf dem jungen Mädchen ruhten.

»Oh – –.« Bärbel war vollständig verwirrt. Eben noch hatte sie an das kommende Glück gedacht, an die Bekanntschaft, die ihr Kati vorher gesagt hatte, und schon stand solch ein schwarzäugiger Herr vor ihr.

Er legte das fehlende Geldstück vor die Konditorsfrau nieder.

»Ich danke Ihnen,« flüsterte Bärbel, »der Papa wird es Ihnen zuschicken. – Vielleicht darf ich um Ihre gütige Adresse bitten.«

»Es war mir eine Freude und eine Ehre, gnädiges Fräulein!«

Es fand sich dann ganz von selbst, daß der Fremde neben Bärbel dahinschritt, weil er sie heimbegleiten wollte. Er plauderte entzückend und sagte endlich:

»Nun muß ich aber das Versäumte nachholen, mein gnädiges Fräulein, – ich habe mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Wolf.«

»Wolf? – Mit einem ›W‹?«

»Wilhelm Wolf!«

»Ach –,« ein geradezu verzückter Ausdruck trat in Bärbels Gesicht. Kati hatte recht, das große W kam an sie heran.

»Wilhelm Wolf,« flüsterte sie.

»Gefällt Ihnen dieser Name?«

»Ach – – es ist nur wegen der Anfangsbuchstaben. Ich heiße nämlich Wagner. – Trifft sich das nicht reizend?«

Er fragte schließlich, ob man nicht einen kleinen Umweg machen wollte, und Bärbel gab errötend diesem Wunsche nach. Sie wurde von dem Fremden so ganz als eine Dame behandelt. Außerdem war er ohne Zweifel ein schöner Mann. Aus seiner Unterhaltung erfuhr sie sogar, daß er in Pommern große Rittergüter hatte, die er einstmals erben würde.

»Der Name Wolf ist in Pommern geradezu berühmt, – unsere Güter sind die größten in der ganzen Provinz.«

»Ach, dann sind Sie natürlich auch furchtbar reich?«

»Es geht an.«

»Was machen Sie denn aber in Dillstadt?«

»Ich langweile mich fürchterlich, mein gnädiges Fräulein. Eigentlich wollte ich bis Neujahr hier bleiben, aber man findet keinen Anschluß. Wenn ich täglich mit Ihnen plaudern dürfte, bliebe ich auch noch den ganzen Januar hier.«

»Ich muß aber am sechsten Januar auch wieder nach Dresden zurück.«

»Erst am sechsten. Könnten wir uns bis dahin nicht noch einmal wiedersehen?«

Bärbel zögerte mit der Antwort. »Sind Sie ein Tänzer?«

»Leidenschaftlicher Tänzer, – o, mit Ihnen über das Parkett zu fliegen, – mein gnädiges Fräulein, gäbe es denn für mich ein größeres Glück, als mit Ihnen zu tanzen? Ist hier in Dillstadt kein Silvesterball?«

»Bei uns – – in der Apotheke,« sagte sie kleinlaut.

»O, die Glücklichen! Die Glücklichen, die dort tanzen dürfen, – zehn Jahre meines Lebens würde ich hingeben, dabei sein zu können.«

Er schwärmte weiter, und Bärbel wurde es immer wärmer ums Herz. Könnte das wirklich das große Glück sein, das sie nicht von der Hand weisen sollte? Durfte sie Herrn Wolf andeuten, daß er den Eltern seinen Besuch machen sollte, um zum Silvesterball mit eingeladen zu werden? Dann war noch ein Herr mehr. Der Vater hatte doch gesagt, daß er es selbst mit Freuden begrüßen würde, wenn sich noch irgendwo ein Herr einfände.

Als Wilhelm Wolf plötzlich Bärbels Hand an seine Lippen zog, war Goldköpfchens Entschluß gefaßt. Sie erzählte ihrem Begleiter von dem Fest am Silvesterabend und meinte, die Eltern würden sich gewiß sehr freuen, wenn Herr Wolf daran teilnehmen wolle. Er könnte ja morgen oder übermorgen einen Besuch bei den Eltern machen, dann wäre alles in Ordnung.

Der junge Rittergutsbesitzer versprach es begeistert. Dann trennte man sich. Bärbel wollte nicht, daß er sie bis vor das Elternhaus begleitete.

Ihr reizendes Gesichtchen glühte, als sie den Eltern von der neuen Bekanntschaft erzählte.

»Er ist der berühmteste Rittergutsbesitzer Pommerns. Ach, und schön ist er, außerdem fängt er auch mit einem W an. – Ach, Mutti, du wirst staunen, wenn du ihn siehst!«

»Was will denn der Mann hier in Dillstadt?«

»Vati, sperre dich doch nicht länger! – Vielleicht ist es das Lebensglück deiner Tochter.«

»Bist ein Närrchen, Bärbel, mit fünfzehn Jahren denkt man noch nicht an dergleichen. Außerdem glaube ich nicht, daß er sich bei uns sehen läßt.«

Aber Wilhelm Wolf kam wirklich am nächsten Tage. Er war liebenswürdig, artig, trotzdem hatte Herr Wagner das Gefühl, daß er nicht richtig handle, wenn er diesen fremden Mann, von dem er gar nichts wußte, in sein Haus einlud. Unauffällig erkundigte er sich in dem Hotel, das Wolf angegeben hatte, und erfuhr dort von dem ihm gut bekannten Inhaber, daß der junge Rittergutsbesitzer anscheinend ein sehr wohlhabender Herr sei und daß er Beziehungen zu allerersten Kreisen hätte; denn darauf deuteten die Briefschaften, die man durch Zufall gesehen habe.

Das beruhigte Wagner ein wenig, und schließlich wurde tatsächlich die Einladung zum Silvesterball ausgesprochen.

Überglücklich berichtete Bärbel ihrer Freundin Maria, was sich seit gestern ereignet habe.

»Das Glück ist mir schnurstracks über den Weg gelaufen, Maria, eure Kati hatte recht! – O, ich werde sehr glücklich mit ihm werden. Du mußt uns später auf unserem Gute besuchen. – Du wirst ja doch einmal meine Schwägerin, du heiratest Joachim, und dann seid ihr bei mir schon heute herzlich zu jedem Schweineschlachten eingeladen.«

Maria schüttelte den Kopf.

»Mir wurde großes Weh geweissagt.«

»Ach was, glaube doch nicht daran!«

»Bei dir trifft doch auch alles ein, was sie dir gesagt hat. Warum soll ich nicht an meinen Unstern glauben?«

»Wilhelm Wolf,« flüsterte Bärbel, »ein zweifaches ›W‹.«

»Hoffentlich wird es kein zweifaches Weh!«

Bärbel umhalste die Freundin und wirbelte mit ihr durch das Zimmer.

»Glück wird es, grenzenloses Glück! Ich werde noch heute an Gerhard Wiese schreiben, daß er seine Verehrungen einstellt, und auch Herrn Wendelin werde ich zu verstehen geben, daß ich mich bereits gebunden fühle.« – –

Silvester!

Bärbel wußte sich vor Aufregung kaum zu lassen. Sie sollte Wanda beim Räumen der Zimmer helfen, aber sie stellte sich so ungeschickt dabei an, daß Wanda häufig schelten mußte.

»Ach, Wanda,« sagte Goldköpfchen plötzlich überglücklich, »wenn einem das Herz so voll ist wie mir, denkt man nicht an Staub und Schmutz. – Für mich kommt heute das große ›W‹.«

»Was kommt? Großes Weh, und darauf freust du dich?«

»Ja,« jauchzte Bärbel, streckte den Arm mit dem Staubbesen weit von sich – – ein Klirren, die große Vase fiel herab und zerbrach.

»Die gute Vase,« rief Wanda, »die große, schöne Vase.«

Bärbel starrte auf die Scherben, dann sagte sie tonlos:

»Die Vase, – – das große Weh ist schon da. – Ach nein, Vase schreibt sich ja mit 'nem V.«

»Was wird nur die gnädige Frau dazu sagen?«

»Da hätt' ich nun mein großes Weh – – aber es geht vorüber – Scherben bringen Glück.«

Am Abend fanden sich die Geladenen vollzählig ein. Die jungen Mädchen hatten sich in reizende Kostüme gehüllt, aber auch die jungen Herren zeigten originelle Einfälle. Joachim Wagner hatte sich mit Hilfe von Bettüchern ein Maharadscha-Kostüm zurecht gemacht, Wendelins hatte sich Frau Wagner liebevoll angenommen und ihn als Stierkämpfer herausgeputzt. Er sah zwar etwas hager aus, machte aber immerhin einen ganz guten Eindruck. Bärbels Kostüm war vielleicht das billigste. Das junge Mädchen hatte sich aus Kreppapier eine Heckenrose gearbeitet und dabei so viel Geschick gezeigt, daß selbst Frau Wagner die Talente ihrer Tochter ehrlich bewunderte. Maria kam als Krankenschwester mit einem schwarzen Häubchen, dann sah man ein Veilchen, eine Zigeunerin, eine Bäuerin; nur Anita Schleifer, die Tochter des reichen Holzhändlers, hatte sich als Marquise Pompadour in ein geradezu kostbares Gewand gehüllt.

Alle waren versammelt, nur der, der Bärbels Glück bedeutete, war noch nicht erschienen. Aber endlich kam er auch. Er trug einen feuerroten Domino.

»Rot ist die Liebe,« flüsterte Bärbel ihrer Freundin Maria zu, »sieht er nicht wie ein König unter Bettlern aus?«

Aber im Laufe des Abends kam doch für Bärbel das große Weh. Der feuerrote Domino war fast immer an der Seite Anita Schleifers zu finden; er tanzte mit ihr sogar den Kotillon. Bärbel bildete sich zwar ein, daß ihr das Herz breche, aber ihr Gesichtchen strahlte doch stets erneut auf, wenn sie beständig zum Tanze aufgefordert wurde.

Wilhelm Wolf, der berühmte Gutsbesitzer aus Pommern, näherte sich natürlich auch im Laufe des Abends mehrfach Bärbel; aber sie fühlte doch heraus, daß er Anita viel mehr Interesse entgegenbrachte als ihr.

Der Abend verlief überaus fröhlich. Gegen Mitternacht goß man Blei; Maria goß Tränen, nichts als Tränen.

»Ich wußte es,« sagte sie, »mich hat das Glück verlassen.«

Bärbel goß sich einige Bäume.

»Du kriegst ihn doch noch,« flüsterte ihr Maria zu, »hier unten, das ist eine große Wiese, und da – ist die Allee, die zu deinem Schlosse führt.«

Harald Wendelin wurde wegen des Herzens, das aus der Bleimasse entstanden war, von dem Wagnerschen Ehepaar aufgezogen. Dann warfen die Anwesenden mit Apfelschalen, um daraus den Vornamen des Zukünftigen zu erfahren. Bärbel, Anita und Wendelin warfen alle drei den Buchstaben W.

Bärbel betrachtete die gelegte Apfelschale tiefsinnig.

»Heißt er nun Wiese, Wolf, oder ist's noch einer, der in der Zeiten Hintergrunde schlummert?«

»Du bleibst ledig,« sagte Anita Schleifer ein wenig spitz. »Wenn man sich den Buchstaben des eigenen Vatersnamen wirft, bekommt man niemals einen Mann.«

»Nun wirf du doch mal!«

Anita Schleifer schleuderte geziert die Apfelschale über die linke Schulter. – Da lag ein deutliches »S«.

»Na also,« sagte Bärbel mit teuflischer Schadenfreude, »wenn man sich den Anfangsbuchstaben seines Vatersnamen wirft, bleibt man ledig.«

»Ach, hast du 'ne Ahnung,« entgegnete Anita ein wenig verächtlich und wandte sich an den roten Domino: »Darf ich Sie bitten, Herr Rittergutsbesitzer, mich zu den Erfrischungen zu führen.«

Um drei Uhr morgens war Schluß des Festes. Die Jugend bestürmte zwar Herrn Wagner leidenschaftlich, er möge doch noch ein Stündchen zugeben. Aber der Apothekenbesitzer erklärte mit eiserner Energie, es sei nun genug.

Beim Abschiednehmen küßte Wilhelm Wolf Bärbels beide Hände.

»Auf Wiedersehen, mein gnädiges Fräulein. Treffen wir uns morgen nachmittag wieder in der Konditorei?«

»Nein,« sagte Bärbel, »ich habe mich bereits mit drei anderen Herren verabredet, – es mangelt mir an der Zeit.«

»Wie soll ich das ertragen?«

»Verabreden Sie sich doch mit Anita.«

»Warum tun Sie meinem Herzen so weh?«

»Das große Weh muß ein jeder erfahren, Herr Rittergutsbesitzer.«

Bärbel schlief trotz der gehabten Enttäuschung wundervoll. Beim Einschlafen dachte sie noch an die freundlichen Worte des jungen Provisors, der mit Bärbel viel getanzt hatte und der ihr so manchen harmlosen Witz erzählt hatte.

»Er heißt zwar Mittelmann, aber er ist doch besser als die anderen Männer.«

Das waren Goldköpfchens letzte Gedanken, dann schlummerte es süß und fest ein. – –

Am nächsten Morgen gab es in der Apotheke eine große Aufregung. Zuerst wurde von Herrn Schleifer geschickt und angefragt, ob man dort beim Aufräumen Anitas Brillantring gefunden hätte. Darauf stellte Apotheker Wagner fest, daß ihm aus dem Eßzimmer eine kleine, wertvolle Bronze fehlte, und schließlich schickte auch Herr Gebert, einer der geladenen Tänzer, hin, um anzufragen, ob er gestern sein Portemonnaie liegen gelassen habe.

Drei Stunden später erschien ein Kriminalbeamter, der streng vertraulich Herrn Wagner zu sprechen wünschte. Es stellte sich heraus, daß Herr Wolf ein gesuchter Hausdieb sei, der eigentlich Winkelstern hieße, und der von Ort zu Ort reise, sich in die Familien unter einem falschen Namen einführe, um dort Hausdiebstähle zu begehen.

Für Wagners war dieser Vorfall recht peinlich, zumal man den angeblichen Rittergutsbesitzer im Hotel nicht mehr erwischt hatte. Er war mit dem Frühzuge bereits aus Dillstadt abgefahren, und niemand wußte, wohin.

»Da hat uns unser Bärbel mal wieder etwas Nettes eingebrockt,« sagte Frau Wagner.

»Wir dürfen Goldköpfchen keine Schuld geben, liebe Frau, wir hätten diesen uns fremden Mann nicht in unser Haus bitten dürfen, auch wenn die Erkundigungen gut waren. Ich hatte von vornherein ein Mißtrauen gegen diesen Burschen.«

Man war zunächst bemüht, die Angelegenheit geheimzuhalten; aber der Hotelbesitzer, der selbst stark geschädigt worden war, trug die Sache im Ort herum, und so erfuhr auch Bärbel davon.

»Das ist stark,« sagte das junge Mädchen empört, »nun wird es nichts mit dem Schweineschlachten und dem großen Glück, – nun ist doch das große Weh da. – Ja, ja, man soll nur den Karten glauben, – Schwindel ist alles! Die dumme Kati weiß gar nichts!«

Maria Koch schöpfte wieder Hoffnung, zumal sie sich heute mit Joachim Wagner in der Konditorei traf; vielleicht hatte Bärbel recht, vielleicht logen die schmutzigen Blätter. Warum sollte gerade Kati die Gabe haben, in die Zukunft zu sehen?

Am ersten Januar schrieb Goldköpfchen ins Tagebuch ein: »Glück im Unglück, – noch habe ich Gerhard Wiese den Abschiedsbrief nicht geschrieben, und ich werde es auch nicht tun. Er hat bestimmt noch keine Bronze geklaut, – er ist ein Ehrenmann! Und an Karl Schilling werde ich auch heute noch schreiben.«

Dann saß sie wieder bei Harald Wendelin und ließ sich von ihm wohl zum zehnten Male »Frauenliebe und Leben« spielen.


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